Elitenwandel in Syrien: Wie Bashar al-Assad sein Image als Reformer verspielte


Masterarbeit, 2012

124 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 EINLEITUNG
1.1 Thema
1.2 Fragestellung und Vorgehensweise
1.3 Fallauswahl
1.4 Forschungstand
1.4.1 Politischer Wandel in der arabischen Welt
1.4.2 Transformation ohne Transition
1.4.3 Elitenwandel im arabischen Raum

2 THEORETISCHE UND KONZEPTIONELLE VORÜBERLEGUNGEN
2.1 Grundprämisse
2.2 Definitionen
2.2.1 Eliten und das Konzept der „Politisch Relevanten Eliten"
2.2.2 Elitenwandel
2.3 Hypothesen und Aufbau der empirischen Untersuchung
2.3.1 Erster Analyseteil
2.3.2 Zweiter Analyseteil
2.3.3 Schlussbetrachtung
2.4 Zeitlicher Rahmen der empirischen Analyse
2.5 Literatur und Quellenanalyse

3 EMPIRISCHE ANALYSETEILI
3.1 Daten und Fakten zu Syrien
3.2 Politik und Gesellschaft in Syrien
3.2.1 Das politische System Syriens
3.2.2 Die syrische Gesellschaft
3.2.3 Das neopatrimoniale System in Syrien
3.3 Identifikation und Wandel der politisch relevanten Eliten
3.3.1 Die Familie al-Assad
3.3.1.1 Das TriumviratderMacht
3.3.1.2 Weitere Mitglieder des familiären Machtzirkels
3.3.2 Die Regierung
3.3.3 Die Baath-Partei
3.3.4 Der Sicherheitsapparat
3.3.4.1 Das Militär
3.3.4.2 Die Sicherheits- und Geheimdienste
3.3.5 DieAlawiten
3.3.6 Die,,Syrian Computer Society".
3.3.7 Die Wirtschaft
3.4 Bewertung der Kriterien eines Elitenwandels in Syrien
3.4.1 Personeller Wandel
3.4.2 Institutioneller Wandel
3.4.3 Wandel im Zugang
3.4.4 Wandel in der politischen Ausrichtung
3.4.5 Motive des Wandels
3.5 Analyseergebnis Teil I
3.5.1 Zusammenfassung
3.5.2 Bewertung und Schlussfolgerungen

4 EMPIRISCHE ANALYSE TEIL II
4.1 Die Syrienkrise im Überblick
4.1.1 Entwicklung der syrischen Protestbewegung
4.1.2 Konfliktthemen
4.2 Das Regime
4.2.1 Reaktion des Regimes aufdie Proteste
4.2.2 Präsident Bashar al-Assads Machtverlust
4.2.3 Schwächung des Sicherheitsapparates
4.2.4 Schwächung der übrigen Machtfaktoren des Regimes
4.2.4.1 Der konfessionelle Machtfaktor
4.2.4.2 Der wirtschaftliche Machtfaktor
4.2.4.3 Der erweiterte Elitenkreis
4.2.4.4 Der innerste Elitenzirkel
4.2.5 Zusammenfassung und Bewertung
4.3 Die Opposition
4.3.1 Die politische Landkarte der syrischen Opposition
4.3.2 Die traditionelle politische Opposition
4.3.2.1 Einflussreiche oppositionelle Persönlichkeiten
4.3.2.2 DieMuslimbrüder
4.3.2.3 DieKurden
4.3.2.4 DieChristen
4.3.2.5 Die Syrische Nationale Demokratische Versammlung
4.3.2.6 Die Gruppe der Damaszener Erklärung
4.3.3 Neue Aktivisten und lokale Netzwerke
4.3.3.1 LokaleFührungsräte
4.3.3.2 Die „Syrian Revolution General Commission"
4.3.4 Organisierter bewaffneter Widerstand
4.3.4.1 DieFreie SyrischeArmee
4.3.4.2 Die Brigade der freien syrischen Offiziere
4.3.5 Neue Organisationsstrukturen der politischen Opposition
4.3.5.1 Das Nationale Koordinationskomitee
4.3.5.2 Der Syrische Nationalrat
4.3.6 Koordinationsbemühungen der syrischen Opposition
4.3.7 Zusammenfassung und Bewertung
4.4 Die Rolle der Massen
4.4.1 Die allgemeine Bedeutung von Massen
4.4.2 Die Rolle der syrischen Bevölkerungsmasse
4.4.3 Zusammenfassung und Bewertung
4.5 Einflussmöglichkeiten externer Akteure
4.5.1 Relevante externeAkteure
4.5.2 RegionaleAkteure
4.5.2.1 Türkei
4.5.2.2 ArabischeLiga
4.5.2.3 Iran
4.5.2.4 Libanon
4.5.2.5 Nachbarstaaten
4.5.3 Internationale Akteure
4.5.3.1 Russland
4.5.3.2 USA und EU
4.5.4 Sanktionsmaßnahmen
4.5.5 Militärische Maßnahmen
4.5.6 Zusammenfassung und Bewertung
4.6 Aktuelle Entwicklungen
4.7 Analyseergebnis Teil II
4.7.1 Zusammenfassung
4.7.2 Bewertung

5 SCHLUSSBETRACHTUNG
5.1 Urteilüber die Amtszeit Bashar al-Assads
5.2 Ausblick
5.2.1 Szenarien
5.2.2 Nationaler Dialog als Lösungsansatz
5.3 Implikationen der Analyseergebnisse für Theorie und Praxis
5.3.1 Implikationen für Wissenschaft und Forschung
5.3.2 Implikationen für die politische Praxis

ANHANG

Abkürzungsverzeichnis

Literatur- und Quellenverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung

1.1 Thema

Die politisch-gesellschaftliche Druckwelle, die sich seit Anfang 2011 in beinahe der gesamten arabischen Welt ausgebreitet hat und zum Sturz der „US-backed autocrats"

(ZUNES 2011, S. 9) in Tunesien, Ägypten und Libyen führten, bedroht nun auch das Überleben der autokratischen Regime in anderen arabischen Staaten, allen voran die Familiendiktatur in Syrien. Der Ausbruch des arabischen Frühlings hat die arabische Welt in Bewegung versetzt. Die weltweit „unfreiste" Region (SCHLUMBERGER 2008, S. 39), in der keine Demokratien existieren und in der es bislang auch kaum ernst genommene Anzeichen für Demokratisierungsprozesse gab, erfährt derzeit eine enorme Dynamisierung, in der jahrzehntelange politische Verkrustungen aufgebrochen werden. Vor dem Hintergrund vergleichbarer Missstände in nahezu allen arabischen Ländern nährten die raschen Regimestürze in Tunesien und Ägypten und der damit verbundene Einstieg in einen politischen Transformationsprozess die Hoffnung arabischer Völker auf einen umfassenden politischen Wandel in der ganzen Region und ermutigte vor allem junge Menschen, den Unmut über ihre Lebensbedingungen auf die Straße zu tragen und nicht länger vor der staatlichen Repression zurückzuschrecken. Während aber die Revolten in Tunesien, Ägypten und Libyen letztendlich zu einem Sturz des alten Regimes führten, zeigt sich das Assad-Regime, auch fast ein Jahr nach Ausbruch der Proteste, noch immer resistent gegenüber Massendemonstrationen und bewaffneten Aufständen im eigenen Land sowie gegenüber dem zunehmend steigenden Druck externer Akteure. Schon in der Vergangenheit erwiesen sich streng autoritäre Regime im arabischen Raum, insbesondere in Krisenzeiten, als äußerst stabil und widerstandsfähig. Der Sturz von Präsident Bashar al- Assad scheint angesichts der Zuspitzung des Konflikts im eigenen Land inzwischen aber nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Allerdings ist davon auszugehen, dass ein Rücktritt oder Sturz des Präsidenten ohne einen damit verbundenen grundlegenden Wandel der politischen Führungselite nur äußerst geringe nachhaltige politische Auswirkungen in Syrien hätte, allenfalls eine vorübergehende symbolische Wirkung, denn im Falle eines Regimesturzes bliebe es aufgrund der machtpolitisch erfahrenen Beharrungskräfte des alten Regimes ungewiss, ob ein Umsturz über einen bloßen Personalwechsel an der Spitze der Machtpyramide hinausginge.

1.2 Fragestellung und Vorgehensweise

Angesichts der aktuellen Entwicklungen stellt sich nun die Frage, ob das Übergreifen der Arabischen Protestbewegung auf Syrien die Einleitung eines grundlegenden Wandels der syrischen Elitenherrschaft auslösen kann, der in der Folge tatsächlich zu einer politischen Neuausrichtung des Landes führt. Da ein solcher Elitenwandel in Syrien aber bereits zur Jahrtausendwende - anlässlich des Generationenwechsels an der Spitze des Staates von Hafiz al-Assad zu Bashar al-Assad - prophezeit wurde, ist zunächst zu klären, warum die unter Bashar al-Assad bereits vollzogenen machtpolitischen Veränderungen und Reformen nicht den erwarteten, oder zumindest erhofften, Elitenwandel zur Folge hatten. Im ersten Analyseschritt wird daher untersucht, inwieweit der seit Amtsantritt von Bashar al-Assad stattgefundene Veränderungsprozess die Kriterien eines Elitenwandels erfüllen konnte und welche Probleme und Hindernisse diesem Prozess im Wege standen. Auf der Grundlage der daraus gewonnenen Erkenntnisse wird im zweiten Teil der Analyse der Frage nachgegangen, ob die aktuelle Krise nun die vielleicht einmalige und längst überfällige Chance auf einen grundlegenden Elitenwandel in Syrien bietet, welche Voraussetzungen hierfür erfüllt sein müssen und wie die Aussichten auf einen nachhaltigen Erfolg der Einleitung eines derartigen Wandels unter den gegebenen Umständen einzuschätzen sind. Mit der Masterarbeit wird das Ziel verfolgt, anhand einer theoriengeleiteten Analyse Antworten auf diese Fragen zu finden. Die empirisch-analytische Untersuchung wird hierzu in den Kontext transformationstheoretischer und elitentheoretischer Überlegungen sowie von Erkenntnissen aus der modernen Autoritarismusforschung gestellt.

