Sterben und Tod als Unterrichtsthema für Schüler mit geistiger Behinderung

Aktueller Forschungsstand und Möglichkeiten der unterrichtlichen Umsetzung an der Förderschule


Examensarbeit, 2007

237 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Vorwort

2. Einleitung

3. Begriffsklärung

4. Der Umgang in unserer Gesellschaft mit Tod und Sterben
4.1 Verdrängung und Unbedeutsamkeit
4.2 Enttabuisierung

5. Der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Tod
und Sterben
5.1 Die Todesvorstellung von Kindern und Jugendlichen
5.1.1 Die kognitive Komponente der Todesvorstellung
5.1.2 Die emotionale Komponente der Todesvorstellung
5.2 Das Trauerverhalten von Kindern und Jugendlichen

6. Der Umgang von geistig behinderten Jugendlichen mit Tod
und Sterben
6.1 Die Todesvorstellung von geistig behinderten Jugendlichen
6.2 Das Trauerverhalten von geistig behinderten Jugendlichen
6.3 Eigene empirische Untersuchung zum Todeserleben geistig behinderter Jugendlicher
6.3.1 Forschungskonzeption und -organisation
6.3.2 Durchführung der Interviewstudie
6.3.3 Auswertung der Interviews
6.3.4 Darstellung der Einzelfälle
6.3.5 Zusammenfassung der Ergebnisse
6.3.6 Kritische Reflexion der Studie

7. Gründe für eine schulische Thematisierung
7.1 Anthropologisches Argument
7.2 Entwicklungspsychologisches Argument
7.3 Bildungstheoretisches Argument
7.4 Gesellschaftliches Argument
7.5 Ethisches Argument

8. Bisherige Thematisierung im Unterricht

9. Notwendige Voraussetzungen und mögliche Schwierigkeiten
9.1 Voraussetzungen des Lehrers
9.2 Voraussetzungen der Schule
9.3 Voraussetzungen der Klasse/ Schüler
9.4 Voraussetzungen der Eltern

10. Möglichkeiten der Behandlung des Themas Tod und Sterben
im Unterricht an der Schule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
10.1 Sterben und Tod als aktuelles Thema in der Schule
10.2 Sterben und Tod als Sachthema

11. Unterrichtsentwurf für eine Projektwoche zum Thema
„Sterben, Tod und Trauer“
11.1 Beschreibung der Ausgangslage
11.2 Lernziele
11.3 Aufbau der Unterrichtssequenz
11.4 Reflexion der Projektwoche

12. Auswirkungen von Unterrichtsprogrammen zu Tod und Sterben

13. Fazit

14. Literaturverzeichnis

15. Anhang
15.1 Interviewleitfaden
15.2 Transkribierte Interviews
15.2.1 Interview mit S1
15.2.2 Interview mit S2
15.2.3 Interview mit S3
15.2.4 Interview mit S4
15.2.5 Interview mit S5
15.2.6 Interview mit S6
15.2.7 Interview mit S7
15.2.8 Interview mit S8
15.2.9 Interview mit S9

1. Vorwort

Zum Gelingen meiner Arbeit haben viele Menschen beigetragen. Ich möchte besonders der Lehrerin Martina S. und dem Betreuer dieser Arbeit Dr. Volker Daut recht herzlich danken, die mir mit ihren kompetenten Ratschlägen sehr geholfen haben.

Der sprachlichen Einfachheit halber wird in meinen Ausführungen durchgehend das konventionelle grammatikalische Geschlecht benutzt. Selbstverständlich sind bei allen personalen Benennungen weibliche als auch männliche Vertreter gemeint, es sei denn eine Einschränkung auf ein Geschlecht wäre explizit erwähnt.

2. Einleitung

„Bei jeder Fußball-WM denkst du dir, schon wieder vier Jahre vorbei, das Leben ist nur ein Huscher, du kaufst dir ein Radio, dann einen Fernseher, dann einen Video. Und dann bestellst du dir ein Faxgerät, und der Faxmonteur läutet bei dir an der Tür, und du machst auf, und es ist nicht der Faxmonteur, sondern der Knochenmann holt dich ab. Ist es nicht so, wenn wir uns ehrlich sind?“ (Haas 2006, 26).

Es ist so wie Wolf Haas in seinem Kommissar Brenner-Roman „Der Knochenmann“ auf eigentümliche Art und Weise schildert. Obwohl wir wissen, dass der Tod eines Tages auch vor unserer Türe steht, denken wir kaum an ihn. Er überrascht uns zumeist mitten im Leben, obgleich uns doch allen klar sein sollte, dass jeder von uns irgendwann einmal sterben muss. Selbst wenn der Tod durchaus nahe liegend im hohen Alter an unsere Tür klopft, fällt es uns schwer ihn als unser Ende zu akzeptieren, geschweige denn über ihn zu kommunizieren. Ich erinnere mich noch genau, wie meine 85jährige Großmutter immer wieder ihr Alter und ihren baldigen Tod ansprach. Mir, ihrem Enkel, fiel bis zu ihrem Tod nichts Besseres ein als immer wieder abzuwiegeln: „Ach Oma, denk doch nicht an so was! Du bist doch noch gesund!“.

Es scheint in unserer westlichen Gesellschaft nicht üblich zu sein sich mit Sterben, Tod und Trauer zu beschäftigen. Dies merkte ich allein schon an den vielen fragenden Blicken von Freunden angesichts des Themas meiner Arbeit. Warum gilt es als sonderbar sich mit etwas zu beschäftigen, das unausweichlich mit unserem Leben verbunden ist? Tod und Sterben gehören zu unserem Leben unweigerlich dazu. Natürlich weiß das insgeheim jeder. Dennoch fällt es den meisten Menschen schwer diese Tatsache auszusprechen, geschweige denn sie in ihre Lebensführung einzubeziehen.

Seit einigen Jahren ist jedoch eine Trendwende zu beobachten. Die Masse an Ratgeber-, Kinder- und Jugendliteratur zu der Thematik, die seit den 1980er Jahren auf den Büchermarkt drängt, erschlägt einen geradezu. Darin bemühen sich vor allem Journalisten, Psychologen, Pädagogen und Theologen verstärkt darum, dass Thema Sterben und Tod Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen (vgl. Everding 2005, 21/ Plieth 2002, 245).

Verfolgt man diese Tendenz der letzten 20 Jahre, so verwundert es, dass die existentielle Thematik dagegen kaum Eingang in wissenschaftlichen Untersuchungen erhalten hat (vgl. Wittkowski 1990, 34; 2002, 7). Laut Joachim Wittkowski, dem führenden deutschsprachigen Forscher auf diesem Gebiet, „ist eine systematische und auf Dauer angelegte wissenschaftliche Beschäftigung mit der Todesthematik, welche die Grundlagen für fachlich verantwortbares Handeln in der Praxis liefern könnte, in Deutschland kaum erkennbar. Um nur einige Stichworte zu nennen: Es gibt keine einzige universitäre oder außeruniversitäre Forschungseinrichtung, kein Graduiertenkolleg, keine Fachzeitschrift und wenig fachwissenschaftliche Literatur im engeren Sinne“ (Wittkowski 2003a, XIII). Lehrstühle, zu deren Aufgabengebiet die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben zählt, gibt es in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht.

In den USA sieht die Lage etwas besser aus. Dort werden in den beiden Zeitschriften „Death Studies“ (früher: „Death Education“) und „Omega – Journal Of Death And Dying“ regelmäßig Studien rund um das Erleben und Verhalten der Menschen gegenüber Tod und Sterben veröffentlicht. Zudem gibt es in den USA seit Mitte der 1960er Jahre im Rahmen einer allgemeinen „Death Awareness“ Bewegung, schulische und außerschulische „Death Education“ Programme zu den Themen Tod und Sterben (vgl. Wittkowski 2002, 20/ Kalish 1989, 76f/ Plieth 2002, 227ff/ Reuter 1994b, 104f). Diese stellen pädagogisch-psychologische Möglichkeiten dar, die Kursteilnehmer mit dem Tod vertraut zu machen, indem ihre Vorstellungen und Fragen zu Tod und Sterben thematisiert werden, Wissen über Tod und Sterben vermittelt und somit die Angst davor reduziert wird (vgl. Durlak 2003, 212f/ Warren 1984, 184/ Morgan 2003, 21). Death Education wird mittlerweile auch im schulischen Bereich eingesetzt und ist in den USA mittlerweile ein mehr oder weniger fester Bestandteil von Schullehrplänen (vgl. Kalish 1989, 78/ Wass/Neimeyer 1995, 442/ Rosemeier/Minsel 1984, 370).

Für Deutschland liegen hingegen kaum Informationen bezüglich der Verbreitung und Durchführung der Todesthematik an Schulen vor. Meistens wird Tod und Sterben an deutschen Schulen nur behandelt, wenn aktuelle Fälle in der Familie oder der Schule vorliegen. Dies ist neben der Suizidprävention übrigens auch die gängigste Form der schulischen Death Education in den USA.

Das gleiche Bild zeigt sich im Bereich der deutschen Förderschulen. Die wenigen dahingehenden sonderpädagogischen Veröffentlichungen setzen sich in erster Linie mit dem adäquaten Umgang mit aktuellen Todesfällen oder mit sterbenskranken Kindern auseinander (vgl. Haupt 1991/ Schweizer/Niedermann 2000/ Daut 2001/ Ortmann 1995/ Leyendecker/Lammers 2001/ Jennessen 2005/ Verband Sonderpädagogik 2004/ Schroeder et al. 2000).

Ich dagegen möchte mich mit meiner Arbeit hauptsächlich der präthanatalen Beschäftigung mit Sterben und Tod im Unterricht ohne aktuellen Anlass widmen. Diese scheint mir gleichzeitig am hilfreichsten bei der zukünftigen Bewältigung von Tod und Sterben und in der bisherigen Diskussion am meisten vernachlässigt.

Mir ist jedenfalls bis dato keine Arbeit bekannt, die sich mit der unterrichtlichen Thematisierung von Tod und Sterben bei geistig behinderten Jugendlichen als Sachthema außerhalb des Religionsunterrichts auseinandersetzt. Die einzige Veröffentlichung dazu von Heinrich Schurad, handelt das Thema Tod im Sachunterricht auf gerade mal drei Seiten ab – gemeinsam mit Gesundheit und Krankheit (vgl. Schurad 2002, 112-114). Mit Hilfe dieser Arbeit soll also versucht werden diese Lücke weiter zu schließen.

Ziel meiner Arbeit ist es dem Tod, als wichtiges Lebensthema, einen angemessenen Stellenwert in der Schule einzuräumen und ihn in den Alltag menschlicher Erfahrung zurückzuholen, so dass Kinder und Jugendliche bereits im Schulalter lernen können, den Tod als Teil des Lebens zu verstehen, ihren Alltag bewusster zu gestalten und den Tod mit in ihren Lebensalltag einzubeziehen.

Ich möchte mit meinen Ausführungen den Lehrern Mut machen, sich der Thematik Tod und Sterben im Unterricht zu stellen, ihr nicht auszuweichen und sie so nach der Sexualkunde zu einem weiteren neuen Thema in der Schule zu machen.

Meine Arbeit gliedert sich in drei Teile:

Zuerst werde ich die Begriffe Tod und Sterben klären, da diese die Grundlage der Arbeit bilden. In einem nächsten Schritt zeige ich den gesellschaftlichen Umgang mit Tod und Sterben auf, werde die Folgen für die heutige Jugend und deren Todesvorstellungen skizzieren, um daraus die pädagogische Relevanz des Themenkreises Tod-Sterben-Trauer für die Schule zu begründen.

Im empirischen Teil der Arbeit gebe ich einen Überblick über den Forschungsstand zu den Todesvorstellungen und dem Todeserleben geistig behinderter Jugendlicher und werde diesen durch meine eigene explorative Interviewstudie mit neun geistig behinderten Jugendlichen erweitern.

Ausgehend von diesen Ergebnissen stelle ich im abschließenden Praxisteil mit einer eigens ausgearbeiteten und im Unterricht erprobten Unterrichtssequenz eine Möglichkeit der Thematisierung von Tod und Sterben in Form einer Projektwoche vor und fasse die generellen Auswirkungen von thanatalen Unterrichtsprogrammen zusammen.

3. Begriffsklärung

Sterben und Tod werden – sofern sie nicht beschönigend umschrieben werden – in unserer Alltagssprache häufig gleich verwendet. Wie schwer es tatsächlich ist, beide eindeutig zu definieren und voneinander abzugrenzen, soll im Folgenden gezeigt werden, um unzulässige Gleichsetzungen und Missverständnisse zu vermeiden.

Sterben und Tod sind Phänomene, die den Menschen schon immer in jeder Lebensphase und in allen Kulturen beschäftigt haben. Stellen sie doch neben der Geburt eine der wenigen universellen Ereignisse dar, die jeden Menschen betreffen. Obwohl sie wesensmäßig zu unserem Leben dazugehören, sind sie uns aber in Wirklichkeit sehr fremd.

Immerhin sind uns zwei Dinge über Tod und Sterben klar: Sterben geschieht zeitlich vor dem Tod und stellt im Gegensatz zum Tod, der ein Zustand ist, einen Prozess dar. Der Mensch stirbt nämlich nicht an einem Zeitpunkt, sondern Sterben bezeichnet einen komplexen und unterschiedlich langwierigen Prozess, der mit dem Tod endet (vgl. Ramachers 1994, 21/ Samarel 2003, 132ff). Sterben ist der Übergang zwischen Leben und Tod, sozusagen die Vorstufe des Todes, die „Nahtstelle zwischen Sein und Nicht-Sein“ (Meyer 1982, 15), aber eben noch Leben. Sterben ist ein Verenden im Leben, während der Tod das Ende des Lebens markiert.

Ebenso unspezifisch bleiben medizinische Definitionsversuche, die Sterben als „jene Endphase des Lebens […], in der die psychischen und somatischen Funktionen erlöschen“ (Meyer 1982, 16) bezeichnen oder als „irreversiblen Verfall der Lebensqualität definieren, der dem Tod eines einmaligen Individuums vorausgeht“ (Barnard 1981, 32).

Wann beginnt der Prozess, den wir Sterben nennen? Hierzu gibt es verschiedene Betrachtungsweisen (vgl. Özkan 1997, 14/ Meyer 1982, 16/ Wittkowski 1990, 117/ Veatch 1995, 423/ Kastenbaum 1989b, 103). Beginnt der Sterbeprozess, wenn der Arzt erkannt hat, dass der Tod unabwendbar ist oder erst wenn über diese ärztliche Gewissheit mit dem Patient geredet wird? Kann man von Sterben reden, wenn der Patient selbst eingesehen und akzeptiert hat, dass er stirbt oder nur dann, wenn der Arzt nichts mehr tun kann, um das Leben des Patienten zu retten? Oder ist es vielmehr so, dass der Mensch bereits ab dem Zeitpunkt seiner Geburt stirbt, wie die Philosophen Seneca und Montaigne behaupten?

Dies sind schwer zu beantwortende Fragen. Der Zeitpunkt des Sterbens bleibt wohl nicht exakt bestimmbar, weil er Interpretationssache und abhängig von der jeweiligen Wahrnehmung, Informationsverarbeitung und Beurteilung ist (vgl. Howe 1987, 39f/ Samarel 2003, 136).

Nur Eines scheint klar: Sterben endet mit dem Tod. Aber wann tritt dieser ein? Genauso wie der Beginn ist auch das Ende des Sterbens nur schwer abgrenzbar.

Schon etliche Philosophen wie Merleau-Ponty, Scheler, Kierkegaard, Jaspers, Simmel, Heidegger, Sartre und Schopenhauer haben sich den Kopf über den Tod zerbrochen. Sie haben erkannt, dass es äußerst schwierig ist, über etwas eine Aussage zu treffen, das man selbst noch nicht erfahren hat und über das man, wenn man es selbst erfährt, nicht mehr Kunde geben kann. Die Sprache der Lebenden kann den Sachverhalt des Todes einfach nicht fassen. Wir können unseren eigenen Tod in der Zukunft nicht in der Gegenwart denken. Schon Epikur machte diesen Sachverhalt bereits 300 Jahre vor Christus deutlich: „Solange wir sind, ist der Tod nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht da“ (Epikur zit. nach Neysters/Schmitt 1993, 65). Wir können den Tod nur bei anderen miterleben, aber erfahren werden wir von den Toten nichts. Der Tod bleibt ein Rätsel für die Wissenschaft. Selbst Theologen sind sich lediglich sicher, dass es den Tod gibt (vgl. Jüngel 1980, 12/ Lotz 1980, 79). Somit ist der Tod in seiner Gesamtheit wissenschaftlich nicht klar und eindeutig zu definieren (vgl. Habermas/Rosemeier 1990, 268/ Karusseit 1994, 71/ Mischke 1996, 14).

„Der Tod ist das Unbekannte, von dem sich nur sagen läßt, daß er die Negation des Lebens oder das Nicht-Sein ist“ (Meyer 1982, 15). Er ist ein Beziehungsbegriff und ohne seinem Gegenteil, dem Leben, nicht denkbar.

Selbst Definitionsversuche aus der Medizin, die sich nur auf die somatischen Symptome des Todes beschränken, sind umstritten. So gilt zwar seit der Harvard-Kommission von 1968 das irreversible Erlöschen der Hirnfunktionen als Kriterium für den Eintritt des Todes beim Menschen, doch über die Gleichsetzung von Hirntod mit dem Tod der Person lässt sich streiten (vgl. Veatch 1995, 409/ Körtner 1996, 34/ Möller 2006, 44/ Zucker 2003, 248).

