Leseprobe
1 Vorbemerkung
1.1 Zur Stellung des Texts im Gesamtwerk
Das vorliegende Papier unternimmt die Besprechung der Kapitel IV und V der »Logik der Forschung«, d. h. der eigentlichen Darlegung des Falsifikationismus.
Nachdem Popper die erkenntnistheoretische und methodologische Problemlage in den Kapiteln I bis II dargestellt und in Kapitel III seinen Theorienbegriff dargelegt hat, wird hier erläutert, worauf sich die Gültigkeit einer Theorie überhaupt beziehe und wann sie zu enden habe. Gegenstand dieser Kapitel sind somit die Falsifizierbarkeit von Theorien (Kapitel IV) und die Basiss ätze (Kapitel V), auf denen der Wissenschaftsbetrieb, wie ihn Popper skizziert, zu ruhen hat.
Die weiteren Kapitel befassen sich mit handwerklichen Details: Kapitel VI und VII diskutieren Metriken für falsifikationistische Prüfbarkeit und Einfachheit von Theorien; Kapitel VIII beschäftigt sich, ausgehend von dem Problem, Wahrscheinlichkeitsaussagen falsifizierbar zu machen, raumgreifend mit Wahrscheinlichkeitstheorie, und Kapitel IX versucht, die gewonnenen Erkenntnisse auf die Quantenmechanik anzuwenden. In Kapitel X endlich wird das Konzept der graduellen Bewährung geschildert, das an Stelle der Verifizierung tritt, die nach falsifikationistischer Lehre nicht möglich ist.2
1.2 Zur Vorgehensweise
Die Reihenfolge, in der die besprochenenen Paragraphen im Text erscheinen, erscheint mir streckenweise nicht unbedingt als die methodisch sinnvollste. Ich habe daher entschieden, die Besprechung des Textes nicht an dieser Abfolge entlang, sondern auf andere Weise zu ordnen. Nach Poppers kritischer Stellungnahme zu anderen Ansätzen als seinem eigenen sollen also seine Falsifizierbar- keitslehre und endlich sein Basissatzbegriff besprochen werden.
Der für eine Referatsverschriftlichung relativ große Umfang der Arbeit ist mehreren Gründen geschuldet: Einmal habe ich es unternommen, die von Popper im Text nur sprachlich beschriebenen Visualisierungen als Zeichnungen wiederzugeben; zum andern entstand diese Arbeit parallel zu einer weiteren Referatsverschriftlichung über die Philosophie Hugo Dinglers3, wobei ich nicht umhin konnte, diverse Querbezüge zu be- und anzumerken. Zum dritten halte ich an der behandelten Strecke aus dem Text Poppers erhebliche Kritik für möglich und notwendig, was zu einem vergleichsweise großen Umfang des Kritikteils (Abschnitt 3) geführt hat.
2 Argumentation Poppers
2.1 Kritik an früheren und konkurrierenden Theorien
Popper kritisiert vorausgehende und rivalisierende wissenschaftstheoretische Ansätze grundsätzlich auf zwei Ebenen: einmal auf jener der Gewinnung erster Erkenntnisse und zudem auf jener der Verarbeitung dieser Basis in einem theoretischen Überbau. Die Kritik an der Basisebene umfasst die am Psychologismus und am Protokollsatzbegriff des Wiener Kreises; die an der Verarbeitungsebene den Konventionalismus.
Der für den Psychologismus genannte Hauptvertreter ist Eries4 ; er schlägt als Alternative zum dogmatischen Aufstellen von wissenschaftlichen Sätzen und zum unendlichen Regress der Begründung solcher Sätze in immer neuen Sätzen vor, die Wissenschaft auf Erlebnissen zu gründen. Wahrnehmungs- und Überzeugungserlebnissen haben nach psychologistischer Auffassung eine Unmittelbarkeit, die ihnen ohne weitere Begründung Gültigkeit verleiht.
