Einflüsse von sozialen Faktoren auf die Genesung: Analyse anhand einer Studie in einem Kinderheim in Südafrika


Bachelorarbeit, 2012

74 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Darstellungsverzeichnis

1. Einleitung

2. Definitionen
2.1 Was ist Gesundheit?
2.2 Was ist Krankheit?

3. Modell der Salutogenese
3.1 Salutogenese versus Pathogenese
3.2 Kohärenzgefühl
3.2.1 Verstehbarkeit (Sense of Comprehensibility)
3.2.2 Handhabbarkeit (Sense of Manageability)
3.2.3 Bedeutsamkeit (Sense of Meaningfulness)
3.3 Bio-psycho-soziales Modell
3.4 Soziale Arbeit im Salutogenetischen Ansatz
3.4.1 Personenzentrierte Beratung
3.4.2 Empowerment
3.4.3 Case Management

4. Salutogenetische Aspekte
4.1 Positive Lebenseinstellung
4.2 Glaube
4.3 Lebenssinn
4.4 Sozialer Rückhalt

5. Südafrika
5.1 Gesundheitserleben in Südafrika
5.1.1 Situation der medizinischen Versorgung
5.1.2 Traditionelle Heiler
5.1.3 Umgang mit Tod am Beispiel der Zulus
5.2 Häufige Krankheiten
5.2.1 HIV/AIDS
5.2.2 Tuberkulose
5.3 Soziale Schwierigkeiten
5.3.1 Stigmatisierung von HIV/AIDS Erkrankten
5.3.2 Arbeitslosigkeit/Armut
5.4 Glaube als Antwort auf südafrikanische Probleme

6. Am Beispiel „Themba Care Athlone“
6.1 Konzept
6.1.1 Patienten
6.1.2 Familie
6.2 Anwendung Salutogenetischer Aspekte
6.3 Erfolge

7. Relevanz der Ergebnisse für Deutschland

8. Schluss

Anhang A: Interview mit Dr. Theresa Jennings

Anhang B: Interview mit der Sozialarbeiterin Virginia Tati

Anhang C: Interview with Dr. Theresa Jennings

Anhang D: Interview with the Social Worker Virginia Tati

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Darstellungsverzeichnis

Abb. 1: Symptome vs. Ressourcen

Abb. 2: Salutogenetischer Trias

Abb. 3: Glaubensrichtungen in Südafrika

Abb. 4: Das Modell des sozioemotionalen Rückhalts

Tab. 1: Tuberkulose Neuerkrankungen in Südafrika

1. Einleitung

Afrika wird oft als einer der reichsten Kontinente in Bezug auf die natürlichen Ressourcen bezeichnet, ist zur gleichen Zeit aber nahezu eines der ärmsten Erdteile in der wirtschaftlichen und menschlichen Entwicklung. Afrikas Öl und Gas ist eine der zentralen Stellen für Investoren und die Gewinne in den Ländern Afrikas für Bergbauindustrie steigen - während der Anteil der Menschen, die in Armut leben, sich während der letzten Jahre kaum verändert hat. So galt z.B. Südafrika von 1905 bis 2007 ununterbrochen als weltweit größter Goldproduzent,[1] doch geriet durch die Apartheid weltweit in die negativen Schlagzeilen. Durch die strikte Rassentrennung, Ungerechtigkeit gegenüber der afrika­nischen Bevölkerung und den Verstößen gegen die Menschenrechte von 1948 bis 1994 sind noch heute die Folgen im Land zu spüren. Von den Auswirkungen der Verarmung ist besonders die schwarze Bevölkerungsgruppe betroffen.

Die Folgen dieser Armut konnte ich bei meinen letzten Aufenthalten in Südafrika selbst wahrnehmen, als ich in zwei Kinderheimen für Waisenkinder gearbeitet habe. Die Mittellosigkeit und die damit verbundenen Schwierigkeiten wie z.B. Krankheiten, Arbeitslosigkeit oder der Verlust der Eltern sind schlimme Schicksale, von denen ein Großteil der Kinder im Heim betroffen sind und psychische sowie physische Folgen mit sich bringt. Eine interessante Frage hierbei ist, mit welchen Möglichkeiten diesen geistigen und körperlichen Konsequenzen bei Kindern in südafrikanischen sozialen Einrichtungen so früh wie möglich entgegen gewirkt werden kann.

Mir schien dafür das Konzept der Salutogenese, welches ich im Laufe meines Studiums kennengelernt habe und bei mir einen bleibenden positiven Eindruck hinterlassen hat, als sehr geeignet.