Kritiker behaupten, dass der Verlust aller Hirnfunktionen empirisch überhaupt nicht nachgewiesen werden kann. Die gesamten Hirnfunktionen seien weder bekannt noch messbar. Es ist also nicht mit Sicherheit auszuschließen, dass trotz diagnostiziertem Hirntod noch Hirnfunktionen vorhanden sein könnten (vgl. Häusler/Fuchs 1999, 71). Der Zeitpunkt des Gehirntods lässt sich zeitlich nicht exakt definieren.

Käthe Meyer-Drawe prangert von einem anderen Standpunkt aus die utilitaristische Reduktion des Menschen auf sein Gehirn an und plädiert für eine Beachtung der ganzen Leiblichkeit des Menschen, wobei das Hirn nur einen Teil des Leibes darstellt und potentiell ersetzbar und entbehrlich ist (vgl. Meyer-Drawe 2007). Der Mensch ist ganzheitlich zu sehen: Erst wenn der ganze Organismus gestorben ist, sei der Mensch eine Leiche und damit tot. Die Gehirnfixierung des Menschenbildes berge laut Franco Rest sogar die Gefahr kognitiv beeinträchtigte Gruppen wie geistig behinderte Menschen zu Vorstufen von Leichen umzudefinieren (vgl. Rest 2001, 108f).

Weitere Kritiker wie Hans Jonas fordern eine maximale Definition des Todes, die sich nicht nur auf Herz-Kreislauf-Versagen und Hirntod beschränkt, sondern alle zur Verfügung stehenden Kriterien wie Leichenstarre und Leichenflecken beachtet (vgl. Jonas 1985, 222).

Die Hirntod-Debatten und die damit verbundene verschärfte Diskussion über Organtransplantation, Sterbehilfe, Koma-Zustände und Embryonalforschung werfen einige anthropologische Fragen erneut auf: Welche Bedeutung hat das Gehirn für das Dasein des Menschen? Woran ist die Identität eines Menschen festzumachen? Was macht den Menschen als Individuum aus? Ändert sich dieses Innerste durch eine Organtransplantation?

Wir wissen nicht genau, wo die Grenze zwischen Tod und Sterben liegt. Sie ist offen und diskussionswürdig. Die Schwierigkeiten Sterben und Tod wissenschaftlich eindeutig festzulegen zeigen, dass es „einen Bereich der Ungewißheit gibt, in dem die Grenze zwischen Leben und Tod verwischt“ (Ramachers 1994, 21). „Der Tod, so sehr er inzwischen biologisch, medizinisch und psychologisch erforscht sein mag, bleibt trotzdem etwas prinzipiell Unbekanntes für die Lebenden“ (Gebhard 1994, 189).

Da eine klare Position in Bezug auf Sterben und Tod dennoch vonnöten ist, um sich wissenschaftlich mit der Thematik auseinanderzusetzen, schließe ich mich der Meinung von Franco Rest an.

„Die Hirntoddefinition besagt nichts zur Frage nach dem Tod des Menschen, da sie sich nicht mit dem Menschen, sondern mit dem Gehirn befaßt, und dies auf der Grundlage nur kurzzeitig (heute) geltender Methoden, Meßverfahren, Vorannahmen, Hypothesen“ (Rest 2001, 107).

Die folgenden Ausführungen stützen sich daher auf eine sehr allgemeine Definition von Sterben und Tod. Sterben meint in meinem Verständnis einen körperlichen Verfallsprozess, der zu dem Zeitpunkt, an dem der Mensch wahrnimmt, dass sein Leben in naher Zukunft zu Ende geht, beginnt und mit dem Todeszustand, dem Verlöschen jeglicher Lebensfunktionen, endet.

4. Der Umgang in unserer Gesellschaft mit Tod und Sterben

Auch wenn die Auseinandersetzung mit der Endlichkeit sehr individuell geschieht und die jeweilige Lebenssituation sowie der spezifische biographische Hintergrund jeder Person eine wichtige Ausgangslage für die Einstellung zu Tod und Sterben und die Beschäftigung damit bilden, sind Sterben, Tod und Trauer immer eingebettet in die jeweilige Gesellschaft und deshalb auch immer von ihr beeinflusst (vgl. Möller 2006, 40/ Morgan 2003, 14/ Mischke 1996, 26). Diese Gesellschaft beeinflusst nun durch Kultur und Tradierung auch die Entwicklung der Todesvorstellung von Kindern und Jugendlichen (vgl. Gebhard 1994, 185/ Böcker 1987, 553/ Wass 2003, 92).

„So hat am Anfang einer Beschäftigung mit dem Themenkomplex ´Sterben-Tod-Trauer´ die Reflexion über die jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu stehen, ohne die man Gefahr liefe, die eigene Verflochtenheit in die jeweils gängigen Denkstrukturen und Erfahrungsmuster zu übersehen und ihnen dadurch in gewisser Weise auch ausgeliefert zu bleiben“ (Bodarwé 1989, 23).

Bezogen auf unsere heutige Gesellschaft kann man von einer „gewissen Ambivalenz im Umgang mit Tod und Sterben“ sprechen (Jennessen 2005, 193). Einerseits werden Tod und Sterben aus dem öffentlichen Leben verdrängt und tabuisiert, andererseits zeigt sich in den letzten Jahren eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Thematik als Gegenbewegung. Diese Widersprüchlichkeit macht einen differenzierten Diskurs über gesellschaftliche Tendenzen im Umgang mit Tod und Sterben notwendig.

4.1 Verdrängung und Unbedeutsamkeit

Nach übereinstimmender Auffassung zahlreicher Autoren wird der Tod in der modernen Gesellschaft „ignoriert, verdrängt, tabuisiert, verschleiert, beschönigt, verharmlost, maskiert, bagatellisiert, verobjektiviert, privatisiert, entöffentlicht und entexistentialisiert“ (Arens 1994, 25); alles Schlagworte, die im Zusammenhang mit der Verdrängungsthese fallen (vgl. Nassehi/Weber 1989, 12/ Fuchs 2004, 83/ Wagner 1989, 10/ Pöhlmann 1990, 45/ Joachim-Meyer 2004, 11).

Tod und Sterben haben laut dieser These keine Bedeutung mehr für die Lebensplanung und Weltdeutung des Einzelnen in der Gesellschaft, da die Problematik der eigenen Sterblichkeit, das Wissen um den eigenen Tod aus dem persönlichen, familiären und gesellschaftlichen Leben weitgehend ausgegrenzt, institutionalisiert und anonymisiert wird.

Laut Wittkowski wäre es allerdings sinnvoller anstatt von Verdrängung von einer Unterdrückung der Todesproblematik zu sprechen. Verdrängung als psychologischer Abwehrmechanismus meint, dass ein Ereignis nicht bewusstseinsfähig wird. Unterdrückung dagegen „das dem Betroffenen durchaus bewußte Beiseitescheiben unlustbetonter Gedanken“ (Wittkowski 1990, 105). Der Gedanke an den Tod und die Auseinandersetzung mit ihm ist bewusstseinsfähig, nur extrem mit Unlust besetzt (vgl. Wittkowski 1990, 105/ Neimeyer/Van Brunt 1995, 53).

Kritiker der Verdrängungsthese behaupten dagegen anderes. Wenn uns Menschen der Tod kaum betrifft und wir nur wenige Erfahrungen damit haben, „dann ist er für uns kein Tabu, sondern zunächst einmal nicht unmittelbar bedeutsam, was ein Unterschied sein dürfte“ (Tews 1979, 320). Die seltene Auseinandersetzung mit dem Tod resultiert also nicht aus einer Verdrängung oder Tabuisierung des Todes, sondern hat sich aus den gesellschaftlichen Veränderungen ergeben. Er wird demnach nicht verdrängt, sondern durch die neuen Gesellschaftsformen sowie die medizinischen Fortschritte bewältigt und ist für den heutigen Menschen so einfach nicht mehr relevant (vgl. Hahn 1968, 25/ Fuchs 1969, 7/ Schmied 1985, 36/ Fischer 1997, 6/ Böcker 1987, 556).

Meiner Meinung nach treffen sowohl die eher psychologisch orientierte These der Verdrängung als auch die mehr soziologisch argumentierende Behauptung der Unbedeutsamkeit des Todes zu. Der Tod ist aufgrund der hohen Lebenserwartung sowie der vermehrten Institutionalisierung und Professionalisierung in der heutigen Gesellschaft für die meisten Menschen kaum bedeutsam. Wenn wir ihm allerdings – in welcher Form auch immer – begegnen, schieben wir dieses unschöne Ereignis lieber schnell beiseite, bevor wir uns mit ihm auseinandersetzen müssen. Das Resultat der Unbedeutsamkeit und der Verdrängung des Todes ist beides Mal das gleiche: Erfahrungen mit sterbenden und toten Menschen bleiben in unserer heutigen Gesellschaft weitestgehend aus. Der Tod ist aus der Öffentlichkeit verschwunden. „Er wird in den meisten Fällen nicht wahrgenommen, geleugnet. Wir leben so, als gebe es ihn nicht“ (Winau 1984, 15).

Das war allerdings nicht immer so. Vor allem im Mittelalter war der Tod durch Epidemien, Kriege, öffentliche Hinrichtungen, die hohe Krankheitsanfälligkeit und Kindersterblichkeit allgegenwärtig und schlug blindlings zu, so dass unsere Vorfahren in ihrem Leben massenhaft Erfahrungen mit ihm sammeln konnten. Da keiner wusste, wie lange ihm noch ein Aufenthalt auf Erden vergönnt war, setzen sich die Menschen oft früh und dauerhaft mit Sterben und Tod auseinander. Bis ins 19. Jahrhundert hinein lebten die Menschen in dieser bewussten Erwartung des Todes und bereiteten sich in unterschiedlicher Weise auf den Tod vor. Den Menschen war der Tod nah und vertraut. Er gehörte zum Leben seit jeher dazu und war fester Bestandteil des öffentlichen Lebens von frühester Jugend an (vgl. Ariès 1976, 25/ Imhof 1996, 2/ Morgan 2003, 22/ Möller 2006, 41).

Diese Umgangsformen mit und die Einstellung zu Tod und Sterben veränderten sich von zirka 1850 ab so drastisch, dass sie in unserer heutigen Zeit kein öffentlicher Bestandteil unserer westlichen Gesellschaft mehr sind und weitestgehend ausgegrenzt werden (vgl. Hofmeier 1974, 235/ Ariès 1976, 57).

Welche genauen Ursachen dieser Erfahrungsmangel in unserer heutigen Gesellschaft hat und in welchen Formen er sich zeigt, möchte ich im Folgenden darstellen.

Ein zentraler Grund für die geringe Konfrontation mit dem Tod heutzutage ist die hohe Lebenserwartung (vgl. Hahn 1968, 21/ Weidmann 1999, 58/ Imhof 1991, 163). Die Verbesserung der Hygiene und der Ernährung sowie die Entwicklungen in der Medizin zur Eindämmung von Krankheit und Säuglingssterblichkeit verhalfen uns Menschen innerhalb des letzten Jahrhunderts zu einem doppelt so langen Leben wie bisher. Lag die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland 1855 noch bei 37 Jahren, ist sie heute auf gute 74 Jahre angewachsen (vgl. Imhof 1996, 2). Weniger als ein Prozent der Bevölkerung hatte früher eine so hohe Lebenserwartung wie sie heute schon die Hälfte aller Deutschen genießt.

„Man schätzt, dass etwa 40-50% aller Menschen das 10. Lebensjahr nicht erreichten. Noch bis ins 19. Jahrhundert hinein erreichte nur etwa die Hälfte aller Neugeborenen das 15. Lebensjahr“ (Freese 2001, 37).

Die hohe Kindersterblichkeit verdeutlicht, welch zentrales Thema der Tod in früheren Zeiten war. Im Mittelalter war es beispielsweise üblich, dass viele Eltern ihren Kindern erst einige Zeit nach der Geburt einen Namen gaben, weil sie anfangs nicht sicher sein konnten, ob die Kleinen die ersten Wochen überhaupt überleben würden. Erst nach dieser heiklen Lebensphase entstand ein größerer emotionaler Bezug der Eltern zu ihren Nachkommen.

Da der Tod in den Familien heute wesentlich seltener vorkommt, liegt er gerade für die jungen Leute vermeintlich in weiter Ferne. Kein Wunder also, dass sie keine direkten Todeserfahrungen mit älteren Menschen haben. Durchschnittlich dauert es heute 10 bis 15 Jahre bis aus einer Familie ein Angehöriger stirbt, so dass ein 50-Jähriger erst die Anzahl von Todesfällen miterlebt, die um 1820 schon ein 20-Jähriger erlebt hatte (vgl. Hahn 1968, 23/ Fischer 1997, 14).

Im Mittelalter war der Anblick einer Leiche für viele Kinder und Jugendliche dagegen etwas völlig Normales, da sie von Geburt an „selbstverständliche Zeugen des Sterbezeremoniells eines Angehörigen“ waren (Reuter 1994b, 36).

Außerdem treten in der heutigen Zeit Todesfälle zunehmend in älteren Altersgruppen auf, zu denen die jüngere Generation in ihrer Kleinfamilie kaum noch Kontakt hat. Da die wenigsten Kinder und Jugendlichen einen toten Menschen zu Gesicht bekommen, ist es nicht verwunderlich, dass Sprachlosigkeit bzw. Kommunikationshemmung gerade in der jüngeren Generation in Bezug auf Sterben und Tod vorherrschen. Wer redet schon gern über etwas, das er kaum kennt.

Doch nicht nur die Häufigkeit des unmittelbaren Kontaktes mit dem Tod hat sich verringert, sondern auch die Intensität des Todes hat sich abgeschwächt. Durch die Institutionalisierung und Professionalisierung in unserer arbeitsteiligen Gesellschaft werden Kranke und Sterbende nicht mehr so häufig wie früher von der Familiengemeinschaft gepflegt. Die Institutionen Krankenhaus und Altersheim sowie professionelle Beerdigungsinstitute haben die ursprünglichen Aufgaben der Familie übernommen. Ungefähr jeder zweite Mensch stirbt mittlerweile in Krankenhäusern oder Altersheimen (vgl. Pompey 1989, 34/ Nassehi/Weber 1989, 232/ Fischer 1997, 15/ Schmied 1985, 42). Beerdigungsinstitute übernehmen alle Aufgaben die im Zusammenhang mit dem Tod eines Angehörigen anfallen: von der Gestaltung der Todesanzeige über das Wachen und Ankleiden der Leiche bis hin zur Organisation der Beerdigung und der Trauerfeier. Diese Verantwortungsabgabe entlastet einerseits die Hinterbliebenen, aber sie erspart ihnen gleichzeitig die emotionale Auseinandersetzung mit dem Tod. „Die heutigen Angehörigen eines Toten „kaufen“ die Verdrängung mit“ (Zingrosch 2000, 65).

Der Tod wird aus unserem Blickfeld geschoben, hinaus aus dem Kreis der Familie und Freunde, hinein in Krankenhäuser, Altenheime, in professionelle Organisationen. Er wird in die unauffälligen Randzonen der Gesellschaft zurückgedrängt, mit denen gerade junge Leute nur minimalen Kontakt haben. Daraus resultiert der unsicherer Umgang mit toten Menschen und die geringe Auseinandersetzung mit Sterben und Tod.

„Durch diese Rollenverschiebung gehen in unserer Gesellschaft quantitativ Todeskontakte und qualitativ Todeserlebnisse verloren, weil die Erfahrung des Sterbens weniger intensiv ist. Das verhindert nicht, daß der Verlust eines geliebten Menschen schmerzlich empfunden wird, aber es verhindert für viele, daß sie vom Sterben eines anderen Menschen so betroffen werden, daß sie sich selbst in ihrer Sterblichkeit erfahren“ (Hofmeier 1974, 236).

Die Menschen werden zwar älter, aber sie sind deshalb keineswegs gereifter, sondern nur viel unvorbereiteter, sterbe- und todesunerprobter (vgl. Imhof 1991, 153). Während sich unsere dahinscheidenden Vorfahren als Mitglieder einer helfenden Gemeinschaft der beruhigenden Nähe ihrer Familie, Freunde und Nachbarn am Sterbebett gewiss sein konnten, macht sich in unseren Tagen Hilflosigkeit und Überforderung im Umgang mit Toten und Sterbenden breit. Unser heutiger Umgang mit Schwerkranken und Sterbenden spiegelt unser Verhältnis zum Tod: es ist von Ausschluss, Vermeidung und Geringschätzung geprägt.

Überhaupt ist in unserer Gesundheitsgesellschaft kein Platz für den Tod. Das Hauptziel, nicht nur der Medizin, sondern unserer ganzen Gesellschaft ist die Erhaltung der Gesundheit und die Bewahrung des Lebens. Der Tod stört hier nur. Er muss bekämpft werden. Der Medizin ist es gelungen, den Zeitpunkt des Todes für viele Menschen hinauszuzögern und den Vorgang des Sterbens zu verändern. Auch wenn durch medizinische Fortschritte momentan keine weitere bedeutsame Verlängerung der biologischen Lebenserwartung in Aussicht steht, versuchen zahlreiche Hormon-, Zell- und Genforscher Alterungsgene zu entschlüsseln und Klonierungstechniken zu entwickeln, um die Todesgrenze um jeden Preis immer weiter zu manipulieren (vgl. Baeriswyl 1999, 294/ Straumann 1999, 102ff).

