Schlegel Geschlechterrollenwechsel und ,polarer‘ Geschlechterdiskurs in Friedrich Schlegels "Lucinde"


Hausarbeit (Hauptseminar), 2010

20 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


1. Einleitung

Ich möchte in meiner Arbeit den polaren Geschlechterdiskurs in Friedrich Schlegels „Lucinde“ behandeln und den damit verbundenen Entwicklungsprozess Julius´. Dafür wird es nötig sein, die Merkmale des weiblichen und männlichen Geschlechts zu ergründen, um die gegensätzlichen Eigenschaften zu verstehen und um zu erkennen, wie sich Mann und Frau wechselseitig ergänzen bis hin zur vollkommenen Liebe.

2. Merkmale der Weiblichkeit

a. „Liebe ohne Gegenstand“1

Das mit „Lehrjahre der Männlichkeit“ überschriebene Kapitel der „Lucinde“ ist das weitaus längste Kapitel und bildet das strukturelle Zentrum. Des Weiteren setzt sich dieses Kapitel von den vorangegangenen ab, da eine Art auktoriale Erzählperspektive eingenommen wird. Julius wird zum Protagonisten. Dieser Teil stellt die Entwicklung des Protagonisten vom jugendlichen Alter bis zur Erzählgegenwart dar. Julius´ Grundproblem, die „Liebe ohne Gegenstand“2 wird schon am Anfang des Kapitels eingeführt:

Pharao zu spielen mit dem Anscheine der heftigsten Leidenschaft und doch zerstreut und abwesend zu sein; in einem Augenblick von Hitze alles zu wagen und sobald verloren war, sich gleichgültig wegzuwenden: das war nur eine von den schlimmen Gewohnheiten, unter denen Julius seine wilde Jugend verstürmte. Diese eine ist genug, den Geist eines Lebens zu schildern, welches in der Fülle der empörten Kräfte selbst den unvermeidlichen Keim eines frühen Verderbens enthielt. Eine Liebe ohne Gegenstand brannte in ihm und zerrüttete sein Inneres.3

Dieses Grundproblem bleibt bis zu der Begegnung mit Lucinde bestehend. Allen Frauen, denen Julius in den frühen Jahren seiner wilden Jugend begegnet, führen ihn nicht zu seiner Mitte und verhelfen ihm nicht zur Vollkommenheit. Es ist ihm, „als wollte er eine Welt umarmen und könne nichts greifen.“4 Somit sind diese Frauen nur Stationen in Julius´ Leben auf der Suche nach der Liebe und repräsentieren deshalb jeweils nur Teile des Ganzen.

In den folgenden Abschnitten möchte ich genauer auf die zu entwickelnde Liebesfähigkeit des Protagonisten Julius eingehen und dessen Erwachsenwerden, was einhergeht mit der vollkommenen Liebe zu Lucinde, deutlich machen.

i. „Louise“

Der Protagonist Julius wechselt in dem ganzen Kapitel „Lehrjahre der Männlichkeit“ zwischen Schwermut und Ausgelassenheit. Sein ganzes Dasein ist durch tiefe Melancholie geprägt und nur seine Erinnerungen an die Jugend, die selbst nur „Bruchstücke ohne Zusammenhang“5 sind, „blieben ihm ewig theuer und deutlich.“6 Doch aus dieser Melancholie scheint Julius ausbrechen zu können, denn „noch war er nicht ganz verdorben als im Schooß der einsamen Wünsche ein heiliges Bild der Unschuld in seine Seele blitze.“7 Er begegnet einem jungen Mädchen und dieses „war entscheidend für sein ganzes Leben.“8 Die Enttäuschungen des jugendlichen Protagonisten beginnen mit der ersten Verliebtheit in Louise.

