Selbst- und Fremdwahrnehmung erkennen

Unterrichtsstunde in einer 11. Klasse zur Selbstwahrnehmung des Bloggers Mollwitz in Daniel Kehlmanns "Ruhm"


Unterrichtsentwurf, 2011

41 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


1. Analyse der Lernbedingungen

1.1 Allgemeine Beobachtungen und überfachliche Kompetenzen

Seit dem Beginn des Schuljahrs unterrichte ich den Grundkurs[1] Deutsch E1/2d an der Max-Planck­Schule in Rüsselsheim. Dem Kurs stehen aufgrund des naturwissenschaftlichen Schwerpunkts der Schule pro Woche nur drei Deutschstunden zur Verfügung, was bewirkt, dass das Fach in der Stundentafel gegenüber anderen Fächern nicht mehr den Status eines Schwerpunktfachs einnimmt. Auffällig ist die Zusammensetzung des Kurses: Er besteht aus 23 männlichen und nur drei weiblichen SuS aus acht ehemaligen neunten und zehnten Klassen (G8/G9) sowie einem Repetenten aus der ehemaligen Jahrgangsstufe 11 (G9). Mit den Schülerinnen (Jk., Tt., Ak.) habe ich zu Beginn des Schuljahres ein Gespräch über ihre besondere Stellung im Kurs geführt und eine Absprache getroffen: Um die große Anzahl der männlichen Klassenkameraden zu berücksichtigen und darauf einzugehen, dass männliche Schüler zunächst literarische Jungen- und Männervorbilder benötigen, habe ich vorgeschlagen, überwiegend junge männliche Autoren oder literarische Hauptpersonen in der Literatur in den Mittelpunkt zu rücken.[2]Die Schülerinnen stimmten dem ohne Vorbehalte zu und wir verabredeten, im Dialog zu bleiben, sodass sie mich wissen ließen, falls sie sich im Unterricht nicht genug beachtet fühlten.

Soziale Kompetenzen: Aufgrund der großen Unterschiede in Bezug auf Alter (15-17) und Vorwissen verhalten sich die SuS im Unterricht bisher eher ruhig, zögerlich und unauffällig. Es gibt wenige Störungen, allerdings auch nur eine geringe Beteiligung im Unterricht. Die SuS akzeptieren die allgemeinen Regeln (Pünktlichkeit, respektvoller Umgangston), es gibt allerdings auch problematische Situationen. Ein Schüler, J., hat mehrfach geäußert, unter keinen Umständen in Gruppen arbeiten zu wollen. Er hat außerdem zunächst angekündigt, auf keinen Fall einen Roman zu lesen. Ich habe im Anschluss an einige Unterrichtsstunden Gespräche mit J. geführt, ihm mehrere Möglichkeiten aufgezeigt, wie er sich im Unterricht beteiligen kann und ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass es mir wichtig ist, dass er sich einbringt. Es ist eine Verbesserung zu bemerken, die sich auch darin zeigt, dass J. die aktuelle Lektüre gekauft und zumindest zum Teil gelesen hat, woraufhin erseine Aussage, es gäbe kein Buch, das ihm gefalle, revidiert hat.

Der Schüler M. wiederholt die Klassenstufe nachdem er im letzten Jahr wegen Fehlstunden, schwachen Noten und Drogenmissbrauchs in große Schwierigkeiten geriet. Auch im neuen Schuljahr ist er bisher in weniger als der Hälfte der Deutschstunden anwesend gewesen. Er verlässt immer wieder das elterliche Zuhause für längere Zeit, kommt dann oft nicht oder ohne jegliche Schulmaterialien von unterschiedlichen Orten aus zum Unterricht. Es liegen Anzeigen u.a. wegen Diebstahls vor. Auch innerhalb der Klasse gab es Diebstähle. Polizei, Schulleitung, Oberstufenleitung, Tutor, Eltern und Klassenkonferenz sind in Bezug auf M.s Zustand einbezogen. Ich bemühe mich, dem Schüler freundlich und in Bezug auf schulische Dinge stärkend zu begegnen, gleichzeitig lege ich Wert auf das Einhalten der Regeln, d.h. ich notiere und missbillige Fehlverhalten im Sinne der Kollegenabsprachen und zum Schutz der anderen SuS. Mit seiner Sitznachbarin Jk. habe ich verabredet, dass sie ihm Materialien mitbringt und ihm hilft, sich im Unterricht zu integrieren, wenn er anwesend ist.