1.3 Fallauswahl

Die nachfolgende Untersuchung ist bewusst auf eine Einzelfallstudie beschränkt, da die einzelnen arabischen Länder zwar vergleichbare Missstände wie sozioökonomische Frustration, schwache Regierungsinstitutionen und einen hohen Grad an Korruption und Repression aufweisen, sich allerdings bezüglich ihrer jeweils landesspezifischen Verhältnisse wie Ressourcenreichtum, politische Systeme, Glaubwürdigkeit und Legitimation der Regierungen, historische Erfahrungen oder institutionelle Entwicklungen deutlich voneinander unterscheiden, was den teils sehr unterschiedlichen Verlauf der bisherigen Protest- und Revolutionsbewegungen in den einzelnen arabischen Ländern erklärt.[1] Die vorgenommene fallinterne Analyse erhöht die hierfür erforderliche analytische Schärfe. Als Gegenstand einer Einzelfallstudie drängt sich Syrien geradezu auf, zum einen angesichts seiner äußerst undurchsichtigen, für Außenstehende kaum nachvollziehbaren, komplexen Machtstrukturen und zum anderen aufgrund der hohen geostrategischen Bedeutung des Landes für die gesamte Region des Nahen und Mittleren Ostens. Im Kontext des „Arabischen Frühlings" weist die syrische Revolte wohl die höchste Komplexität auf. Im Land existiert ein Mosaik von Minderheiten, deren jeweilige Stellung historisch eng mit der Machtkonstellation des Regimes von Präsident Bashar al-Assad verwoben ist. Regionalpolitisch ist der Volksaufstand zudem der heikelste, da er auf der Nebenbühne des Nahost-Konflikts stattfindet. So prägte jener Kernsatz, wonach es ohne Syrien keinen Frieden im Nahen Osten geben könne, seit Jahren die Agenda internationaler Politik. Daneben gibt die geografische Lage Syriens Grund zur Sorge, da sich das Land eine gemeinsame Grenze mit Jordanien, dem Libanon, der Türkei, dem Irak und den Palästinensischen Gebieten teilt. Jede größere machpolitische Veränderung in Syrien würde sich zwangsläufig in irgendeiner Form auch auf diese fünf Länder auswirken und jede militärische Intervention in Syrien liefe Gefahr, sich zu einem zweiten Afghanistan oder Irak zu entwickeln. Zugleich liegt die Levante[2] auf den Einflussplatten der konkurrierenden Regionalmächte Iran und Saudi Arabien. So betont Rime Allaf: "For years, it seemed that nothing could happen in the Levant without the involvement of Syria" (ALLAF 2011). Dementsprechend verbinden sich viele regionale wie auch internationale geopolitische Interessen mit den Entwicklungen in Syrien. Die herausragende Stellung der politischen wie auch militärischen Regionalmacht Syrien während der vergangenen Jahrzehnte verleiht den aktuellen Entwicklungen im Land eine besondere realpolitische Brisanz.

1.4 Forschungstand

1.4.1 Politischer Wandel in der arabischen Welt

Seit Jahrzehnten ist eine bestimmte Vorstellung von der Situation im arabischen Raum tief verwurzelt in den Köpfen der Menschen. So stufte die Internationale Gemeinschaft die Region als "incapable of change, let alone transitioning to democracy" ein (POPOVIC/DJURIC 2011, S. 15).

In den wissenschaftlichen Diskussionen über Politik, Staat und Gesellschaft im Nahen und Mittleren Osten standen sich immer zwei Betrachtungsweisen gegenüber (nach PERTHES 2011, S. 13): Auf der einen Seite fanden sich diejenigen, die fest davon überzeugt waren, dass sich in dieser Region auch langfristig substantiell wenig oder gar nichts ändern werde und die hierfür ausführliche Erklärungen lieferten. Auf der anderen Seite standen diejenigen, die zu ergründen versuchten, warum die Verhältnisse auch in dieser Region nicht ewig bleiben werden, wie sie sind, und die sich um Erklärungen für die scheinbare Stabilität der „eigentlich unhaltbaren Verhältnisse" in den arabischen Ländern bemühten (PERTHES 2011, S. 13). Das Fehlen „genuiner demokratischer Partizipation" in den meisten arabischen Staaten hat die Frage aufgeworfen, ob die arabische Welt vielleicht „demokratieimmun" sei (PERTHES 2011, S. 18). Während das Maß an individueller Freiheit in den letzten zwei Jahrzehnten - in Form von mehr wirtschaftlichen Freiheiten und größeren Freiheiten im Bereich der Information und Kommunikation - zugenommen hat, behielten die politischen Systeme ihren überwiegen streng autoritären Charakter bei, notfalls durch den Einsatz von repressiven Mitteln (vgl. PERTHES 2011, S. 18-20).

Vor der „Arabellion 2011" konnten die widersprüchlichen und ungleichzeitigen Prozesse in der arabischen Welt, der geostrategisch vielleicht wichtigsten Weltregion überhaupt (vgl. SCHLUMBERGER 2008, S.15), aus politikwissen-schaftlicher Sicht auf die Formel „Transformation ohne Transition"[3] (vgl. HARDERS 2009, S. 299-324) gebracht werden. Es herrscht inzwischen wissenschaftlicher Konsens darüber, dass mit den 1990er Jahren im arabischen Raum eine Phase politischen Wandels anbrach, nicht aber eines systemischen Wechsels. Denn weder die Region insgesamt noch einzelne arabische Länder haben sich während der vergangenen 15 Jahre signifikant und dauerhaft im Grad ihrer Liberalität verändert (vgl. SCHLUMERGER, S. 16). Nichtsdestotrotz war der Stellenwert von Fragen nach politischer Reform und Öffnung in der arabischen Welt sowohl aus globaler als auch aus regionaler Perspektive um die Jahrtausendwende herum ausgesprochen hoch (vgl. SCHLUMBERGER 2008, S. 16).

Während dieser eingeschränkten Liberalisierungsphase standen die reformbereiten Kräfte in den einzelnen arabischen Ländern allerdings stets vor einem Dilemma: Die Umsetzung der von ihnen geforderten Liberalisierungsmaßnahmen durch die herrschenden Regime hatte nur Aussicht auf Erfolg, wenn die Maßnahmen im Einklang mit der Funktionslogik der Regime standen und einen Beitrag zu deren Machterhalt leisten konnten (vgl. SCHLUMBERGER 2008, S. 157). Insofern waren die Grenzen des arabischen Liberalisierungsprozesses von Anfang an sehr eng gesteckt.

1.4.2 Transformation ohne Transition

In der Vergangenheit blieben die arabischen Staaten aufgrund der Langlebigkeit bzw. Dauerhaftigkeit[4] ihrer Regime und ihrer auffälligen Resistenz gegenüber Transformationsprozessen in Studien zu politischer Transition[5] konsequent ausgeklammert. Dies ist nicht verwunderlich, da in der arabischen Welt innerhalb der vergangenen 40 Jahre kein Fall eines politischen Systemwechsels eintrat. Lediglich Regionalspezialisten versuchten sich, vor allem während der frühen 1990er Jahre, darin, politische Dynamiken in arabischen Ländern als beginnenden Systemwechsel zu interpretieren (vgl. NORTON/KAZEMI 2004 und 2005). So wurden politische Entwicklungen in arabischen Ländern bis auf wenige Ausnahmen im Kontext des Demokratisierungs-Paradigmas betrachtet und analysiert, da diese Ansätze die theoretische Folie bildeten, auf der politischer Wandel und politische Dynamiken während der 1990er Jahre und in den frühen 2000er Jahren fast ausschließlich analysiert wurden (vgl. SCHLUMBERGER 2008, S. 16). Dieser Blickwinkel führte die Forschung allerdings unweigerlich in eine Sackgasse, weil versucht wurde, real beobachtbare Phänomene politischer Dynamik so zu interpretieren, als seien sie Teil eines politischen Systemwechsels. Es wurden demnach Situationen von Nicht-Transitionen mit Transitionstheorien zu erklären versucht. Laut Schlumberger war diese Vorgehensweise zum Scheitern verurteilt (vgl. SCHLUMBERGER 2008, S. 59 und S. 86-89).

Mit den Entwicklungen und Dynamiken des „Arabischen Frühlings" zeichneten sich im Verlauf des Jahres 2011 erstmals „echte" Transformationstendenzen in der arabischen Welt ab, angefangen von vorsichtigen Liberalisierungsmaßnahmen bis hin zu Regimestürzen und an demokratischen Vorstellungen orientierte Wahlen. Die einst undenkbare Vorstellung von Transitionen, also echten System wechseln, in Ländern des arabischen Raums bewegt sich heute absolut im Rahmen realistischer Erwartungen und Hoffnungen. Volker Perthes spricht gar von einem „historische[n] Großereignis", das den Beginn einer grundlegenden Umgestaltung, einer vierten Demokratisierungswelle, darstellen könnte und vergleicht die aktuellen Entwicklungen in der arabischen Welt mit der Umbruchstimmung 1989 (PERTHES 2011, S. 8). Die Anwendung transformations theoretischer Ansätze und Konzepte auf die derzeitigen realpolitischen Veränderungen in der arabischen Welt scheint daher inzwischen durchaus sinnvoll zu sein, insbesondere vor dem Hintergrund, dass externe Unterstützungsmaßnahmen nur auf der Grundlage fundierter wissenschaftlicher Erkenntnisse zum Erfolg der Transformationsprozesse beitragen können. Ein solches Vorgehen wäre demnach nicht nur von rein akademischem, sondern auch von politisch-praktischem Interesse. Da sich die Transformations- und Transitionsforschung allerdings bislang nicht mit echten Situationen von Transitionen in arabischen Länder befassen konnte, scheint eine Anpassung und Ergänzung des bisherigen transformationstheoretischen Forschungsstandes auf die Voraussetzungen und speziellen Probleme und Herausforderungen des einzigartigen arabischen Raums geboten.

Diese Masterarbeit soll einen, wenn auch auf Syrien begrenzten, Teil hierzu beitragen, indem sie die Erkenntnisse der auf den arabischen Raum fokussierten Autoritarismusforschung mit den Erkenntnissen der allgemeinen Transformationsforschung zusammenführt und auf das spezielle Phänomen „Elitenwandel in Syrien" anwendet. Syrien wird damit als Spezialfall der Transformationsforschung behandelt, aber auch als einzigartiger und unvergleichbarer Staat innerhalb des arabischen Raums.

1.4.3 Elitenwandel im arabischen Raum

Zum Thema Elitenwandel in der arabischen Welt sind die in der ersten Hälfte der 2000er Jahre veröffentlichten Werke von Volker Perthes, einem ausgewiesenen Nahost-Experten und Syrien-Spezialisten, maßgebend.[6] Die weitreichenden Erkenntnisse aus dem von Volker Perthes veröffentlichten und im Zusammenhang mit dem Thema Elitenwandel in der arabischen Welt oft zitierten Werk „Arab Elites: Negotiating the Politics of Change" (PERTHES 2004) werden auch hier als Grundlage für die Untersuchung herangezogen. In der Studie eines Forschungsprojekts konstatiert er, dass sich die Staaten der arabisch- nahöstlichen Welt zur Jahrtausendwende in der „Anfangsphase eines umfangreichen Generations- und Elitenwechsels" befanden (PERTHES 2002, S. 5 und 7). Der sich andeutende Wandel weckte Hoffnungen auf tiefgreifende Veränderungen in der gesamten Region. Die allmählich abtretende Führungsgeneration hatte das politische Umfeld in der arabischen Welt über mehrere Jahrzehnte hinweg bestimmt und politische sowie wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen zugunsten von systemischer Stabilität und Kontinuität kaum zugelassen. Doch Perthes warnt vor der Annahme, dass neue und jüngere Eliten zwangsläufig „fortschrittlicher, liberaler oder kooperationsfähiger" auftreten als ihre Vorgänger (PERTHES 2002, S. 5). Die neue Führungsgeneration möge zwar andere, moderne, vielleicht auch westliche Erfahrungen mitbringen, insbesondere im technischen Bereich wie dem Internet; Aussagen über die gegenwärtigen und zukünftigen Ziele und Prioritäten der neuen arabischen Elite ließen sich daraus allerdings nicht ableiten (vgl. PERTHES 2002, S. 5/6).