Für Popper ist diese Auffassung nicht tragbar, da wissenschaftliche Aussagen von Universalien handeln, die »undefinierbar, nur durch den Sprachgebrauch [festgelegt]«5 sind und sich nicht irgendwie aus Wahrnehmungserlebnissen konstituieren lassen. Die »von Theorien [durchsetzte]«6 Sprache ist von den unmittelbaren, einmaligen, in keinerlei Hinsicht universellen Wahrnehmungen durch den Graben des Induktionsproblems getrennt.
Über diesen Graben und damit über das Kernproblem des ‘naiven’ Psychologismus hinweg zu kommen, ist auch ein Anliegen des Wiener Kreises (genannte Vertreter: Neurath, Carnap, Reininger7 ). Dessen Versuch, die Wissenschaftstheorie auf eine gänzlich sprachliche bis formalsprachliche Basis zu stellen, fußt auf dem Begriff des Protokollsatzes. Die Protokollsatzlehre ist ein ‘linguistisch gewendeter’ Psychologismus, indem nun die Wissenschaften nicht mehr das Erlebnis, die Wahrnehmung, sondern die möglichst exakte sprachliche Wiedergabe von Wahrnehmungen zur Grundlage nehmen sollen. Protokollsätze (und nur diese) sollen hinfort Sätze sein, die keiner Begründung bedürfen.
Dieser Ansatz entwertet sich, indem er Protokollsätze sowohl zur Basis aller anderen Sätze als auch für revidierbar erklärt. Es ist de facto willkürlich, welche Sätze der Wissenschaftler zur Theoriebildung anerkennt und welche nicht, da er nach Neurath z.B. bei zwei widersprüchlichen Protokollsätzen die Wahl hat, eine Stützhypothese in die Theorie einzuführen, die den Widerspruch beseitigt, oder einen der Sätze schlicht zu verwerfen - aus dem Protokoll zu streichen.
Poppers vorangehende Konventionalismuskritik ist gewissermaßen redundant, da sie sich letztlich auf das gleiche Grundproblem bezieht. Als Vertreter des kritisierten Konventionalismus nennt der Autor neben Poincaré, Duhem, Eddington, Cornelius und Adjukiewicz vor allem Hugo Dingier.8 Konventionalismus wird dabei eine Auffassung genannt, die einerseits konstruktivistische (»Die Naturwissenschaft ist für den Konventionalisten (...) eine rein begriffliche Konstruktion«9 ), andererseits auch formalistische Züge trägt (»Nur von dieser Welt [d. h. der ‘künstlichen, von uns geschaffenen Begriffswelt’] spricht die Wissenschaft.«10 ). Infolgedessen sind für den Konventionalisten Naturgesetze freie Definitionen; Ziel konventionalistisch motivierten Wissenschaftsbetriebes ist Wissenschaft als vollbegründeter Aufbau11 aus solchen Definitionen.
Popper hält den Konventionalismus zwar für »in sich geschlossen und durchführbar«12 ; Problem daran sei allerdings der ihm innewohnende Systemkonservativismus, der Hang des konventionalistischen Wissenschaftlers, den sich immerhin per definitionem durch unübertreffliche Einfachheit auszeichnenden Aufbau mit allen Mitteln zu verteidigen, sei es durch ad-hoc-Hypothesen oder Verwerfen von Messungen.13 Obwohl dem Psychologismus völlig abgeneigt, gibt also auch der Konventionalismus einen Freibrief zum Streichen von Protokollsätzen. Popper fordert von der Wissenschaft jedoch die Fähigkeit, Systeme aufzugeben, um an ihrer Stelle neue, bessere errichten zu können, was durch kon- ventionalistisches Haften an der Eleganz und Einfachheit des Althergebrachten verhindert würde.