Abb. 1 gibt vorab einen kleinen Einblick, worum es sich bei der Salutogenese handelt. Der Blickwinkel der Betrachtung stellt den entscheidenden Unterschied dar: Symptome belasten Menschen mit einer Bürde, machen ihn träge und mutlos - ganz im Gegenteil zu Ressourcen, die den Betroffenen Mut, Zuversicht und Hoffnung geben oder ganz einfach gesagt ‚beflügeln‘ lassen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1 : Symptome vs. Ressourcen [2]

Mein Anliegen ist es, die Salutogenese mit den Problemen in Südafrika zu verbinden und aufzuzeigen, dass durch seine Anwendung soziale Probleme verbessert bzw. gelöst werden können.

Auf der Suche nach einer passenden Einrichtung stieß ich auf ‚Themba Care‘ in Athlone, ca. 25 Kilometer außerhalb von Kapstadt in Südafrika. Es handelt sich dabei um eine Non-Profit-Einrichtung, in der ich für vier Monate als freiwillige Mitarbeiterin gearbeitet habe um das dort einmalige Konzept kennenzulernen. Um deren Programm und Auswirkungen besser zu verdeutlichen, wurde jeweils ein Interview mit der zuständigen Ärztin und der Sozialarbeiterin durchgeführt, welches im Anhang zu finden ist. Im Laufe dieser Arbeit werde ich auf dieses Interview verweisen, um bestimmte südafrikanische Perspektiven zu verdeutlichen.

Mit dieser Arbeit soll analysiert werden, in wie weit der Salutogenetische Ansatz in der südafrikanischen Einrichtung zutrifft, auch wenn die Salutogenese nicht konkret im Konzept der Einrichtung aufgeführt ist und nicht bewusst danach gehandelt wird. Die Frage dieser Arbeit lautet deshalb „Salutogenetische Aspekte am Beispiel Südafrika“, wobei ich im ersten Abschnitt der Arbeit auf das Modell der Salutogenese und deren Perspektiven eingehe. Der zweite Hauptteil beschäftigt sich mit dem Land Südafrika, welche landestypischen Schwierigkeiten es dort gibt und welche bestimmten Einstellungen dort vorherrschen. Im späteren Verlauf werde ich auf die Einrichtung Themba Care zusprechen kommen, nach welchen Kriterien dort gearbeitet wird und ob die Betrachtungsweisen der Salutogenese dort zutreffen. Zum Ende der Arbeit werden die Ergebnisse aus Südafrika auf die Situation in Deutschland übertragen und geklärt, ob ein Vergleich überhaupt sinnvoll ist.

Dem Glauben wird in Südafrika eine besonders starke Bedeutung zugewiesen und kann in das Konzept der Salutogenese mit eingebunden werden. Ich greife diesen Aspekt in der Arbeit umfassend auf, wobei ich durch die nahezu ausnahmslos christlich vertretene Glaubensrichtung lediglich auf die Christliche Religion eingehen werde.

2. Definitionen

Um das Konzept der Salutogenese zu verstehen ist es notwendig, die Be­deutung und Abgrenzung von Gesundheit und Krankheit zu kennen und darzulegen. Im Folgenden werden verschiedene Definitionen der beiden Begriffe aufgeführt, die eine Vorstellung der vorherrschenden Ansichten geben sollen.

2.1 Was ist Gesundheit?

Die weitverbreitetste und umfassendste Definition für Gesundheit ist die der WHO, die 1946 bei der internationalen Gesundheitskonferenz eine allgemeingültige Formulierung wie folgt abgegeben hat:

„ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohl­ergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“[3]

(WHO 1946)

Der Gesundheitsbegriff umfasst hier nicht nur die biomedizinische (körper­liche) Ebene, sondern bezieht sich darüber hinaus auf die geistige und sozi­ale Dimension des Wohlergehens, was die psychosozialen Einflussfak­toren zur Geltung bringt und eine ganzheitliche Perspektive begründet. Zudem wird Gesundheit durch ‚subjektives Empfinden‘ dargestellt, was wiede­rum bedeutet, dass sie nicht durch den Befund eines professionellen Experten, z.B. einem Arzt, sondern durch die eigene Wahrnehmung und das individuelle Gefühl bestimmt wird. Folglich wird die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung in Bezug auf die Gesundheit gekräftigt, welche die Verdeutlichung von positiven Emotionen wie Freude, Vitalität, Hoffnung und Zuneigung sowie den Genuss einschließt und gleichzeitig die Vermei­dung von enthaltsamen Verhaltensvorschriften ausschließt.[4]

Kurze Zeit später wurde durch den Autor Karl Jaspers (1967) Kritik laut. Er äußert sich über die Formulierung der WHO folgendermaßen: „Solche Gesund­heit gibt es nicht. Nach diesem Begriff sind in der Tat alle Menschen jederzeit und irgendwie krank“ (Jaspers 1967: 111).