2 Theoretische und konzeptionelle Vorüberlegungen

2.1 Grundprämisse

Die Auswahl von Eliten als Untersuchungsgegenstand geht notwendigerweise von der erkenntnistheoretischen Grundannahme aus, dass individuelle wie kollektive Akteure in der Politik tatsächlich eine wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle spielen. Dieser Ansatz wird auch hier verfolgt. Die Studie „Elitenwandel in der arabischen Welt und Iran" von Volker Perthes (2002) rechtfertigt diese Grundannahme, indem sie für den arabischen Raum empirisch-analytische Beweise für die herausragende Bedeutung von politisch relevanten Akteuren für politische Veränderungen in der arabischen Welt liefert. So stellt Perthes fest, dass "the changing of the guard will affect political dynamics" (PERTHES 2004 [1], S.1). Auch er geht demnach davon aus, dass ein Wechsel der Führungsebene eines Staates grundlegende Auswirkungen auf den politischen Führungsstil und das politische Auftreten eines Regimes hat, also einen „Policy-Wandel" bewirkt. Zudem zeigt die Geschichte der Region, dass die Entwicklungsperspektiven der einzelnen arabischen Staaten wesentlich von nationalstaatlichen Akteuren - eben von den Eliten des Landes - und deren Entscheidungen abhängen (vgl. PERTHES 2002, S. 9). Die Relevanz von Eliten für den Erfolg von Transformationsprozessen wird nicht zuletzt im Bereich der politikwissenschaftlichen Transformationsforschung betont.[7] Sie behandelt Elitenwandel zwar nur als einen Faktor politischer Entwicklung, jedoch als einen eminent wichtigen. Im speziellen Fall Syrien dürfte den Eliten in Bezug auf die politische Ausrichtung des Landes eine besondere Bedeutung zukommen, da Syrien ein hoch personalisiertes und von neopatrimonialen Strukturen geprägtes Präsidialsystem aufweist. Aufgrund dessen wird von einer hohen transformationstheoretischen Relevanz von Eliten ausgegangen (vgl. PERTHES 2002, S. 9/10). Die Grundprämisse dieser Arbeit lautet demzufolge, dass ein grundlegender Elitenwandel in Syrien eine notwendige Voraussetzung[8] für einen substantiellen politischen Wandel bis hin zum Systemwechsel ist.

2.2 Definitionen

2.2.1 Eliten und das Konzept der „Politisch Relevanten Eliten"

Das von Volker Perthes entwickelte Konzept der politisch relevanten Eliten (= PRE, vgl. PERTHES 2004 [1], S. 5ff.) nimmt im Rahmen dieser Studie eine Schlüsselrolle ein und bedarf daher einer kurzen Vorstellung. Perthes und sein Forschungsteam definieren den Begriff der PRE folgendermaßen:

„Damit meinen wir jene Personen, die in einem bestimmten Land Macht und Einfluss ausüben, indem sie strategische Entscheidungen auf nationaler Ebene treffen, an der Entscheidungsfindung darüber teilhaben, die Definition politischer Normen und Werte oder die Definition dessen, was als 'nationales Interesseж gilt, mitbestimmen oder die öffentliche Debatte über strategische Themen maßgeblich beeinflussen." (PERTHES 2002, S.7/8)

Andere Autoren definieren die PRE als „Kreis von Personen, die politische Macht ausüben" (BOTTOMORE 1965, S. 7) oder die durch ihre strategische Position in großen und mächtigen Organisationen und Bewegungen in der Lage sind, die politische Entscheidungsfindung „direkt, wesentlich und regelmäßig" zu beeinflussen (HIGLEY/MOORE 2001, S.176). Kurz gesprochen: Das Kriterium für die Zugehörigkeit zur PRE ist die Einflussmöglichkeit der Person auf politische Entscheidungsprozesse eines Landes. Gemäß dieser Definition lassen sich unter den Begriff der PRE selbstverständlich die Hauptentscheidungsträger und wichtige Mitglieder der jeweiligen Regierung subsumieren. Aber auch Mitglieder des Sicherheitsapparates, hohe Beamte, politische Berater, Wirtschaftsführer, politische Meinungsführer, Lobbyisten und sogenannte graue Eminenzen zählen zu diesem Personenkreis, sofern sie das Kriterium der politischen Relevanz erfüllen. Aber auch politisch relevante Oppositionspolitiker werden in den Kreis der PRE einbezogen; selbst wenn das System sie durch autoritäre Mittel oder Wahlmanipulation von einer Teilhabe an der politischen Macht ausschließt (vgl. PERTHES 2002, S.8). Entscheidend ist lediglich der politische Einfluss. Darüber hinaus können PRE sowohl aus Leistungs- als auch aus Herkunftseliten bestehen, je nach dem, wie der Zugang zur PRE geregelt ist.

2.2.2 Elitenwandel

Der Begriff „Elitenwandel" wird im Rahmen dieser Arbeit als ein Prozess grundlegender Veränderungen in der machtpolitischen Struktur der herrschenden Eliten definiert wird, der letztendlich zu einer politischen Neuausrichtung des Regimes führen. Diese Begriffsbestimmung trägt der Tatsache Rechnung, dass nicht jede Veränderung im Bereich der politisch relevanten Eliten automatisch einen politischen Wandel zur Folge hat. So hat ein reiner Personen- oder Generationenwechsel innerhalb der PRE eines Landes in der Regel wesentlich geringere Auswirkungen, was politische Veränderungsprozesse angeht, als ein struktureller Elitenwandel, der nicht nur eine Verjüngung, sondern auch eine Verschiebung der machtpolitischen Struktur der PRE sowie einen Wandel der Rekrutierungsmechanismen und des Zugangs zur PRE bedeuten würde (vgl. PERTHES 2002, S. 10). Das Augenmerk dieser Studie ist demzufolge auf folgende politisch relevante Kriterien von Elitenwandel gerichtet:

1) Zusammensetzung der PRE
2) Institutionelle Machtkonstellation der PRE
3) Zugang zur PRE
4) Politische Ausrichtung der PRE

Ein „echter" Elitenwandel liegt im Sinne dieser Arbeit nur dann vor, wenn in allen dieser vier Dimensionen gleichzeitig fundamentale Veränderungen zu verzeichnen sind, die darüber hinaus alle in die gleiche politische Richtung zeigen, d.h. sich nicht gegenseitig in ihrer politischen Wirkung neutralisieren.

2.3 Hypothesen und Aufbau der empirischen Untersuchung

2.3.1 Erster Analyseteil

Im ersten Teil der anstehende deskriptiv-kritischen Analyse wird der Frage nachgegangen, ob und warum sich während der Amtszeit von Bashar al-Assad - trotz zahlreicher machtpolitischer Veränderungen und Reformen - kein echter Elitenwandel vollzogen hat.

Um diese Frage beantworten zu können, wird untersucht, ob die unter Bashar al-Assad erfolgten Veränderungen und Entwicklungen die in der obigen Definition von „Elitenwandel" aufgestellten Kriterien erfüllen. Die Hypothese hierzu lautet: Da unter Bashar al-Assad keine grundlegenden Veränderungen in der Zusammensetzung, der institutionellen Machtkonstellation, im Zugang und in der politischen Ausrichtung der PRE Syriens stattgefunden haben, kann nicht von einem echten Elitenwandel gesprochen werden.

Im ersten Analyseteil werden demnach zunächst die erkennbaren Veränderungen der syrischen Elitenherrschaft unter Bashar al-Assad vor Ausbruch der Krise nachvollzogen und anhand der genannten Kriterien analysiert.

Entscheidend für die Beurteilung eines Elitenwandels ist zudem die Frage, warum es seit dem Amtsantritt von Bashar al-Assad überhaupt zu Veränderungen und Reformen in Syrien gekommen ist und welche Ursachen, Motive und Interessen diesem Wandel zu Grunde lagen. So sind Veränderungen, die von oben gesteuert wurden und vornehmlich den machtpolitischen Interessen der Führungselite dienen anders zu bewerten als Reformen, die möglicherweise von unten erzwungen wurden und dem Wohl der gesamten syrischen Bevölkerung zu Gute kommen.

Der Beobachtungszeitraum der empirischen Untersuchung des ersten Analyseteils bezieht sich auf die Zeitspanne zwischen dem Amtsantritt von Bashar al-Assad im Sommer 2000 und dem Ausbruch der ersten Proteste in der arabischen Welt Ende des Jahres 2010.

2.3.2 Zweiter Analyseteil

Wie Volker Perthes in seinem neuesten Werk „Der Aufstand - Die arabische Revolution und ihre Folgen" (2011) feststellte, gründen sich große historische Veränderungen zwar immer auf ein „komplexes Bündel von Ursachen", aber auch auf „einzelne Ereignisse, die dann zu Auslösern [solcher Veränderungen] werden" (PERTHES 2011, S. 23). In Anlehnung daran wird im zweiten Teil der Analyse der hypothetische Ansatz verfolgt, dass das Übergreifen der arabischen Protestwelle auf Syrien als der entscheidende Auslöser - sozusagen als Schlüsselereignis - für die Einleitung eines echten Elitenwandels wirken könnte und dem syrischen Volk die vielleicht einmalige Chance auf einen tiefgreifenden Veränderungsprozess der syrischen Elitenstrukturen bietet. Um empirisch überprüfen zu können, ob aus der aktuellen Krisensituation ein syrischer Elitenwandel hervorgehen könnte, werden zunächst die für diesen Wandel nötigen Voraussetzungen für den speziellen Fall Syrien entwickelt. Hierzu werden die Erkenntnisse von akteurstheoretischen Ansätzen aus der Transformationsforschung zum Thema „Systemwechsel" in leicht modifizierter Form, unter Berücksichtigung des Forschungsstandes der modernen Autoritarismusforschung für den arabischen Raum, auf das Phänomen „Elitenwandel" übertragen und auf die konkrete Situation in Syrien angewandt. Dieses Vorgehen soll gewährleisten, dass die im Rahmen der Transformationsforschung überwiegend auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse aus der „Dritten Demokratisierungswelle" entwickelten Hypothesen zum Wandel von Eliten und Regimen auch auf die Länder des einzigartigen arabischen Raums, in diesem Fall Syrien, anwendbar sind.

Aus einer akteurszentrierten Perspektive liegen die Ursachen für einen grundlegenden Elitenwandel im veränderten Machtverhältnis zwischen politisch relevanten Akteuren, da sowohl die politische Öffnung als auch das Ende autoritärer Regime in der Regel „das Produkt vielschichtiger Veränderungen innerhalb des Herrschaftsblocks" (MERKEL 2010, S. 85), also innerhalb der Eliten, ist. Der Prozess eines solchen machtpolitischen Wandels kann allerdings ganz unterschiedliche Verlaufsformen annehmen.