Da Krankheit und Tod nicht in unser leistungsorientiertes Gesellschaftsbild passen und dem „Jugendlichkeits- und Gesundheitswahn“ (Zingrosch 2000, 67) der heutigen Zeit mit den gesellschaftlichen Idealen von Stärke, Gesundheit, Tüchtigkeit, Erfolg, Fitness, Aktivität und Fortschritt widersprechen, wird der Tod pathologisiert und kriminalisiert. Der Tod ist nicht gesellschaftsfähig (vgl. Tews 1979, 321/ Böcker 1993, 649).

„Der sprunghafte Aufstieg der kosmetisch-chirurgischen Industrie, der hypochondrische Körperkult der Lifestyle- und Health-Magazine, die Selbstmodellierung durch Training, Diäten oder Hormone sind Ausdruck der Flucht vor dem Schatten, den Alter und Tod über das Leben werfen“ (Fuchs 2004, 94).

Deshalb ist unser Leben auf eine gesunde Ernährung und Lebensführung angelegt. Wer nicht gesund und vernünftig lebt, wird krank und stirbt. Er ist selbst daran schuld. Der natürliche Tod wird versucht zu beschönigen. Man stirbt an einer Krankheit, an einer Verletzung, an ärztlichen Kunstfehlern, aber nicht weil man zu alt ist. Kranke und Sterbende sind in unserer Gesellschaft wenig wert, da sie scheinbar keine besonderen gesellschaftlichen Leistungen erbringen, sondern nur Kosten verursachen.

„Es scheint bisweilen so, als ob Sterbende in einer leistungsorientierten Gesellschaft Störfaktoren sind, die zu unerträglichen Belastungen und Störungen der Organisation der Lebens- und Arbeitswelt führen“ (Gudjons 1996b, 9).

Genauso ergeht es Trauernden. Ihnen werden in unserer Gesellschaft nur ein paar Tage Trauerzeit gewährt, bevor sie wieder ihre Aufgaben pflichtgemäß erfüllen müssen. Viele Trauerrituale sind uns heute verloren gegangen. Zeichen für unsere Unfähigkeit Trauernde zu trösten und zu unterstützen, zeigen sich in unseren mit hilflosen Worthülsen geschriebenen Beileidsbekundungen.

Trauer besitzt heute eine negative Bewertung, da sie sich nicht mit den Idealen Heiterkeit und Erfolg verbinden lässt. Der Tod erweist sich überhaupt als hinderlich für unser Entwicklungsdenken, für unsere von Multitasking und Fastfood geprägte „Kultur der Zeit“ (Schmid 1998, 348), die ständig in Bewegung ist. Er zerstört diese fortschreitende Bewegung, vernichtet unsere Zeit und ist uns daher ein Dorn im Auge (vgl. Schmid 1998, 349/ Fuchs 2004, 88).

Eine andere Entwicklungslinie hat allerdings ebenfalls Auswirkungen auf unser Todesbild: Der Einfluss des christlichen Glaubens, der das abendländische Denken bis ins 19. Jahrhundert bestimmt hat, schwindet seit der Säkularisierung der Gesellschaft im Zeitalter der Aufklärung immer mehr. Mit dem Verlust der religiösen Weltvorstellung und der gleichzeitigen Zunahme eines naturwissenschaftlich geprägten Weltverständnisses zeichnet sich auch ein Wandel der Einstellung des Menschen zu Tod und Sterben ab (vgl. Hofmeier 1974, 235/ Reuter 1994b, 28f). Während die zumeist tiefgläubigen Menschen im Mittelalter sich Trost im Jenseits versprachen und so der Todesangst weniger ausgeliefert waren, wird heute der Tod unter rationalen Gesichtspunkten betrachtet, ohne Sinn und ohne jegliche Hoffnung auf ein Jenseits. Nachdem auch philosophische Deutungsmuster in unserer Zeit keine große Rolle spielen, besteht momentan kein kollektives Sinnangebot, das Sterben und Tod ins Leben integriert (vgl. Gross 2001, 27/ Böcker 1993, 645). Diese fehlende gemeinsame Sterbekultur zwingt den Einzelnen sich mit den existentiellen Sinnproblemen allein auseinanderzusetzen. „ Das Todesverständnis gibt es heute nicht mehr. Tod wird individuell und situativ gedeutet“ (Zingrosch 2000, 68).

Der Tod wird als individuelles Schicksal erlebt und ist durch die Institutionalisierung und Säkularisierung aus unserem öffentlichen Leben verschwunden und Privatsache geworden. Er wird in den privaten Bereich zurückgedrängt und ist somit ein Problem, dass jeder Einzelne für sich selbst lösen – oder beiseite schieben muss (vgl. Gross 2001, 29/ Daum/Johannsen 1993, 10).

Während Tod und Sterben in der alltäglichen Kommunikation fast nicht zu finden sind, zeigt sich in den Medien ein ganz anderes Bild. „Inflationär bricht der Tod ins Kinderzimmer ein“ (Zingrosch 2000, 76). Tod und Sterben verbunden mit Gewalt sind auf dem Bildschirm präsenter denn je. Diese Bilder haben einen mächtigen Einfluss auf die Erziehung von Kindern und Jugendlichen, zumal Fernseher, Computer und Spielekonsolen hauptsächlich von ihnen genutzt werden (vgl. Wass 2003, 93).

Steht diese Todesfaszination, diese „Schaulust, die Tod und Gewalt zur populären Unterhaltungsware werden läßt“ (Ramachers 1994, 72) nicht im krassen Widerspruch zur Tabuisierungs- oder Verdrängungsthese? Findet hier nicht eine intensive Auseinandersetzung mit der Thematik statt?

Die Antwort lautet: Nein! „Die sog. Verdrängung des Todes und seine alltägliche mediale Wirklichkeit stellen keinen Widerspruch dar, obwohl es auf den ersten Blick so aussieht“ (Becker 1998, 31). Da wir den Tod hier nur oberflächlich als fasziniertes Schaudern wahrnehmen, schrecken uns die Bilder und Schlagzeilen vom Tod in den Medien kaum noch und „sind nichts, was uns den Appetit für länger als zwanzig Sekunden nehmen könnte“ (Peter Paul Kaspar zit. nach Neysters/Schmitt 1993, 56). Wir haben uns an sie gewöhnt und sie sind uns gleichgültig. Der häufige Kontakt mit dem gespielten oder gewaltsamen Tod in den audiovisuellen Medien berührt uns persönlich kaum, weil wir hier keine direkten Erfahrungen vom Sterben, sondern nur Erfahrungen aus zweiter Hand vermittelt bekommen (vgl. Hofmeier 1974, 239/ Möller 2006, 43). Gerade weil der Tod uns in so vielen Bildern gezeigt wird, gleitet er folgenlos an uns vorüber. Der dargestellte Tod in den Medien erlaubt eine Distanzierung, während nur der natürliche Tod in unserem direkten Umfeld uns an unsere eigene Sterblichkeit erinnert. Nur wenn wir Tod und Sterben hautnah, unerwartet, ungeschminkt und unsensationell begegnen, bekommen wir eine Gänsehaut, bedenkend, dass jeder andere genauso gut betroffen sein könnte – auch du und ich.

Der Tod wird uns durch die Medien also nicht näher gebracht. Im Gegenteil: Kinder und Jugendliche entwickeln ein verzerrtes Bild vom Tod, und damit auch von dem Wissen um ihn. Gerade „Die kontraphobische Flucht nach vorn“ gilt als „eine der wirksamsten und heute häufigsten Formen der Todesabwehr“ (Fuchs 2004, 95).

Auch wenn in diesem Bereich nur wenige empirische Untersuchungen vorliegen, klingen die Einschätzungen von Experten sehr einleuchtend. Eine rationale und sinnvolle Auseinandersetzung mit Sterben und Tod wird ebenso wie eine emotionale Verarbeitung der eigenen Endlichkeit und der der Mitmenschen über Medien wie Fernseher und elektronische Spiele nicht ermöglicht oder sogar verhindert (vgl. Zingrosch 2000, 76/ Plieth 2002, 39).

Die Berieselung durch Gewalt im Fernsehen hat „negative Auswirkungen auf Kinder“ (Wass 2003, 94) und bewirkt ein Verharren in primitiven, unrealistischen Todesvorstellungen. Gerade Kinder und Jugendliche als Hauptmediennutzer übernehmen die Unsterblichkeitsvorstellungen ihrer medialen Helden und deren Methode „Gewalt ohne Rücksicht auf die Opfer“ als erfolgreiche Möglichkeit Konflikte zu lösen (vgl. Ramachers 1994, 90ff/ Everding 2005, 22f).

Die Medien liefern in Wirklichkeit also einen Beitrag zur Verdrängung von Tod und Sterben.

4.2 Enttabuisierung

Mittlerweile äußern zahlreiche Autoren Kritik an der Undifferenziertheit und inhaltlichen Pauschalisierung der Tabuisierungsthese (vgl. Ramachers 1994, 71/ Meyer-Drawe 2004, 158/ Körtner 1996, 11/ Rolfes 1989, 42/ Möller 2006, 40/ Mischke 1996, 5).

Ihnen zufolge ist das Gerede vom verdrängten oder tabuisierten Tod in unserer Gesellschaft nur eine Seite. Nimmt man neuere Entwicklungen in den Blick, so sind gerade in jüngster Zeit auch zunehmend Tendenzen einer Enttabuisierung erkennbar. Die meisten Menschen beschäftigen sich nämlich sehr wohl mit dem Tod, indem sie Lebensversicherungen abschließen, Grabstellen erwerben, Testamente hinterlegen und sich durch Zeitungen und Zeitschriften informieren. Tod und Sterben begegnen uns im Alltag zwar nicht mehr so konkret wie früher, dafür sind sie in anderen Bereichen wie noch nie zuvor präsent (vgl. Pompey 1989, 33/ Möller 2006, 42). Das Thema boomt geradezu. Da zeigt sich seit zirka 20 Jahren an dem Aufkommen von individuellen Bestattungsformen, Hospizgruppen, AIDS-Initiativen, Sterbebegleitungs- und Trauerseminaren, Death-Awareness-Bewegungen, Museen über Tod, Trauer und Sterben und die öffentlichen Debatten um Sterbehilfe, Patientenverfügung, Sterbebegleitung und menschenwürdigeres Leben.

Eine verstärkte Beschäftigung mit dem Tod erscheint durch die gestiegene Zahl von sehr alten, kranken und pflegebedürftigen Menschen sowie von krebskranken Kindern und Erwachsenen, aufgrund der Aidsproblematik und wegen der Diskussion über den angemessenen Umgang mit Sterbenden sogar dringend nötig (vgl. Wittkowski 1990, 1f).

Zudem ist es ja nicht so, dass heutzutage niemand mehr stirbt. Im Laufe unseres Lebens werden wir durchschnittlich alle sechs Jahre mit dem Tod eines uns nahe stehenden Menschen konfrontiert (vgl. Fachverlag des deutschen Bestattungsgewerbes GmbH 2006). In Deutschland gab es laut dem Statistischen Bundesamt in Wiesbaden im Jahr 2006 5094 Verkehrstote. Das sind 14 Unfallopfer pro Tag, die jeder von uns im Alltag miterleben muss und mit denen sich nicht nur die direkten Angehörigen, sondern eine breite Öffentlichkeit auseinandersetzt. Genauso verhält es sich mit den vielen Selbstmordversuchen und den 170000 Krebstoten in Deutschland jährlich (vgl. Neysters/Schmitt 1993, 46).

„Die Rede vom verdrängten Tod greift auch für Kinder und Jugendliche zu kurz“ (Baumgartner 1999b, 256). Der Tod ist für die Jüngeren trotz der gesellschaftlichen Hemmnisse nichts Unbekanntes. Die allermeisten haben den Tod einer ihnen nahe stehenden Person bereits miterlebt und besitzen ein wachsendes Interesse an der Thematik. Viele wissen um die tödlichen Bedrohungen in unserer Welt und setzen sich mit Aids, Krebs, atomaren Unfällen, Katastrophen, Kriegen, nuklearen Bedrohungen, Kernwaffen, Terroranschlägen, Drogen und Suizid bewusst auseinander (vgl. Neimeyer et al. 2003b, 110/ Becker 1998, 32/ Reuter 1994b, 92f). Die steigenden Kinder- und Jugendbücherzahlen sowie die Ratgeberliteratur zur Thematik, die Hinweise auf Zigarettenpackungen, der wieder aufkommende Gottesglaube und virtuelle Grabstätten und Erinnerungsseiten im Internet belegen dies (vgl. Geser 1999). Nach dem Uni-Massaker im US-amerikanischen Blacksburg am 16.04.2007 tauschten beispielsweise jugendliche Trauergruppen ihre ernsten Empfindungen und sensiblen Gedanken auf www.facebook.com, www.myspace.com und Kondolenzbüchern im Internet aus (vgl. von Randow 2007, 2).

„Es kann zusammenfassend festgestellt werden, dass trotz der Todesverdrängung aus dem kollektiven Bewusstsein die individuell zu beantwortenden Fragen nach dem persönlichen Tod, dem Sterben und der Endlichkeit des Lebens für den einzelnen Menschen bestehen bleiben“ (Jennessen et al. 2006, 323).

Es bleibt jedoch die Frage, ob die seit den letzten Jahren währenden Tendenzen etwas an der grundsätzlichen Einstellung des heutigen Menschen zu Tod und Sterben ändern. Sind dies alles Anzeichen für einen besseren und stärker bewussten Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in unserer Gesellschaft?

Insgesamt ist festzustellen, dass die Tabuisierung des Todes in den meisten Gesellschaftsbereichen noch überwiegt (vgl. Mischke 1996, 8/ Müller/Leimkühler 1984, 247). Zu selten wird über Tod und Sterben auf ernsthafte Art und Weise gesprochen, zu oft werden die möglichen Erfahrungen mit Tod und Sterben im direkten Umfeld umgangen, um zu einem bewussten Umgang mit dem Tod zu gelangen. Unsere heutige Gesellschaft hat nach wie vor keine den neuzeitlichen Umständen angepasste Sterbekultur entwickelt, wie sie beispielsweise als „ars moriendi“ im Mittelalter üblich war. Eine lebenslange Einübung ins Sterben und die daraus resultierende Vertrautheit mit dem Tod sind in unserer modernen Welt abhanden gekommen.

Was bedeutet dies aber für Kinder und Jugendliche heute? Es zeigt sich deutlich, wie verhängnisvoll die gesellschaftliche Verdrängung des Todes gerade für Heranwachsende ist. Sie lernen nicht oder zu spät mit ihm zu leben, da sie kaum hilfreiche Unterstützung von den Eltern, den Medien oder der Schule erhalten um mit Tod und Sterben vertraut zu werden (vgl. Gudjons 1996b, 10/ Löbsack 1982, 73/ Reuter 1994a, 147). Im Gegenteil: Ihnen wird die Möglichkeit genommen, sich mit der Wirklichkeit des Todes auseinanderzusetzen und ihre Gefühle, Einstellungen und Fragen zu klären. Sie lernen durch das vorgelebte Verhalten der Erwachsenen, „dass es erforderlich ist, Gefühle und Ängste, die den Tod betreffen, zu unterdrücken, zu verschweigen und allenfalls mit sich selbst zu klären“ (Jennessen et al. 2006, 323/ vgl. auch Tausch-Flammer/Bickel 1994, 68/ Freese 2001, 219/ Reuter 1994b, 37/ Wass 2003, 104).

Den Heranwachsenden wird dieses Thema erspart, da „die gedankliche Verbindung von Kindern und Tod für Erwachsene äußerst unangenehm ist und unadäquat zu sein scheint“ (Jennessen 2005, 15). Kinder symbolisieren mit ihrer Lebensfreude Wachstum und Zukunft, den Gegensatz zum Tod. Wir Erwachsene wollen sie vor allem Bedrückenden verschonen und spielen deshalb die Wirklichkeit herunter, verblümen, verheimlichen und erfinden barmherzige Lügen. Mit der fadenscheinigen Begründung die kindliche Unschuld vor Schmerz und Leid zu beschützen, wird der Todeswirklichkeit ausgewichen. Das dies nicht zum Nutzen der Kinder, sondern aus Gründen des Selbstschutzes der Erwachsenen geschieht, liegt auf der Hand. Es ist deshalb so schwer für die meisten mit Kindern und Jugendlichen über den Tod zu sprechen, weil das Thema auch bei der älteren Generation Befangenheit und Unsicherheit auslöst und diese selbst angstvoll an den eigenen Tod erinnert. Kein Wunder, wenn wir erst einmal zusammenzucken, wenn uns Kinder mit dem Thema überraschen und wir erklärungsreiche Worte finden sollen, die ihnen weiterhelfen. Wie sollen wir das, was wir selbst nicht verstehen, Kindern erklären? Wie sollen Kinder das verstehen, was selbst Erwachsene nicht begreifen?

Der Mensch hat ein Problem mit dem Tod. Er kann nun versuchen ihn mehr schlecht als recht zu verdrängen und zu verschweigen oder sich dem Problem zu stellen und versuchen mit ihm zu leben. Durch ersteres Verhalten wird zwischen den Menschen und dem Tod eine Mauer des Schweigens errichtet und so getan, als gäbe es den Tod nicht. Da wir aber die leidvolle Begegnung mit Sterben und Tod nun einmal weder von uns, noch von unseren Kindern fernhalten können, stellt das „Totschweigen“ keine adäquate Lösung dar. Der Heranwachsende bleibt mit seinen Fragen und Ängsten allein und lernt nicht mit solchen Grenzsituationen, denen er zweifellos im Leben begegnen wird, umzugehen. Wegschauen ist keine gute Vorbereitung oder Stärkung für spätere belastende Situationen und hilft nur kurzfristig. Früher oder später wird es jeder von uns selbst oder in seinem Bekanntenkreis mit dem Tod zu tun bekommen. Was wenn morgen eine von uns geliebte Person stirbt? Dann werden wir vom Tod überrascht, ohne für ihn reif zu sein.