Motivation/Personale Kompetenzen: Viele der SuS haben im Laufe der Mittelstufe ein schwieriges Vorverhältnis zu Deutschunterricht entwickelt. (In einer ersten Befragung über ihre Wünsche und Vorlieben gaben erschreckend viele SuS an, Deutschunterricht zu „hassen“.)[3]Ich arbeite dem entgegen, indem ich möglichst häufig binnendifferenziert arbeite und die Schülerinteressen (Computereinsatz, aktuelle Themen) zur Unterrichtsgrundlage mache. Eine Befragung zu den Inhaltsgebieten des Lehrplans (siehe Anhang 1) zeigte, dass viele SuS kaum oder kein intrinsisches Interesse an den vorgeschlagenen Themen haben (W., Cb, Cc., Mh., Tw., Mh., Jw. kreuzen bei 10 bis 21 der 25 Interessenspunkten die Opition „0“ für „kein Interesse“ an). Die insgesamt beliebtesten Themen sind Ich-Entgrenzung, Selbstfindung und Ich-Identität, Rollenerwartungen und -konflikte sowie Glückserfahrungen. Da eine Kombination dieser Themen dem Roman „Ruhm“ von Daniel Kehlmann zugrunde liegt, wurde er als Lektüre ausgewählt.[4]Privat haben die SuS überwiegend sportliche, musische und mediale Interessen; sie geben an, gerne am Computer zu arbeiten und zu spielen und formulieren daraus auch einen Wunsch an den Deutschunterricht: Sie möchten mit digitalen Medien arbeiten. Der Klassenraum bietet dafür hervorragende Voraussetzungen. Er enthält eine große interaktive Tafel, die für Tafelbilder, Arbeitsaufträge und Videoprojektion genutzt werden kann und bei den SuS Interesse hervorruft.[5]Lernkompetenz: Die Arbeitskompetenz der SuS ist sehr heterogen. Der größte Teil der SuS braucht beim Arbeiten noch viel Kontrolle, Zuspruch und Anleitung. Obwohl das Ziel ein möglichst freies und selbstbestimmtes Arbeiten ist, nutzt ein großer Teil der SuS Freiräume eher zu lethargischen Tagträumen als zum Arbeiten (insbesondere Cb. und Lk.). Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied in Bezug auf die persönliche Reife zwischen den SuS der G8- und den SuS der G9-Jahrgänge. Letztere nehmen im Allgemeinen die Anforderungen der Oberstufe mit einer konzentrierteren Arbeitshaltung an. Ungewöhnlich ist auch die Diskrepanz zwischen schriftlicher und mündlicher Leistung im Kurs. Häufiger als in anderen Klassen habe ich den Eindruck, dass die SuS, die in der Klassenarbeit gute Textkompetenz bewiesen haben (Js., Cb., Ak.), im Unterricht sehr viel zurückhaltender sind als einige SuS, die in der Klausur überraschend schlechte Ergebnisse erzielt haben (z.B. M., N., W., Jr.). Insgesamt ist festzustellen, dass viele SuS während Arbeitsphasen wiederholt zum Arbeiten aufgefordert werden müssen. Es ergibt sich hieraus die Konsequenz, dass ich in Arbeitsphasen überprüfe, ob die SuS einen guten Anfang in die Arbeit finden konnten und eine Strategie für die Weiterarbeit entwickeln können.

1.2 Lernausgangslage in Bezug auf Lesekompetenz

Die SuS lehnen nicht nur die Analyse von Literatur ab (s.o.), sondern nach eigener Aussage auch das Lesen selbst. Fast alle SuS behaupten „höchstens schulisch“ zu lesen. Etwa vier SuS geben an, ab und zu zu lesen, z.B. in der Zeitung, in Internetforen, bei Wikipedia. Nur zwei SuS nennen Bücher (Fantasy) als geschätzte Lesequelle. Diese überwiegende Ablehnung des (Print-)Lesens entspricht den Erkenntnissen der Entwicklungspsychologie in Bezug auf Alters- und Geschlechtszugehörigkeit und bestätigt Christine Garbes These „Jungen ersetzen tendenziell das Buch durch die Bildschirmmedien“,[6]d.h. in ihrer Freizeit spielen Bücher und andere Printmedien kaum noch eine Rolle.[7]Dem gilt es im Unterricht durch schülernahe Literaturthemen und positive Leseerlebnisse entgegen zu wirken. Um die Motivation zu erhöhen ist die Literaturreihe zu Daniel Kehlmanns „Ruhm“ in ein Literaturprojekt eingebettet: Die Erkenntnisse, die aus der Analyse des Romans erwachsen, sollen auf andere Romane übertragen werden und dazu beitragen, eine eigene Homepage umzusetzen, bei der die Frage „Welcher Roman passt zu mir?“ durch eine Abfragemaske beantwortet werden kann.