Nach Merkel (2010, S. 101-104) kommen für einen Transformationsprozess grundsätzlich folgende Verlaufsformen in Frage:[9]

1) Ein von alten Regimeeliten gelenkter Elitenwandel, bei dem die alten Regimeeliten sowohl den Verlauf als auch die Richtung und das Ausmaß des Elitenwandels bestimmen.
2) Ein von unten erzwungener Elitenwandel, der ausgelöst wird durch eine hoch mobilisierte Bevölkerung, deren Massenproteste nicht mehr unterdrückt werden können. Meist werden die alten politischen Eliten dabei völlig entmachtet.
3) Ein ausgehandelter Elitenwandel, bei dem die ausgeglichene Konstellation zwischen den alten Herrschaftseliten und der erstarkten Opposition eine Pattsituation darstellt, da keine Seite die entscheidende Machtposition inne hat. Die Aushandlung von Kompromissen findet zwischen den nicht (mehr) legitimierten alten Eliten und der (noch) nicht legitimierten Opposition statt, was die inhärente Problematik verdeutlicht.
4) Ein Regimekollaps droht, wenn aufgrund außenpolitischer Entscheidungen ein abrupter Zusammenbruch des alten Regimes nicht mehr verhindert werden kann und gleichzeitig aber die Reformeliten oder die strukturierte Oppositionsbewegung nicht etabliert genug sind, um das Machtvakuum aufzufangen.[10]
5) Ein Regimesturz wird durch externe - zivile und/oder militärische - Intervention vollzogen, was in der Regel auf einen Elitenwandel hinausläuft.

Die Interpretation dieser Ansätze aus akteurstheoretischer Sicht lässt darauf schließen, dass in einem Transformationsprozess nicht nur die herrschenden Eliten, sondern durchaus auch neue politisch relevante Akteure - wie Oppositionsgruppen, externe Akteure oder die Masse der Bevölkerung - in Erscheinung. Im zweiten Analyseteil werden danach sowohl die traditionell politisch relevanten Eliten als auch neu in Erscheinung tretende Akteure, die potenziell über politische Einflussmöglichkeiten verfügen, untersucht. Insofern dienen die folgenden vier Akteursgruppen als Untersuchungsobjekte für die Analyse der Voraussetzungen eines grundlegenden Elitenwandels in Syrien:

1) Das Regime als „alte" PRE,
2) die Opposition als potenziell neuer Akteur innerhalb der PRE,
3) die syrische Bevölkerungsmasse[11] als Macht des Volkes und
4) externe Akteure, die entweder in ihrer Funktion als „Ordnungshüter" oder aus eigenen Interessensabsichten Einfluss auf die Entwicklung der Machtverhältnisse in Syrien nehmen.

Aus der Gesamtschau der oben aufgeführten möglichen Verlaufsformen eines machtpolitischen Wandels lassen sich neben den relevanten Akteuren auch die theoretisch zu erfüllenden Voraussetzungen für einen Elitenwandel in Syrien ableiten. Vor dem Hintergrund der syrischen Machtverhältnisse und der aktuellen Ereignisse in Syrien werden danach folgende Indikatoren identifiziert, die auf Veränderungen innerhalb der machtpolitischen Akteurskonstellation hinweisen und in ihrer Gesamtheit einen „echten" Elitenwandel zur Folge haben könnten:

- Spaltung innerhalb der „alten" PRE in Hard- und Softliner: Die Beharrungskräfte - der politische „Bunker" - werden durch Legitimitätsverlust und durch die Dominanz von Partikularinteressen geschwächt während die gemäßigten, reformbereiten Kräfte durch Legitimitätsgewinn und ein geeintes Auftreten gestärkt werden.
- Popularitätsverlust der Präsidenten als Symbolfigur des syrischen Regimes
- Formierung oppositionellen Potenzials: Neue bzw. erstarkte alte Oppositionsgruppen und -parteien schließen sich zu einem einheitlichen Oppositionsblock zusammen und bieten mit tragbaren und konsensfähigen politischen Programmen eine echte Alternative zum herrschenden Regime und Bashar al-Assad.
- Dominanz gemäßigter und friedlicher oppositioneller Akteure gegenüber radikalen und gewaltbereiten Oppositions- und Widerstandskräften
- Erhöhter Einfluss externer Akteure: Auf die alten herrschenden Eliten wird Druck ausgeübt, wohingegen die Opposition des Landes unterstützt wird.
- Erhöhter Druck auf das Regime von unten: Mobilisierte syrische Bevölkerungsmassen lehnen sich gegen den Präsidenten und seine Regimeeliten auf.

Auf der Grundlage der im ersten Analyseteil gewonnenen Erkenntnisse über die Entwicklung der syrischen Elitenherrschaft unter Bashar al-Assad vor Ausbruch der Unruhen werden in diesem zweiten Analyseschritt die aktuellen Entwicklungen in Syrien daraufhin untersucht, ob die aufgeführten Indikatoren zutreffen und inwieweit die Voraussetzungen für einen grundlegenden und vor allem nachhaltigen Elitenwandel erfüllt sind. Die zweite These dieser Arbeit lautet demnach: Aus der aktuellen Krisensituation kann sich nur dann ein echter Elitenwandel in Syrien entwickeln, wenn alle vorgenannten Voraussetzungen bzw. Indikatoren für einen solchen Transformationsprozess erfüllt sind.

Die empirische Überprüfung dieser zweiten Hypothese baut zwangsläufig auf den im ersten Analyseschritt gewonnen Erkenntnissen auf, da nur so sichergestellt werden kann, dass die Analyse der aktuelle Ereignisse in Syrien die Komplexität der Machtstrukturen in Syrien erfasst. Auf der Grundlage der Untersuchungsergebnisse wird anschließend eine vorsichtige Beurteilung der aktuellen Erfolgsaussichten eines tiefgreifenden Elitenwandels in Syrien vorgenommen. Da sich dieser zweite Analyseteil jedoch mit noch laufenden Prozessen beschäftigt und die derzeit hohe Dynamik in der gesamten Region sowie unvorhersehbare Ereignisse den Verlauf der Entwicklungen jederzeit schlagartig ändern können, ist zu beachten, dass es sich bei den Analyseergebnissen lediglich um Momentaufnahmen handelt. Für eine abschließende Beurteilung der Erfolgsaussichten eines echten Elitenwandels in Syrien ist es daher noch zu früh.

2.3.3 Schlussbetrachtung

Im Schlussteil der Arbeit wird zunächst ein Urteil über die Möglichkeiten und verpassten Chancen eines syrischen Elitenwandels unter Bashar al-Assad abgegeben. Außerdem werden die im Analyseteil erlangten Erkenntnise über die veränderten Akteurskonstellationen und die strategischen Handlungspositionen der „alten" und „neuen" politisch relevanten Eliten Syriens herangezogen, um daraus mögliche Szenarien für den weiteren Verlauf der Krise zu entwerfen und mit Hilfe spieltheoretischer Überlegungen aus der modernen Transformationsforschung[12] einen Lösungsansatz im Hinblick auf die Realisierung eines echten Elitenwandels in Syrien zu entwickeln. Abschließend werden wissenschaftstheoretische und realpolitische Implikationen der in einen gesamtarabischen Kontext gestellten Analyseergebnisse aufgezeigt, um die Reichweite der gewonnenen Erkenntnise zu demonstrieren.

2.4 Zeitlicher Rahmen der empirischen Analyse

Diese Arbeit ist in der zweiten Hälfte des Jahres 2011 entstanden. Letzte Ergänzungen wurden noch bis Ende Februar 2012 vorgenommen, um die aktuellen Entwicklungen einzufangen. Zudem wird in Abschnitt „4.6 Aktuelle Entwicklungen" noch ein kurzer Überblick über laufende Prozesse und möglicherweise richtungsweisende aktuelle Ereignisse gegeben. Irgendwann musste die Darstellung jedoch zwangsläufig abgeschlossen werden. Angesichts dessen wurde der Schwerpunkt der gesamten Analyse weniger auf die Bedeutung und Auswirkungen einzelner Ereignisse gelegt, sondern vielmehr auf grundlegende und langfristige Entwicklungen, Probleme und Herausforderungen der Initiierung und Realisierung eines „echten" Elitenwandels in Syrien sowie auf deren Hintergründe, insbesondere bezüglich der Notwendigkeit eines Elitenwandels für eine liberalere Neuausrichtung der Politik des Landes. Die Studie soll auch dazu beitragen, den weiteren Gang der Ereignisse besser zu verstehen und deren Relevanz für die Zukunft Syriens besser einschätzen zu können, was angesichts der hohen Komplexität der syrischen Machtstrukturen selbst Regionalexperten nicht leicht fällt.

2.5 Literatur und Quellenanalyse

Während für den ersten Teil der empirischen Untersuchung, d.h. für die Analyse des Elitenwandels in Syrien unter Bashar al-Assad vor Ausbruch der Krise, sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht ausreichend öffentlich zugängliches Material von Experten und Wissenschaftlern für eine zuverlässige und zumindest annähernd vollständige Beurteilung des Phänomens „Elitenwandel in Syrien" vorliegt, stellt sich die Quellenlage für die Untersuchung aktueller Ereignisse und Entwicklungen in Syrien weitaus komplizierter dar, insbesondere weil ausländischen Journalisten seit Ausbruch der Unruhen die Einreise nach Syrien verboten wurde. Der schwierige Zugang zu zuverlässigen und gesicherten Informationen über die aktuellen Entwicklungen und Dynamiken in Syrien zwingt zu einer qualitativen Quellenanalyse und teilweise zu einem sogenannten „reputational approach", d.h es muss zur Gewinnung von empirischen Erkenntnissen zum einen auf veröffentlichte, oftmals ganz individuelle, Meinungen und Bewertungen von „neutralen" Experten zurückgegriffen werden und zum anderen auf Selbsteinschätzungen und Lagedarstellungen betroffener Akteure in der Region, die allerdings in der Regel ein hohes Maß an Subjektivität und emotionaler wie moralischer Voreingenommenheit aufweisen und daher nicht vorbehaltlos übernommen werden dürfen. Zudem werden gerade im aktuellen Syrienkonflikt von allen Beteiligten vor Ort, aber auch von der arabischen und westlichen Presse gezielt Medienkampagnen und Propagandamaßnahmen zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung eingesetzt.