Deshalb halte ich es für besser, von Kindesbeinen an zu lernen mit dem Tod zu leben. Dies funktioniert nur, wenn wir den Tod zur Sprache bringen. Auf diesem Wege verliert er seine Bedrohlichkeit und wird begreifbar. Wir begegnen unseren Ängsten, können sie thematisieren, an ihnen arbeiten und so gelassener mit Tod und Sterben umgehen (vgl. Holzbeck 2003, 87/ Maier/Terno 2003, 3/ Schmid 1998, 351). Wollen wir mit dem Tod vertraut werden, müssen wir uns dieser Herausforderung stellen.

5. Der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit Tod und Sterben

5.1 Die Todesvorstellung von Kindern und Jugendlichen

Wie im vorherigen Kapitel aufgezeigt wurde, lassen die gesellschaftlichen Bedingungen und die damit verbundenen Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche kaum mehr eine natürliche Begegnung und einen natürlichen Umgang mit Tod und Sterben zu und machen es ihnen heute zunehmend schwerer eigene Todesvorstellungen zu entwickeln.

Was aber weiß ein Kind überhaupt vom Tod? Und woher hat es dieses Wissen? Diese Fragen wurden lange Zeit nicht untersucht. Obwohl Sylvia Anthony (1937) und Maria Nagy (1948) schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Untersuchungen zum kindlichen Todeskonzept anstellten, wurde die Todesvorstellung von Kindern und Jugendlichen erst ab den späten 1950er Jahren zu einem festen Gegenstand psychologischen Interesses. Seit den 1980er Jahren wird die Entwicklung des Todeskonzepts bei Kindern durch empirische Untersuchungen der Thanatopsychologie, die sich mit dem Erleben und Verhalten gegenüber Sterben und Tod befasst, intensiv und wissenschaftlich erforscht (vgl. Neimeyer et al. 2003b, 110/ Kastenbaum 1989c, 267). Auch wenn die Thanatopsychologie trotz alledem in den USA bisher nur einen geringen und in Europa kaum einen Stellenwert hat, „kann man heute auf eine vergleichsweise differenzierte Befundlage mit einer erfreulich breiten Datenbasis zurückgreifen“ (Wittkowski 1990, 43/ vgl. auch Ochsmann 1993, 176).

Die Thanatopsychologie erforscht das Erleben und Verhalten gegenüber Tod und Sterben mit empirischen Methoden. „Dabei handelt es sich um den Versuch, den Tod ganz pragmatisch unter rein rationalen und wissenschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten“ (Zingrosch 2000, 70). Ich werde im Folgenden die aktuellen Ergebnisse der Thanatopsychologie ausführlich vorstellen, um dem Leser das Ziel, den Inhalt und die methodische Vorgehensweise meiner eigenen empirischen Untersuchung verständlich und theoretisch gut begründet vor Augen zu führen.

Bevor wir uns aber den Forschungsergebnissen zuwenden, sollte geklärt werden, was überhaupt „Todesvorstellungen“ oder gleichbedeutende Begriffe wie „Todeskonzepte“, „Todeserleben“ und „Todesbilder“ meinen.

„Das Todeskonzept bezeichnet die Gesamtheit aller kognitiven Bewußtseinsinhalte (Begriffe, Vorstellungen, Bilder), die einem Kind oder einem Erwachsenen zur Beschreibung und Erklärung des Todes zur Verfügung stehen. Das Todeskonzept beinhaltet eine kognitive Komponente, an der primär Wahrnehmung und Denken beteiligt sind, sowie eine emotionale Komponente, welche die mit einzelnen kognitiven Inhalten des Todeskonzepts verbundenen Gefühle abdeckt“ (Wittkowski 1990, 44).

In der psychologischen Forschung wird also zwischen kognitiver und emotionaler Ebene der Todesvorstellung unterschieden, obwohl die emotionale und kognitive Dimension des Todeskonzepts eng miteinander verknüpft sind (vgl. Ramachers 1996, 121). Auch ich werde aus Gründen der besseren Übersicht beide Seiten getrennt vorstellen.

5.1.1 Die kognitive Komponente der Todesvorstellung

Um die Gesamtheit des Todeskonzepts vollständig zu erfassen, wurde in den letzten Jahrzehnten versucht, Subkomponenten des kognitiven Teils des Todeskonzepts näher zu bestimmen. Speece und Brent kamen 1984 aufgrund ihrer Untersuchungen auf drei empirisch unabhängige Komponenten eines „reifen Todeskonzepts“, an dem die Entwicklung der kindlichen Todesvorstellung gemessen werden kann (vgl. Wittkowski 1990, 49/ Ramachers 1994, 15/ Ramachers 1996, 55f/ Habermas/Rosemeier 1990, 264/ Wass 2003, 89).

Ein reifes Todeskonzept beinhaltet demnach das Wissen um:

- Universalität

Universalität meint die Einsicht in die Unvermeidbarkeit des Todes: Jedes Lebewesen muss früher oder später sterben!

- Irreversibilität

Irreversibilität meint die Unumkehrbarkeit des einmal eingetretenen Todes: Tote sind und bleiben tot, daran ist nichts zu ändern!

- Nonfunktionalität/ Funktionsverlust

Nonfunktionalität meint die Erkenntnis, dass alle lebensnotwendigen Körperfunktionen mit dem Eintritt des Todes aufhören: Tote Menschen können nichts mehr machen!

Wittkowski ergänzt aufgrund neuerer Untersuchungen eine vierte Komponente des kindlichen Todeskonzepts (vgl. Wittkowski 1990, 49):

- Kausalität

Kausalität meint das realistische Verständnis der Todesursachen: Der Tod tritt ein, wenn der Körper seine lebensnotwendigen Funktionen einstellt!

Diese vier kognitiven Komponenten müssen mindestens vorhanden sein, um von einem voll entwickelten Todeskonzept im Sinne eines Erwachsenen sprechen zu können. Der Tod wird also erst dann in seiner vollständigen Bedeutung verstanden, wenn der Mensch alle vier Komponenten erfasst und damit ein reifes Todeskonzept erlangt hat. Menschen mit einem reifen Todeskonzept „können logisch und biologisch zutreffende Kennzeichnungen der einzelnen Subkonzepte des Todeskonzepts geben“ (Wittkowski 1990, 58).

Die Forscher weisen allerdings darauf hin, dass die vier Komponenten nur kognitive Aspekte des Todeskonzepts berücksichtigen und dass der Begriff „reifes Todeskonzept“ höchst spekulativ und zweifelhaft ist (vgl. Ramachers 1996, 16/ Gebhard 1994, 178).

„Das Kind muß das “Nichts“ als “reifes Todeskonzept“ kognitiv erfassen. Diese Anforderung übersteigt nach hiesiger Auffassung sogar die kognitiven Fähigkeiten vieler Erwachsener. Die Darstellungen der Entwicklung von kindlichen Todeskonzepten sind daher nur aus der Erwachsenen Sicht heraus konstruierte Annahmen, deren inhaltliche Wahrheit letztendlich nur mit einer größtmöglichen Wahrscheinlichkeit zutreffend ist“ (Ramachers 1996, 16).

Das Todeskonzept stellt also lediglich ein Konzept dar, das eine gewisse Orientierung über die Entwicklung der menschlichen Todesvorstellung bieten kann, und keine ewige Wahrheit. Ein Todeskonzept liefert damit keine für jedes Kind gültige Darstellung der Ereignisse. Das gilt besonders in Bezug auf Menschen mit einer geistigen Behinderung. Das Todeskonzept ist ein Konstrukt von nicht behinderten Theoretikern und kann somit nur Teilaspekte des schwer fassbaren Phänomens der geistigen Behinderung erschließen und begrenzt Wissen für die Sonderpädagogik liefern (vgl. Eberwein 1985, 103). Dies zeigt sich auch in den bisherigen Untersuchungen zur Entwicklung des kindlichen Todeskonzepts. Sie liefern bedingt durch ihre unterschiedlichen Fragestellungen, Probanden und Untersuchungsmethoden teilweise unscharfe und widersprüchliche Ergebnisse und sind nur schwer miteinander vergleichbar (vgl. Warren 1984, 186/ Wittkowski 1990, 44ff). Außerdem handelt es sich bei den Studien ausnahmslos um Querschnittstudien. Längsschnittstudien existieren nicht.

Alle beschreiben allerdings eine Art Phasenfolge für die Entwicklung der kindlichen Todesvorstellung und zeigen einen deutlichen Alterseffekt (vgl. Ramachers 1994, 36/ Habermas/Rosemeier 1990, 267). Das Lebensalter beeinflusst demnach das Verständnis des kognitiven Todeskonzepts. „Je älter ein Kind ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß es ein „reifes“ Todeskonzept hat“ (Wittkowski 1990, 67). Das Todeskonzept wird mit steigendem Lebensalter also „präziser“ und „richtiger“.

Da ebenfalls eine deutlich positive Beziehung zwischen dem chronologischen Alter und dem kognitiven Entwicklungsstand besteht, sind einige Forscher der Meinung, Piagets Theorie der geistigen Entwicklung sei als Bezugsrahmen für die Entwicklung des Todeskonzepts geeignet (vgl. Wittkowski 2002, 11/ Wass 2003, 88). Obwohl manche Kritiker in den meisten dahingehenden Untersuchungen eine allzu vage theoretische Verknüpfung zwischen Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung und den Komponenten des Todeskonzepts sowie eine Vernachlässigung individueller todbezogener Lernerfahrungen bemängeln, wird eine gewisse Parallele zwischen der geistigen Entwicklung im Sinne Piagets und der Entwicklung des Todeskonzepts nicht ausgeschlossen (vgl. Ramachers 1994, 60/ Ramachers 1996, 27/ Habermas/Rosemeier 1990, 267). Die kognitive Entwicklung des Menschen unterstütze einige strukturierende Leistungen in bestimmten Gebieten, die ihrerseits wiederum für das Todesverständnis bedeutsam sind. Die Fähigkeit zwischen „belebt“ und „unbelebt“ zu unterscheiden beispielsweise, erleichtert wahrscheinlich auch das Verständnis von der Universalität des Todes. Es scheint zu stimmen, „daß die allgemeine kognitive Entwicklung zumindest einen gewissen strukturierenden Einfluß auf die Vorstellung vom Tod hat“ (Habermas/Rosemeier 1990, 271). Für eine genaue Erläuterung des Entwicklungsmodells von Piaget sei auf andere Autoren verwiesen (vgl. Piaget 2003/ Montada 2002/ Sodian 1998).

Aufgrund des aufgezeigten Zusammenhangs zwischen dem Lebensalter, der kognitiven Entwicklung und der Entwicklung des Todeskonzeptes erscheint die Darstellung der Entwicklung der Todesvorstellungen in Form von Altersangaben sinnvoll, auch wenn diese je nach Studie stark variieren. Die bisherigen Ergebnisse deuten auf eine „enorme interpersonelle Variation“ hin, so „daß die Dynamik der Entwicklung des Todeskonzepts bei Kindern nicht dadurch abschließend geklärt werden kann, daß das „normale“ Alter für den Erwerb der verschiedenen Subkomponenten bestimmt wird“ (Ramachers 1994, 62/ vgl. auch Wittkowski 1990, 59). Auch gleichaltrige Kinder und Jugendliche haben ganz unterschiedliche, eigene Todesvorstellungen, so dass die Altersangaben nur grobe Richtwerte darstellen, die einen nützlichen Orientierungsrahmen bieten können (vgl. Daut 1980, 254/ Plieth 2002, 38/ Löbsack 1982, 74/ Habermas/Rosemeier 1990, 266). Daher treffen die Altersangaben möglicherweise nicht auf Kinder mit geistiger Behinderung zu. Grundsätzlich müssen Offenheit und Anderssein bei den Todeseinstellungen berücksichtigt werden.

„Sie sind von Mensch zu Mensch nach Alter, Lebenserfahrung, Lebensgeschichte und Charakter verschieden. Dennoch folgen sie gemeinsamen Mustern, weil auf alle Menschen die gleichen Anstöße von außen zukommen“ (Hofmeier 1974, 238).

Jeder Mensch nimmt an der gesellschaftlichen Kultur teil und tradiert die an ihn herangetragenen Wissensbestände. So lässt sich ein ungefähres Entwicklungsmuster der Todesvorstellung folgendermaßen skizzieren:

Das Kind weiß auf jeden Fall nicht von Geburt an, dass jeder Mensch einmal stirbt (vgl. Bürgin 1978, 34). Das erfährt das Kind erst im Laufe seines Sozialisationsprozesses. Wie viel ein Kleinkind bis zu drei Jahren vom Tod tatsächlich versteht wurde bisher kaum untersucht, so dass ungeklärt bleibt, unter welchen Umständen auch diese Altersgruppe Aspekte des Todeskonzepts erfassen kann (vgl. Wittkowski 1990, 57). Mit Sicherheit besitzen auch die Kleinsten ein intuitives Wissen vom Tod, da auch sie in ihrer bisherigen Lebenszeit kleine Verlusterfahrungen (z. B. Trennung von der Mutter) machen konnten (vgl. Habermas/Rosemeier 1990, 272/ Rosemeier 1984b, 298). Grundbefindlichkeiten wie Schlafen und Wachsein sowie die beginnende Entwicklung der Objektpermanenz im sensumotorischen Stadium bilden die Grundlage für das Erleben der Gegensätze Dasein und Nichtdasein und spielen für den Aufbau der kindlichen Todesvorstellung eine entscheidende Rolle (vgl. Bürgin 1981, 53). Obwohl Kleinkinder bereits Verluste empfinden, haben sie wahrscheinlich keine oder nur eine beschränkte Vorstellung vom Tod als Abwesenheit oder als Trennung. Sie können sich darunter nichts Konkretes vorstellen, das heißt, sie haben also noch kein Konzept vom Tod entwickelt, da ihnen die notwendigen kognitiven Leistungen fehlen.

Die Beschäftigung mit dem Tod setzt erst zwischen drei und fünf Jahren ein. Die meisten Kinder zwischen drei und fünf Jahren haben aber ebenfalls noch kein reifes Todeskonzept entwickelt, sondern besitzen nur ein ungenaues Vorverständnis, da sie die Subkomponenten Irreversibilität, Universalität, Kausalität und Nonfunktionalität noch nicht erfasst haben (vgl. Wittkowski 1990, 57/ Habermas/Rosemeier 1990, 273). Kindergartenkinder haben ein großes Bedürfnis, den Tod zu erforschen, und besitzen bereits entwicklungsbedingte Voraussetzungen zur Realitätsprüfung wie die Objekt- und Personenpermanenz, die Fähigkeit zur Strukturierung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und ein gewisses kausales Denken in Bezug auf den Tod (vgl. Plieth 2002, 52ff). Sie verstehen beispielsweise, dass alle Menschen sterben müssen, können dieses Faktum aber erst im späteren Alter auch auf sich selbst oder bestimmte andere Personen (z. B. Eltern) beziehen. Außerdem glauben sie oftmals, dass der Tod durch bestimmte Verhaltensweisen (z. B. Verstecken) vermieden werden kann (vgl. Wittkowski 1990, 57).

„Es kann als sicher gelten, daß die meisten Kinder im Alter von etwa 3 bis 5 Jahren zunächst verstehen, daß einige Menschen (z. B. alte Leute) sterben müssen und erst später erfassen, daß auch sie selbst der Endlichkeit des Daseins unterworfen sind. Die Annahme, daß Kinder die Möglichkeit des Todes auf alle anderen Menschen ausdehnen, bevor sie sich selbst als prinzipiell sterblich ansehen, wurde durch empirische Untersuchungen nicht bestätigt“ (Wittkowski 1990, 57).

Den Kindern ist es nicht möglich, tot und lebendig klar zu trennen, „sondern es gibt in ihren Gedanken nur ein graduell abgestuftes Lebendigsein“ (Wittkowski 1990, 58). Tot sein wird als reduziertes Leben und als vorübergehender Zustand (z. B. wie Schlaf oder Reise) angesehen, nicht als komplettes, unwiderrufliches Ende aller Lebensvorgänge (vgl. Rosemeier 1984b, 299). Tot ist etwas, das sich nicht mehr bewegt oder weniger aktiv ist. Der Tod ist somit in dieser Altersstufe „eine Sonderform des Lebens“ (Wittkowski/Schnell 1981, 304), ein vorübergehender Zustand, der noch rückgängig zu machen ist. Todeswünsche werden ausgesprochen mit dem Hintergedanken, die betroffene Person aus dem kindlichen Gesichtskreis kurzfristig zu entfernen. Jemand der im kindlichen Spiel tot ist, kann im nächsten Augenblick wieder lebendig sein, denn er war gar nicht „richtig tot“, sondern nur „ein bisschen tot“. Die Endgültigkeit und Unwiderruflichkeit des Todes wird noch nicht erfasst. Außerdem können sich die meisten Kinder nur äußere Gewalteinwirkung als Todesursache vorstellen, nicht aber intraorganische Vorgänge (vgl. Wittkowski 1990, 58/ Ramachers 1994, 43). Diese Fehlinformation beruht auf dem animistischen Grundgedanken der Kinder im präoperationalen Stadium und führt zur Vorstellung, die Natur handle zielgerichtet im Sinne eines absichtlichen Machens. Durch die kindliche Zentrierung auf einen Aspekt eines kognitiven Problems, kommt es oftmals noch zu voreiligen und falschen Generalisierungen von Konzepten. Zahlreiche Untersuchungen zeigten, dass Kinder im Stadium des präoperationalen Denkens noch nicht die kognitiven Fähigkeiten wie Klassifizierungen, eine lineare Zeitvorstellung, die Durchführung reversibler gedanklicher Operationen, Objektivität und die universelle Anwendung von Regeln besitzen und ihnen so ein erwachsenengemäßes Verständnis des Todeskonzepts unmöglich ist (vgl. Wittkowski 1990, 60).