Zur Diagnose der Lernausgangslage in Bezug auf ihre Textkompetenz haben die SuS zunächst gemeinsam einen Slam-Poetry-Beitrag analysiert, anschließend Texte zu den Aufgabenbereichen I bis III (Zusammenfassen, Analysieren, Meinung äußern) verfasst, sowie einen kurzen Diagnosebogen ausgefüllt (Anhang 2).[8]Hierbei wurde vor allem deutlich, dass es einigen SuS sehr schwer fällt, einen Text zu analysieren bzw. eine gedankliche Trennung zwischen den einzelnen Arbeitsbereichen herzustellen. Die Klausur, in der ein Ausschnitt aus einem Theaterstück in Bezug auf die Kommunikationsstrukturen untersucht wurde, zeigte, dass ca. 20 SuS des Kurses deutliche Probleme damit haben, Textaussagen zu erkennen und verständlich darzulegen. Die Konsequenz ist, die Fähigkeiten, die für das Verfassen von Klausurantworten nötig sind (Lesen, Analysieren, Formulieren) aufzuspalten. Auffällig ist auch, dass insgesamt eine große Abneigung gegenüber Lesestrategien besteht, was sowohl kurze als auch längere Texte betrifft.[9]Die Selbstdiagnose zeigt: Die SuS erkennen vor allem ihre Probleme beim Umgang mit literarischen Texten. Insbesondere beim Einschätzen der „inhaltliche[n] Tendenz eines literarischen Textes“ äußern viele SuS, sie seien unsicher oder sehr unsicher (10), obwohl ein großer Teil von ihnen behauptet, „selbständig analytische und produktive Verfahren zur Vertiefung des Textverständnisses [zu] nutzen“ (4/10) und „unterschiedliche Lesetechniken“ zu kennen (5/10). Die Ergebnisse aus Unterrichtsgespräch und Kursrarbeit legen allerdings nahe, dass einige SuS sehr wohl Texterschließungsprobleme haben, sich darüber aber nicht genügend im Klaren sind.

In Bezug auf die Entwicklung der Verstehensfähigkeiten besteht bei den SuS noch Bedarf beim Unterscheiden von Wirklichkeit und Fiktion, der Entwicklung der Abstraktionsfähigkeit, der Ausbildung von Emotionen und der Moralentwicklung.[10]

1.3 Lernstand

Im Zuge der in der E-Phase vorgesehenen Kompensation[11]haben wir zunächst erste Lücken im Bereich Texterschließung aufgearbeitet.[12]Die SuS haben selbst Texte „anlassbezogen und interessengeleitet“ ausgewählt, die sie für die häusliche Lektüre interessant finden. Als gemeinsame Lektüre haben wir „Ruhm - Ein Roman in neun Geschichten“ ausgewählt. Die SuS haben auf Grundlage des Romantitels und eines ersten freien Probelesens von Romanausschnitten, Klappentext und Rezensionen Erwartungen und Fragen aufgeworfen, die ihnen bei der Erstlektüre (in den Herbstferien) als Leitgedanken zur Verfügung standen.[13]Die Fragen, die zunächst sehr vage und wenig zielführend waren, (z.B. „Warum verabredet sich Ebling mit Tanners Freundin?“) konnten von den SuS präzisiert und zu vier Leitfragen ausformuliert werden. („Welche Rolle spielt Technik?“, „Wie gestaltet sich die Suche nach Identität?“, „Was ist Wahrheit? Was ist Wirklichkeit?“ und „Wie sind die Personen miteinander verknüpft?“) Anschließend haben wir Vorwissen über „gattungs- und textsortenspezifische Kennzeichen“ aktiviert, d.h. die Begriffe Roman und Kurzgeschichte, die bei „Ruhm - ein Roman in neun Geschichten“ eine Rolle spielen, voneinander abgegrenzt. Um die gemeinsame Basis festzustellen, haben die SuS nach den Ferien einige Fragen zur Lektüre in Form eines Lesetests beantwortet. Es zeigte sich, dass viele SuS tatsächlich das Buch (und nicht nur eine Zusammenfassung im Internet) gelesen haben. Fünf SuS haben den Roman allerdings erst nach den Ferien erhalten und holen die Lektüre derzeit nach.