Exkurs: Medienpropaganda im Konfliktfall Syrien

Der anhaltende Propaganda- und Medienkrieg verfälscht die Berichterstattung aus und über Syrien in erheblichem Maße. Der weltweiten Öffentlichkeit wird so ein oftmals völlig falsches Bild über den Konflikt in Syrien präsentiert. Einzelne Journalisten vor Ort berichten immer wieder, dass das internationale Medienbild teils erheblich von der Realität in Syrien abweicht. Die Mehrheit der täglichen Presseberichte über Syrien entstammt entweder den Aussagen von syrischen Oppositions- und Menschenrechtsgruppen oder von staatlich­kontrollierten Medienanstalten, die unter Aufsicht und Kontrolle des syrischen Regimes stehen. Während das Regime von Bashar al-Assad über staatlich kontrollierte Medienagenturen versucht, die Unruhen im Land als das Werk von radikalen Islamisten und als Verschwörung des Westens gegen Syrien darzustellen, wird insbesondere die westliche Medienlandschaft von einem Phänomen überschattet, das die Glaubwürdigkeit und Unabhängigkeit westlicher Berichterstattung im Fall Syrien in Frage stellt. Auffällig und höchst verdächtig ist die Tatsache, dass sich die großen Medien weltweit meist ausschließlich auf das in London ansässige „Syrian Observatory for Human Rights" beziehen und dieses offenbar vorbehaltlos zitieren (vgl. u.a. HERMANN E. 2011). Das dubiose Londoner Auskunftsbüro soll lediglich von einem Mann namens Rami Abdul- Rahman vertreten werden. Seine Propaganda soll angeblich bereits der gezielten Falschmeldung und Fehlinformationen überführt worden sein.[13] Die internationale Presse stützt sich allerdings weiterhin größtenteils auf Meldungen dieses zweifelhaften Auskunftsbüros, obwohl von unabhängigen Journalisten bereits davor gewarnt wird. Anders als die staatlich-kontrollierten Medien in Syrien berichtet das „Syrian Observatory for Human Rights" absolut regimekritisch und verharmlost beispielsweise die zunehmende

Bewaffnung des syrischen Widerstandes. Zudem werden die Präsenz des syrischen Militärs und das Verhalten der syrischen Sicherheitskräfte in den syrischen Städten gerne sehr dramatisch dargestellt. Eine solche selektive Berichterstattung kann mitunter zu enormen politischen Auswirkungen führen, denn „im Medien- und Politik­Entscheidungsgetriebe greift ein Rad ins andere, eine Institution übernimmt die vorherige Falschmeldung, und zum Schluss werden Lügen zu vermeintlichen Wahrheiten" (HERMANN E. 2011). Die unendlichen Weiten des Internets haben die Möglichkeiten und den Anreiz zur Verbreitung von Falschmeldungen und „schwarzer Propaganda" noch zusätzlich verstärkt. "Disinformation and black propaganda are as old as armed conflict itself, and the internet has only increased the opportunities to spread the fog of war" (COCKBURN 2012).

Die Durchführung einer sorgfältigen Quellenanalyse im Vorfeld der empirischen Untersuchung dient dem Erhalt der wissenschaftlichen Qualität dieser Arbeit, trotz der schwierigen Quellenlage im Konfliktfall Syrien. Die hier verwendeten Quellen wurden im Rahmen der Materialsammlung insbesondere hinsichtlich der Qualitätskriterien Neutralität, Glaubwürdigkeit, Zuverlässigkeit, Aktualität und Vollständigkeit überprüft und bewertet. Hierzu wurden zunächst Studien und Analysen von erfahrenen Think Tanks sowohl aus dem Westen als auch aus dem arabisch-sprachigen Raum als Grundlage herangezogen, da sich diese auch auf den konkreten Fall Syrien bezogen in der Vergangenheit als zuverlässige und sorgfältig vorgehende Informationsquelle erwiesen haben.[14] Neben diesen Forschungszentren lag der Fokus bei der Informationssuche auf Veröffentlichungen von ausgewiesenen Syrien- bzw. Regionalexperten wie Volker Perthes, Carsten Wieland, Oliver Schlumberger, Muriel Asseburg oder Radwan Ziadeh. Ergänzende Informationen aus der westlichen und arabischen Medienwelt sowie individuelle Aussagen und Einschätzungen von Journalisten, Politiker oder Betroffenen vor Ort wurden erst in die Analyse übernommen, wenn sie durch einen Vergleich mit anderen Quellen bestätigt werden konnten. Dieses Vorgehen erfordert ein quantitativ extrem hohes Materialaufkommen und die Nutzung einer hohen Bandbreite von Quellen, da Informationen einer Quelle stets mit den Inhalten verschiedenster anderer Quellen abgeglichen werden müssen, um eine letztlich zuverlässige und verwertbare Aussage zu erhalten. Die Quellenangaben im Text beziehen sich, speziell bei Einzelinformationen, lediglich auf eine - in der Regel die glaubwürdigste - repräsentative Quelle, da die Angabe aller für die Verifikation der Informationen verwendeten Quellen den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde.

Unbestätigte Informationen werden im Text ausdrücklich als solche gekennzeichnet und gehen entsprechend lediglich als Gerüchte oder Hinweise bzw. als Indikator für das Stimmungsbild[15] vor Ort in die Untersuchung ein. Die für das Ziel der Analyse von Voraussetzungen und Erfolgsaussichten eines grundlegenden Elitenwandels in Syrien erarbeiteten Variablen und Kriterien werden demnach nur an qualitativ überprüftes Material herangetragen, dessen Inhalte sorgfältig analysiert wurden. Trotz dieser Vorgehensweise unterliegen die dargelegten Information und Analyseergebnisse der Integrität der hier genutzten Quellen. Aufgrund des schwierigen Quellenzugangs musste der Anspruch auf absolute Vollständigkeit und Neutralität der Darstellung aufgegeben werden. Unter den gegebenen Umständen wäre ein solcher Anspruch, auch aus wissenschaftlicher Sicht, aber ohnehin reine Utopie.

Die theoretischen Grundlagen dieser Arbeit wurden aus politikwissenschaftlichen Standardwerken, aus Rezensionen zum bisherigen Forschungsstand und aus aktuellen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu den Bereichen der Transformationsforschung (MERKEL 2010, SCHLUMBERGER 2008; ALBRECHT/FRANKENBERGER 2010), der Autoritarismusforschung mit Fokus auf der regionalspezifischen Nahostforschung (SCHLUMBERGER 2008 und 2011; KREITMEYR/SCHLUMBERGER 2010, ALBRECHT/FRANKENBERGER 2010; BANK 2009) und der Elitenforschung (PERTHES 2002 und 2004 [1]) herangezogen.

Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich die Transkription arabischer Namen zur Leseerleichterung an der deutschen Schreibweise orientiert, wie sie in Veröffentlichungen von deutschen Experten für diese Region am geläufigsten ist.

3 Empirische Analyse Teil I

3.1 Daten und Fakten zu Syrien

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb'1: Landkarte Syrien (Quelle: e-poNtik.de)

3.2 Politik und Gesellschaft in Syrien 3.2.1 Das politische System Syriens

Die 1946 gegründete Arabische Republik Syrien ist gemäß ihrer Verfassung von 1973, deren Rechtsgrundlage die Scharia ist,[16] offiziell eine sozialistische Volksrepublik mit Präsidialsystem (= Präsidialrepublik), an deren Spitze seit Juli 2000 Bashar al-Assad als Staatsoberhaupt steht. Formell wird die Regierungsform Syriens als sozialistisches Blockparteiensystem bezeichnet. Da das politische System des Landes jedoch von der Arabischen Sozialistischen Baath-Partei als Einheitspartei dominiert wird, muss faktisch von einem Einparteiensystem gesprochen werden. Das stark autoritär geprägte Präsidialsystem stattet den Präsidenten mit weitreichenden - nahezu diktatorischen - Befugnissen aus. So ist Bashar al-Assad neben seiner Rolle als Staatsoberhaupt zugleich Inhaber der Exekutivgewalt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Der auf sieben Jahre per Volksabstimmung direkt gewählte Präsident[17] bestimmt die Richtlinien der Politik, ernennt bzw. entlässt das Regierungskabinett und verfügt sowohl über ein Gesetzesinitiativrecht als auch über ein Vetorecht. Der Ministerpräsident und das Kabinett nehmen nur Routineaufgaben im administrativen und im wirtschaftspolitischen Bereich wahr. Sensible Politikbereiche wie die Außen- und Verteidigungspolitik befinden sich vollständig in den Händen des Präsidenten und seiner engsten Vertrauten. In der Praxis ist die politische Macht im Amt des Präsidenten und einiger weniger, eng mit dem Präsidenten vertrauten politischen Schlüsselfiguren konzentriert.

Die Legislativgewalt wird nominell von der Volksversammlung als Einkammerparlament ausgeübt, deren 250 Abgeordnete für vier Jahre gewählt werden. Syrer sind ab 18 Jahren, unabhängig vom Geschlecht, wahlberechtigt. Seit der letzten Parlamentswahl vom April 2007 dominiert, wie seit über 30 Jahren, die von der Baath-Partei geführte „Progressive Nationale Front" (PNF)[18] mit 172 Sitzen im Parlament. Die verbleibenden 78 Parlamentssitze verteilen sich auf die Gruppe der so genannten „Unabhängigen". Diese Gruppe wird aber in der politischen Praxis komplett von der Baath-Partei kontrolliert. Regierungsfeindliche Parteien sind verboten. Es existieren zudem keine unabhängigen Gewerkschaften und der allgemeine syrische Gewerkschaftsbund fungiert als Dachverband für etwa 20 staatlich kontrollierte Einzelgewerkschaften. (vgl. BAMF 2008; PRADOS/SHARP 2005, S. 3)

3.2.2 Die syrische Gesellschaft

Die Struktur der politischen Institutionen ist in der syrischen Verfassung zwar festgelegt und die Herrschaftsverhältnisse sind formal geregelt; doch das syrische Regime ist weniger geprägt von der institutionellen Struktur des politischen Systems, sondern vielmehr vom Zusammenspiel gesellschaftlicher und konfessioneller Faktoren (vgl. PRADOS/SHARP 2005, S. 3). Syrien ist ein mehrheitlich islamisches, aber säkulares Land. Die Zugehörigkeit zu religiösen Gruppen und Sekten fungiert jedoch - trotz der säkularen Natur des Regimes - als Identitätssymbol und Determinante der politischen Orientierung. Besonders hervorzuheben ist die kleine unorthodoxe Religionsgemeinschaft der muslimischen Alawiten, die nur ca. zwölf Prozent der syrischen Bevölkerung ausmacht, aber in sämtlichen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Führungspositionen überproportional vertreten ist. Der sunnitischen Mehrheitsbevölkerung - über 70 Prozent - wird der Zugang zu höheren Ämtern und insbesondere die Wahrung ihrer wirtschaftlichen Interessen dennoch ermöglicht. Insgesamt kann sich Bashar al-Assad, ebenso wie sein Vater, auf ein sorgfältig ausbalanciertes System persönlicher und konfessioneller Loyalitäten und sympathisierender Gruppen stützen. Nicht außer Acht zu lassen sind allerdings die sozioökonomischen Trennlinien innerhalb der syrischen Gesellschaft. Während sich unter der Präsidentschaft von Bashar al-Assad in den größeren Städten eine breite und relativ wohlhabende gehobene Mittelschicht - bestehend aus privaten Geschäftsleuten, führenden Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes und Parteifunktionären der herrschenden Baath-Partei - herausgebildet hat, lebt die ländliche Bevölkerung immer noch größtenteils unter der Armutsgrenze (vgl. PRADOS/SHARP 2005, S. 3/4). Zudem birgt die Kurdenproblematik, d.h. die Benachteiligung kurdischer Bevölkerungsanteile sowie die fehlende offizielle Anerkennung der Kurden als syrische Bürger, innenpolitisches Konfliktpotenzial.