„Daß sie kaum reif und noch an der Gränze der Kindheit war, reizte sein Verlangen nur um so unwiderstehlicher.“9 Louises Naivität, die der erwachsenen, weiblichen Sinnlichkeit noch vorausgeht, ihre Fröhlichkeit und Leichtfertigkeit sind für Julius so reizend, dass er glaubt, ohne Louise nicht mehr leben zu können und sie zu besitzen, „schien ihm das höchste Gut.“10

Er versucht, sie zu verführen, aber sie ziert sich anfänglich jedoch weicht schließlich ihr Widerstand unter Julius „Strom von Bitten […] und Schmeicheleien.“11 Unter seinen Liebkosungen bricht Louise plötzlich zusammen und sie beginnt zu weinen, worauf Julius sie erschreckt als „Opfer“ wahrnimmt und seinen Verführungsversuch bereut. Er fühlt offenbar so etwas wie Verantwortung dem jungen Mitmenschen gegenüber, sieht in ihm nicht nur mehr den Geschlechtspartner als zu eroberndes Objekt. Sein Eindruck beim nächsten Zusammentreffen, das Mädchen habe letztlich doch verführt werden wollen, entrüstet ihn und er bricht die Beziehung ab. Enttäuscht von dieser ersten jungen Liebe, lebt Julius wieder auf „die alte Weise in einem Wechsel von Schwermuth und Ausgelassenheit“12 bis er einer neuen Dame begegnet.

ii. „Die Kokette“

Julius wählt eine Dame, die „am freyesten lebte und am meisten in der guten Gesellschaft glänzte.“13 Sie ist nicht mehr zur „Freude und Fröhlichkeit“14 fähig, jedoch hat sie auch noch keinen Geist, dafür verfügt sie über genauso viel „Verstand und Schlauigkeit, als es braucht, um […] die Männer zu locken und zu lenken“15 und sie setzt diese Eigenschaften auch gezielt ein, um ihre Eitelkeit zu befriedigen. Diese Frau nutzt den jungen Julius zu ihrem Vergnügen bzw. zu ihrer Selbstbestätigung. Als Julius dieses falsche Spiel registriert, schwört er der Gesellschaft ab. „Die Begegnung mit [der] Koketten und die Erfahrung der ‚Intrigen einer schlechten Gesellschaft‘“16 vertiefen nicht nur Julius´ Misstrauen gegen die Frauen sondern es scheint, als habe er die Geschlechterrollen erfasst und für sich festgelegt:

Alles schwankte, nur das ward ihm klarer und fester, daß vollendete Narrheit und Dummheit im Großen das eigentliche Vorrecht der Männer sey, muthwillige Bosheit hingegen mit naiver Kälte und lachender Gefühlslosigkeit eine angebohrene Kunst der Frauen.17

Julius schreibt „der Frau negative Merkmale wie mutwillige Bosheit, Prüderie und fehlende erotische Bildungsfähigkeit zu […], während der Mann lediglich ‚ungeschickt‘ ist.“18

iii. „Lisette“

Julius verachtet die bessere Gesellschaft und die dazugehörigen Frauen. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass er sich nun einer „beynah öffentlichen“19 Frau zuwendet. „Im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin steht sie [Lisette] außerhalb der Gesellschaft und ihrer Konventionen.“20 Julius führt mit Lisette die erste sinnlich befriedigende Beziehung:

Was sie ihm so interessant machte, war nicht allein das weshalb sie allgemein gesucht und gleichsam berühmt war, ihre seltne Gewandtheit und unerschöpfliche Mannichfaltigkeit in allen verführerischen Künsten der Sinnlichkeit. Ihr naiver Witz überraschte ihn mehr und reizte ihn am meisten, wie die hellen Funken von rohem tüchtigem Verstand, vorzüglich aber ihre entschiedne Manier und ihr konsequentes Betragen. Mitten im Stande der äußersten Verderbtheit zeigte sie eine Art von Charakter; […].21