Um die Personskonstellationen zu durchdringen und weitere Fragen aufzuwerfen, haben die SuS arbeitsteilig die Verbindungen zwischen den Hauptfiguren untersucht und in der Form innerer Monologe erläutert. Sie haben die Verknüpfungen auch räumlich und körperlich dargestellt, sodass sich ein Gesamtbild der Beziehungen ergab. Einige SuS haben dies in Form von Notizen festgehalten und daraus ein Schaubild erstellt, welches als Posterweiterhin zurVerfügung steht. Um tiefer in die Lektüre einzusteigen, haben wir die Geschichten „Stimmen“ und „Der Abgrund“ genauer untersucht. Arbeitsteilig untersuchten die SuS hier die spiegelbildliche Darstellung der Protagonisten Ebling und Tanner, die - durch eine doppelte Telefonnummer verbunden - ihre Identitäten verändern und ohne sich persönlich zu kennen ihr Leben gravierend beeinflussen. Eine ähnliche Erarbeitungsweise wird in der Examensstunde verwendet. Während sie zuletzt zwei Personen miteinander verglichen haben, werden sie dann eine Person (einer anderen Geschichte) aus zwei unterschiedlichen Perspektiven untersuchen.

2. Sachanalyse

Bei den ausgewählten Textstellen handelt es sich um zwei Geschichten aus Daniel Kehlmanns Roman „Ruhm“. Die Kurzgeschichten „Ein Beitrag zur Debatte“ und „Wie ich log und starb“ handeln von einem Angestellten (Mollwitz) und einem Abteilungsleiter (Name wird nicht genannt) einer Kommunikationsfirma. In beiden Geschichten ist die Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung des Mitarbeiters Mollwitz ein zentrales Element. Mollwitz, dessen Geschichte von ihm als Ich-Erzähler in rudimentärer Sprache mit vielen Anglizismen und Ellipsen, gespickt mit Internetsprache und Wortneuschöpfungen dargelegt wird, stellt seine Leistungen und Handlungen als begründet, nachvollziehbar und logisch dar, flüchtet dabei immer weiter aus der Realität in eine Scheinwelt: Dass er Menschen im Internet beleidigt, habe z.B. den Grund, dass er „Reason reinbr[inge]“ (S. 137 Z. 18), gibt er an. Seine Strategien, die er sich zum Verbergen seiner Faulheit angeeignet hat, stellt er als besondere Schlauheit dar. (Er verbringt z.B. einen großen Teil der Arbeitszeit im Internet, kann allerdings ganz schnell die Bildschirme wechseln S. 135 Z. 3). Auch seine Verehrung der allgemeinen Lebensweisheiten des Schriftstellers Miguel Auristos Blancos „große Thoughts erkenn ich, wenn ich sie sehe“ S. 140 - Z.12) zeugt von seiner einfachen Denkweise. Immer weiter flieht Mollwitz in die Virtualität des Internets und der Literatur, im wahren Leben macht er Notizen für Foren, erkennt Grenzen der Mitmenschen nicht, interpretiert das ablehnende Verhalten anderer nicht als Hinweis sondern nur als Selbstoffenbarung. Fortwährend überschreitet er die persönlichen Grenzen seiner Mitmenschen. Zuletzt bricht er sogar in ein Hotelzimmer ein, das er verwüstet. Sein Ziel ist es, in eine Geschichte zu kommen, dadurch Ruhm zu erlangen und mit seiner Traumfrau, der fiktiven Lara Gaspard in Kontakt zu kommen. An den ausgewählten Textstellen können die SuS erkennen, dass seine Selbstwahrnehmung nicht mit der Fremdwahrnehmung (z.B.) durch seinen Abteilungsleiter übereinstimmt. Eine Auswahl möglicher antizipierter Antworten der SuS findet sich im Anhang. Die Geschichten bieten noch viele weitere Anknüpfungspunkte, die in der Examensstunde nicht eingehend besprochen werden können. Besonders offensichtlich ist dies bei der Sprache Mollwitz, die auch gesondert thematisiert werden muss. Auch wären viele weitere Textstellen für die Analyse denkbar gewesen (z.B. Gespräche mit Leo Richter, etc.). Im Sinne einer didaktischen Reduktion muss hierauf zunächst verzichtet werden. Die ausgewählten Texte sind der Annahme zuträglich, dass Jungen humorvolle Texte eher schätzen als romantische, liebesorientierte.[14]

