»Irdisches Dasein uno tenore«

Untersuchung zu Søren Kierkegaards Erinnerungsbegriff


Seminararbeit, 2012

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Vor dem Trinkgelage - die »Vorerinnerung«
2.1 »WahreErinnerung«
2.2 Das»erotische Verstehen«-ExkurszuPlatons Symposion
2.3 Die Wein-Metapher

3 »Irdisches Dasein uno tenore«

4 Resümee

5 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Dem Begriff der Erinnerung (Erindring) kommt im Denken des dänischen Philosophen Soren Kierkegaard tragende Bedeutung zu. Nicht zuletzt in den Schriften Die Wiederholung (1843), verfaßt unter Verwendung des Pseudonyms Constantin Constantius, und »In vino Veritas« - »Eine Erinnerung nacherzählt von William Afham«[1] - aus den Stadien auf des Lebens Weg (1845) dient die Erinnerung als Ausgangspunkt des entwickelten Gedankengangs.

In »In vino Veritas« schreibt Kierkegaard: »Die Erinnerung wird einem Menschen den ewigen Zusammenhang im Leben bewahren und ihm sicherstellen, daß sein Leben uno tenore wird, ein einziger Atemzug [,..].«[2] Und auch in der Wiederholung weist er auf die elementare Wichtigkeit der Erinnerung hin: »Hat man die Kategorie der Erinnerung [...] nicht, dann löst sich das ganze Leben in einen leeren und inhaltslosen Lärm auf.«[3] Beide Bestimmungen deuten darauf hin, daß der Erinnerung etwas Einheits- bzw. Identitätsstiftendes im Leben eines Individuums zukommt.

Um zu verstehen, warum und wie die Erinnerung den Lebenszusammenhang bewahren kann, ist es nötig, einen genaueren Blick auf Kierkegaards Bestimmung des Begriffs zu werfen. Die Kierkegaard-Forschung erfreut sich zwar sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene großer Beliebtheit und hat zu bestimmten Themen etliche sehr umfassende Werke zutage befördert[4], weist andererseits jedoch in Bezug auf einige der Kierkegaardschen Schriften - etwa Stadien auf des Lebens Weg - eine eher dürftige Auseinandersetzung mit grundlegenden Begrifflichkeiten wie »Erinnerung« und »Gedächtnis« und deren Verwendung auf. Der Erinnerungsbegriff des Kierkegaardschen Symposiums soll daher in der vorliegenden Arbeit untersucht werden.

Der Kontext, in dem Kierkegaard den Begriff Erinnerung verwendet, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden, so daß die Begriffe 'Vergessen und Gedächtnis ebenfalls der Klärung bzw. der Verortung und Abgrenzung bedürfen.

2 Vor dem Trinkgelage - die »Vorerinnerung«

Kierkegaard eröffnet seine an Piatons Symposion angelehnte Schrift »In vino veritas« mit einer Art Vorwort, dessen Titel »Vorerinnerung« bereits erahnen läßt, worum es gehen soll: Seine Erzählinstanz William Afham, der am Gastmahl offenbar beobachtend teilgenommen hat, nämlich »ohne Teilnehmer zu sein«[5], macht darin einen Exkurs in die Theorie hinter dem Gastmahl, liefert eine Erinnerung von der Erinnerung.

Seinen theoretischen Exkurs beginnt er mit der rätselhaft ausgeführten und Rätsel behafteten Überlegung, es sei ein schönes Geschäft, sich eine Heimlichkeit zuzubereiten, [...] verführerisch sie zu genießen, jedoch [...] bedenklich zuweilen, sie genossen zu haben, [und] leicht, daß sie einem nicht bekommt![6] Welche Heimlichkeit das sei, enthält Kierkegaard dem Leser nicht vor: Jede wahre Erinnerung ist eine Heimlichkeit, insofern man jederzeit mit ihr allein ist.[7] Um zu verstehen, was genau damit gemeint ist, muß geklärt werden, was eine wahre bzw. »rechte Erinnerung«[8], wie Kierkegaard sie nennt, eigentlich sein soll.