Auch Ilona Kickbusch (1982) macht ihren Unmut über die Utopie dieser Defini­tion breit: „etwas so Unerreichbares führe zu falschen Erwartungen und ne­giere bestehende gesellschaftliche Verhältnisse und Ungleichheiten“ (Kickbusch 1982: 267). Zudem greift sie an, dass die Formulierung der WHO zu zeitlos wäre und nicht darlegt, „unter welchen Gesellschaftlichen Bedingungen ein derart vollkommener Zustand zu erwarten ist“ (ebd.: 267).

Darüber hinaus wird der Begriff ‚Gesundheit‘ durch ‚Wohlbefinden‘ ersetzt, welches einen sehr umfassenden und ungenauen Zustand formuliert, der eine gewisse Unklarheit ausdrückt.[5]

2.2 Was ist Krankheit?

Krankheit wird oft als Gegenteil von Gesundheit formuliert, womit es professionellen Fachkräften erlaubt wird, einen ‚kranken‘ Menschen in sei­nen vorigen ‚gesunden‘ Zustand zurückzuhelfen, je nach dem, was durch die Naturwissenschaft und der Gesellschaft unter dem Begriff Gesundheit festgelegt wurde. Der Verein für Sozialgeschichte der Medizin erfasst Krankheit als einen bewertenden Begriff, „da mit ihm ein Zustand beschrie­ben wird, der als unerwünscht und veränderungsbedürftig angese­hen wird“ (Verein für Sozialgeschichte der Medizin 2004: 52) und infolgedessen zu einer weiteren Handlung bzw. Behandlung auffordert.[6] Hans-Ulrich Dall­mann übernimmt in seinem Aufsatz „Das Recht auf Krankheit. Ein Beitrag zur Kritik der präventiven Vernunft“ Rothschuhs Betrachtungsweise, dass Krankheit immer „im Schnittfeld von kranken Menschen, Gesellschaft und Arzt“ gesehen werden muss, da sich dadurch „mehrere Beziehungs- und Bedeutungsebenen ergeben, die sich mit der klassischen Terminologie weit­gehend decken“ (Dallmann 2005: 239). Da­mit ist die unterschiedliche Betrachtungsweise aus verschiedenen Blickwinkeln bzw. Perspektiven ge­meint, z.B. stellt Krankheit für den Erkrankten ein subjektives Befinden nach Hilfe, für den Arzt einen klinischen Befund und für die Gesell­schaft Hilfebedürftigkeit dar.[7]

Johannes Siegrist hat diese drei verschiedenen Blickwinkel unter den damit verbundenen englischen Begriffen in Betracht genommen, mit denen sich eine Krankheit aus den heterogenen Betrachtungsweisen der Selbstwahrnehmung, der professionellen Fremdwahrnehmung und der gesellschaftlichen Einordnung prüfen lässt:

- Unter Selbstwahrnehmung wird das eigene individuelle Empfinden des aktuellen Zustandes verstanden, welches im Deutschen als ‚sich krank fühlen‘ verstanden wird. Illness beschreibt im Englischen die­sen Bezug zur Krankheit, wobei dieser Eindruck immer im Kontext der jeweiligen Kultur und den Wertevorstellungen der Gesellschaft betrachtet werden muss.
- Die professionelle Fremdwahrnehmung stellt das Bezugssystem der Medizin, also der biomedizinischen Fachwelt dar und definiert Krankheit als „Abweichung von objektivierbaren Normen physiolo­gischer Regulation bzw. organischer Funktion“ (Siegrist 2005: 26). Das englische Wort dafür lautet disease und meint die Krankheit und deren Symptome als Befunde, im Deutschen „als krank definiert sein“ (Hurrelmann 2010: 116) zu übersetzen.
- Das Bezugssystem der Gesellschaft meint in der englischen Sprache sickness, welches speziell mit dem Sozialversicherungssystem in Bezug gebracht wird. Die Ansicht der Krankheit bezieht sich auf die „Leistungsminderung bzw. der Notwendigkeit, Hilfe zu gewähren (Krankschreibung, Versicherungsleistungen, informelle Hilfeleis­tungen).[8] Hierzulande kann damit der „Status des Krankseins“ (Hurrelmann 2010: 116) definiert werden.

