Der trügerische Schein von Freiheit - Briefwechsel Rahel Varnhagen - Pauline Wiesel

Die Krise der jüdischen Identität: Der Briefwechsel zwischen Rahel Varnhagen und Pauline Wiesel


Hausarbeit, 1999

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1.Der jüdische Kontext
1.1 Wurzeln des Antisemitismus in Deutschland
1.2 Rahels Bild vom Judentum

2.Der Briefwechsel zwischen Rahel Varnhagen und Pauline Wiesel
2.1 Das Freundschafts-Motiv
2.2 Gesellschaft und Konventionen
2.3 Zwischen Selbstbehauptung und Wahnsinn

3.Der Briefwechsel als Kunstwerk

4.Schlußbemerkung

Literaturverzeichnis

Einleitung

Im sechsten Kapitel des Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ heißt es:

„Daß ich immer vorwärts gehe, daß meine Handlungen immer mehr der Idee ähnlich werden, die ich mir von der Vollkommenheit gemacht habe, daß ich täglich mehr Leichtigkeit fühle, das zu tun, was ich für recht halte, selbst bei der Schwäche meines Körpers, der mir so manchen Dienst versagt; läßt sich das alles aus der menschlichen Natur, deren Verderben ich so tief eingesehen habe, erklären? Für mich nun einmal nicht.“[1]

Kein Autor hat Rahel Varnhagen beeindruckt wie Goethe und kein Buch hat sie Zeit ihres Lebens ähnlich gefangengenommen wie die „Lehrjahre“.[2] Der Varnhagensche Salon war durch das Gespräch über den bedeutenden Literaten geprägt. Aber Rahel war nicht nur eine prominente Anhängerin des „Geheimrates“, sie war ein fester Bestandteil des geistigen Lebens ihrer Zeit. In ihrem Salon trafen sich Größen wie Kleist, Humboldt, Heine, Brentano oder Schleiermacher zu Geselligkeit und anregendem Gespräch. In zahlreichen Aufzeichnungen ihrer Zeitgenossen wird Rahels besondere Ausstrahlung und ihr Konversationstalent hervorgehoben. Daß die Salonniere dennoch keineswegs eine feste Heimat in der Gesellschaft finden konnte, daß sie im Gegenteil an dieser litt, lag vor allem an dem verbreiteten Judenhaß in der Bevölkerung. Dieser wurde nicht nur vom einfachen Volk, sondern auch von einem beträchtlichen Teil der geistigen Elite geteilt. Rahel, Tochter des Hofjuden Markus Levin, wurde im Geiste der Aufklärung fern von religiöser Bevormundung erzogen. Die irrationale antijüdische Gesinnung ihrer Umgebung mußte ihr so stets fremd bleiben. Alle Versuche, ihrerseits die Mauern des Vorurteils zu durchbrechen, blieben weitgehend wirkungslos.

Vor dem Hintergrund dieser Situation muß Rahels Entwicklung verstanden werden. An vielen Stellen ihrer Aufzeichnungen kommt das Thema Judentum offen zur Sprache. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, wie die „jüdische Rolle“ ihr Selbstverständnis, ihre Identität beeinflußt hat und welche Auswirkungen sich daraus für ihr Handeln ergaben. Anhand ausgewählter Stellen aus der Korrespondenz mit Pauline Wiesel werden Motive und Themen vorgestellt, die auf das zugrundeliegende Selbstverständnis der Autorin geprüft werden. Solche sind das „Freundschafts-Motiv“, das Bild von der Gesellschaft und die Probleme der „Selbstbehauptung“ in diesem Kontext. Zudem sollen mögliche Parallelen im Erleben der Schreiberinnen berücksichtigt werden. Zum besseren Verständnis wird die Untersuchung durch einen Bericht über die Wurzeln des modernen Antisemitismus in Deutschland eingeleitet. Gleichzeitig interessiert an dieser Stelle die Beziehung Rahel Varnhagens zu den jüdischen Traditionen und Verhaltensmustern. Neben der Frage wie Rahels jüdische Herkunft ihr Denken und ihre Einstellungen beeinflußte, soll der literarische Wert des Briefwechsels erörtert werden. Es gilt der Tendenz zu begegnen die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen Rahel Varnhagens einzig als geschichtlich-biographische Quelle zu funktionalisieren. Die wesentlichen Ergebnisse der Untersuchung werden abschließend zusammengefaßt und diskutiert.

1.Der jüdische Kontext

Um Rahels Selbstverständnis im Rahmen des vorliegenden Briefwechsels zu erörtern, ist es unverzichtbar, auf die Einstellung der zeitgenössischen Umwelt zum Judentum einzugehen. Nur vor dem Hintergrund des aufkeimenden Antisemitismus[3] moderner Prägung und den gleichzeitig wirkenden Ideen der Aufklärung kann die Spannung jüdischer Identitätssuche erahnt werden. Es wird daher zunächst kurz auf die Anfänge des modernen Antisemitismus in Deutschland verwiesen.

