Die Novellen Pirandellos zwischen Verismus und Surrealismus


Hausarbeit, 2012

18 Seiten


Leseprobe


1. Einleitung

In seinem Testament Mie ultime volontàda rispettare äußert Luigi Pirandello den Wunsch, nach seinem Ableben verbrannt zu werden. Die Asche soll „in alle Winde zerstreut“ werden um sicher zu gehen, dass nichts von seinem leblosen Körper bestehen bleibt.1 Vom Beginn seines Lebens in dem kleinen sizilianischen Dorf „Caos“, über die zahlreichen Novellen- und Theaterkonzeptionen bis hin zu diesem letzten Wunsch zieht sich ein Widerwille am Materiellen und Eingrenzenden wie ein roter Faden durch das Leben Pirandellos.2

Die Figuren seiner Novellen und Romane leben oftmals in konfliktreichem Widerstreit der zwei Lebens-Pole vita und forma. Vita stellt hier das fließende, sich ständig verändernde Leben dar, dass, der Seele gleich, nicht aus einer Identität, einem Ich besteht, sondern derer unzählige hat. Die vita kann nur in Verbindung mit ihrer Antipode - der forma existieren. Sie ist das Gegenständliche, Dinghafte, welches dem Lebensfluss stetig eine Fassung geben will, um dessen sprudelnde Kräfte zu zähmen und dingfest zu machen. Die Protagonisten in Pirandellos Erzählungen leiden unter diesem Kampf und versuchen, diesem Dualismus zu entfliehen, sei es in eine andere Identität oder an einen anderen Ort (wie am Beispiel des Mattia Pascal). Dass der Konflikt nicht aufzulösen ist, erfahren sie zuletzt am eigenen Leib und so bleibt den Leidenden oft nur der Weg in die Selbstauflösung, in den Tod.

Die Menschen geben ihrer Außenwelt feste Formen um sie zu erfassen, sie definierbar zu machen und bestenfalls, um sie zu verstehen. Die Gesellschafts- und Sozialstrukturen folgen hierarchischen Gesetzen, die jedem Einzelnen einen festen Platz im Gefüge zusichern. Analog zu diesen Vorgängen ist jede Wissenschaft in klar umschriebene Zweige unterteilt. Die Geschichtswissenschaft markiert unterschiedliche, charakteristische Perioden um überhaupt "Geschichte" zum Gegenstand ihrer Betrachtung machen zu können. Literaturgeschichtlich äußert sich dieses Phänomen in Epocheneinteilungen. Dass Goethe und Schiller gemeinsam über den Sturm und Drang die Deutsche Klassik begründet haben, Marinetti Futurist und Breton Surrealist war, steht außer Frage. Mit Pirandello jedoch tut sich die Literatur- gemeinschaft schwer. Trotz der konstanten Hauptthematiken - der Identitätsproblematik, der sozialen Determination, dem Traumhaften und Wahnhaften, unterscheiden sich frühes und spätes Werk. Die anfangs eher veristisch anmutenden Erzählungen, die von einem distanzierten Erzähler objektiv wiedergegeben werden, formen sich mehr und mehr zu losen Assoziationsketten oder zusammengefügten Fragmenten ohne Personenmarkierungen und Handlungsstrang, was wiederum Parallelen zur ecriture automatique des Surrealismus aufweist. Oft fällt das Wort "Moderne", wobei Pirandellos Werk anhand kafkaesker, nietzscheanischer und freudscher Ansätze beschrieben wird.3

Anhand zweier Novellen Pirandellos, einer aus seinem frühen Werk, einer anderen aus den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts, soll hier die unterschiedliche Darstellungsweise seiner Poetik beschrieben und mit Hilfe des direkten Vergleichs mit einem zeitgenössischen Text eine Annäherung an die Problematik des Einordnens gewagt werden. Es stellt sich die Frage, ob Pirandello, wenn nicht im Leben, so doch in seiner Kunst das Ideal der Auflösung von vita und forma erreicht haben könnte, in dem sein Werk bis heute uneinordbar geblieben ist, sich der Defintionen und der "Ismen" entledigt zeigt, um formlos mit allen Strömungen zu fließen und mit allen Winden zu segeln.