Rothschuh formuliert 1975 den Begriff Krankheit folgendermaßen:

„Krank ist der Mensch, der wegen des Verlustes des abgestimmten Zusammenwirkens der physischen oder psychischen oder psycho-physischen Funktionsglieder des Organismus subjektiv (oder – und), klinisch (oder – und) sozial hilfsbedürftig wird.“ (Rothschuh, 1975: 417)

Diese Definition von Krankheit ist einerseits zu eng gefasst, da es auch kranke Menschen gibt, die durchaus aus eigener Kraft mit ihrer Krankheit zurechtkommen und somit nicht hilfebedürftig sind. Andererseits umfasst diese Erklärung nur weitreichende Auswirkungen, da unter ‚sozial hilfsbe­dürftig“ eine Behinderung oder eine Abhängigkeit von anderen Menschen verstanden werden kann, die ebenfalls nicht zwangsläufig bei Krankheit vor­kommt.

3. Modell der Salutogenese

‚Salutogenese‘ – ein Neologismus, der seinen Ursprung in den 70ern des 20. Jahrhunderts dem amerikanisch-israelitischen Medizinsoziologen Aaron Antonovsky (1923 - 1994) zu verdanken hatte und dadurch einen Paradig­menwechsel in der Wahrnehmung und Behandlungsweise von Krankheiten auslöste.[9] In seinen beiden Hauptwerken „Health, stress and coping. New perspectives on mental and physical wellbeing” (1979) und „Unraveling the mystery of health. How people manage stress and stay well“ (1987) be­trachtet er, im Gegensatz zu den herkömmlichen Sichtweisen nicht die krankmachenden, sondern die gesundheitsfördernden Faktoren, also die Be­dingungen, welche die Gesundheit sichern und erhalten. Der Begriff „Salutogenese“ (lat. „salus“: Unverletztheit, Heil, Glück; griech. „genese“: Entstehung) bedeutet die >>Entstehung von Gesundheit<< und stellt das Gegen­stück zur „Pathogenese“ (griech. „páthos“: Leiden, Sucht“; griech. „génesis“: Entstehung), der >>Entstehung von Krankheit<< dar.[10] Die Saluto­genese kam 1970 ursprünglich als Nebenprodukt einer Auswertung von Frauen über die Anpassungsfähigkeit an die Menopause auf. In dieser Untersuchung wurde auch eine Ja-Nein-Frage zum Aufenthalt in einem Konzentrationslager während des Zweiten Weltkrieges gestellt, wodurch eine Gruppe ermittelt wurde, die sich im Jahre 1939 im Alter zwischen 16 und 25 Jahren in einem Konzentrationslager aufgehalten hatte. Antonovsky wurde darauf aufmerksam, dass „immerhin 29 % jener Frauen, die in jungen Jahren ein Konzentrationslager überlebt hatten und sich eine neue Existenz aufbauen mussten, in fortgeschrittenerem Alter dennoch psychisch und phy­sisch einen guten Gesundheitszustand aufwiesen.“ (Nowak 2011: 78) Dabei war es Antonovsky nicht wichtig, dass der Prozentsatz der nicht inhaftierten Kontrollgruppe der gesunden Frauen mit 51 % höher war, sondern das völlig unerwartete Ergebnis, dass trotz unvorstellbarer Qualen und erschütternder Erlebnisse eindrucksvolle 29 % der Frauen als gesund galten. Daraufhin vertritt Antonovsky eine prinzipiell neue Art der Be­trachtung und Interpretation von medizinischen Untersuchungen, „die (damals) größtenteils pathogenetisch orientiert (..) [waren] und (..) [erhoben], wie viele Personen aufgrund eines bestimmten ungünstigen Wirkfaktors biologischer, sozialer oder psychologischer Art erkranken.“ (ebd.) Antonovsky stellte nicht die Ursachen von Krankheit in den Mittelpunkt der Betrachtung, son­dern die Faktoren und Bedingungen, die für die Gesundheit förderlich sind und diese erhalten.[11]