3.2.3 Das neopatrimoniale System in Syrien

Das sozio-politische System ist in Syrien - wie auch in vielen anderen arabischen Staaten - stark von neopatrimonialen Strukturen durchzogen. An der Spitze des politischen Regimes steht im Neopatrimonialismus[19] idealtypisch eine personalistische Führungsfigur. Dieser „Patrimon" bindet die zu seinem eigenen Machterhalt strategisch wichtigsten Elitenmitglieder durch ein Netz von Patronagebeziehungen an sich. Erste Grundvoraussetzung der Zugehörigkeit zur politischen Elite ist die absolute Loyalität gegenüber dem Herrscher, für die sie mit diversen Privilegien „entlohnt" werden. Die Loyalität der verschiedenen Elitensegmente zur Herrscherpersönlichkeit trägt dazu bei, dass strategisch wichtige, d.h. zum Machterhalt unverzichtbare, soziale Gruppen die bestehende Herrschaftsordnung nicht in Frage stellen. Die Personalisierung der Beziehungen stellt dabei den „sozialen Kitt" dar, der die Rechtmäßigkeit des Regimes sicherstellt. Zudem prägt die Konzentration von personalisierter Macht in neopatrimonialen Systemen das Verhältnis des Regimes zur Gesellschaft. Der Staatsapparat ist darum bemüht, die Herausbildung autonomer gesellschaftlicher Organisationen zu verhindern. Gesellschaftliche Räume werden daher strikt überwacht und die Kontakte zwischen Eliten und Gesellschaft sind durch vielschichtige Bürokratien reguliert. (vgl. SCHLUMBERGER 2008, S. 110-115) Obwohl den traditionellen syrischen Gesellschaftsstrukturen nach und nach eine moderne Form verliehen wurde, sind die zentralen Charakteristiken neopatrimonialer Systeme in Syrien jedoch nach wie vor dominierend. So sind alle relevanten gesellschaftspolitische Strukturen tendenziell vertikal orientiert und von Verwandtschaftsbeziehungen und Patronagenetzen durchzogen. Der Wille des „Herrschers", des Präsidenten, wird durch den loyalen Sicherheitsapparat aus Militär und Geheimdiensten, in Kombination mit der Baath- Partei, umgesetzt. Die einzelnen persönlichen Belange der herrschenden Eliten stehen über den gesamtgesellschaftlichen Bedürfnissen. (vgl. SHARABI 1988, S. 4)

3.3 Identifikation und Wandel der politisch relevanten Eliten

Als Präsident Bashar al-Assad im Juni 2000 die Amtsgeschäfte von seinem verstorbenen Vater Hafiz al-Assad übernahm, konnte er sich auf die Strukturen eines hoch personalisierten und streng autoritären Präsidialsystems stützen, welches ihm sein Vater hinterlassen hatte. Doch welche Akteure und Institutionen waren zu dieser Zeit dem Kreis der herrschenden Eliten zuzuordnen und auf welche Säulen der Macht konnte sich Bashar al-Assad bei seinem Amtsantritt tatsächlich verlassen?

Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass strategische innen- und außenpolitische Entscheidungen von einer Kernelite getroffen werden, zu der neben Mitgliedern der Familie des Präsidenten auch einzelne Regierungsmitglieder und hochrangige Vertreter des Sicherheitsapparates, der Partei, der Wirtschaft und der sogenannten „Syrian Computer Society" (SCS) gehören (vgl. PERTHES 2002, S. 157).[20] Ebenso spielt die Konfessionsgemeinschaft der Alawiten eine gewichtige Rolle in der Verteilung der Führungsposten des Staates. Einen Überblick über die sogenannten Machtsäulen in Syrien liefert „Abbildung 2".

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Die Säulen der Macht (eigene Darstellung)

Im Zentrum des Elitenzirkels steht Bashar al-Assad als Präsident, der per Verfassung mit den weitreichendsten Befugnissen ausgestattet ist. So bekleidet er als Präsident nicht nur das Amt des politischen Oberhauptes Syriens, sondern übernimmt zugleich auch die Funktion als militärischer Oberbefehlshaber und als Generalsekretär der parteipolitisch dominierenden Baath-Partei.[21] Die weiteren Mitglieder der Kernelite dürften zu Beginn der Amtszeit von Bashar al-Assad kaum mehr als zwölf Personen umfasst haben, so die Einschätzung von Perthes (PERTHES 2002, S. 158). Dies sind zum einen Personen, die ihre Posten noch Hafiz al-Assad zu verdanken hatten, die „alte Garde", und zum anderen die „neue junge Garde", die erst mit Bashar al-Assad in den inneren Kreis der PRE aufgestiegen sind

Die tatsächliche Zusammensetzung und Machtverteilung innerhalb des innersten Elitenzirkels, der Kernelite des Landes, lässt sich allerdings nicht mit letzter Sicherheit bestimmen, denn "one of the most distinctive characteristics of Syria's government is the opacity of its underlying authority structure. [...] the question of how major decisions are made in Damascus remains shrouded in mystery" (DAOUD 2006).

3.3.1 Die Familie al-Assad

Seit der Machtübernahme von Hafiz al-Assad durch einen Militärputsch im November 1970 befindet sich Syrien unter der Herrschaft der Familie al-Assad und des weiteren Familienkreises. Außergewöhnlich ist hierbei, dass die Familie al-Assad einer religiösen Minderheit in Syrien, den Alawiten, angehört. Syriens Schicksal wird demnach seit Jahrzehnten von einer religiösen Gruppe bestimmt, die lediglich zwischen elf und zwölf Prozent der Bevölkerung ausmacht. In seiner 30-jährigen Amtszeit bestimmte Hafiz das Schicksal Syriens maßgeblich und sorgte weitestgehend für politische Ruhe und Konstanz. Mit seinem Sohn Bashar wurde die Familienherrschaft im Jahre 2000 im Zuge einer „quasi- monarchialen" Erbfolge fortgesetzt. Neben der zentralen Figur des Staatspräsidenten spielen noch weitere Familienmitglieder eine wichtige Rolle innerhalb der politischen Führungselite des Landes, denn "although President Bashar Assad is nominally in charge, real power rests within a small inner circle" (DAOUD 2006). Neben dem sogenannten „Triumvirat der Macht", bestehend aus Bashar al-Assad, seinem jüngeren Bruder Maher al- Assad und seinem Schwager Asef Shawkat, zählen vor allem auch der mit der Familie al- Assad verschwägerte Makhlouf-Klan sowie der eingeheiratete Mohammed Nassif Kheirbek zur Kernelite des Landes. Aber auch Bashars Schwester Bushra al-Assad und seine Frau Asma al-Assad sollen Einfluss auf wichtige Entscheidungen des Regimes nehmen. Asma al-Assad[22], die einst für Wohltätigkeit und Moderne stand, wurde jüngst vorgeworfen, sie habe die syrische Zivilgesellschaft unterwandert (vgl. KELLER 2012 [1]). Anisa al-Assad, Bashars Mutter, soll den ganzen Familienclan zusammenhalten, obwohl sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr öffentlich in Erscheinung tritt (vgl. DOERING 2012).

3.3.1.1 Das Triumvirat der Macht Bashar al-Assad:

Als Präsident verkörpert Bashar al-Assad laut Verfassung das Zentrum der Elitenherrschaft in Syrien und steht somit nominell an der Spitze des „Triumvirats der Macht" (LERCH 2011). Doch Bashar wurde nicht als Machtmensch geboren, er musste in die Rolle des Staatspräsidenten erst hineinwachsen. Er wurde als Zweitgeborener am 11. September 1965 in Damaskus geboren und übernahm die Rolle des „Thronfolgers" erst nach dem Tod seines als eigentlicher Nachfolger vorgesehenen älteren Bruders Basil im Januar 1994 (vgl. LERCH 2011, S. 1). Damit nahm sein Leben eine entscheidende Wende. Der in London lebende Augenarzt, dessen eigentliches Interesse neben der Medizin dem Bereich Technik und Computer galt,[23] kehrte nach Syrien zurück, absolvierte ab 1994 eine Militärkarriere im Schnelldurchlauf und wurde von seinem Vater auf das Präsidentenamt vorbereitet (vgl. LESCH 2005). Einen Tag nachdem Hafiz am 10. Juni 2000 starb, wurde Bashar zum Lieutenant-General befördert und als Oberbefehlshaber der Streitkräfte eingesetzt. Noch am gleichen Tag wurde er von der Baath-Partei zum Präsidentschaftskandidaten ernannt. Am 27. Juni stimmte das Parlament der Nominierung von Bashar al-Assad zu, nachdem zuvor das Mindestalter für das Präsidentenamt von 40 auf 34 Jahre - exakt das Alter von Bashar - hergesetzt wurde. Im anschließenden Referendum wurde Bashar mit einem Stimmenanteil von 97,3 Prozent für eine Amtszeit von sieben Jahren zum Präsidenten gewählt und im Amt vereidigt. Sieben Jahre später, am 27. Mai 2007, wurde Bashar al- Assad bei einem Referendum ohne Gegenkandidaten erfolgreich mit einer Stimmenmehrheit von offiziell 97,6 Prozent der abgegebenen Stimmen im Amt bestätigt (vgl. WASHINGTON POST 2007).

Bashar al-Assad genoss während seiner Amtszeit eine hohe Popularität und Legitimität innerhalb der syrischen Bevölkerung. Diese gründete einerseits auf der Würde, die er seinem Volk durch seine unabhängige und kompromisslose Außenpolitik, insbesondere im Nahost-Konflikt, nach einer Phase der Angst und Unsicherheit in Folge des Irakkrieges und nach dem erzwungenen Rückzug der syrischen Besatzer aus dem Libanon zurückgegeben hatte und andererseits auf dem vom Regime eingeschlagenen Weg der wirtschaftlichen Modernisierung, wovon vor allem die Unternehmerelite und die obere Mittelschicht als stärkste Legitimationsbasis des Präsidenten profitierten (vgl. ASSEBURG/WERENFELS 2011, S. 5; DOERING 2011, S. 122).[24] „Manch einer nannte ihn [deshalb] Habibna - unseren Liebling" (DOERING 2012).

Maher al-Assad:

Als zweitmächtigster Mann nach dem Präsidenten gilt Maher al-Assad, Bashars jüngerer Bruder. Er übt als Anführer der elitären Präsidentengarde (= Republikanische Garde), als Befehlshaber der 4. Militärdivision und als Mitglied des Zentralkommandos der Baath-Partei großen Einfluss auf das Machtzentrum in Syrien aus (vgl. Rößler 2008). Seit Bashar al- Assads Amtsantritt wird der 43-Jährige zu den einflussreichsten Beratern des Präsidenten gezählt und gilt seitdem als einer der engsten Vertrauten des Präsidenten, obwohl das Verhältnis zwischen den beiden Brüdern immer wieder als höchst angespannt beschrieben wird. Da Maher politisch wesentlich engagierter war als Bashar, wurde zeitweise sogar spekuliert, dass Maher die Nachfolge von Hafiz antreten würde, was aber angeblich wegen seiner Emotionalität nicht möglich war (vgl. LERCH 2011). Maher gilt als starker Mann im innersten Kreis des syrischen Machtzentrums und zudem als Hauptanführer des gewaltsamen Vorgehens gegen die Demonstranten in Syrien. Seit der brutalen Niederschlagung der Proteste in der syrischen Stadt Daraa wird er auch der „Schlächter von Daraa" genannt (HERMANN 2012 [1]).[25] Er gilt als „brutal, skrupellos und gefährlich" (DOERING 2012).