Poppers Hauptkritik gilt durchweg jeder Beliebigkeit im Umgang mit den ‘Eingabedaten’ der WTissenschaften. Dies können Erlebnisse als Erkenntnisgrundlage sein wie im Psychologismus (ob unmittelbar wie bei Eries oder sprachbe- zogen wie beim Wiener Kreis) oder aber experimentelle Messungen nicht als Aufienweltwahrnehmung, sondern als unteilbares Ganzes wie im Konventiona- lismus14 - ein Streichen oder Gültigmachen von ‘Ausreißern’ in den Meßdaten nach Augenmaß soll nicht zulässig sein.
2.2 Position des Falsifikationismus
Gegen diese Positionen setzt Popper nunmehr seinen Falsifikationismus, der sich zuallererst als eine Methode, nicht als ein Systemcharakteristikum einführt: An einem wissenschaftlichen Satzsystem lässt sich nicht immanent erkennen, ob es falsifikationistisch oder z. B. konventionafistisch ist. Falsifikationismus nennt sich eine bestimmte Art des 'Wissenschaftsbetriebes, der gekennzeichnet ist durch den »Entschluß, seine Methoden [d. h. die des Konventionalismus] nicht anzuwenden und im Falle einer Bedrohung des Systems (...) nicht unter allem Umständen das zu „... erzielen, was ‘Übereinstimmung mit der 'Wirklichkeit’ genannt wird”«15.
Statt durch ‘Kunstgriffe’ Theoriesysteme an neue Erkenntnisse anzupassen, sie zu ‘immunisieren’16, verlangt der Falsifikationismus, Theorien gegebenenfalls als falsifiziert zu erkennen, sie dann zu verwerfen und bei Zeiten durch bessere zu ersetzen. Explizit genannt werden vier zu vermeidende Kunstgriffe mit den zugehörigen Vermeidungsweisen:17
Hilfshypothesen sollen nur erlaubt sein, wenn sie den Falsifizierbarkeitsgrad des Theoriesystems18 erhöhen. Umdefinitionen von Begriffen19 sollen erlaubt sein, aber als Neubau des Systems gelten.
[...]
2 Der Löwenanteil der »Logik der Forschung«, wie sie heute erscheint, besteht darüber hinaus aus einem zwischen 1934 und 1994 entstandenen komplexen Apparat von Zusätzen, Anhängen und Anmerkungen (hierzu cf. Abschnitt 3.2).
3 Ebenfalls im Sommersemester 2003 eingereicht bei Prof. Dr. Janich.
4 Vgl. Popper, S. 60.
5 A. a. O., S. 51, Fußnote 2.
6 Vgl. a. a. O., S. 76.
7 Vgl. Popper, S. 62.
8 Vgl. a. a. Q, S. 47f.
9 A. a. 0., S. 48.
10 A. a. 0., S. 48 (Hervorhebung im Original).
11 Terminologie Dinglers, vgl. Dingler, Hugo, Die Ergreifung des Wirklichen. Kapitel I-IV. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969, S. 67, 97.
12 Popper, S. 48.
13 Vgl. a.a.O., S. 49.
14 Das Erkennen der Scheidelinie zwischen Innen und Außen, zwischen Wahrnehmung und Wahrgenommenem als menschliches Konstrukt ist der Punkt, in dem Dingier den Psychologismus überwindet (vgl. Dingler, S. 86-88).
15 Popper, S.50 (Hervorhebung im Original).
16 “Terminologie Hans Alberts; vgl. a. a.O., S.50, Fußnote *1.
17 A. a. O., S. 51.
18 “Dieser bestimmt sich, grob gesagt, nach der Mächtigkeit der Vorgangsmenge (cf. Abschnitt 2.3.1), die das System verbietet; vgl. a. a. O., S. 77-96.
19 Vgl. a.a.O., S. 42-44.
- Arbeit zitieren
- Matthias Warkus (Autor:in), 2003, Zu: Karl Popper: Logik der Forschung, Kapitel IV u. V (§§ 19-30) - Falsifizierbarkeit und Basisprobleme, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19723
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