2. Verga und Pirandello - Ein Vergleich

Die Zeitgenossen Verga und Pirandello waren beide eng mit ihrer sizilianischen Heimat verbunden. Auch wenn Ersterer vorrangig vom gesellschaftlichen Aufstieg und Fall des Menschen und Pirandello eher von den inneren, nicht sichtbaren Konflikten berichtete, beschäftigen sich beide auf ihre Art immer auch mit den existenziellen Grundfragen, wie der Schwierigkeit des Sich-Verständigens, der Gesellschaft als festem Gefüge und dem Streben des Menschen nach Selbstbestimmung. Oftmals entfaltet sich die Handlung im Rahmen eines bestimmten Milieus, das den Einzelnen als festes Glied einer Kette beschreibt. Das soziale Geflecht wird in den Erzählungen Pirandellos und Vergas oftmals selbst zum Protagonisten, indem es sich als ein übergeordnetes System, als eine Art Sicherheitsnetz über den Menschen zieht, ihm einen Platz zuordnet und gleichfalls dem, der versucht, aus ebendiesen Fäden zu entkommen, in chaotische Orientierungslosigkeit entlässt.

Im Hinblick auf die Ausgangsfrage sollen hier die Novellen Vergas und Pirandellos anhand zweier Beispieltexte miteinander verglichen werden. Die Dialektik von gesellschaftlicher Determination und individueller Selbstbestimmung beschäftigte nicht nur die Literaten um die Jahrhundertwende. Auch heute ist dieses Thema aktuell, vielleicht sogar aktueller denn je. Was geschieht, wenn wir uns abwenden, wenn wir dem uns zugewiesenen Platz den Rücken kehren? Ist es möglich einen anderen Platz zu finden, draußen, im Freien? Oder erliegen wir am Ende doch nur der eigenen Illusion von der Möglichkeit eines mündigen Lebens aus sich selbst heraus?

Die Literatur des Naturalismus4 hat sich zum Ziel gesetzt, von einer rein objektiven, kommentarlosen Perspektive ein genaues Abbild der Wirklichkeit zu geben. Durch den Willen zur genauen Darstellung, öffnet sich dem Leser eine Art Fotografie des gesellschaftlichen Lebens jener Zeit.5 In Italien war es vor allem Giovanni Verga, der uns ohne jeglichen Pathos das Streben und das Scheitern der Figuren am Leben in nüchterner, wertungsfreier Erzählweise vor Augen geführt hat.

2.1 Der Weg nach unten - Rosso Malpelo

Betrachten wir zuerst Giovanni Verga und seine 1880 in der Vita dei Campi erschienene Novelle vom Rosso Malpelo. Die Erzählung beschreibt das Leben eines alterlosen Steinbrucharbeiters auf Sizilien. Rosso Malpelo wird er gerufen - der Rotfuchs. Hässlich, finster, mürrisch und rothaarig scheint jener sich diesen Spitznamen durch sein äußeres Erscheinungsbild wie auch durch seine inneren Wesenszüge verdient zu haben: „ Malpelo si chiamava cos ì perch é aveva i capelli rossi; ed aveva i capelli rossi perch é era un ragazzo malizioso e cattivo, che prometteva di riescire un fior di birbone. Sicch é tutti alla cava della rena rossa lo chiamavano Malpelo [...] ” 6. (RM7, S. 222) Schon diese Motivführung in der Exposition markiert einen wichtigen Charakterzug der veristischen Literatur. Gleich zu Beginn wird eine Kette von sich bedingenden Fakten beschrieben, die einen Anspruch auf Schlüssigkeit erhebt, einer naturwissenschaftlichen Beweisführung ähnlich. Die Namens- gebung folgt dem Prinzip von Ursache und Wirkung, die inneren Charakterzüge dienen als Begründung für das äußere Erscheinungsbild - da er ein hinterhältiger Junge ist, hat er rote Haare, und weil er rote Haare hat, wird er "Rotfuchs" genannt. Die Begründung ist verwirrend und bei genauer Betrachtung nicht zufriedenstellend, da der Leser trotzdem nicht nach- vollziehen kann, ob dem Jungen, da er ein Halunke war, der Spitzname gegeben wurde, oder aber, ob jener Rotfuchs sich erst im Laufe der Zeit und unter Einfluss der Arbeitergemeinschaft zu einem solchen entwickelt hat.