Kinder im Stadium des konkret-operationalen Denkens verfügen hingegen über oben genannte kognitive Fähigkeiten, die es ihnen möglich machen ein reifes Todeskonzept zu erwerben. In der Tat vollzieht sich in der Altersspanne zwischen sechs und acht Jahren ein deutlicher Fortschritt im Verständnis des Todeskonzepts, da in diesem kurzen Zeitraum „ein partielles Verständnis der konstituierenden Komponenten des reifen Todeskonzepts erworben“ wird (Wittkowski 1990, 58/ vgl. Ramachers 1994, 33f). Dies hängt mit der Abkehr vom animistischen Denken, dem Erkennen von Zusammenhängen und dem Ordnen der Dinge nach den Dimensionen Raum und Zeit und der Unterscheidungsfähigkeit zwischen Lebendem, Unbelebtem und Totem im konkret-operationalen Stadium zusammen. Dies führt auch dazu, dass die Unumkehrbarkeit der eigenen Lebenszeit, die für ein reifes Todesverständnis unbedingt vonnöten ist, erkannt wird (vgl. Ramachers 1994, 17/ Ramachers 1996, 13/ Wittkowski 1990, 56). Kinder in diesem Alter übernehmen oftmals konkrete Bilder und Personifizierungen des Todes (z. B. Skelett, Schwarzer Mann) und besitzen erweiterte Kenntnisse über mögliche Todesursachen. Der Tod wird zwar größtenteils als endgültig angesehen, aber die Hoffnung, gerade der eigene Tod könne rückgängig gemacht werden, besteht teilweise trotzdem.

Die ursprüngliche Annahme, dass die Subkomponenten in dieser Altersspanne nahezu gleichzeitig verstanden werden, stellte sich als falsch heraus. Neuere Untersuchungen zeigen unterschiedliche Abstufungen im Erwerb der Komponenten. „Der Erwerb des Todeskonzepts verläuft allmählich, wobei die leichter zugänglichen Komponenten früher erfaßt werden“ (Ramachers 1994, 66). Es findet also eine differentielle Entwicklung der einzelnen Komponenten des Todeskonzepts statt. Manche sind anscheinend schwieriger zu erfassen und werden deswegen später erworben. Allerdings geben alle Studien aufgrund ihrer verschiedenartigen Untersuchungsmethoden eine etwas unterschiedliche Reihenfolge an (vgl. Habermas/Rosemeier 1990, 270/ Wittkowski 1990, 69). Glaubt man der neueren Veröffentlichung von Wittkowski ist der Ablauf folgendermaßen: „Das Verständnis von Universalität wird als erstes erworben, das Verständnis von Irreversibilität und Nonfunktionalität wird später und nahezu gleichzeitig erworben“ (Wittkowski 2002, 11). Über den Erwerb der Kausalität sind offenbar noch zu geringe Kenntnisse vorhanden als dass es sich einordnen ließe.

Mit neun Jahren verfügen die Kinder in der Regel über ein reifes Todeskonzept (vgl. Wittkowski 1990, 58). Sie besitzen damit eine realistische und biologisch korrekte Auffassung vom Tod als Naturphänomen, der den biologischen Alterungsprozess beendet. Er ist endgültig, unabwendbar, trifft jeden und kann durch natürliche oder unfallbedingte Ursachen eintreten. Ramachers betont, dass das Wissen um die eigene Sterblichkeit allerdings nur theoretisch vorhanden ist und keine Schlüsse auf praktisches Handeln zulässt (vgl. Ramachers 1994, 34).

Leider gibt es kaum Untersuchungen über die Todesvorstellung von Jugendlichen über zwölf Jahren (vgl. Wittkowski 1990, 57/ Reuter 1994b, 61). In einer der wenigen Studien stellte Ramachers 47 14 bis 17jährigen Hauptschülern in Bochum in Einzelinterviews todbezogene Fragen. Er kommt darin zu folgendem Ergebnis: „Die SchülerInnen kennen den Tod, sie haben sich ihren eigenen Tod vorgestellt und können im Alltag damit umgehen“ (Ramachers 1996, 121). Ramachers vermutet das Ende der vollständigen Entwicklung der eigenen Todesvorstellung erst mit dem Beginn des Jugendalters, zwischen dem 12. und 13. Lebensjahr (vgl. Ramachers 1996, 114). Das Todesbild entspricht erst in diesem Alter dem eines Erwachsenen (vgl. Rosemeier 1984b, 301/ Wittkowski/Schnell 1981, 304/ Reuter 1994b, 85).

Teenager setzen sich aber im formal-operationalen Stadium bedingt durch ihre verstärkte Identitätssuche intensiver mit religiösen und philosophischen Fragen auseinander, beschäftigen sich mit dem Sinn des Lebens und entwickeln ein eigenes Bild vom Tod und dem Danach. Der Tod fasziniert, weil er eine der tiefsten Erfahrungen des Lebens ist.

Die dargestellten Ergebnisse zeigen, dass in jeder Altersstufe der Tod anders verstanden wird. Schon relativ junge Kinder haben ein gewisses Vorverständnis des Todes, können ihn aber mit all seinen Konsequenzen erst mit zunehmendem Alter erfassen. Somit haben sie eine andere Vorstellung vom Tod als Erwachsene. Dieses Wissen ist für Pädagogen durchaus nützlich, um sich im Gespräch auf das einzustellen, was die Kinder wirklich begreifen können.

Doch nicht alleine der kognitive Entwicklungsstand und das Alter sind für die Todesvorstellung bestimmend. Das Todesbild des Kindes wird von weiteren Faktoren beeinflusst.

Wie schon im vierten Kapitel deutlich wurde, ist das Todeskonzept sehr stark abhängig von der jeweiligen Gesellschaft und Kultur, in der die Menschen aufwachsen (vgl. Ramachers 1994, 19/ Habermas/Rosemeier 1990, 266/ Schweizer/Niedermann 2000, 114/ Gebhard 1994, 185/ Rest 1998, 42). Die Entwicklung des kindlichen Todeskonzepts hängt also damit zusammen, was das Kind von seiner Umgebung erfährt. Besonders die Bezugspersonen, die Erzieher und die Medien haben einen großen Einfluss auf das Todesverständnis von Kindern und Jugendlichen (vgl. Ramachers 1994, 73/ Wittkowski 2003b, 280/ Bürgin 1978, 296).

Zahlreiche Autoren sind außerdem der Meinung, dass die individuellen Erfahrungen, die der Mensch im Laufe seiner Entwicklung macht, eine wichtige Determinante für die Entwicklung des Todeskonzepts darstellt (vgl. Ramachers 1996, 23f/ Schweitzer 2006, 11/ Iskenius-Emmler 1988, 44). Mehr todesbezogene Erfahrungen sollen demnach ein realistischeres Todeskonzept begünstigen, da das Wissen um den Tod nicht abstrakt bleibt, sondern in unmittelbaren Situationen direkt erlebt wird. Ein Kind mit einer tödlich verlaufenden Krankheit müsste demnach früher ein reiferes Todeskonzept besitzen. Die Forschungsergebnisse dazu zeigen kein eindeutiges Bild. „Insgesamt fanden sich keine Anhaltspunkte dafür, daß das Todeskonzept der krebskranken Kinder weiter fortgeschritten bzw. „reifer“ war als dasjenige der gesunden Kinder“ (Wittkowski 1990, 139). Demnach besteht kein korrelativer Zusammenhang zwischen den Erfahrungen mit Sterben und Tod und der Entwicklung der Todesvorstellung (vgl. Habermas/Rosemeier 1990, 265). Habermas und Rosemeier weisen aber daraufhin, dass todkranke Kinder durch ihre Erfahrungen sicher mehr intuitives Wissen über den Tod haben als gesunde Kinder (vgl. Bürgin 1978, 278/ Löbsack 1982, 159/ Daut 2001, 388/ Leyendecker/Lammers 2001, 206).

Inwieweit die Religionszugehörigkeit einen Einfluss auf das Todesverständnis hat, ist noch unklar (vgl. Habermas/Rosemeier 1990, 266/ Bürgin 1978, 31). Die verschiedenen Untersuchungen sprechen ihr förderliche, schädliche oder keinerlei Auswirkungen zu.

5.1.2 Die emotionale Komponente der Todesvorstellung

„Die emotionale Seite des Todeskonzepts beinhaltet alle Gefühle, die mit kognitiven Inhalten verknüpft sind“ (Wittkowski 1990, 71). Diese wurden bislang kaum empirisch untersucht. Die wenigen Querschnittsuntersuchungen beschäftigen sich mit der Entwicklung der Angst Erwachsener vor dem Tod, lassen aber kaum Aufschlüsse in Bezug auf Kinder und Jugendliche zu (vgl. Wittkowski 1990, 71ff/ Neimeyer/Van Brunt 1995, 50/ Ramachers 1994, 50/ Wass 2003, 90).

Wichtig erscheint es zu Beginn die Begriffe „Todesangst“ und „Angst vor dem Tod“ abzugrenzen, um eine genaue Definition dessen zu haben, was untersucht worden ist. Todesangst bezeichnet eine „subjektiv erlebte aktuelle Bedrohung des eigenen Lebens“, während die Angst vor dem Tod „die antizipierende Auseinandersetzung mit der Bedrohung des Lebens ohne akute Gefährdung“ meint (Wittkowski 1990, 76). Ergreifen einen Menschen Todesängste, so befindet er sich in einem viel größeren Erregungszustand, da er in der jetzigen Situation ganz akut um sein Leben fürchten muss. Hat ein Mensch Angst vor dem Tod, sieht er sich momentan keiner existentiellen Bedrohung ausgesetzt, sondern stellt sich mit wesentlich weniger Erregung ein Ereignis vor, das ihn oder andere erst in ferner Zukunft betreffen wird. Todesangst kann daher kaum Thema einer empirischen Untersuchung sein. Deswegen wird auf die Todesangst in dieser Arbeit auch nicht näher eingegangen.

Collett und Lester begannen 1969 Dimensionen der Angst vor Tod und Sterben zu strukturieren und schufen die einzige konzeptionell begründete, logische Struktur über Angst vor Tod und Sterben. Folgende vier Aspekte der Angst vor Tod und Sterben können unterschieden werden:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Vier Aspekte der Angst vor Tod und Sterben (vgl. Wittkowski 1990, 80)

Die bestehenden „Untersuchungen verweisen auf die Verflechtung von kognitiver Entwicklung und emotionalen Reaktionen“ (Wittkowski 1990, 71). Generell kann man sagen, dass die Angst vor dem Tod wächst, je älter man ist, also auch je reifer das Todeskonzept und der Entwicklungsstand sind (vgl. Wittkowski 2002, 11/ Bürgin 1978, 59/ Wass 2003, 91). Umgekehrt begünstigt ein unreifes kindliches Todeskonzept eher einen angstfreien Umgang mit der Thematik.

„Trotz widersprüchlicher Einzelresultate spricht vieles dafür, daß Angst mit zunehmendem Alter bzw. kognitivem Entwicklungsstand stärker mit Tod und Sterben verknüpft wird. Solange Kinder die Bedeutung des Todes auch für sich selbst nicht voll erkannt haben, so lange scheint die Intensität der Angst vor Tod und Sterben gering zu sein“ (Wittkowski 1990, 75).

Das Todeskonzept beeinflusst jedoch nicht nur die Angst vor dem Tod, sondern das Angstniveau wirkt sich auch auf das Todeskonzept aus. Wie komplex die Wechselwirkung zwischen emotionalen und kognitiven Merkmalen tatsächlich ist, ist noch unbekannt.

Durch die einseitige Ausrichtung auf die Untersuchung der Angst vor Tod und Sterben ist eine Zusammenfassung der Entwicklung der emotionalen Aspekte des Todeskonzepts kaum möglich. Betrachtet man die Entwicklung der Angst vor dem Tod während der Kindheit und Jugend, so ergibt sich laut der bestehenden Untersuchungen folgendes Bild (vgl. Ramachers 1994, 49/ Ramachers 1996, 24f/ Zingrosch 2000, 90ff):

Kinder im Alter von drei bis vier Jahren zeigen kaum ängstliche Reaktionen auf die Konfrontation mit dem Tod, da sie eine unrealistische Einschätzung des Sachverhalts besitzen. Ihnen sind die Dimensionen des Todes noch nicht bewusst, für sie ist er revidierbar und betrifft sie nicht selbst.

Durch die wachsende Ausbildung des Todeskonzepts und eventuell auch aufgrund der Trennung von den Eltern bei Schuleintritt kommt es zwischen fünf und acht Jahren zu einer emotional negativen Färbung des Todes: Das Kind erkennt, dass der Tod etwas Trauriges ist und bekommt Angst vor dem Tod anderer Personen. Andere Untersuchungen zeigen hingegen, dass Kinder im Alter von sechs Jahren keine oder nur schwache Angst beim Gedanken an den Tod haben.

Zwischen acht und neun Jahren haben Kinder nur eine geringe Angst vor dem Tod, vielleicht, weil sie sich mittlerweile an die schulbedingte Trennung von den Eltern gewöhnt haben.

Stärkere Ängste zeigen sich wieder im Alter von zehn bis elf Jahren und besonders hohe Gefühlsreaktionen der Trauer und Angst zwischen 14 und 16 Jahren (vgl. Fischer 1990, 98/ Reuter 1994b, 92). 14jährige Schüler haben beispielsweise signifikant häufiger angstvolle Gefühle als Achtjährige (vgl. Wittkowski/Schnell 1981, 310). Verständlicher Grund für die festgestellte größere negative Emotionalität der älteren Schüler gegenüber der Todesthematik ist ihr breiteres Wissen über typische Erscheinungsformen eines Leichnams und biologische Veränderungen beim Eintritt des Todes. Jugendliche haben mehr Ängste als jüngere Kinder, da sie ein reifes Todeskonzept entwickelt haben und nun die Endgültigkeit des Todes auch für sich selbst in vollem Umfang verstehen (vgl. Wass 2003, 91/ Wittkowski 2002, 12). Erst nach dem Ende der Pubertät scheint ein angstfreier Umgang wieder möglich.

Hat der Mensch in jungen Jahren eine hohe Angst vor Tod und Sterben, ändert sich dies bereits im mittleren Alter und wird besonders schwach gegen Ende der Lebenszeit (vgl. Neimeyer/Van Brunt 1995, 64f). Die Beziehung zwischen Lebensalter und Angst vor dem Tod ist aber nicht so eng, dass man sagen könnte, sie werde mit zunehmendem Alter kontinuierlich geringer. Sie beschreibt eher einen U-förmigen Verlauf. Ist die Angst vor dem Tod im Kindesalter noch gering, so steigert sie sich bis zu ihrer stärksten Ausprägung im Jugendalter und sinkt danach über die Lebensjahre hinweg kontinuierlich ab.

Wie schon bei der kognitiven Komponente des Todeskonzepts ist auch die Angst vor Sterben und Tod von weiteren Faktoren als dem Lebensalter abhängig (vgl. Neimeyer/Van Brunt 1995, 63ff/ Wittkowski 1990, 90ff; 2001, 18ff; 2002, 13/ Wass 2003, 91/ Rosemeier 1984a, 227ff/ Kastenbaum 1989a, 83):

Die biologischen Merkmale eines Menschen haben beispielsweise einen entscheidenden Einfluss auf die Angst vor dem Lebensende. So gilt mittlerweile als gesichert, dass Frauen in allen Kulturen stärkere Ängste vor Tod und Sterben äußern als Männer, auch wenn die Gründe hierfür unklar sind. Der Gesundheitsstatus spielt ebenfalls eine Rolle. HIV-Infizierte haben eine größere Angst vor dem Tod als Nichtinfizierte.

Zur Abhängigkeit der Angst vor dem Tod von soziodemographischen Merkmalen wie Ausbildungsniveau, Beruf, Einkommen oder Wohngegend lassen sich noch zu wenig erkenntnisreiche Aussagen machen, um sie hier theoretisch aufzuführen. Weitere Untersuchungen wären wünschenswert.

Der Zusammenhang zwischen den Persönlichkeitsmerkmalen eines Menschen und der Angst vor dem Tod wurde dagegen in den letzten Jahren gründlicher erforscht. Demnach besitzen emotionale labile oder depressive Personen vermehrt Angst vor Tod und Sterben, während selbstsichere Individuen weniger Angst gegenüber diesen Sachverhalten empfinden. Die Beziehung von Religiosität und Angst vor den letzten Dingen ist nur mäßig und Untersuchungen dazu zeigen keine klare, sondern eine sehr widersprüchliche Befundlage. Einige Studien sehen einen positiven, andere einen negativen Zusammenhang. Die neuesten mehrdimensionalen Untersuchungen tendieren zu folgender Aussage: Menschen mit schwachem oder starkem Glauben haben relativ wenig Angst, während „Normalgläubige“ eher stärkere Ängste zeigen (vgl. Ochsmann 1993, 108).