3.1 Salutogenese versus Pathogenese

Durch die Anwendung des pathogenen-medizinischen Modells in den letzten 100 Jahren dominieren heute nicht mehr Infektionen und Akuter­krankungen. Diese häufigen Infektionskrankheiten wurden praktisch beseitigt und als Folge die Le­benserwartung in der Bevölkerung deutlich er­höht. Monika Köppel sieht die gegenwärtigen Herausforderungen in allen Industrieländern und Teilen der drit­ten Welt in chronischen Krankheiten, die nicht mehr durch hygienische Missstände, Viren, Bakterien oder Parasi­ten verursacht werden. Chronische Krankheiten entstehen durch eine „Überbelastung von physischen, psychischen und sozialen Anpassungs- und Regelungskapazitäten und sind auf eine Vielzahl biologischer, sozialer, ökonomischer und somatischer Faktoren zurückzuführen“ (Köppel 2003: 25), so z.B. Herz-Kreislauf Erkrankungen, bösartige Neubildun­gen, Atemwegs-/ Hauterkrankungen und Erkrankungen des Muskel-/ Skelett­systems. Da diese chronischen Erkrankungen größtenteils auf meh­rere Ursachen zurückzuführen sind und meistens frühzeitig im Leben eines Menschen auftreten, ist das pathologische Konzept der Behandlung kaum noch ausrei­chend. Die mehrdimensionalen Ursachen und die Veränderun­gen der Er­kran­kungen in den vergangenen Jahrzehnten stellen neue Ansprüche an die Behandlung, in welche mitunter auch andere Professionen mit einbe­zogen werden müssen. In den Vordergrund rückt da­bei immer mehr eine Intervention nach dem Prinzip der Salutogenese.[12]

3.2 Kohärenzgefühl

Unter dem Kohärenzgefühl (Sense of Coherence; SOC) versteht Anto­novsky im Wesentlichen

„eine globale Orientierung, die das Ausmaß ausdrückt, in dem jemand ein durch­dringendes Gefühl des Vertrauens hat, daß erstens die Anforderungen aus der internalen oder externalen Umwelt im Verlauf des Lebens struktu­riert, vorhersag­bar und erklärbar sind, und daß zweitens die Ressourcen verfügbar sind, die nötig sind, um den Anforderungen gerecht zu werden. Und drittens, daß diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Inves­titionen und Engagement ver­dienen.“ (Antonovsky 1993: 12)

Vereinfacht kann das Kohärenzgefühl als „eine globale Orientierung [verstanden werden], die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, andau­erndes und dennoch dy­namisches Gefühl des Vertrauens hat, dass

- die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äuße­ren Um­gebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
- einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderun­gen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;
- diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengungen und Enga­gement lohnen.“ (Antonovsky, 1997: 36)

Das Kohärenzgefühl wird hauptsächlich, so Antonovsky, in seinen wesent­lichen Zügen in den ersten zehn Lebensjahren, also im Kinder- und Jugendalter entwi­ckelt und bleibt dann weitgehend unverändert.[13] Anto­novsky geht zudem davon aus, dass das Kohärenzgefühl im Alter von 30 Jahren voll ausgebildet ist und es nach diesem Zeitraum nur geringe Möglich­keiten gibt, eine grundlegende Verän­derung herbeizuführen.[14] Eine Veränderung kann sich somit nur „aus der An­regung eines neuen Musters, eines neuen Konzeptes der Lebenserfahrung [ergeben]. Wenn dieses Muster über Jahre hinweg beibehalten wird, kann sich (..) eine graduelle Veränderung des Kohärenzgefühls ergeben“ (Lamp­recht/Johnen 1997: 24).

Die Hauptkomponenten des Kohärenzgefühls sind das Ergebnis mehrerer un­strukturierter Tiefeninterviews mit der Leitfrage, wie die Probanden selbst ihr Leben sehen. Die Interviews wurden an 51 sehr unterschiedlichen Personen durchgeführt, die allesamt zwei gemeinsame Charakteristika aufwie­sen: zum ei­nen erlebte jeder ein schweres Trauma und kamen zum anderen sehr gut damit zurecht. Als Ergebnis fielen zwei Extremgruppen mit einem sehr hohen Kohä­renzgefühl (16 Personen) und einem sehr niedri­gen Kohärenzgefühl (11 Personen) auf. Antonovsky prüfte die Protokolle der Interviews und fand drei zentrale Komponenten, die „konsistent in der einen Gruppe zu finden waren, und die in der anderen merklich fehlten.“ (Antonovsky 1997: 34) Diese Salutogeneti­scher Trias (siehe Abb. 2) setzt sich zusammen aus Verstehbarkeit, Hand­habbarkeit und Bedeutsamkeit.[15]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 : Salutogenetischer Trias[16]