2.1 »Wahre Erinnerung«

Kierkegaard unterscheidet die Erinnerung von schlicht im Gedächtnis Vorhandenem. »Das Gedächtnis ist lediglich eine dahinschwindende Bedingung«[9], mit deren Hilfe Erfahrungen in die Erinnerung eingehen, Erlebnisse »ver-innerlicht« werden können.[10] Die Erinnerung beinhaltet nur das Wesentliche aus dem Leben eines Individuums[11] und verhilft dem Einzelnen deshalb, sein Leben sozusagen mit dem nötigen Abstand als Ganzes nahe­bzw. klarzusehen.[12] Im Gegensatz zu im Gedächtnis Vorhandenem, auf das unmittelbar zugegriffen wird, ist das in die Erinnerung Eingegangene bereits reflektiert.[13] Durch die Reflexion des zu Verinnerlichenden gewinnt das Individuum Distanz zu einer Erfahrung, tritt gewissermaßen in ein mittelbares Verhältnis zur selben und kann daher gerade aus dieser Art »Sicherheitsabstand« einen klareren Blick darauf werfen. Oder um es mit

Blanchot zu sagen: »Sehen setzt Distanz voraus [...]. Sehen bezeichnet, daß diese Trennung dennoch Begegnung geworden ist.«[14]

Man mag sich fragen nach einer prozessualen Reihenfolge des »Erinnerung-Werdens« eines Erlebnisses. Kierkegaard gibt keine offen ersichtliche Auskunft darüber, wann über einen Gegenstand der Erinnerung reflektiert wird, also ob vor oder nach dessen Eintritt in die Erinnerung.

In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, daß die Reflexion eines Gedächtnisinhaltes als Bedingung dafür betrachtet werden kann, daß eine Erfahrung überhaupt in die Erinnerung eingehen kann. Kierkegaard scheint das vorauszusetzen, wenn er schreibt, das Gedächtnis sei »lediglich eine dahinschwindende Bedingung«[15]: Dahinschwindend sind nicht nur die Gedächtnisfertigkeiten im Laufe des Lebens[16], sondern besonders das im Gedächtnis Vorhandene, »[...] denn was man im Gedächtnis hat, das wird auch vergessen«.[17] Greift man einen Gedächtnisinhalt aber reflektierend auf, bevor er der Vergessenheit zum Opfer fällt, so wird er seinen Weg in die Erinnerung finden, denn »[m]ittels des Gedächtnisses stellt sich das Erlebte vor, um die Weihe der Erinnerung zu empfangen.«[18] Seine Antwort auf die Frage, was Heimweh sei, weist ebenfalls auf diese Abfolge des »Erinnerung­Werdens« hin, wobei hier Erinnern und Reflektieren ineinsfließen[19]: »Es ist etwas im Gedächtnis Vorhandenes, dessen man sich erinnert.«[20]

Anhand des Heimweh-Beispiels macht Kierkegaard noch deutlicher, worum es ihm geht: Auf einfache Weise wird Heimweh dadurch erzeugt, daß man fort ist. Die Kunst [der Erinnerung] wäre die, obwohl man daheim ist, Heimweh fühlen zu können.

Dazu gehört eine geübte Einbildungskraft.[21] Die Einbildungskraft, die er als Bedingung für das wahre Erinnern anführt, scheint ihrerseits zur Voraussetzung zu haben, daß man über einen verinnerlichten Gegenstand hinreichend reflektiert (hat). »Hinreichend« ist die Reflexion offenbar dann, wenn es einem gelingt, zu einer Illusion sich hin zu reflektieren, sowie sie auf sich wirken lassen zu können mit aller Macht der Illusion, obwohl man wissend ist. [...] das Allernächste von sich fort zu zaubern für die Erinnerung.[22]

Für Kierkegaard bedeutet wahres Sich-Erinnern nicht schlicht das Abrufen eines bedachten, verinnerlichten Gedächtnisinhaltes. Sich »wahrhaft er-inn-ern«[23] heißt zum einen, aus der tabula rasa eine tabula inscripta zu machen, zum anderen, etwas gewissermaßen im Geiste wiederzuerleben, erneut in die Stimmung des erinnerten Erlebnisses zu kommen und dabei - wohl aufgrund der Intensität - sein aktuales Umfeld ausblenden zu können. Das erfordert nicht nur zuallererst Reflexion und Einbildungskraft, sondern auch »Kenntnis von den Gegensätzen der Stimmungen, Situationen, Umgebungen«.[24] So lasse sich eine Begebenheit, in der ländliche Abgeschiedenheit die Pointe gewesen sei, in einer Umgebung wie dem Theater besonders gut erinnern, in der das unruhige Umfeld und der Lärm einen Kontrast zum zu erinnernden Erlebnis bilde.[25] Genau dies führt der sich des Gastmahls erinnernde Afham vor, der »das Getöse der Festlichkeit, des Champagners schäumende Lust« in sich wiederauferstehen läßt in »des Waldes Einsamkeit«[26]. Denn die Erinnerung verlangt »nach einem Gegensatz, der nicht phantastisch ist«.[27]