Menschen mit erlebten Nahtoderfahrungen haben weniger Angst vor dem eigenen Tod. Wie stark sich diese Erfahrungen auf das Angstniveau auswirken ist allerdings von der Intensität dieser Erlebnisse abhängig. Gemachte Erfahrungen mit dem Tod eines nahen Freundes haben keinen oder kaum einen Effekt auf die Angst vor dem Tod.

Wichtig erscheint es mir zu erwähnen, dass die Intensität der gedanklichen Beschäftigung mit Tod und Sterben und die Angst vor Tod und Sterben voneinander logisch unabhängig sind. Eine Person kann viel über Tod und Sterben nachdenken ohne davor Angst zu haben und umgekehrt.

Wie bereits oben erwähnt wurde, ist die Angst vor dem Tod nicht die alleinige Reaktion auf die Realität des Todes. Gleichgültigkeit, Negation oder Akzeptanz sind weitere Reaktions-möglichkeiten, die sich analog zur Angst auch jeweils in vier Komponenten bezüglich des eigenen Todes und Sterbens sowie des Sterbens und des Todes anderer Menschen unterscheiden lassen (vgl. Wittkowski 2001, 17).

Die Akzeptanz ist neben der Angst die noch am besten erforschte Einstellung gegenüber dem Tod.

„Akzeptieren steht für eine grundsätzliche Bejahung der Endlichkeit des Daseins einschließlich des Sterbeprozesses und eine daraus resultierende Gelassenheit gegenüber der Todesthematik“ (Wittkowski 1994, 43).

Kennzeichnend für Personen, die Tod und Sterben akzeptieren ist, dass sie Tod und Sterben als natürliche Bestandteile des Lebens betrachten, in Ruhe und Gelassenheit darüber sprechen, überzeugt sind von der Notwendigkeit des Sterbens, darauf neugierig sind und Sterben als zu bewältigende Aufgabe sehen (vgl. Wittkowski 1990, 107).

In den Untersuchungen zeigte sich ein positiver Zusammenhang zwischen Angst und Akzeptieren. So „haben Personen, die Sterben und Tod als natürlichen Bestandteil ihres Lebens bejahen, in der Tendenz eher weniger Angst vor Sterben und Tod; Personen hingegen, die Sterben und Tod nicht oder nur wenig akzeptieren, äußern eher starke todbezogene Ängste“ (Neimeyer et al. 2003b, 122). Es ist aber dennoch möglich, den Tod zu akzeptieren und zugleich große Angst vor ihm zu haben (vgl. Wittkowski 1990, 110; 2001, 21).

„Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine akzeptierende Einstellung zum (eigenen) Tod mit ausgeprägterer Lebenszufriedenheit, höherem Selbstwertgefühl und stärkerer religiöser Gläubigkeit einhergeht“ (Neimeyer et al. 2003b, 122).

5.2 Das Trauerverhalten von Kindern und Jugendlichen

Bevor wir die Trauer bei Kindern und Jugendlichen näher betrachten, muss das Phänomen der Trauer definiert werden, um differenzierte Aussagen darüber machen zu können. Oftmals wird in der Literatur unter Trauer entweder die Reaktion auf einen Verlust oder der Bewältigungsversuch dieses Verlustes verstanden (vgl. Gebhard 1994, 191/ Reuter 1997, 49). Da meines Erachtens beide Aspekte den Begriff „Trauer“ ausmachen, muss eine Definition auch beide beinhalten.

Als Trauer bezeichne ich somit die emotionale Reaktion auf den schmerzhaften Verlust eines geliebten Objekts oder einer Person und den daran anschließenden Prozess, diesen Verlust zu bewältigen.

Diese Erklärung macht deutlich, dass Trauer gleichzeitig als natürliche Reaktion und als Bewältigungsprozess auf alle Arten von Verlust angesehen werden muss und immer von der persönlichen Wahrnehmung abhängig ist (vgl. Rando 2003, 181).

Wie für ein umfassendes Verständnis des Todes ebenfalls im Laufe der Entwicklung Komponenten erworben werden müssen, so muss jeder Mensch auch gewisse kognitive und emotionale Voraussetzungen besitzen, um überhaupt trauern zu können (vgl. Gebhard 1994, 192ff/ Aymanns et al. 1987, 183f/ Plieth 2002, 122ff/ Iskenius-Emmler 1988, 126ff):

Das Kleinkind muss die Fähigkeit zur Objekt- bzw. Personenpermanenz erworben haben, um über die andauernde Existenz von Objekten bzw. Personen, auch wenn diese nicht zu sehen sind, zu wissen. Notwendig hierzu ist ein stabiles Verhältnis zu einer Person, die in ihrer eigenen Wesensart positiv wahrgenommen werden muss und eine emotionale Verbundenheit zwischen beiden Personen zulässt. Wenn das Kind eine Person, die plötzlich nicht mehr vorhanden ist, nicht vermisst, kann es auch keine Trauer empfinden.

Eng verknüpft mit der Personenkonstanz ist das Vorstellungs- und Erinnerungsvermögen. Man muss sich an die abwesende Person erinnern können und sie sich intern vorstellen können, um trauern zu können. Dazu ist ein grobes Verständnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft notwendig.

Außerdem wird oftmals der Besitz eines realistischen Todesverständnisses als Voraussetzung für die Fähigkeit zur Trauer genannt. Besonders die irreversible Komponente des Todeskonzepts scheint dabei ein wichtiger Faktor, denn jeder Mensch muss, bevor er richtig trauern kann, zuerst verstanden haben, dass mit dem Eintritt des Todes der geliebte Mensch endgültig verloren ist und nicht wieder zurückkommen kann.

Diese Voraussetzung würde aber gerade jüngeren Kindern die Fähigkeit zu trauern absprechen, da diese ja noch kein reifes Todeskonzept erlangt haben können. Es stellen sich also folgende Fragen: Können kleine Kinder wirklich nicht trauern? Erlernen sie diese Fähigkeit erst im Zuge ihrer emotionalen und kognitiven Entwicklung der Todesvorstellung?

Das ist kaum vorstellbar, da es sich sonst nur schwer erklären lässt, dass bereits kleine Kinder Trauerreaktionen zeigen, wenn eine geliebte Person einfach nicht mehr da ist. Anscheinend können Kleinkinder auch ohne voll entwickeltes Todeskonzept Trauer empfinden, allein aufgrund der Tatsache, dass eine geliebte Person nicht mehr vorhanden ist. Sie erkennen es auch an den Trauerreaktionen ihres Umfelds. Das Todeskonzept und die damit verbundene Fähigkeit zur Unterscheidung zwischen Schlaf, Reise und Tod mag eine gewisse Hilfe sein, das Wegsein des geliebten Menschen zu erklären, aber es ist wohl keine Voraussetzung, um Trauer zu empfinden, sondern eher um diese zu bewältigen. Trauer als natürliche Reaktion auf einen Verlust zeigen also schon Kleinkinder ab 17 Monaten, da sie über Personenpermanenz, Erinnerungsvermögen und Zeitvorstellung verfügen (vgl. Aymanns et al. 1987, 182/ Bowlby 1983, 571f). Der weitere Verlauf der Trauer ist allerdings abhängig vom kognitiven Entwicklungsstand des Kindes. Eine vollständige Verarbeitung des Verlustes ist nur möglich, wenn das Kind eine realistische Vorstellung vom Tod besitzt (vgl. Iskenius-Emmler 1988, 125/ Leist 1982, 160). Eine Trauerarbeit, so schmerzlich sie auch sein mag, ist aber auch für das Kind bei schweren Verlusten notwendig, um diese Verluste zu bewältigen und um die dadurch eingetretene Veränderung der Realität zu akzeptieren. Dazu sind Kinder, die noch kein reifes Todeskonzept entwickelt haben, wie wir gesehen haben, nicht in der Lage. Sie sind verstärkt auf Hilfe von außen angewiesen. Laut John Bowlby ist es durchaus schon sehr kleinen Kindern mit der nötigen Unterstützung möglich eine gelingende Trauerarbeit zu leisten (vgl. Bowlby 1983, 32/ Iskenius-Emmler 1988, 142). Eltern und Erzieher müssen dem Kind helfen die psychosozialen Bindungen zum Verstorbenen aufzuheben, sich mit dem Verlust abzufinden und in der neu entstandenen Ordnung der Welt weiterzuleben (vgl. Rando 2003, 182).

Folgende sechs Prozesse muss laut Therese Rando jeder Trauernde erfolgreich abschließen, um den Verlust in gesunder Weise zu bewältigen (vgl. Rando 2003, 187ff):

1- Den Verlust erkennen (Den Tod akzeptieren)
2- Auf die Trennung reagieren (Schmerzen spüren und ausdrücken)
3- Sich auf den Verstorbenen rückbesinnen und die Beziehung nachempfinden (Lockern der alten Beziehung)
4- Die alten Bindungen an den Verstorbenen und an die alte angenommene Welt preisgeben (Loslassen der Beziehung)
5- Sich neu ordnen, um sich anpassungsfähig in die neue Welt zu begeben, ohne die alte zu vergessen (Verarbeiten des Verlusts durch Anpassen an die neuen Umstände)
6- Neu investieren (Neue Rollen, Ideale und Ziele finden)

Gerade die Individualität und Heterogenität des Trauerverlaufs machen allgemeingültige Aussagen über die ideale Trauerverarbeitung äußerst schwierig. „Die“ Trauer kann es nicht geben, da jeder Mensch in seinem Handeln, Denken und Fühlen einzigartig ist (vgl. Schlund 2004, 52).

Dennoch haben Forscher wie Bowlby, Kast und Spiegel versucht anhand von Einzelfallbeobachtungen eine bestimmte Phasenabfolge der Trauer herzuleiten, um so den Ablauf der Trauer besser verstehen zu können. Insgesamt zeigt sich eine große inhaltliche Übereinstimmung der verschiedenen Phasenmodelle, so dass ich kurz eines davon exemplarisch vorstellen möchte, da empirische Untersuchungen zur Trauer immer noch Mangelware sind (vgl. Bowlby 1983, 18). Es stammt von Verena Kast und umfasst vier Phasen. Es besitzt wie die anderen Phasenmodelle jedoch nur einen geringen Gültigkeitsanspruch, da die Beschreibung und Analyse der Trauersymptome nicht durch wissenschaftliche Untersuchungen begründet sind, sondern nur auf therapeutisch-seelsorgerischen Gesprächen basieren. Eine Übersicht über die einzelnen Kritikpunkte an den Phasenmodellen findet sich an anderer Stelle (vgl. Zingrosch 2000, 108f/ Samarel 2003, 138f). So stellt das Phasenmodell kein allgemeingültiges Modell des Trauerns und schon gar keine feste mechanische Abfolge dar, sondern vielmehr eine sehr subjektive Stadienvorstellung, die Trauersymptome erkennbar macht und lediglich als Verstehenshilfe für den Umgang mit trauernden Menschen gedacht ist.

Weitgehend analog zum Sterbeprozess vollzieht sich auch der Trauerprozess (vgl. Kast 1982, 61ff):

1- Nicht-wahrhaben-Wollen (Leugnen des Todes)
2- Aufbrechende Emotionen (z. B. Zorn, Wut, Schmerz, Schuldgefühle)
3- Suchen und Sich-Trennen (Erinnerung an den Verstorbenen und Akzeptanz des Verlustes)
4- Neuer Selbst- und Weltbezug (Langsame Aufgabe des Schmerzes und zunehmende Öffnung zu anderen Personen)

Wie erwähnt stellen die vier Phasen nur grobe Züge des Trauerverlaufs dar, um menschliche Trauersituationen begreiflicher zu machen. In Wirklichkeit gestaltet sich die Trauer in Ausdruck, Intensität und Dauer individuell und persönlich sehr verschieden (vgl. Burgheim et al. 1999, 9/ Brüllmann 2005, 111/ Rando 2003, 184). Gerade Kinder trauern sehr sprunghaft und spontan und zeigen eine große Bandbreite an Trauermöglichkeiten von Weinen über aggressives oder störrisches Verhalten bis hin zu stiller Trauer oder Blödeleien (vgl. Plieth 2002, 104/ Ennulat 2003, 55f/ Burgheim et al. 1999, 10). Dennoch ist das Trauerverhalten von Erwachsenen und Kindern sehr ähnlich (vgl. Bowlby 1983, 27).

Weiterhin lassen sich bestimmte Einflussfaktoren der Trauer benennen, von denen die Intensität und die Dauer der Trauer abhängig sind (vgl. Rando 2003, 184/ Schroeder et al. 2000, 226f/ Schlund 2004, 61ff/ Rieck/Ulshoefer 1999, 4/ Bowlby 1983, 224):

- Psychologische und physiologische Faktoren (Bedeutung des Verstorbenen, Persönlichkeitsmerkmale des Trauernden, Todesumstände)
- Persönlichkeitsvariablen (Alter, Geschlecht, Entwicklungsstand, bereits gemachte Erfahrungen, Schuldgefühle, Religionszugehörigkeit, gewisse Fähigkeit, wie z. B. Gefühle wahrzunehmen und mitzuteilen, Distanz und Kontinuität herzustellen, Hilfe zu fordern und anzunehmen)
- Soziale Faktoren (Unterstützung durch Gemeinschaft, sozioökonomischer Status, gesellschaftliche Rituale, ethnische Zugehörigkeit)

Genauere Ergebnisse zu den einzelnen Determinanten möchte ich nicht nennen, sondern mich nun angesichts des Themas meiner Arbeit dem Umgang mit Tod und Trauer bei geistig behinderten Jugendlichen zuwenden.

6. Der Umgang von geistig behinderten Jugendlichen mit Tod und Sterben

Ein eigenes Kapitel für den Umgang mit Tod und Sterben bei geistig behinderten Jugendlichen soll nicht zu dem voreiligen und falschen Schluss führen, geistig behinderte Menschen hätten im Gegensatz zu nicht behinderten gänzlich andere Umgangsweisen mit der Thematik.

Dennoch liegt es nahe, dass geistig behinderte Menschen bedingt durch ihr „Kognitives Anderssein“ (Thalhammer 1977, 40) auch unterschiedliche Vorstellungen von Tod und Sterben haben als Menschen ohne geistige Behinderung, was eine eigenständige Erforschung der Begegnung und des Befassens geistig Behinderter mit Tod, Sterben und Trauer erforderlich machen würde (vgl. Arenhövel 1995, 10).

Bevor eine genauere Untersuchung des Erlebens von Sterben, Tod und Trauer durch geistig behinderte Jugendliche erfolgt, will ich zunächst den Behinderungsbegriff klären, der dieser Arbeit zugrunde liegt.

Manfred Thalhammer ist der Ansicht, dass die Aussagen von uns Nichtbehinderten über den Begriff „geistige Behinderung“ ebenso inhaltsleer sind, wie unsere Definitionsversuche des Todes! Beide sind uns unvorstellbar und undenkbar (vgl. Thalhammer 1977, 9f). So gestaltet sich unser Versuch „die geistige Behinderung“ fassen zu wollen als äußerst schwieriges Unterfangen, da jede Definition, die von außen an eine Gruppe von Menschen herangetragen wird, sicherlich anders ausfallen würde, wenn sie von deren Mitgliedern gemacht wäre. Behinderung ist somit immer ein – wenn auch für die Wissenschaft notwendiges – Konstrukt, das die Umwelt einem bestimmten Personenkreis zuschreibt.

Otto Speck versucht „Behinderung“ folgendermaßen zu erläutern:

„“Behinderung“ ist an sich schon ein komplexer Begriff, der aus verschiedenen Teilbegriffen resultiert:

- aus einer organischen Schädigung (Zentralnervensystem)
- aus individuellen Persönlichkeitsfaktoren und
- aus sozialen Bedingungen und Einwirkungen.

Erst das Zusammenwirken dieser Teilfaktoren ergibt das, was man hierzulande eine Behinderung nennt“ (Speck 1999, 40).

Der Ausdruck „geistige Behinderung“ bezeichnet in dieser Arbeit einen Sammelbegriff für eine höchstunterschiedliche Gruppe von kognitiv beeinträchtigten Menschen, die besonderer pädagogischer Unterstützung und Hilfestellung bedürfen.

Ich werde im Folgenden eine Übersicht über den aktuellen Forschungsstand bezüglich der Erlebensweise von Sterben, Tod und Trauer durch Jugendliche mit geistiger Behinderung geben und daran anschließend meine eigene Untersuchung zu diesem Themenkomplex vorstellen.

6.1 Die Todesvorstellung von geistig behinderten Jugendlichen

Das Todesverständnis von Menschen mit geistiger Behinderung war bislang kaum Thema empirischer Forschung (vgl. Havemann/Stöppler 2004, 179). So finden sich nur eine Hand voll Untersuchungen, die sich ausschließlich dieser Thematik widmen. Diese haben meist nur eine geringe Aussagekraft. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um kleinere Vorstudien, was sich an der geringen Anzahl der Untersuchungsteilnehmer und der improvisierten Untersuchungs- und Auswertungsinstrumente zeigt, die strengen wissenschaftlichen Ansprüchen nicht immer genügen können. Dennoch war und ist es wichtig, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, um einen Überblick über die aktuelle Forschungslage und um Anregungen für meine eigene Studie zu bekommen. Nur so ist es mir möglich, die fehlerhaften Untersuchungsmethoden zu verbessern.