3.2.1 Verstehbarkeit (Sense of Comprehensibility)

Antonovsky drückt das Merkmal Verstehbarkeit als „expliziten Kern der ursprüng­lichen Definition“ (Antonovsky 1997: 34) aus und meint das Ausmaß, in dem In­formationen als kognitiv sinnhaft, geordnet, konsistent, strukturiert und klar wahr­ge­nommen werden und nicht als chaotisch, ungeordnet, willkürlich, zu­fällig und unerklärlich. So kommentiert er zudem, dass Personen mit einem hohen Grad an Verstehbar­keit die Zukunft als vorhersagbar, oder falls sie tatsächlich über­raschend auftritt, als eingeordnet und erklärt wahrnehmen. Dabei ist jedoch nicht von der Erwünschtheit des Ereignisses die Rede, sondern lediglich, dass z.B. Tod, Krieg oder Versagen von der Per­son erklärt werden kann.[17] Pauls fügt hinzu, dass es „hier um kognitive Verarbeitungsmuster, Theoriewissen [und] Weltbilder“ (Pauls 2011: 105) geht. Die Grundlage zum Aufbau der Versteh­barkeit sind dabei konsistente Erfahrungen, die ein Ausmaß an psychologischer Offenheit für Ver­änderun­gen verlangen. Es ist demzufolge unerlässlich, dass ein emotionaler und kognitiver Lebenswandel angenommen wird. Diese Lebensver­änderungen können z.B. durch Altern, Heirat, Geburt, Auszug der Kinder, Trennung, Beruf, Erkrankung, Schicksalsschläge und Pensionierung hervorge­rufen werden.[18]

3.2.2 Handhabbarkeit (Sense of Manageability)

Entscheidend bei der Handhabbarkeit oder auch Beherrschbarkeit sind die verfügbaren und wahrgenommenen Ressourcen, wie eigene und soziale Unterstützungsfaktoren, materielle Ressoucen oder gute Arbeitsstrukturen.[19] ‚Zur Verfügung‘ stehen laut Antonovsky „Ressourcen, die man selbst unter Kontrolle hat oder solche, die von legitimierten anderen kontrolliert werden – vom Ehe­partner, von Freunden, Kollegen, Gott, der Geschichte, vom Parteiführer oder einem Arzt – von jemanden, auf den man zählen kann, jemanden dem man vertraut“ (Antonovsky 1997: 35). Eine Basis der Handhabbarkeit bildet eine gute Belastungsbalance, die es einer Person nicht erlaubt, sich durch Ereignisse in der Opferrolle gedrängt zu sehen oder sich vom Leben ungerecht behandelt zu fühlen.[20]

3.2.3 Bedeutsamkeit (Sense of Meaningfulness)

Die Bedeutsamkeits- oder auch Sinnkomponente bezieht sich auf das Ausmaß, in dem das Leben emotional als sinnvoll wahrgenommen wird. Die Basis hierfür bilden die ‚Partizipation an der Gestaltung der Handlungsergebnisse‘ sowie eine religiöse, spirituelle und lebens­philosophi­sche Orientierung. Unter der ‚Partizipation an der Gestaltung der Handlungsergebnisse‘ versteht Antonovsky (1997) die beabsichtigte Eigenentscheidung und das bewusste Wollen von Handlungen und Entscheidungen. So kann man fragen, „ob wir mitentschieden haben, ob wir diese Erfahrung machen wollen, nach welchen Spielregeln sie verlaufen soll und wie die Probleme und Aufgaben gelöst werden sollen, die aus ihr erwachsen.“ (Antonovsky 1997: 93) Darüber hinaus müssen Menschen den ihnen gestellten Aufgaben beistimmten und die ihnen bedeutende Verantwortung für ihre Handlung gegeben werden, welche sich auf das Ergebnis auswirkt. Um zu vermeiden, dass man auf ein Objekt reduziert wird, dürfen nicht andere Menschen für uns entscheiden, Aufgaben stellen, Regeln formulieren oder Ergebnisse managen, sondern wir müssen unsere Angelegenheiten selbst regeln, da im Falle der Gleichgültigkeit die Gefahr darin besteht, die Welt als bedeutungslos zu erleben. Diese Dimension besteht im familiären und sozialen Umfeld, unter welchem „somit nicht nur die weitgehend autonome Person, sondern auch das loyale Parteimitglied, der religiöse Gläubige, der Kollege in der Arbeitsgruppe und das Kind in der gesunden Familie“ (Antonovsky 1997: 94) zu verstehen sind. Antonovsky weist besonders darauf hin, dass es sich hierbei nicht um ‚Kontrolle‘, sondern ‚Partizipation an Entscheidungsprozessen‘ handelt.[21] Eine kausale Beziehung zwischen der Bedeutsamkeitskomponente und der Partizipation an der Gestaltung der Handlungsereignisse wirkt sich folglich so aus, dass das Erleben der Bedeutsamkeit gefördert wird, wenn das Individuum an Entscheidungsprozessen beteiligt ist. Dieser Prozess kann allerdings nur unter der Voraussetzung der sozialen Anerkennung wirksam werden. Dieses Dilema wird am Beispiel der Tätigkeit von Hausfrauen deutlich. Hausfrauen partizipieren zwar einerseits an Entscheidungs­prozessen, finden aber andererseits in einer auf Arbeit ausgerichteten Gesellschaft nur sehr wenig soziale Anerkennung.[22]