Asef Shawkat:

Das dritte, vielleicht skrupelloseste Mitglied im syrischen Dreierbund ist Asef Shawkat. Der Schwager von Bashar ist verheiratet mit Bushra al-Assad, der einzigen Schwester des Präsidenten. Er gilt als mitleidlos und machte in den militärischen Geheimdiensten Karriere. In der Familie hat Shawkat - wie auch Maher al-Assad - den Ruf eines Heißsporns (vgl. LERCH 2011).

Als Stellvertreter des syrischen Generalstabschefs der syrischen Streitkräfte und ehemaliger Chef des militärischen Geheimdienstes wird Shawkat als mächtigster Mann im syrischen Sicherheitsapparat gesehen und zählt wie auch Maher al-Assad zum engsten Kreis der PRE um Bashar al-Assad. 2011 übernahm er sogar den Posten als stellvertretender Verteidigungsminister (vgl. u.a. HERMANN 2012 [1]).

Bei den seltenen Auftritten von Shawkat in der Öffentlichkeit wird er meist von Maher al- Assad begleitet. Allerdings wird das Verhältnis zwischen beiden in Folge einer angeblichen Auseinandersetzung bereits vor dem Amtsantritt von Bashar al-Assad als angespannt beschrieben (vgl. u.a. ARABIC NEWS 2005 [1]). So soll es wiederholt zu Streitigkeiten zwischen Maher al-Assad auf der einen Seite und Shawkat und seiner Frau Bushra[26] auf der anderen Seite gekommen sein (vgl. ZISSER 2007, S. 62), "mostly over patronage appointments in the security apparatus" (DAOUD 2006). Anfang Juni 2008 kursierten sogar Gerüchte, wonach Asef Shawkat versucht haben soll, gegen Bashar al-Assad zu putschen (vgl. BANSE/BEHRENDT/WERGIN 2008, S. 7).

Das syrische Triumvirat gilt jedoch längst als versöhnt (vgl. RÖßLER 2008, S. 6; CHIMELLI 2011) und hält die Zügel der Macht in Syrien fest in familiären Händen.

3.3.1.2 Weitere Mitglieder des familiären Machtzirkels Rami Makhlouf:

Der Oligarch Rami Makhlouf, ein Cousin von Bashar al-Assad, gilt seit der Übernahme des „Makhlouf-Imperiums" von seinem Vater Muhammad Makhlouf[27] als mächtigster und reichster Wirtschaftsakteur in Syrien. Es wird geschätzt, dass er 60 Prozent der syrischen Wirtschaft beeinflusst oder gar kontrolliert (vgl. HERMANN 2012 [1]). Der einflussreiche Geschäftsmann, unter anderem Leiter von SyriaTel, zählt zum engsten Kreis der Verbündeten um Maher und Bashar al-Assad. Er versorgt das Regime mit liquiden Mitteln, womit zum Beispiel heute das gewaltsame Vorgehen gegen die Demonstranten finanziert wird (vgl. CHIMELLI 2011). Rami Makhlouf ist für Kritiker die prominenteste Symbolfigur einer Verflechtung politischer Macht mit finanziellen Interessen. Er wird dem harten Flügel des Regimes zugerechnet.

Hafez Makhlouf:

Hafez Makhlouf, ein weiterer Cousin mütterlicherseits von Bashar al-Assad, ist leitender Oberst der mächtigsten Abteilung des Nachrichtendienstes - im Generaldirektorat Nachrichtendienst, Abteilung Damaskus. Als engster Vertrauter von Maher al-Assad und langjähriger Freund von Bashar al-Assad sitzt auch er an den Hebeln der Macht in Syrien (vgl. HERMANN 2012 [1]).

Mohammad Nassif Kheirbek:

Mohammad Nassif Kheirbek, Vizepräsident Syriens mit Zuständigkeit für Angelegenheiten der nationalen Sicherheit, fungiert als einer der wichtigsten innen- und sicherheitspolitischen Berater des anfangs sehr unerfahrenen, jungen Präsidenten. Durch seine Jahrzehnte lange Erfahrung ist Kheirbek unverzichtbar für Bashar al-Assad und soll als einer der wenigen Führungspersönlichkeiten nahezu uneingeschränktes Vertrauen des Präsidenten genießen und stets Gehör bei ihm finden. Als einer der engsten Berater und Vertrauten des Präsidenten ist auch er zum innersten Elitenzirkel zu zählen. Ihm wird ebenfalls eine direkte Beteiligung am gewaltsamen Vorgehen gegen die syrische Zivilbevölkerung nachgesagt. (vgl. OWEIS/BAYOUMY 2011; BBC 2011)

Die Arbeitsteilung innerhalb der familiären Führungsriege, allen voran des „Triumvirats der Macht", erweist sich über die Jahre als höchst effizient. Der Präsident als freundliches Gesicht nach außen, sein Bruder Maher und sein Schwager Asef Schawkat als Verantwortliche für die Stabilität im Inneren und Cousin Rami Makhlouf als Garant für die finanzielle Absicherung des Clans. Während Bashar al-Assad von Reformen spricht, sperren Bruder und Schwager Regimegegner weg und Cousin Rami kontrolliert die Wirtschaftselite - „die Rollen sind perfekt verteilt" (HELBERG 2011) und der erweiterte Assad-Clan scheint alle Zügel in den Händen zu halten. Aufgrund seiner politischen Unerfahrenheit war Bashar al-Assad, speziell zu Beginn seiner Präsidentschaft, in hohem Maße auf die Unterstützung von seiner Familie und eines engen Beraterkreises angewiesen. Diese Abhängigkeit nutzten Maher al-Assad und Asef Shawkat, um ihre eigene Macht und ihren Einfluss auf den Präsidenten stetig auszubauen und zu festigen.

Bereits vor Ausbruch der Proteste in Syrien muss beiden daher ein beträchtliches Macht- und Einflusspotenzial zugeschrieben werden. Beiden gelang es, in das Machtzentrum Syriens einzudringen und sehr nahe an den Präsidenten heranzurücken. Gegen den Willen von Bruder Maher und Schwager Asef Shawkat konnte Bashar al-Assad zuletzt vermutlich keine politisch relevanten Entscheidungen mehr treffen.

3.3.2 Die Regierung

Bashar al-Assad arbeitete zunächst mit dem alten Kabinett seines Vaters weiter, welches erst kurz vor dessen Tod neu gebildet worden war. Im Dezember 2001 - erst eineinhalb Jahre nach dem Amtsantritt von Bashar al-Assad - wurde schließlich die erste „echte" Regierung Bashar al-Assads gebildet. Bei der neuen Zusammenstellung des Kabinetts behielten nur wenige Mitglieder der alten Regierung ihre Posten, darunter Außenminister Faruk al-Sharaa, seit 1984 im Amt, und Verteidigungsminister Mustafa Tlass, seit 1971 im Amt (vgl. PERTHES 2004 [2], S. 91). Auf diese Minister konnte Bashar nicht verzichten, da er auf deren langjährige Erfahrung angewiesen war. Ebenso blieb der Vizepräsident Abdul- Halim Khaddam im Amt, der, zusammen mit Tlass, als Ziehvater des jungen und unerfahrenen Präsidenten galt (vgl. LESCH 2005, S. 79). Die neuen Mitglieder des Kabinetts, meist jüngere Leute, brachten überwiegend Kenntnisse aus dem Wirtschafts­und Technologiesektor mit und damit Qualifikationen, die Syrien brauchte, um wirtschaftspolitische und technologische Reformen und eine stärkere Verflechtung mit der Weltwirtschaft auf den Weg zu bringen (vgl. PERTHES 2002, S. 158). Die neu berufenen Regierungsmitglieder waren zudem mehrheitlich Parteimitglieder oder Technokraten, die zuvor nicht in der Politik tätig gewesen waren. Berufspolitiker waren dagegen kaum vertreten. Aufgrund teils widerstreitender Agenden innerhalb der neuen Führung mussten aber einige Kompromisse bei der ersten Regierungsbildung Bashar al-Assads eingegangen werden (vgl. PERTHES 2002, S. 158). Im September 2003 leitete die Ernennung von Mohammad Naji al-Otri zum neuen Ministerpräsidenten eine größere Umschichtungsaktion ein, deren Höhepunkt die Ernennung des ehemaligen Außenministers Faruk al-Sharaa zum Vizepräsidenten und die gleichzeitige Neubesetzung von 14 Ministerposten war. Eine weitere strategische Neubesetzung schloss sich an; Verteidigungsminister Mustafa Tlass räumte im Mai 2004 seinen Posten und der bisherige Generalstabschef Hasan Turkmani rückte nach (vgl. PERTHES 2004 [2], S. 92).[28] Die zweite Regierung unter Bashar glich dem Profil des Vorgängerkabinetts und war bis auf wenige personelle Ausnahmen bis Anfang April 2011 im Amt.[29] Bashar besetzte sein Kabinett äußerst reformorientiert, insbesondere in den Bereichen Wirtschaft, Technologie und Bildung. Die Mitglieder des neu eingesetzten Reformteams - gerne „Bashars Technokraten" (PERTHES 2002, S. 158) genannt - zeichneten sich vor allem durch ihre internationale Orientierung aus, da sie im europäischen und US-amerikanischen Ausland meist Ingenieurs- oder Wirtschaftswissenschaften studiert hatten. Erwähnenswert ist darüber hinaus, dass einige Minister des zweiten Kabinetts von Bashar keine Mitglieder der Baath-Partei waren. Dagegen waren drei Minister Mitglieder der Syrian Computer Society (vgl. LESCH 2005, S. 74). Weitere Kabinettsmitglieder wurden aus dem Sicherheitsapparat oder aus den staatlichen und öffentlichen Beamtenapparaten rekrutiert. Mit dem Ausscheiden von Vizepräsident Khaddam im Jahr 2006 hatte Bashar die „alte Garde" seines Vaters nahezu komplett gegen die von ihm selbst eingesetzte „neue Garde" ausgetauscht.

Assad versprach sich von den personellen Veränderungen innerhalb der Regierung vor allem weitreichende und dringend notwendige wirtschaftliche Reformen. Erstaunlich ist jedoch, dass Bashar al-Assad in seinen ersten fünf Amtsjahren kaum „eigenes Personal" auf die wichtigen Kabinettsposten setzte. Die reformorientierte Ausrichtung des Kabinetts und die gleichzeitige Fortführung der Personalpolitik seines Vaters schienen ihm zunächst wichtiger als der Ausbau der eigenen Machtposition. Assad lief dadurch allerdings Gefahr, zur Marionette von Technokraten auf der einen Seite und der „alten Garde" auf der anderen Seite zu werden. Erst Mitte des Jahres 2005, also nach mehr als fünf Jahren im Amt, gelang es dem jungen Präsidenten durch den gezielten Einsatz eigener Vertrauenspersonen auch seine persönlichen Machtinteressen sowohl gegenüber den jungen und reformwilligen Technokraten als auch gegenüber der konservativen „alten Schule" durchzusetzen und damit seine Position als Regierungschef im Machtzentrum Syriens zu konsolidieren. Der machtpolitische Einfluss der Regierung als Kollektivakteur ist seit dem Amtsantritt von Bashar al-Assad stark gestiegen, da Assad die neu besetzten Ministerposten mit einem größeren Verantwortungsbereich ausstattete.