Da mir insgesamt nur drei Untersuchungen zu den Todesvorstellungen geistig behinderter Jugendlicher bekannt sind, möchte ich zunächst einige Forschungsbeiträge über das Erleben von Tod und Sterben bei geistig behinderten Erwachsenen vorstellen. Auch wenn die Ergebnisse der meisten Studien nicht sonderlich aussagekräftig sind, können sich einige Parallelen zu geistig behinderten Jugendlichen ziehen lassen.

Die ersten beiden Studien sind für unsere Fragestellung nur von sehr geringer Bedeutung, da sie die Todesvorstellungen von Erwachsenen mit geistiger Behinderung nur am Rande behandeln.

Feuerhahn befragte 1982 111 geistig behinderte Erwachsene in einer Anstalt in der DDR über ihre Bedürfnisse und Verhaltensweisen im Allgemeinen (vgl. Arenhövel 1995, 34/ Wickert/Hoogers-Dörr 1983, 148f). Unter den 45 Fragen befand sich auch die Frage nach der Angst vor dem Tod und vor dem Sterben. 71% der männlichen und 66% der weiblichen Befragten gaben an, dass sie keine Angst vor dem Sterben haben. Angst vor dem Tod hatten dagegen 20% der männlichen und 15% der weiblichen Anstaltsbewohner.

Johannes Wickert und Kinie Hoogers-Dörr interviewten im selben Jahr sieben geistig behinderte Heimbewohner mit Down-Syndrom (Altersdurchschnitt: 49 Jahre) zu ihrer Einstellung gegenüber dem Tod und ihrem Trauerverhalten. Zusätzlich befragten sie zwölf Betreuer anderer Einrichtungen per Fragebogen über ihre Einschätzung (vgl. Wickert/Hoogers-Dörr 1983, 158).

Die Auswertung der Antworten zeigte, dass die Untersuchungsteilnehmer einen natürlichen und unbefangenen Umgang mit dem Tod besaßen. Zudem zeigten sie weniger Angst vor dem Tod als nicht behinderte Erwachsene. Die beiden Forscher führen das auf die allgemeinen Lebensumstände von geistig behinderten Heimbewohnern zurück. Diese hätten generell weniger Sorgen, weniger Zweifel, weniger soziale Verpflichtungen und weniger Besitz als Erwachsene ohne geistige Behinderung (vgl. Wickert/Hoogers-Dörr 1983, 160). Ihr starker religiöser Glauben an Gott hätte zudem einen positiven Einfluss auf die Akzeptanz des Todes. Auch wenn die Befragten keinerlei Anzeichen von Angst vor dem Tod zeigten, ängstigte sie dagegen der Gedanke ans Sterben durchaus. „Nicht das Phänomen Tod, sondern schwere Krankheit, die damit verbundenen Leiden und Veränderungen induzieren Angst“ (Wickert/Hoogers-Dörr 1983, 161).

Die Betreuer gaben an, dass keine starken individuellen Unterschiede der Einstellungen zu Tod und Sterben bei den Heimbewohnern festzustellen seien und sich ihre Klienten erst bei aktuellen Ereignissen mit dem Tod beschäftigen würden (vgl. Wickert/Hoogers-Dörr 1983, 161).

Elf leicht geistig behinderte Erwachsene zwischen 34 und 69 Jahren, die in einer Wohneinrichtung mit konfessionellem Konzept leben, wurden in einer Untersuchung von Martina Schlund im Jahr 2004 über ihren Umgang mit Tod und Trauer interviewt. Zusätzlich befragte sie sieben Betreuer und begleitende Fachdienste zu der Thematik (vgl. Schlund 2004).

Da sich das Hauptinteresse der Studie allerdings auf das Trauerverhalten geistig behinderter Erwachsener richtet, wurde bezüglich der Komponenten des Todeskonzepts nur sehr undifferenziert gefragt. So wird nur die Universalität des Todes mit zwei Fragen geklärt („Muss jeder einmal sterben?“, „Glaubst du, dass Du auch sterben musst?“), während die Irreversibilität, Nonfunktionalität und Kausalität im Interviewleitfaden keine Beachtung finden. Ebenso wird nur nach der Angst vor dem eigenen Tod gefragt, nicht aber nach der Angst vor dem eigenen Sterben oder dem Tod und dem Sterben anderer Personen. Somit sind die Ergebnisse mit Vorbehalt zu betrachten.

Jedenfalls deuten die Antworten der Befragten darauf hin, dass ein Todeskonzept bei allen geistig behinderten Erwachsenen vorhanden ist (vgl. Schlund 2004, 85f). Zudem gaben alle Testpersonen an, keine Angst vor dem eigenen Tod zu haben, da er etwas Natürliches sei. Eine mögliche Ursache dafür kann in dem christlich geprägten und Trost spendenden Glauben der Untersuchungsteilnehmer an ein Weiterleben nach dem Tod bei Gott gesehen werden. Die Erfahrungen der Betreuer bestätigten diese Erkenntnisse. Ihnen zufolge besitzen leicht geistig behinderte Erwachsene ein Todeskonzept. Dieses enthält allerdings meist sehr kindliche und christlich geprägte Bilder vom Tod (vgl. Schlund 2004, 89f). Die Endgültigkeit des Todes erscheint dabei am schwersten für Menschen mit geistiger Behinderung zu begreifen.

Inhaltlich differenziertere Fragen zur Todesvorstellung stellten James Yanok und Joan Addis Beifus 1993 einer Gruppe von geistig behinderten Erwachsenen. Sie formulierten drei Fragen zur Universalität („Can a chair die?“, „Can a tiny baby die?“, „Will I (the examiner) ever die?”), eine zur Irreversibilität („If you wished hard enough, could you make a dead person come back to life?”) und zwei zur Kausalität des Todes („If you wished someone were dead, and that person died the next day, would it be your fault?”, „If your old grandmother became very ill, could you keep her alive by being kinder to her?”) (vgl. Yanok/Beifus 1993, 146). Leider fehlt die Abfrage der letzten Komponente des kognitiven Todeskonzepts, der Nonfunktionalität.

Die Auswertung der Antworten zeigt ein sehr differenziertes Bild (vgl. Yanok/Beifus 1993, 146): Die Frage, ob ein Stuhl sterben kann, verneinten 92% der Befragten. Dieses Ergebnis ist äußerst interessant. Mit der Frage nach der Sterblichkeit eines Stuhls sollte nämlich überprüft werden, ob der Proband fähig ist zwischen belebten und unbelebten Objekten zu unterscheiden. Bis zum Alter von fünf Jahren besitzt der Mensch laut Piagets Theorie noch ein animistisches Weltbild, das heißt, unbelebten Objekten werden tendenziell lebensähnliche Eigenschaften zugesprochen. Beantwortet also der Untersuchungsteilnehmer die genannte Frage „Kann ein Stuhl sterben?“ mit „Nein“, so hat er voraussichtlich das animistische Weltbild überwunden. Bei den allermeisten geistig behinderten Erwachsenen schien dies wohl der Fall zu sein. Das Verständnis der Universalität des Todes wurde allerdings noch durch zwei weitere Fragen überprüft: 56% der Testpersonen waren der Meinung, dass ein kleines Baby sterben kann und 40% glaubten, der Interviewer sei sterblich. Erst wenn alle drei Fragen korrekt beantwortet wurden, kann man von dem Verständnis ausgehen, dass alle Lebewesen sterblich sind. Ungeklärt blieb allerdings in dieser Untersuchung, ob die rund 40%, die die Universalität des Todes begriffen, fähig waren die Endlichkeit auch auf sich selbst zu beziehen (vgl. Yanok/Beifus 1993, 146).

Die Antworten auf die Fragen hinsichtlich der Kausalität des Todes waren ebenfalls sehr heterogen. Zwar verstanden noch 76% der Befragten, dass es nicht ihre Schuld ist, wenn jemand stirbt, dem man den Tod gewünscht hat, aber nur 36% wussten, dass sie das Leben ihrer Großmutter nicht verlängern können, indem sie netter zu ihr sind. Somit hatten also höchstwahrscheinlich nur rund ein Drittel der geistig behinderten Erwachsenen die Kausalität des Todes ganz verstanden.

Immerhin waren sich 48% sicher, dass sie einen Toten nicht mehr lebendig machen können, selbst wenn sie sich das sehr wünschen. Demnach wusste anscheinend knapp die Hälfte der Testpersonen um die Unumkehrbarkeit des Todes (vgl. Yanok/Beifus 1993, 146).

Insgesamt zeigen die Ergebnisse, dass weniger als die Hälfte der geistig behinderten Erwachsenen die drei Komponenten Universalität, Irreversibilität und Kausalität des kognitiven Todeskonzepts begriffen hatte.

Eine Befragung mit einer sehr großen Probandengruppe führten 1983 Pamela Lipe-Goodson und Barbara Goebel in den USA durch. Sie interviewten 65 geistig behinderte Heimbewohner im Alter von 17 bis 62 Jahren mit einem Intelligenzquotienten zwischen 19 und 80 (IQ-Mittelwert: 40,42) über ihr Altersverständnis und ihr Todeskonzept (vgl. Lipe-Goodson/Goebel 1983). Es befanden sich also auch Personen darunter, die in Deutschland als lernbehindert eingestuft werden würden.

Die Untersuchungsteilnehmer sollten zuerst fünf Bilder, auf denen jeweils ein Kind, ein Jugendlicher, ein junger, ein älterer und ein sehr alter Erwachsener abgebildet waren, in die richtige Reihenfolge bringen, und anschließend drei Fragen zur Universalität („Does everybody die?“, „Are you going to die someday?“) und zur Irreversibilität des Todes („After you die, can you come back to life like you and I are now?”) beantworten (vgl. Lipe-Goodson/Goebel 1983, 70).

Leider nennen die Autoren keine konkreten Prozentzahlen, die besagen, wie viele der untersuchten Personen die Irreversibilität und die Universalität begriffen haben. Sie geben nur die wenig hilfreiche Aussage, geistig behinderte Erwachsene hätten in etwa dasselbe Alters- und Todesverständnis wie nicht behinderte Kinder (vgl. Lipe-Goodson/Goebel 1983, 74).

Glaubt man den Forschern, so zeigten die Ergebnisse deutlich, dass das korrekte Todesverständnis im Laufe des Alters zunimmt. Das chronologische Alter dient somit auch bei geistig behinderten Erwachsenen als Richtschnur für die Todeskonzeptentwicklung. Weiteren – wenn auch nicht signifikanten – Einfluss darauf haben die kognitiven Fähigkeiten und noch mehr die individuelle Lebenserfahrung des Einzelnen.

Eine der inhaltlich differenziertesten Untersuchung des kognitiven Todeskonzepts legten Dennis Harper und John Wadsworth 1993 vor. Sie interviewten 43 mittel bis schwer geistig behinderte Erwachsene im Alter von 21 bis 79 Jahren, die innerhalb der letzten drei Jahre einen Todesfall erlebt hatten (vgl. Harper/Wadsworth 1993). Die Forscher stellten zuerst einige offene Fragen bezüglich der Erfahrungen und des Umgangs mit Tod und Trauer und versuchten mittels acht Ja/Nein-Fragen das vorhandene Wissen über die Irreversibilität („Can some people come back to life?“, „Can dead people come to see you?“, „When people die, are they always dead?“, „When you are awake, do you see people who are dead?”), die Universalität („Does everyone die someday?”, „Do some people live forever?“) und die Nonfunktionalität („Can dead people feel hot or cold?“, „Do you talk with dead people?“) des Todeskonzepts herauszufinden (vgl. Harper/Wadsworth 1993, 323). Die letzte Frage zur Nonfunktionalität ist meines Erachtens sehr ungünstig gewählt, da sicherlich auch manch Erwachsener mit reifem Todeskonzept angeben würde mit verstorbenen Angehörigen zu reden. Auch die Frage „Do some people live forever?“ ist missverständlich, da einige, für die die tote Person im Herzen weiterlebt, dies bejahen würden. Immerhin fragten die Forscher auch nach möglichen Todesursachen und damit nach dem Verständnis der Kausalität des Todes. Zusätzlich wurden 100 Betreuer über ihre Erfahrungen zum Umgang geistig behinderter Menschen mit Tod und Sterben befragt.

Die Autoren präsentieren ein überraschendes Ergebnis: 29 der 43 Testpersonen beantworteten sechs oder mehr der acht geschlossenen Fragen zum kognitiven Todeskonzept richtig (vgl. Harper/Wadsworth 1993, 322). 67% der untersuchten geistig behinderten Erwachsenen besaßen demnach ein voll entwickeltes Todeskonzept. Die beiden Fragen zur Nonfunktionalität beantworteten 26 bzw. 36 korrekt und die zur Universalität 31 bzw. 27 richtig. Jeweils 28 bis 34 Teilnehmer zeigten in den vier Fragen, dass sie die Irreversibilität begriffen haben (vgl. Harper/Wadsworth 1993, 323). Wie viele der Erwachsenen mit geistiger Behinderung genau ein differenziertes Wissen über die Kausalität des Todes besaßen, wird nicht erwähnt. Einige der Probanden nannten Krankheit, hohes Alter und Verletzung als mögliche Todesursachen (vgl. Harper/Wadsworth 1993, 324).

Die Lebenserfahrung scheint für die Autoren neben der kognitiven Entwicklung einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Todeskonzept zu haben. Über den Faktor Lebensalter wird keine Angabe gemacht. Da aber auch die schwerer geistig behinderten Probanden auf dem präoperationalen Niveau ein reifes Todeskonzept besaßen, gilt es für die Autoren als äußerst fraglich, ob der geistige Entwicklungsstand nach Piaget wirklich ausschlaggebend für das Todesverständnis ist. Möglicherweise wären neuere Theorien zur geistigen Entwicklung, die den bisherigen Erfahrungen mit Tod, Sterben und Trauer und dem persönlichen Glaubenshintergrund der Personen mehr Beachtung schenken, für die Vorhersage der Todesvorstellung geistig behinderter Menschen besser geeignet (vgl. Harper/Wadsworth 1993, 326f).

Wie bei den bisherigen Untersuchungen äußerten die Erwachsenen mit geistiger Behinderung religiöse Jenseitsvorstellungen und 37 von ihnen berichteten über einen bereits erlebten Todesfall einer ihnen nahe stehenden Person.

Werfen wir nun einen Blick auf die bisherigen empirischen Studien mit geistig behinderten Jugendlichen zu Tod und Sterben.

Manny Sternlicht interviewte 1980 in den USA 14 geistig behinderte Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 19 Jahren mit einem Intelligenzquotienten zwischen 41 und 56 (IQ-Mittelwert: 48,8). Die Untersuchungsteilnehmer wurden zuerst auf ihre Entwicklungsstufe nach Piaget hin getestet und anschließend wurden ihnen vier Fragen zum Tod gestellt (vgl. Sternlicht 1980, 160): „What makes things die?“ (Kausalität), „How do you make dead things come back to life?“ (Irreversibilität), „When will you die?“ (Zeitvorstellung) und „What will happen then?“ (Jenseitsvorstellung).

Da sich alle Probanden der präoperationalen Stufe zuordnen ließen, dürfte keiner von ihnen ein reifes Todeskonzept entwickelt haben. Die Ergebnisse zeigen folgerichtig, dass ihnen ein realistisches Verständnis von der Endgültigkeit des Todes (Irreversibilität) und das Wissen über ihren eigenen Todeszeitpunkt (Zeitvorstellung) fehlten. Dies belegt den bestehenden Zusammenhang zwischen kognitivem Level und Todeskonzept. Erfahrungen mit dem Tod sind für geistig behinderte Menschen aufgrund ihres begrenzten kognitiven Verstehens und ihrer egozentrischen Vorstellung des Todes oft weniger nützlich. Da jedoch die meisten von ihnen Todesursachen kannten, müssten sie auch ein Verständnis für die Kausalität des Todes besitzen. Sternlicht veranlasste dies zu folgendem Schluss:

„It does seem clear, though, that preoperational children and retarded individuals do have at least a concrete or specific idea of how death occurs, and that this aspect of death is he first to appear developmentally“ (Sternlicht 1980, 163).

79 geistig behinderte Jugendliche und junge Erwachsene mit einem Durchschnittsalter von 19,9 Jahren und einem IQ-Mittelwert von 61,9 wurden 1982 in den USA von Elson Bihm und Luke Elliott zu ihrer Todesvorstellung befragt. Dabei wurde auch, wie bei der Studie von Sternlicht, ihr geistiges Niveau nach Piaget durch einige Aufgaben erfasst (vgl. Bihm/Elliott 1982). Die Forscher stellten sechs geschlossene Fragen zur Todesvorstellung, um das vorhandene Wissen der Testpersonen zur Kausalität („How can you tell when someone is dead?“, „Why is it that people die? How does it happen?”), zur Nonfunktionalität („Can a dead person feel anything like hot or cold outside?”, „Can he talk?”) und zur Universalität des Todes („Do you think everyone will die?”, „Do you think you will die?”) herauszufinden. Zudem wurden Fragen zu ihren bisherigen Erfahrungen („Do you know anyone who died?”) und ihrem Interesse an der Thematik („Do you have any questions about death that you´ve always wanted to ask?”) gestellt (vgl. Bihm/Elliott 1982, 207). Die Irreversibilität des Todes wurde in dieser Studie aus unbekannten Gründen vernachlässigt.