3. Didaktische Überlegungen

3.1 Didaktische Begründung der Reihe

Anhand der Lektüre und Erarbeitung des Romans „Ruhm - Ein Roman in neun Geschichten“ des deutschen Autoren Daniel Kehlmann sollen die SuS im Laufe der Reihe insbesondere ihre Analyse- und Lesekompetenz verbessern. Die Lektüre wurde anhand der Auswertung der Interessens- und Förderschwerpunkte der SuS ausgewählt (siehe Lerngruppe) und eignet sich sehr gut dazu, die kompensatorischen Ziele sowie die weiterführenden Ziele der E-Phase zu erreichen.[15]

Der Roman, der aus neun miteinander verwobenen Kurzgeschichten besteht, bietet im Bereich des Halbjahresthemas Identität vielfältige Anknüpfungsmöglichkeiten. Die Hauptfiguren der einzelnen Geschichten verlieren ihre Identität, nehmen eine andere an, streben eine Veränderung an, führen ein Doppelleben oder sind in der Wahrnehmung ihrer eigenen Identität geblendet. Die Figuren, die unterschiedlichen Alters und Geschlechts sind, bieten zugleich Identifikations- und Alteritätserfahrungen für die Leser. Wohl und Wehe des Strebens nach Ruhm können anhand der Kurzgeschichten ebenso thematisiert werden wie die Frage nach der Verbindung von Mensch und Technik. Moderne Kommunikationsmittel sind in vielen Geschichten Auslöser für die Entfremdung der Figuren: ein Techniker erhält ein Telefon, auf dem Anrufe für einen anderen eingehen, die er später - als wären es seine eigenen - beantwortet; eine Schriftstellerin wird aufgrund eines fehlenden Ladegeräts in einem fremden Land zurückgelassen, in dem sie sich nicht verständlich machen kann.

Gleichzeitig bietet die Lektüre sowohl grundlegende Analysebeispiele für typische literarische Fragestellungen (Doppelgänger, Leitmotive, Verbindungen der Figuren, Charakterisierungen, Gattungsmerkmale für Roman und Kurzgeschichte, Erschließung zentraler Strukturelemente, ästhetische Wirkung, Belegen mit Textstellen, Verständigen über Deutungen, reflektieren von Empfindungen der Romanfiguren, Handlungsmotive beurteilen)[16], als auch weiterführende literarische Besonderheiten. So lässt sich an der Geschichte „Rosalie geht sterben“, in der die Protagonistin Rosalie wegen einer schweren Krankheit Sterbehilfe erwägt, das literarische Prinzip der Metafiktion erläutern: die Figur Rosalie, deren Geschichte nicht von Kehlmann sondern von seiner literarischen Figur Leo Richter ersonnen wurde, verwickelt ihren Autoren in ein energisches Zwiegespräch, bei dem sie ihn auffordert, ihr Leben und Gesundheit zu schenken.

Der Erwerb literarischer Kompetenz kann für die SuS ein Zugang zum kulturellen Leben in der Gesellschaft sein. Dem Bildungsauftrag der Schule entsprechend, befähigt das literarische Lesen die SuS zur Kommunikation und Selbstreflektion über Literatur. Fragen der Identitätsfindung können auf das eigene Leben übertragen werden und tragen zum Prozess des Heranwachsens bei. Die Reflexion über technischen Fortschritt, die zum Beispiel in Kehlmanns „Ruhm“ angeregt wird, ist ein hochaktuelles Thema, das in besonderem Maße an die Lebenswelt der SuS anknüpft. Mehr als bei anderen Lektüren bietet „Ruhm“ eine Grundlage für die Frage, ob Lesen als rezeptive Fähigkeit oder als „aktive Konstruktion von Sinn anhand einer Textvorlage“[17]zu verstehen ist. Der „Roman“, der im Untertitel angekündigt wird, entsteht erst durch das Lesen und Verarbeiten der Kurzgeschichten.

3.2 Didaktische Begründung der Stunde

Die SuS sollen durch die Lektüre und Erarbeitung der Kurzgeschichten „Ein Beitrag zur Debatte“ und „Wie ich log und starb“ verschiedene Aspekte der Selbst- und Fremdwahrnehmung des Bloggers Mollwitz herausarbeiten. Dazu gehören die begründete Entwicklung eines (Stand-)bildes, das Sammeln geeigneter Zitate und Stichpunkte zur Analyse. Anhand dieser Darstellungen sollen sie die deutlichen Unterschiede der Betrachtungsperspektiven ableiten und Rückschlüsse für das Leben in der nichtfiktionalen Welt ziehen.