2.2 Das »erotische Verstehen« - Exkurs zu Piatons Symposion

Eine weitere Bedingung für das 'wahre Erinnern führt Kierkegaard in diesem Kontext an, ohne diese näher zu erläutern: ein »erotisches Verstehen der Erinnerung«[28]. Daß damit eine erotische Stimmung im modernen Verständnis von Erotik gemeint ist, läßt sich ausschließen. Vielmehr scheint Kierkegaard seinen Begriff von Erotik dem Symposion Piatons zu entlehnen, das ihm zur Abfassung seiner Schrift »In vino Veritas« nicht nur als gewissermaßen strukturelle Vorlage diente - handelt das Gastmahl doch nicht zuletzt von Eros, Erkenntnisgewinn und dem Wesentlichen im Leben des Menschen.

[...]


[1] Kierkegaard, Seren: Stadien auf des Lebens Weg. Bd. 1. In: Gesammelte Werke, Abt. 15. Hrsg. von Hirsch, Emanuel und Hayo Gerdes. 3. Aufl. Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus Mohn 1998 (=GTB Siebenstern; 610).

[2] Kierkegaard, S.: Stadien. S. 10.

[3] Kierkegaard, Soren: Die Wiederholung. In: Die Krankheit zum Tode. Furcht und Zittern. Die Wiederholung. DerBegriff der Angst. Hrsg. vonDiem, Hermannund WalterRest. 3. Auflage. München: Deutscher Taschenbuch Verlag2010. S. 352.

[4] Z.B.zu Soren Kierkegaards Die Wiederholung: Glöckner, Dorothea: Kierkegaards Begriff der Wieder­holung: Eine Studie zu seinemFreiheitsverständnis. Berlin/New York: de Gruyter 1998 (Kierkegaard studies: Monograph series; Vol. 3); Eriksen, Niels Nymann: Kierkegaard's Category ofRepetition: a reconstruction. Berlin/New York: de Gruyter 2000 (Kierkegaard studies: Monograph series; Vol. 5).

[5] Kierkegaard, S.: Stadien. S.16.

[6] Ebd. S. 9.

[7] Vgl. ebd. S. 15.

[8] Ebd. S. 9.

[9] Ebd. S. 9.

[10] Vgl. ebd. S. 9-10.

[11] Vgl. ebd. S. 12.

[12] Vgl. ebd. S. 10.

[13] Vgl. ebd. S. 13.

[14] Blanchot, Maurice: Die wesentliche Einsamkeit. Nachdruck. Übers, und hrsg. von Gerd Henninger. Berlin: Karl H. Henssel Verlag 1984. (=Das neue Lot, Bd. 1). S. 27.

[15] Kierkegaard, S.: Stadien. S.9.

[16] Vgl. ebd. S. 10: »Der Greis verliert das Gedächtnis, welches überhaupt diejenige Fähigkeit ist, die man zuerst verliert.«

[17] Ebd. S. 11.

[18] Ebd. S. 9-10.

[19] Das Ineinssetzen von Erinnern und Reflektieren ergibt durchaus Sinn im Hinblick auf zukünftiges Erinnern einer Sache nach deren Eingang in die Erinnerung, da beijeder erneuten Erinnerung des Verinnerlichten dieses auch wiederholt reflektiert wird.

[20] Kierkegaard, S.: Stadien. S. 13.

[21] Ebd. S. 13.

[22] Kierkegaard, S.: Stadien. S. 13.

[23] Ebd. S. 13.

[24] Ebd. S. 13.

[25] Vgl. ebd. S. 13.

[26] Ebd. S. 16.

[27] Ebd. S. 16.

[28] Ebd. S. 16.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
»Irdisches Dasein uno tenore«
Untertitel
Untersuchung zu Søren Kierkegaards Erinnerungsbegriff
Hochschule
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg  (Seminar für Philosophie)
Veranstaltung
Theorien der Erinnerung
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
16
Katalognummer
V197121
ISBN (eBook)
9783656233749
Dateigröße
507 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
dasein, untersuchung, søren, kierkegaards, erinnerungsbegriff
Arbeit zitieren
Melanie Zimmermann (Autor:in), 2012, »Irdisches Dasein uno tenore«, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/197121

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