Die Aufgaben zum geistigen Entwicklungsstand erbrachten folgendes Ergebnis: 54 (68%) Probanden erreichten die präoperationale Stufe, während 25 (32%) die konkret-operationale Stufe erlangten. Keiner der Probanden kam auf die Niveaustufe der formalen Operationen (vgl. Bihm/Elliott 1982, 207). Wie sich anhand der einzelnen Ja/Nein-Fragen zeigte, hat die jeweilige Stufe der geistigen Entwicklung nach Piaget einen signifikanten Einfluss auf die Todesvorstellung, ganz im Gegensatz zum Lebensalter der Probanden, das nur geringe Auswirkungen auf das Todeskonzept hatte. Je weiter die Probanden geistig entwickelt waren, desto genauer war auch ihr Wissen über den Tod. Demnach steht die geistige Entwicklung besonders bei geistig behinderten Menschen in engem Zusammenhang zum Verständnis des Todes und der „cognitive level is probably a much better predictor of an understanding of death than is chronological age” (Bihm/Elliott 1982, 210).

Auch wenn nur sechs der Testpersonen durch eine eigene Frage Interesse an der Thematik bekundeten, hatten zumindest fast alle Erfahrungen mit Tod und Sterben gemacht. Nur zehn Befragte kannten niemanden, der aus ihrem persönlichen Umfeld gestorben war (vgl. Bihm/Elliott 1982, 209).

Die Items zu den einzelnen kognitiven Todeskonzeptkomponenten ergaben folgendes Bild: Auf die Frage „How can you tell when someone is dead?“ äußerten 27% der Probanden nur sehr subjektive und realitätsfremde Sichtweisen, 23% kannten einzelne Elemente (z. B. Unbeweglichkeit) und 50% hatten genaue Kenntnisse über den Sachverhalt (z. B. Ausfall der lebensnotwendigen Funktionen). Zu den möglichen Todesursachen („Why is it that people die? How does it happen?”) hatten 13% fantastische und magische Vorstellungen, 40% konnten konkrete Einzelheiten benennen und 47% allgemeingültige Antworten geben. Rund die Hälfte der befragten geistig behinderten Personen besaß also ein ausgeprägtes Verständnis der Kausalität des Todes.

Die Fragen „Can a dead person feel anything like hot or cold outside?” und „Can the dead person talk?” bejahten jeweils 32% bzw. 15% und verneinten jeweils 68% bzw. 85%. Mehr als zwei Drittel besaßen demnach ein breites Wissen über die Nonfunktionalität des Todes.

Auf die Frage „Do you think everyone will die?” erwiderten 61% „Ja“ und 39% „Nein“. Überraschenderweise lag die Quote der korrekten Antworten in Bezug des Wissens um die eigene Sterblichkeit („Do you think you will die?”) mit 72% noch höher. Nur 28% glaubten, sie würden nicht sterben. Die meisten Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit geistiger Behinderung zeigten also ein solides Verständnis der Universalität des Todes (vgl. Bihm/Elliott 1982, 208).

Die einzig mir bekannte deutschsprachige Studie zu den Todesvorstellungen geistig behinderter Jugendlicher stammt von Markus Arenhövel aus dem Jahr 1995. Bei dieser explorativen Pionierarbeit handelt es sich um eine Befragung von 21 geistig behinderten Schülern im Alter von 12 bis 24 Jahren, einem erwachsenen 24-Jährigen, fünf Müttern, drei Geschwisterkindern sowie zwölf Sonderschullehrern zum Erleben von Sterben und Tod (vgl. Arenhövel 1995, 66). Bereits hier zeigt sich das Hauptproblem der ansonsten außerordentlich gründlich recherchierten Pilotstudie: Die vielen unterschiedlichen Personengruppen, die wechselnden Intervieworte und das Befragen von manchen Testpersonen im Beisein ihrer Lehrer oder Eltern schränken die Gültigkeit der Ergebnisse beträchtlich ein. Zudem verhinderte der sehr offen formulierte Interviewleitfaden die vollständige und strukturierte Abfrage der emotionalen und kognitiven Komponenten des Todeskonzepts. Diesen Mangel bemerkt der Autor selbst an seiner Studie: „Zu vielen untersuchten Behinderten kann jedoch diesbezüglich keine Angabe gemacht werden, da keine Äußerungen vorliegen“ (Arenhövel 1995, 89). So muss Arenhövel aufgrund der Aussagen der Untersuchungsteilnehmer „das Todesverständnis des jeweiligen betroffenen geistig Behinderten erahnen“ (Arenhövel 1995, 82). Da diese subjektiv gefärbten Interpretationen wissenschaftlich nur wenig relevante Aussagen hervorrufen können, sollen nur die wichtigsten Ergebnisse seiner Studie zum Erleben von Tod und Sterben bei geistig behinderten Jugendlichen zusammengefasst werden.

„Die Untersuchung ergab, daß Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung ein ungefähres, zumeist auf die konkrete Erinnerung bezogenes Wissen von Ursachen und Merkmalen (Kausalität und Nonfunktionalität) toter Menschen haben können. Die Fähigkeit des Wissens um die Endgültigkeit des Todes (Irreversibilität) ist vermutlich in Ansätzen und Ahnungen möglich, aber nicht überprüfbar. Ebenso verhält es sich mit dem Wissen um die weiteren Subkonzepte des Todes, dem Wissen um den eigenen sowie den Tod aller Lebewesen (Universalität)“ (Arenhövel 1998, 53/ vgl. auch Arenhövel 1995, 87ff).

Die meisten Schüler verwendeten die Begriffe „Tod“ und „Sterben“ in ihrer Sprache korrekt, hatten aber nicht unbedingt auch eine angemessene Vorstellung davon. Häufig besaßen sie ein ausschnitthaftes Vorstellungsbild vom Tod, so dass nur spezielle Bedeutungsbereiche beachtet wurden, wie zum Beispiel eine nur auf eine bestimmte verstorbene Person reduzierte Vorstellung vom Tod. So vermutete der Autor, dass die befragten geistig behinderten Jugendlichen nur ein eingeschränktes Todesverständnis besitzen (vgl. Arenhövel 1995, 84). Die meisten Schüler betrachteten den eigenen Tod und den anderer als Verlust und hatten Angst vor ihm.

Die große Wissensspanne bezüglich der Thematik deutet auf eine unglaubliche „Heterogenität der individuellen Todesverständnisse“ hin (Arenhövel 1995, 98). Diese Heterogenität hat vermutlich ihren Ursprung in unterschiedlichen Bedingungsfaktoren, wie dem kognitiven und emotionalen Entwicklungsstand. So hat die bei einer geistigen Behinderung vorliegende schwere kognitive Entwicklungsverzögerung mit Sicherheit einen direkten Einfluss auf das Erfassen der Subkonzepte eines reifen Todesverständnisses.

Zudem stellt Arenhövel mit dem jeweiligen Zeitverständnis, dem individuellen Lebenskonzept und dem Erfahrungshorizont des Einzelnen drei weitere wesentliche Einflussfaktoren für das heterogene Todesverständnis bei geistig behinderten Menschen fest (vgl. Arenhövel 1995, 96). Die andersartige Zeitwahrnehmung und die oftmals vorenthaltenen Todesfälle beeinträchtigen das Erfassen der Endlichkeit des Lebens. Das soziale Umfeld (z. B. Eltern, Medien) spielt somit eine wichtige Rolle für diese Gruppe von Jugendlichen. Dies zeigte sich beispielsweise an der Übernahme der christlichen Vorstellungsweisen der Untersuchungsteilnehmer.

Bevor ich die Ergebnisse der vorgestellten Studien zusammenfasse, möchte ich einem wichtigen Umstand Bedeutung schenken, der bisher nicht angesprochen wurde. Eine notwendige Voraussetzung für jede Interviewuntersuchung ist die sprachliche Äußerungsfähigkeit der Probanden. Da einige geistig behinderte Menschen in ihrem verbalen Ausdruck eingeschränkt sind, werden diese in keiner der aufgeführten Studien beachtet, zumal für sie kein anderes, adäquates Untersuchungsinstrumentarium zum Thema „Tod und Sterben“ zur Verfügung steht. Somit beziehen sich alle Testergebnisse lediglich auf sprachbegabte Menschen mit geistiger Behinderung und sind in ihrer Gültigkeit für alle anderen sehr eingeschränkt.

Bedingt durch die kleinen Probandengruppen, den verschiedenartigen Aufbau der Untersuchungen und die widersprüchlichen Ergebnisse ist es mir nur möglich einige Tendenzen bei der Entwicklung des Todeskonzepts geistig behinderter Jugendlicher aufzuzeigen.

Wie alle Menschen haben geistig behinderte Menschen natürlicherweise Erfahrungen mit Tod und Sterben gemacht und die emotionalen und kognitiven Elemente des Todesbewusstseins sind für sie gültig (vgl. Harper/Wadsworth 1993, 326f/ Schlund 2004, 89f/ Bihm/Elliott 1982, 209). Überhaupt lassen sich mehr Übereinstimmungen als Abweichungen zwischen den Todesbildern von nicht behinderten und behinderten Menschen finden (vgl. Löbsack 1982, 123). Dies bestätigt auch Klaus-Ulrich Neulingers Analyse der 335 Kinderbilder von 231 Grundschülern der 4. Klasse und 104 gleichaltrigen lernbehinderten Sonderschülern. Er fand keine wesentlichen Unterschiede in den Vorstellungen vom Tod (vgl. Neulinger 1975, 123).

„Menschen mir geistiger Behinderung haben individuell sehr unterschiedliche Einstellungen und Vorstellungen vom Tod“ (Havemann/Stöppler 2004, 178). Bei vielen Menschen mit einer geistigen Behinderung sind Merkmale des Todeskonzepts erkennbar. Sie haben das animistische Weltbild überwunden, können zwischen belebt und unbelebt unterscheiden und besitzen somit die Möglichkeit ein reifes Todeskonzept zu entwickeln (vgl. Yanok/Beifus 1993, 146). Wie viel Prozent der geistig behinderten Erwachsenen ein reifes Todeskonzept entwickelt haben ist unklar. Je nach Untersuchung und Schwere der geistigen Behinderung schwanken die Angaben von deutlich weniger als die Hälfte (vgl. Yanok/Beifus 1993, 146), bis hin zu zwei Dritteln (vgl. Harper/Wadsworth 1993, 322).

Genauso uneindeutig ist die Forschungslage in Bezug auf geistig behinderte Jugendliche im präoperationalen Stadium. Diese besitzen – abgesehen von gewissen Kenntnissen zur Kausalität des Todes – entweder ein sehr eingeschränktes Verständnis des Todes (vgl. Sternlicht 1980, 163/ Arenhövel 1995, 84), oder die Mehrzahl von ihnen hat ein ausreichendes Wissen über Nonfunktionalität, Universalität und Kausalität entwickelt (vgl. Bihm/Elliott 1982, 208). Jugendliche mit geistiger Behinderung im konkret-operationalen Stadium verfügen laut Bihm und Elliott sogar über signifikant bessere Kenntnisse. Überraschenderweise lassen sich die unter Kapitel 5.1.1 erwähnten Unterschiede bezüglich des Schwierigkeitsgrades der Subkomponenten nicht feststellen. Nonfunktionalität, Kausalität, Universalität und Irreversibilität scheinen für geistig behinderte Erwachsene alle gleich schwer oder leicht erwerbbar.

Bezüglich der emotionalen Komponente des Todeskonzepts bei geistig behinderten Erwachsenen können nur wenige Aussagen getroffen werden. Die Untersuchungen zeigen, dass Erwachsene mit geistiger Behinderung tendenziell kaum Angst vor dem eigenen Tod haben. Als Hauptursache für den unbefangenen Umgang wird oftmals der starke religiöse Glaube dieser Menschen genannt (vgl. Wickert/Hoogers-Dörr 1983, 160/ Schlund 2004, 85f). Geistig behinderte Erwachsene haben ein sehr christlich geprägtes Bild vom Tod und vom Leben danach, welches ihnen bei der Bewältigung des Todes eher hilfreich als schädlich ist (vgl. Harper/Wadsworth 1993, 326f). Bezieht man die ohnehin miteinander verflochtenen kognitiven und emotionalen Komponenten des Todeskonzepts aufeinander, so könnte eine mögliche Erklärung für die geringe Angst in dem oftmals nicht voll entwickelten kognitiven Todeskonzept der geistig behinderten Menschen liegen, denn ein „unreifes“ Todesverständnis ermöglicht eher einen angstfreien Umgang (siehe Kapitel 5.1.2). Da in allen Befragungen jedoch keine ausreichend differenzierte Untersuchung der Angst stattgefunden hat, ist eine solche Behauptung als äußerst spekulativ zu bewerten, zumal die Befragten ja Ängste beim Gedanken an den eigenen Sterbeprozess angaben (vgl. Wickert/Hoogers-Dörr 1983, 161/ Schlund 2004, 150f) und andere Forscher durchaus Angst vor dem eigenen Tod feststellten (vgl. Arenhövel 1995, 92f).

Insgesamt zeigt sich ein sehr heterogenes Bild der individuellen Todesvorstellungen geistig behinderter Jugendlicher und Erwachsener, das durch bestimmte Faktoren besonders geprägt wird. Das Lebensalter hat anscheinend einen wesentlich geringeren Einfluss auf die Entwicklung einer Todeskonzeption von Menschen mit geistiger Behinderung. Einige Studien bestätigen dafür eine eindeutig positive Korrelation zwischen dem kognitiven Entwicklungsstand nach Piaget und dem Grad des Erfassens von Subkomponenten des Todes (vgl. Bihm/Elliot 1982, 210/ Lipe-Goodson/Goebel 1983, 74/ Arenhövel 1998, 53f/ Harper/Wadsworth 1993, 326f). Ein Teil der Menschen mit einer geistigen Behinderung besitzen wohl deshalb kein Verständnis vom Tod, weil sie dafür nicht ausreichend geistig entwickelt sind (vgl. Bosch 2006, 37/ Leyendecker/Lammers 2001, 180). Wie ist es aber zu erklären, dass einige geistig behinderte Jugendliche trotz dieser Entwicklungshemmungen eine reife Todesvorstellung entwickelt haben? „Möglicherweise resultiert im Einzelfall sämtliches Verstehen von Tod aus den konkreten Erfahrungen, die ein Schüler mit geistiger Behinderung damit gemacht hat“ (Arenhövel 1998, 53). Die bisherigen Erfahrungen mit Tod und Sterben könnten demnach ausschlaggebend für das Erlangen eines umfassenden Todesverständnisses bei geistig behinderten Menschen sein, da das Wissen um den Tod durch selbst erfahrene Erlebnisse nicht abstrakt bleibt, sondern in unmittelbaren Situationen direkt erlebt werden kann. Einige Autoren sehen daher die Erfahrungen mit Tod und Sterben als einen wichtigen Indikator für ein reifes Todeskonzept an (vgl. Lipe-Goodson/Goebel 1983, 74/ Harper/Wadsworth 1993, 326f/ Vater 1980c, 31/ Havemann/Stöppler 2004, 179). Diese These möchte ich mit meiner Studie überprüfen.

Wie bereits erwähnt wurde, weisen die meisten Untersuchungen erhebliche methodische Mängel auf. Keine Studie beinhaltet das systematische Abfragen aller theoretisch belegten kognitiven und emotionalen Komponenten des Todeskonzepts. Dies ermöglicht es kaum ein klares Bild des Todesverständnisses geistig behinderter Jugendlicher zu erfassen. Da viele der genannten Untersuchungen einige Jahre zurückliegen, erscheint eine eigene, alle Todeskonzeptkomponenten umfassende Studie zu dieser Thematik ausgesprochen sinnvoll. Ich werde diese im Kapitel 6.3 vorstellen. Meine Kritik an der Undifferenziertheit der bisherigen Forschungsvorhaben soll keineswegs bedeuten, die Arbeiten dieser Forscher wären unnütz. Ganz im Gegenteil liefern sie der Wissenschaft erste grundlegende Erkenntnisse über das Erleben von Tod und Sterben bei Menschen mit geistiger Behinderung. Sie weisen schon allein aufgrund des Umstands, dass sie ein neues Forschungsfeld empirisch erschließen mussten, methodische Unzulänglichkeiten auf. Andere Mängel werden sich unumgänglich auch in meiner Interviewstudie finden.

6.2 Das Trauerverhalten von geistig behinderten Jugendlichen

Wie bei den Todesvorstellungen gibt es auch beim Trauerverhalten erst einmal keinen Grund, warum geistig behinderte Menschen hier eine Sonderstellung einnehmen sollten. Wirft man einen Blick auf die Faktoren, die jeder Mensch besitzen muss, um trauern zu können (siehe Kapitel 5.2), so werden diese von Menschen mit einer geistigen Behinderung erfüllt (vgl. Schlund 2004, 131ff).

[...]

Ende der Leseprobe aus 237 Seiten

Details

Titel
Sterben und Tod als Unterrichtsthema für Schüler mit geistiger Behinderung
Untertitel
Aktueller Forschungsstand und Möglichkeiten der unterrichtlichen Umsetzung an der Förderschule
Hochschule
Bayerische Julius-Maximilians-Universität Würzburg  (Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik)
Note
1,0
Autor
Jahr
2007
Seiten
237
Katalognummer
V198456
ISBN (eBook)
9783656256120
ISBN (Buch)
9783656256175
Dateigröße
1462 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Sterben, Tod, Interviewstudie, Geistige Behinderung
Arbeit zitieren
Martin Bube (Autor:in), 2007, Sterben und Tod als Unterrichtsthema für Schüler mit geistiger Behinderung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198456

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