Die Fragestellung der Stunde nach dem Selbstbild und der Fremdeinschätzung Mollwitz' knüpft dabei direkt an den Lehrplan an. Es geht um mehrere Facetten der Identität des Protagonisten und letztlich um das Scheitern seiner Selbstverwirklichung.[18]Auch für die SuS ist das Spannungsverhältnis zwischen virtueller und „echter“ Realität eine omnipräsente Größe, die aber zunächst nicht notwendigerweise hinterfragt wird. Sind Online-Freunde eigentlich auch Freunde? Sind Erfolge im Internet (Spiel-Rekorde, virtuelle Belobigungen) auch „echte“ Erfolge? Und nimmt mich meine Umwelt so wahr wie ich mich wahrnehme? Ziel soll es sein, diese letzte Frage ins Bewusstsein der SuS zu bringen. Dabei soll im Sinne der Selbststärkung keine Verunsicherung im bedrohlichen Sinne entstehen sondern eine Möglichkeit, den Horizont durch den Austausch über Selbst- und Fremdwahrnehmung zu erweitern. Dies begründet auch den Einsatz von (schulischem) Feedback und kann zur Bereitschaft der SuS, sich gegenseitig auszutauschen, beitragen. Die Stunde endet mit der Vorstellung des Johari-Fensters der Sozialpsychologen Luft und Ingham, welches die vier Bereiche der Persönlichkeit zeigt, die zu unterschiedlichen Anteilen dem Selbst oder den Anderen bekannt sind. In der folgenden Stunde wird dies erneut aufgegriffen werden. Durch die Lektüre und literarische Analyse (Examensstunde), die Vertiefung im Bereich Kommunikation und die ebenfalls noch folgende sprachliche Analyse können an den beiden ausgewählten Geschichten alle drei Teilbereiche des Deutschlehrplans integrativ miteinander verbunden werden.

Die Selbstreflexion und der Abgleich mit der Fremdreflexion haben im Identitätsprozess der SuS sowohl Gegenwarts- als auch Zukunftsbedeutung, im Sinne Klafkis trägt das Bewusstsein über diese Bereiche zu einer Verbesserung des Schlüsselproblems „Beziehungen“ bei. Die Textstellen haben dabei exemplarische Bedeutung,[19]d.h. sie verweisen über sich selbst hinaus auf allgemeine Zusammenhänge, die in vielen menschlichen Situationen zu erwarten sind. Auch die Frage der Diskrepanz zwischen individuellem Glücksanspruch und zwischenmenschlicher Verantwortlichkeit[20]wird aufgegriffen. Die Stunde zielt zudem darauf ab, die SuS (z.B. durch die Benutzung von Hilfekärtchen) in ihrem selbständigen und eigenverantwortlichen Arbeiten zu schulen. In Gruppenarbeit können die SuS sich gegenseitig helfen und unterstützen.

4. Überlegungen zu Methoden und Medien

Durch arbeitsteilige Gruppenarbeit, gemeinsame Vertiefung und Reflexion sollen die SuS zum Lernergebnis geführt werden. Die Stunde beginnt mit der Grafik einer Figur, die wir in der letzten Stunde mit Mollwitz assoziiert haben. Die Grafik, die von weiteren Bildelementen (Computer, Bücher, Telefon, etc.) umgeben ist, bietet Anhaltspunkte für eine kurze Zusammenfassung dessen, was wir bereits über Mollwitz wissen und zu welchen anderen Charakteren des Buchs er eine Verbindung aufbaut. Durch die Frage nach der Quelle dieser Informationen „Woher (durch wen oder was) wissen wir diese Dinge über Mollwitz?“ leiten wir dazu über, einzelne Textstellen genauer zu untersuchen. Die SuS arbeiten arbeitsteilig mit dem Ziel ein (Stand-)Bild zu erstellen, Zitate herauszusuchen oder die Frage in Stichpunkten zu beantworten. Gleichzeitig können so mehrere Textstellen untersucht werden und die SuS können ihren bevorzugten Lernkanälen entsprechend analytisch oder kreativ textbezogen arbeiten. Alternativ wäre es auch möglich gewesen, alle SuS an der gleichen Textstelle arbeiten zu lassen, um diese besonders tiefgehend nachzubesprechen. Die SuS als Experten für verschiedene Stellen und Blickwinkel einzusetzen hat allerdings den Vorteil, dass sich die Relevanz für die SuS erhöht und eine gegenseitige Einflussnahme in derVertiefungsphase möglich ist. Während der Gruppenarbeitsphase stehen den SuS Hilfekärtchen und Beobachtungskarten zurVerfügung. Diese bewirken, dass die SuS einzelne Punkte von vornherein in den Fokus nehmen und damit Schwierigkeiten vermeiden (Beobachtungskarten) und dass sie bei auftretenden Schwierigkeiten Hilfe bekommen können (Hilfekarten), so dass sie schrittweise zum selbständigen Handeln geführt werden.