3.3 Bio-psycho-soziales Modell

Der Einfluss der Salutogenese ist besonders am weit verbreiteten Konzept des Bio-psycho-sozialen Modells zu erkennen. „Antonovskys Überlegungen wurden zweifellos von soziologischen, biologischen und psychologischen Konzepten für die Erklärung menschlicher Entwicklung und menschlichen Verhaltens beeinflusst“, so bringen es Dr. Jörg Schulz von der Humboldt-Universität zu Berlin und Dr. Ulrich Wiesmann (Universität Greifswald) in ihrem Arti­kel „Zur Salutogenetischen Denkweise bei der Betrachtung des Menschen“ in der Zeitschrift „Salutogenese - Der Mensch als biopsychosoziale Ein­heit“ auf den Punkt. Antonovsky selbst wies 1979 bereits auf die Notwendigkeit der biopsychosozialen Betrachtung hin, bei dem der Subjektivität des Ent­wicklungsprozesses besondere Beachtung geschenkt werden müsse.[23] Die Zeitschrift „Der Mensch“ ist das erste Magazin für Salutogenese und wird vom Dachverband für Salutogenese herausgegeben. Thomas Lichte und Markus Hermann gehen in ihrem Artikel „Mehr Salutogenese in der Lehre – Förderung der ressourcenorientierten Sichtweise bei Studierenden“, der im Jahr 2007 veröffentlicht wurde, auf das Bio-psycho-sozi­ale Modell in Bezug auf die Salutogenese ein. Das genannte Modell nach G. Engels fordert eine Betrachtung aus den drei unterschiedlichen Professionen der Biologie, Psyche und der sozialen Situation, welche unter anderem Sozialarbeiter wahrnehmen. In der Medizin geht das Bio-psycho-soziale Modell mit dem nachfolgend dargestellten „SOAP-Schema“ einher und gestaltet systematisch einen Patient-Arzt-Kontakt.[24]

S ubjektiv à Beschwerden der Patienten

O bjektiv à Befunde der körperlichen Untersuchung

A nalyse à Gespräch mit Patienten über Befunde und Verlauf

P lan à Planung und Behandlung zusammen mit dem Patienten, Salutogenetische Aspekte und die Verwendung der Ressourcen des Betroffenen wie z.B. Erfahrungen, Sozialisation, familiäre Unterstützung

3.4 Soziale Arbeit im Salutogenetischen Ansatz

Die Soziale Arbeit ist neben den wesentlichen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe, der sozialen Hilfe und der Altenhilfe ebenso in der Gesundheitsförderung mit ca. 25 % aller Sozial­arbeiter stark etabliert. Eine besondere Bedeutung im Gesundheitssektor wurde der Sozialen Arbeit durch die Ottawa-Charta[25] der WHO von 1986 zugeschrieben, in der die Gesundheitshilfe in ei­ner engen Wechselbeziehung zur Einzelfallhilfe, zur sozialen Gruppenhilfe und zur Gemeinwesenarbeit steht.[26] Zudem wurde die Gesundheitsförde­rung als gesellschaftliche Aufgabe festgelegt, die „allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit ermöglicht und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit befähigt“ (WHO 1987). Dabei deckt sich der in der Sozialen Arbeit übliche lebensweltorientierte Ansatz mit dem salutogenen Ansatz und kann nahezu vollständig übertragen werden. Köppel verweist dabei auf die dreifache Hinsicht der Sozialen Arbeit im Gesund­heitssektor, die in Anlehnung an Homfeldt (2002)

- als traditionelles Feld von Sozialarbeit im Gesundheitswesen,
- als Mitwirkungsmöglichkeit von Sozialarbeitern bei der Gesundheits­förderung in außerpädagogischen Feldern und
- als gesundheitsfördernde Tätigkeit von Sozialarbeitern in den Feldern der Sozialen Arbeit

[...]