Das syrische Parlament hingegen spielt lediglich eine marginale Rolle in politischen Entscheidungsprozessen des Staates und kann daher nicht zur PRE Syriens gezählt werden. Zwar sind seit 1990 etwa ein Drittel der Parlamentssitze für unabhängige, also nicht der Fraktion der Baath-Partei angehörende, Kandidaten wie Unternehmer, Intellektuelle und Stammesführer reserviert; jedoch sind die Abgeordneten politisch völlig unbedeutend. Als Rekrutierungspool für das politisch-administrative Führungspersonal kommt das syrische Parlament demnach nicht in Frage.

[...]


[1] Eine eher oberflächliche komparative Untersuchung kann der Einzigartigkeit und Komplexität der syrischen Machtverhältnisse nicht gerecht werden. Eine differenzierte Vergleichsstudie wiederum würde den Rahmen dieser Masterarbeit sprengen. Volker Perthes bietet mit seinem Buch „Der Aufstand - Die arabische Revolution und ihre Folgen" (2011) einen ersten Ansatz für eine Vergleichsstudie der aktuellen Veränderungen in der arabischen Welt.

[2] Die geografische Bezeichnung Levante umfasst im engeren Sinne Küsten und Hinterland der Anrainerstaaten der östlichen Mittelmeerküste, also die heutigen Staaten Syrien, Libanon, Israel,

Jordanien sowie die palästinensischen Autonomiegebiete (siehe hierzu ausführlich: WIELAND 2011 [3]).

[3] Eine Definition der Begriffe „Transformation" und „Transition" ist unter anderem zu finden in: MERKEL 2010, S. 66.

[4] Die Begriffe Stabilität und Dauerhaftigkeit sind nicht synonym (vgl. SLUGLETT 2007). Die korrekten Begriffe für die Zusammenhänge dieser Untersuchung sind die Begriffe der Dauerhaftigkeit bzw. Langlebigkeit oder auch Robustheit (zur formalen Unterscheidung siehe: SCHLUMBERGER 2011).

[5] Auf eine klare Abgrenzung der Begriffe „Transformation" und „Transition" wird hier verzichtet. Die Begriffe werden hier synonym verwendet (eine Differenzierung dieser Begriffe liefert u.a.: MERKEL 2010,

S. 66).

[6] Das Phänomen des Elitenwandels in der arabischen Welt zu Beginn des neuen 2. Jahrtausend wurde weder im Bereich der Transformationsforschung noch in der Elitenforschung konkret thematisiert. Volker Perthes versucht, diese erkenntnistheoretische Lücke mit seinem Werk „Arab Elites - Negotiating the Politics of Change" (2004) zumindest ansatzweise zu schließen, indem er einschlägige wissenschaftstheoretische Erkenntnisse speziell für den einzigartigen arabischen Raum liefert.

[7] Der Rolle von Eliten kommt insbesondere in der nordamerikanischen Transformations- und Elitenforschung eine herausragende Bedeutung zu (vgl. MERKEL 2010, S. 90).

[8] Eine nicht zwangsläufig hinreichende Voraussetzung, da die aus der modernen Transformationstheorie bekannten Variablen wie strukturelle Gegebenheiten, kulturelle Einflüsse, sozioökonomische Entwicklungen und das regionale bzw. internationale Umfeld sowie deren Wechselwirkungen für Beginn und Verlauf von Transformationsprozessen ebenfalls berücksichtigt werden müssen.

[9] Die von Merkel aufgezählten möglichen Verlaufsformen für einen Systemwechsel werden hier - mit geringen Einschränkungen - analog für die Möglichkeiten eines grundlegenden Elitenwandels verwendet. Die Analogie scheint hier sinnvoll, da ein „echter" Elitenwandel - so wie er für diese Arbeit definiert wurde - der Definition eines Systemwechsels sehr nahe kommt. Zur Definition und Abgrenzung der Begriffe „Regimewandel" und „Systemwandel" sowie „Regimewechsel" und „Systemwechsel" siehe: Merkel 2010,

S.65/66.

[10] Im Fall von Tunesien und Ägypten füllte zunächst das Militär das drohende Machtvakuum.

[11] Die Akteure „Opposition" und „Masse" werden getrennt voneinander analysiert, da es sich um zwei unterschiedliche Akteure mit je eigenen Interessen und Zielen handelt, die nicht zwangsläufig eine Einheit bilden und häufig als voneinander völlig unabhängige Kräfte agieren. Insbesondere im konkreten Fall Syrien fehlt es an einer echten Anbindung der Demonstranten an die politische Opposition.

[12] Die spieltheoretischen Überlegungen basieren auf den Erkenntnissen des sogenannten Rational-Choice- Ansatzes, der im Rahmen der akteursorientierten Transitionstheorie die Argumentation verfolgt, dass Transformationsprozesse das Resultat rational handelnder Akteure darstellen.

[13] Unabhängige Journalisten sollen bereits vor mehreren Monaten herausgefunden haben, dass die Berichte aus dem Londoner Büro mehr als fragwürdig sind, darunter der US-Journalist und Historiker Webster Tarpley und der französische Journalist Thierry Meyssan (vgl. u.a. Herman 2011).

[14] Verwendet wurden analytische Studien von z.B.: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), International Crisis Group (ICG), Informationsprojekt Naher und Mittlerer Osten (INAMO) und Foreign Affaires.

[15] Da die mediale Berichterstattung innerhalb Syriens streng zensiert ist und regimekritisch in Erscheinung tretenden syrischen Journalisten Gefängnis und Folter droht, wird Kritik am Regime bevorzugt über anonyme Blogs im Internet (z.B. Facebook und Twitter) verbreitet. Die Stimmung im Land wird derzeit aber auch verstärkt in Form von Karikaturen - beispielsweise von Ali Ferzat oder Yahia al-Silo - wiedergegeben.

[16] Laut Artikel 3 der syrischen Verfassung ist die Scharia als Hauptquelle der Gesetzgebung die Rechtsgrundlage der Verfassung. (Die syrische Verfassung ist in englischer Sprache verfügbar unter: http://www.servat.unibe.ch/ law/icl/sy00000_.html)

[17] Der Präsident muss muslimischen Glaubens sein und seit dem Amtsantritt von Bashar al-Assad mindestens 34 Jahre als sein (Das Mindestalter betrug vorher: 40 Jahre).

[18] Die offizielle syrische Parteienlandschaft besteht, neben der herrschenden Baath-Partei, lediglich aus kleineren, politisch unbedeutenden und regierungstreuen Parteien, die als Blockparteien mit der Baath- Partei zur Koalition der „Progressiven Nationalen Front" zusammengeschlossen sind. Hierzu gehören:

Arabische Sozialistische Partei, Arabische Sozialistische Union, Arabische Sozialistische Einheitsbewegung, Kommunistische Partei Syriens, Syrisch-Arabische Sozialistische Union, Vereinigte Sozialistisch­Demokratische Partei, Arabische Demokratische Union, „Nationaler Pakt", Syrische Sozialistische Nationalpartei.

[19] In Anlehnung an Max Webers Patrimonialismuskonzept (vgl. u.a. WEBER, Max 2009: Wirtschaft und Gesellschaft - Herrschaft, Tübingen.)

[20] Oppositionelle Akteure spielen in der Politik Syriens dagegen keine erwähnenswerte Rolle. Konzeptionell wird die Opposition eines Landes zwar zur PRE gezählt (vgl. Konzept der PRE nach PERTHES 2002 und 2004 [1]). In Syrien bewegt sich die politisch kaum präsente Opposition allerdings eindeutig außerhalb des Elitenkreises und wird daher an dieser Stelle nicht als politisch relevanter Akteur berücksichtigt.

[21] Darüber hinaus hat der syrische Präsident noch einige Ämter von geringerer Bedeutung inne.

[22] Asma al-Assad wuchs in England als Kind einer wohlhabenden Arztfamilie auf und arbeitete im Bankensektor, bevor sie 2001 den Präsidenten heiratete. Bei den seltenen Auftritten des Staatschefs in der Öffentlichkeit steht Asma stets an der Seite ihres Mannes. (vgl. DAOUD 2006)

[23] Im Jahre 1989 zählte er zu den Mitbegründern der Syrian Computer Society und wurde schließlich deren Vorsitzender.

[24] Nähere Informationen zur Person Bashar al-Assad unter: http://www.whoswho.de/templ/ te_bio.php?PID=1837&RID=1

[25] Maher wird auch verdächtigt, bei der Ermordung des früheren libanesischen Staatspräsidenten Rafiq Hariri 2005 seine Hände im Spiel gehabt zu haben (vgl. HERMANN 2012 [1]).

[26] Bushra al-Assad meidet zwar die Öffentlichkeit, doch "her behind-the-scenes political influence has been decisive at times" (DAOUD 2006).

[27] Muhammad Makhlouf (alias Abu Rami) galt lange als „graue Eminenz" mit weitreichendem Einfluss auf strategische Grundsatzentscheidungen (vgl. HERMANN 2012 [1]). Er ist der Bruder von Hafez al-Assads Frau Anisa Makhlouf, d.h. ein Onkel mütterlicherseits von Bashar al-Assad.

[28] Tlass ging auf eigenen Wunsch mit 72 Jahren in den Ruhestand (vgl. PERTHES 2002, S. 158).

[29] Im April 2011 trat Premierminister al-Otri infolge des aufkeimenden Volksaufstands in Syrien zurück. Das Regierungskabinett wurde daraufhin neu besetzt und teilweise umstrukturiert. Neuer Ministerpräsident wurde Adel Safar.

Ende der Leseprobe aus 124 Seiten

Details

Titel
Elitenwandel in Syrien: Wie Bashar al-Assad sein Image als Reformer verspielte
Hochschule
FernUniversität Hagen
Veranstaltung
M.A. Governance
Note
1,5
Autor
Jahr
2012
Seiten
124
Katalognummer
V198248
ISBN (eBook)
9783656245773
ISBN (Buch)
9783656246312
Dateigröße
5854 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Syrien, Eliten, Elitenwandel, Regimewandel, Assad, Demokratisierung, Arabische Welt, Arabischer Frühling, Revolution, Transformation, Transformationstheorie, Autoritarismustheorie, Akteurstheorie, Politisch Relevante Elite, Neopatrimonialismus, Systemwechsel
Arbeit zitieren
Stephanie Marsing (Autor:in), 2012, Elitenwandel in Syrien: Wie Bashar al-Assad sein Image als Reformer verspielte, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/198248

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