In der Vertiefungsphase besprechen die SuS die Ergebnisse ihrer Gruppenarbeit. Sie sollen in dieser Phase gezielt kommentieren, hinterfragen, ergänzen und verwerfen, sodass ein gemeinsames Bild der Selbst- und Fremdwahrnehmung des Bloggers Mollwitz entsteht. Gefahren sind hierbei die folgenden: Die SuS geraten ins Plaudern, kommen dabei nicht über den ursprünglichen Lernstand hinaus, eine Ergebnisorientierung fehlt. Um dem vorzubeugen gibt es in der Stunde eine klare Trennung zwischen Vorkenntnissen und der angestrebten Progression. Sollte das Gespräch auf der Stelle treten, ist es möglich im Bereich der Problemebene weiter zu vertiefen (Wie genau unterscheiden sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen? Welche Umstände haben einen Einfluss aufdie Betrachtungsweise?)

Es ist zu erwarten, dass SuS sich über die „Richtigkeit“ verschiedener Interpretationen streiten werden. Hierbei helfen ein Rückbezug zu den Leitfragen der Aufgabenstellungen und ein Blick zurück in die Lektüre. Eventuell kann ein Bearbeitungspunkt auf eine kommende Unterrichtsstunde verschoben werden. Es wird immer wieder wichtig sein, die SuS zu bitten, das Gesagte kompakt zusammenzufassen.

Sollte das Unterrichtsgespräch eine nicht zielführende Richtung verfolgen, bleibt der Weg der Metaebene, d.h. die Spiegelung des Erkenntniswegs oder Ergebnisstands, bzw. die Reflexion der Methode. Da der Kurs erst kürzlich neu übernommen wurde, gilt es nicht nur im Unterrichtsgegenstand Selbst- und Fremdwahrnehmung zu reflektieren, sondern unter Umständen auch im Unterricht selbst, insbesondere in der Vertiefungsphase, weshalb eine sensible Nachkorrektur angebracht ist, die das neue Verhältnis lenkt und gleichzeitig stärkt.[21]

Literatur

EINECKE, GÜNTHER. „Vorsicht Falle! Problemzonen in Deutschstunden.“ In: SEMINAR - Lehrerbildung und Schule. 4/1999, S. 70-78.

ENNEMOSER, MARCO u. SCHNEIDER, WOLFGANG. „Entwicklung von Lesekompetenz. Hemmende Einflüsse des medialen Umfelds.“ In: Norbert Groeben u. Bettina Hurrelmann (Hrsg.). Lesesozialisation in der Mediengesellschaft. Ein Forschungsüberblick. Weinheim: Juventa, 2004. S. 375-401.

HESSISCHES KULTUSMINSTERIUM. Bildungsstandards und Inhaltsfelder. Das neue Kerncurriculum für Hessen. Sekundarstufe I. Gymnasium. Deutsch.

HESSISCHES KULTUSMINISTERIUM. Lehrplan Deutsch. GymnasialerBildungsgang. Jahrgangsstufen 5G bis 9G und gymnasiale Oberstufe. 2010.

HOCHHOLZER, RUPERT ET. AL. „Entwicklung des Verstehens von Texten.“ In: Bausteine der Deutschdidaktik. Donauwörth: Auer, 2006. S. 95-107.

LAND BRANDENBURG. MINISTERIUM FÜR BILDUNG, JUGEND UND SPORT. Bericht zur Jungenförderung. Inwieweit sind Jungen in der Schule benachteiligt und wie können sie gefördert werden? September2007.

GARBE, CHRISTINE. „'Echte Kerle lesen nicht!?' Was eine erfolgreiche Leseförderung fürJungen beachten muss.“ In: Matzner, Michael u. Tischner, Wolfgang. Handbuch Jungen­Pädagogik. Weinheim: Beltz, 2008.

GARBE, CHRISTINE. „Lesen - Sozialisation - Geschlecht. Geschlechterdifferenzierende Leseforschung und -förderung.“ In: Bertschi-Kauffmann, Andrea (Hrsg.). Lesekompetenz - Leseleistung - Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. Zug: Klett und Balmer, 2007. S. 66-82.