[1] Kapstadt-News, 2008: Australien löste 2007 Südafrika als weltweit größten Goldprodu­zent ab, Beitrag Nr.: 460.

[2] Katiza, Anna, 2007: Symptome vs. Ressourcen.

[3] Originaltext: „Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“

[4] Vgl. Kaluza, Gert, 2011: Stressbewältigung. Trainingsmanual zur psychologischen Gesund­heitsförderung, S. 6.

[5] Vgl. ebd., S. 7.

[6] Vgl. Verein für Sozialgeschichte der Medizin, 2004: Virus. Beiträge zur Sozialge­schichte der Medizin 4, S. 52.

[7] Vgl. Siegrist, Johannes: 2005: Medizinische Soziologie, S. 18.

[8] Vgl. ebd., S. 26.

[9] Vgl. Kolip, Petra et al., 2010: Gesundheit: Salutogenese und Kohärenzgefühl, S. 11 f.

[10] Vgl. Singer, Susanne; Brähler, Elmar, 2007: Die >>Sense of Coherence Scale<<. Testhandbuch zur Deutschen Version, S. 9.

[11] Vgl. Nowak, Rosa C., 2011: Transaktionsanalyse und Salutogenese. Der Einfluss trans-aktionsanalytischer Bildung auf Wohlbefinden und emotionale Lebensqualität, S. 78.

[12] Vgl. Köppel, Monika, 2003: Salutogenese und Soziale Arbeit, S. 25.

[13] Vgl. Lamprecht, Friedhelm; Johnen, Rolf, 1997: Salutogenese. Ein neues Konzept in der Psycho-somatik?, S. 24.

[14] Vgl. Bäumer, Rolf; Maiwald, Andrea, 2008: Thiemes Onkologische Pflege, S. 20.

[15] Vgl. Antonovsky, Aaron; Franke Alexa (Hrsg.), 1997: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, S. 34.

[16] Pauls, Helmut, 2011: Klinische Sozialarbeit. Grundlage und Methoden psycho-sozialer Behandlung, S. 107.

[17] Vgl. Pauls, Helmut, 2011: Klinische Sozialarbeit. Grundlage und Methoden psycho-sozialer Behandlung, S. 107.

[18] Vgl. ebd., S. 105.

[19] Vgl. ebd., S.106.

[20] Vgl. Antonovsky, Aaron; Franke Alexa (Hrsg.), 1997: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, S. 35.

[21] Vgl. Antonovsky, Aaron; Franke, Alexa (Hrsg.), 1997: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, S. 93 f.

[22] Vgl. Felbinger, Andrea, 2010: Kohärenzorientierte Lernkultur. Ein Modell für die Erwachsenen-bildung, S. 113.

[23] Vgl. Schulz, Jörg; Wiesmann, Ulrich, 2007: Zur Salutogenetischen Denkweise bei der Betrach-tung des Menschen. Salutogenese - Der Mensch als biopsychosoziale Einheit, 1/ 2007.

[24] Vgl. Lichte, Thomas; Hermann, Markus, 2007: Mehr Salutogenese in der Lehre. Förderung der res­sourcenorientierten Sichtweise bei Studenten, 38-1/2007.

[25] Ottawa-Charta: ein Dokument zur Gesundheitsförderung, das am 21. November 1986 im kanadischen Ottawa zum Abschluss der ersten internationalen Konferenz zur Gesund­heitsförderung von der WHO veröffentlicht wurde.

[26] Vgl. Köppel, Monika, 2003: Salutogenese und Soziale Arbeit, S. 30.

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Einflüsse von sozialen Faktoren auf die Genesung: Analyse anhand einer Studie in einem Kinderheim in Südafrika
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
74
Katalognummer
V198619
ISBN (eBook)
9783656249672
ISBN (Buch)
9783656252672
Dateigröße
968 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
salutogenetische, aspekte, beispiel, südafrika
Arbeit zitieren
Daniela Brieschenk (Autor:in), 2012, Einflüsse von sozialen Faktoren auf die Genesung: Analyse anhand einer Studie in einem Kinderheim in Südafrika, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198619

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