1.1 Wurzeln des Antisemitismus in Deutschland

In seinem epochemachenden Werk „Über den Umgang mit Menschen“ schreibt Adolf Freiherr von Knigge 1788:

„Freilich bringen es leider die meisten Juden in der höheren Kultur nicht weiter, als daß sie die Einfalt und Strenge ihrer Sitten gegen christliche Laster und Torheiten vertauschen. Ein jüdischer Stutzer oder Freigeist spielt dann meistenteils eine sehr unvorteilhafte Rolle.“[4]

Mit seiner eher negativen Einschätzung des „jüdischen Charakters“ befindet sich Knigge sicher in Übereinstimmung mit einer großen Zahl seiner Zeitgenossen. Das überkommene Muster mittelalterlicher Judenverfolgung ließ sich allerdings in durch aufklärerische Ideen geprägten Zeiten nicht ohne weiteres aufrechterhalten. Dem schleichenden Bedeutungsverlust der Religion entsprach der Verlust traditioneller religiöser Begründungen des Judenhasses. So mußten anstelle des Arguments von der jüdischen Uneinsichtigkeit gegenüber dem wahren Christentum neue Erklärungen erdacht werden. Der zentrale Punkt bei der Debatte um die Emanzipation der Juden war die Frage, ob eine Veränderung ihres „Volkscharakters“ überhaupt möglich sei. Die Gegner der Gleichstellung argumentierten vor allem auf der Grundlage des Talmuds, in dessen Überlieferungen sie ein zutiefst entwicklungsfeindliches Moment erblickten, das als Begründung für eine grundsätzliche Starrheit des jüdischen Wesens diente. Ein weiterer Kritikpunkt wurde am jüdischen Erwähltheitsgedanken festgemacht. Schriften und Pamphlete, die der Bekämpfung der Juden dienen sollten, wurden bspw. von Grattenauer, Schulz, Hartmann u.a. veröffentlicht. Aber auch „Intellektuelle der ersten Reihe“[5] wie Fichte, Hegel oder Kant äußerten sich in eindeutiger Weise zum Thema. Ersterer hielt eine Wandlung des jüdischen Wesens nur durch eine physiologische Auswechslung, durch das „Abschneiden der jüdischen Köpfe“[6] für möglich. Er sah im Judentum einen feindlichen Staat, der sich über alle Länder Europas ausbreitete. In diesem Sinne wurde den Juden von ihren Gegnern die Fähigkeit zur Integration, d.h. zu einem unmittelbaren Verhältnis zum Staat, per se abgesprochen. Die Juden müßten so – egal mit welchen Rechten sie ausgestattet wären – zwangsläufig ein „Staat im Staate“ bleiben. Kant seinerseits sprach dem Judentum die erzieherische Fähigkeit ab, die eine Religion zu leisten imstande sein müsse. Als Folge dieser Anschauung seien den Juden im Staat keine gleichberechtigten Stellungen einzuräumen. Auch Hegel schrieb dem Christentum eine übergeordnete Position zu. Die Entfremdung des Judentums von der Welt sei eine historische und metaphysische Schuld der Juden. Da sich das jüdische Volk nachhaltig gegen die christliche Erlösung aus dieser Schuld wehre, müsse es die erniedrigenden Zustände, in denen es sich befinde, ertragen. Diese Positionen zeigen deutlich, daß auch die Vernunftlehre der Aufklärung den aus sozialen, politischen und kulturellen Wurzeln gespeisten Antisemitismus nicht beenden konnte, im Gegenteil, der Rationalismus

[...]


[1] Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 452.

[2] Siehe hierzu Wilfried Barner, Von Rahel Varnhagen bis Friedrich Gundolf.

[3] Der Begriff wurde im Jahre 1879 von Wilhelm Marr geprägt. Über die Probleme einer Rückdatierung des Begriffes auf vormoderne Epochen siehe Jacob Katz, Frühantisemitismus in Deutschland.

[4] Adolf Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Juden.

[5] Katz, a.a.O., S. 82.

[6] Ebenda, S. 83.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Der trügerische Schein von Freiheit - Briefwechsel Rahel Varnhagen - Pauline Wiesel
Untertitel
Die Krise der jüdischen Identität: Der Briefwechsel zwischen Rahel Varnhagen und Pauline Wiesel
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Judaistik)
Veranstaltung
Geschichte der deutsch-jüdischen Literatur
Note
1,0
Autor
Jahr
1999
Seiten
16
Katalognummer
V198373
ISBN (eBook)
9783656248361
ISBN (Buch)
9783656248699
Dateigröße
477 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
schein, freiheit, briefwechsel, rahel, varnhagen, pauline, wiesel, krise, identität
Arbeit zitieren
Thorsten Beck (Autor:in), 1999, Der trügerische Schein von Freiheit - Briefwechsel Rahel Varnhagen - Pauline Wiesel, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198373

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