JANK, WERNER u. MEYER, HILBERT. Didaktische Modelle. Berlin: Cornelsen Scriptor, 1991.

[...]


[1] Die überfachlichen Kompetenzen sind den Bildungsstandards Deutsch S. 8 entnommen.

[2] Garbe 2007 66ff

[3] Sie benutzten das Wort „hassen“, dass in der Befragung nicht vorgegeben oder suggeriert wurde, auch in Bezug auf Gedichte, Analysen, Texte schreiben, sehr alte Literatur, langweiligen Unterricht, und Schule im Allgemeinen, zeigen sich mir gegenüber allerdings bisher freundlich und erwartungsvoll.

[4] Hierzu siehe auch Sachanalyse, didaktische Analyse.

[5] Die Tafel kommt derzeit in fast allen Deutschstunden zum Einsatz. Sie dient zum Einspielen von Videos, Hörtexten, Bildimpulsen

am Stundenanfang, zeigt üblicherweise die Arbeitsaufträge an und wird am Stundenende zur Sicherung oder zur Schülerpräsentation verwendet.

[6] Garbe 2008 305, siehe auch Ennemoser/Schneider 375 ff

[7] Siehe auch Bericht zur Jungenförderung, 2007. S. 4. Die Ergebnisse beziehen sich auf die Auswertung der PISA-Studie und die IEA Reading Literature Study.

[8] Der Diagnosebogen ist nach den Zielen des Lehrplans gegiledert.

[9] Lesestrategien im Roman z.B. Pette/Cahriton 206ff

[10] Vgl. Hochholzer 103

[11] Vgl. Lehrplan Deutsch 50

[12] Es handelt sich bei den Kategorien um die Kompetenzerwartungen, die den hessischen Bildungsstandards zufolge beim Übergang zwischen Sekundarstufe I und II erreicht sein sollten.

[13] Alle Romanlesestrategien sind Pette/Charlton 206ff entnommen.

[14] Bericht zur Jungenförderung, 2007. S. 4.

[15] Für die E-Phase sieht der Lehrplan kompensatorische Ziele in den Bereichen des sprachlichen Ausdrucks, der Interpretationsfähigkeit und der Argumentationsfähigkeit vor, sodass die SuS möglichst gut auf die Qualifikationsphase vorbereitet werden.Lehrplan Deutsch 51 Es ist allerdings auch zu beachten, dass die SuS in der E-Phase noch keinen mittleren Schulabschluss haben und es das Ziel einiger schwächerer SuS ist, diesen am Ende der E-Phase zu erreichen. Dies wurde auf Anregung unseres Schulleiters in einer Gesamtkonferenz als Arbeitsmaxime festgehalten. Aus diesen unterschiedlichen Anforderungen ergibt sich die Konsequenz für Binnendifferenzierung und das Erreichen von Minimal- und Maximalzielen.

[16] Vgl. Übergangsprofil für die Oberstufe, Bildungsstandards

[17] Hochholzer 95

[18] Lehrplan Deutsch S. 50

[19] Entsprechend Klafkis fünf Grundfragen der Didaktischen Analyse, zitiert nach Jank/Meyer 133

[20] Die Schlüsselprobleme entstammen Klafkis kiritsich-konstruktiver Didaktik, zitiert nach Jank/Meyer 178

[21] Handlungshinweise in Vertiefungsphasen sind Günther Eineckes „Vorsicht Falle! Problemzonen in Deutschstunden“ entnommen. entnommen.

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Details

Titel
Selbst- und Fremdwahrnehmung erkennen
Untertitel
Unterrichtsstunde in einer 11. Klasse zur Selbstwahrnehmung des Bloggers Mollwitz in Daniel Kehlmanns "Ruhm"
Hochschule
Studienseminar für Gymnasien Wiesbaden
Veranstaltung
Fachmodul Deutsch
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
41
Katalognummer
V198637
ISBN (eBook)
9783656249313
ISBN (Buch)
9783656251163
Dateigröße
1713 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ruhm, Kehlmann, Mollwitz, Selbstwahrnehmung, Fremdwahrnehmung, Johari, Johari-Fenster, Poster, ActivBoard, White Board, Interaktive Tafel, Textarbeit, Charakterisierung, Perspektive, Leseförderung, Jungenförderung, Realität, Textverständnis
Arbeit zitieren
Mareike Hachemer (Autor:in), 2011, Selbst- und Fremdwahrnehmung erkennen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198637

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