Schlegel gestaltet hier das Motiv der leidenschaftlichen, früh verführten und dann moralisch verurteilten Frau, der die Rückkehr in die ehrbare Gesellschaft nicht mehr möglich ist. Außerdem zieht Lisette aus ihrem Außenseitertum große Stärke, wie sie Julius an Frauen, die innerhalb der bürgerlichen Konventionen leben, noch nicht erfahren hat. Julius scheint in ihr seine erste Liebe gefunden zu haben. Jedoch kann er nie Herr werden über die Geringschätzung, „die ihm ihr Stand und ihr Verderben einflößte, und sein unauslöschliches Mistrauen schien ihm hier gerecht zu seyn.“22 Julius kann, trotz seiner aufrichtigen Haltung ihrer Persönlichkeit gegenüber, ihre Vergangenheit und ihr Gewerbe nicht vergessen. Als Lisette dann ihre Schwangerschaft verkündet, ist Julius entrüstet und glaubt ihr nicht, da „sie trotz ihres Versprechens nicht vor kurzem Besuche von einem anderen angenommen hatte.“23 Julius weist Lisette zurück und verlässt sie für immer. Kurz darauf bringt sie sich auf grausame Weise um mit den Worten: „‘Lisette soll zu Grunde gehen, zu Grunde jetzt gleich: so will es das Schicksal, das eiserne.‘“24 Julius verzweifelt an dem Anblick der toten Lisette und zieht direkt einen Vergleich mit der zuvor kennengelernten Dame und „sein Gefühl mußte laut entscheiden, daß jene [Lisette] sittlicher und weiblicher sey.“25 Julius stellt fest, dass die Gesellschaft hinterhältige Intriganten respektiert und bewundert und so beschließt Julius „die gesellschaftlichen Vorurtheile, welche er bisher nur vernachlässigte, nun ausdrücklich zu verachten.“26 Somit möchte sich Julius aus dem Kreise der gesellschaftlichen Damen zurückziehen und sich der Freundschaft mit gleichaltrigen jungen Männern widmen.

iv. Die Freundschaften zu Jünglingen

Julius hegt die Hoffnung, durch Freundschaft mit jungen Männern wieder Halt und Klarheit in sein Leben zu bringen. Der junge Julius warf seinen ganzen Sinn auf die Freundschaft mit Jünglingen, die wie er der Begeisterung fähig waren. Diesen ergab er sein Herz, nur sie waren für ihn wahrhaft wirklich, die übrige Menge gemeiner Schattenwesen freute er sich zu verachten. […] Er erhitzte sich in seinen eigenen Gedanken und Gesprächen und war berauscht von Stolz und Männlichkeit.27

Diese Freundschaften sind ein Mittel um sich von der unlebendigen und sinnlos empfundenen Gesellschaft zu distanzieren. Die „Göttlichkeit der männlichen Freundschaft“28

[...]


1 Friedrich Schlegel: Lucinde. Ditzingen 2005. S.52

2 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.52

3 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S. 52

4 Friedrich Schlegel: Lucinde. Ditzingen 2005. S. 53

5 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.54

6 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S. 54

7 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.54

8 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S. 55

9 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S. 55

10 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S. 55

11 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.56

12 Friedrich Schlegel: Lucinde. Ditzingen 2005. S.57

13 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.58

14 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.59

15 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.59

16 Cordula Braun: Divergentes Bewusstsein: Romanprosa an der Wende zum 19. Jahrhundert. Interpretation zu Schlegels Lucinde, Brentanos Godwi und Jean Pauls Leben Fibels. Frankfurt 1999. S. 168

17 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.60

18 Volker Hoffmann: Elisa und Robert oder das Weib und der Mann, wie sie sein sollten. Anmerkungen zur Geschlechtercharakteristik der Goethezeit. In: Karl Richter (Hg.): Klassik und Moderne. Stuttgart 1983. S. 80-97

19 Friedrich Schlegel: Lucinde. Ditzingen 2005. S.61

20 Manfred Engel: Der Roman der Goethezeit. Anfang in Klassik und Frühromantik. Transzendentale Geschichten. Stuttgart 1993. S.412

21 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.61

22 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.64

23 Friedrich Schlegel: Lucinde. Ditzingen 2005. S.64

24 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.65

25 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.65

26 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.65

27 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.66

28 Ebd.: Schlegel: Lucinde. S.66

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Schlegel Geschlechterrollenwechsel und ,polarer‘ Geschlechterdiskurs in Friedrich Schlegels "Lucinde"
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Veranstaltung
Cross-Dressing in der Erzählliteratur
Note
2,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
20
Katalognummer
V198539
ISBN (eBook)
9783656249054
ISBN (Buch)
9783656249498
Dateigröße
570 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Cross-Dressing, Geschlechterwechsel, Liebe
Arbeit zitieren
Julia Edel (Autor:in), 2010, Schlegel Geschlechterrollenwechsel und ,polarer‘ Geschlechterdiskurs in Friedrich Schlegels "Lucinde", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198539

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