Seinen Vater verliert Malpelo bei einem Grubenunglück. Er selbst überlebt, was sich die anderen Arbeiter, die ihn Stunden später an der Unglücksstelle auffinden, nur dadurch erklären können, dass er eben ein Rotfuchs ist, dessen natürlicher Lebensraum sein unterirdischer Bau ist. Das Bild des Malpelo, der mit blutigen Händen nach seinem Vater gräbt, lässt die näher tretenden Grubenarbeiter an eine tollwütige Bestie denken: „ [...] quando si accostarono col lume, gli videro tal viso stravolto, e tali occhiacci invetrati, e la schiuma alla bocca da far paura [ … ] ” . (RM, S. 231) Durch die chorale Erzähltechnik, bei der sich die Stimme des Erzählers teilweise mit den Stimmen des Volkes vermischt, wie auch durch häufige Tieranalogien („ [...] come un cane arrabiato [...] “ (RM, S. 231)) entsteht oftmals der Eindruck, es sei eher von einem Tier die Rede, als von einem Menschen.

„ Non si lamentava però, e si vendicava di soppiatto, a tradimento, con qualche tiro di quelli che sembrava ci avesse messo la coda il diavolo: perciòe si pigliava sempre i castighi, anche quando il colpevole non era stato lui. Giàse non era stato lui sarebbe stato capace di esserlo, e non si giustificava mai: [ … ] A che giova? Sono malpelo! ”

(RM, S. 238)

Auch wenn sich manchmal Malpelos Widerwillen, den ihm von der Außenwelt auferlegten Platz einzunehmen, in Streichen und kleinen Racheakten offenbart, zeigt er sich dennoch resignierend im Angesicht der festgelegten Arbeiterhierarchie. Er hat seine Rolle, die ihm von außen auferlegt wurde, akzeptiert und er spielt sie gut.

Es wird eine weitere Figur eingeführt, welche sich als eine Art Kontrafigur zum Rotfuchs zeigt. Ranocchio ist ein schwacher Jüngling, der erst seit kurzem in der Grube arbeitet. Auch hier umschreibt der Name die Charaktereigenschaften und das Aussehen der Figur. Durch eine Verletzung am Bein hinkt er beim Tragen der schweren Sandkörbe. Malpelo nimmt sich seiner an, wenn auch auf schroffe, fast gnadenlose Art. Oft schlägt er ihn und begründet darauf seine Tat mit: „ Cos ì , come ti cuoceràil dolore delle busse, imparerai a darne anche tu! ” (RM, S. 242) Trotz der Härte, die er ihm entgegen bringt, stellt diese Beziehung den einzigen wirklich menschlichen Kontakt Malpelos innerhalb der Gemeinschaft dar. Dies zeigt sich vor allem kurz vor Ranocchios Ableben. Er teilt seinen Gelderwerb mit dem Kranken und versorgt ihn mit Nahrung. Durch den Einfluss des schwachen, manchmal weinenden Jungen, zeigt sich auch in Malpelo eine menschliche Seite, die sich jedoch, durch seine Unfähigkeit, Gefühle zu zeigen, allein in seinen Handlungen äußert.

Bei einer Exkursion in das Innere des Grubenlabyrinths, mit der er allein beauftragt wird, kehrt er nicht mehr zurück. Seine Gebeine werden nicht gefunden, und die Geschichte des Rosso Malpelo wird zu einer Legende, die sich die sizilianischen Jungen noch lange erzählen werden, wenn sie die Grube auskundschaften: „ [...] [I] ragazzi della cava abbassano la voce quando parlano di lui nel sotterraneo, che hanno paura di vederselo comparire dinanzi, coi capelli rossi e gli occhiacci grigi. “ (RM, S. 261)

Wie verhält sich nun Malpelos Sicht auf die Außenwelt, die sich, fernab der Grube, im "Draußen" befindet?

„ [...] perciòodiava le notti di luna, in cui il mare formicola di scintille, e la campagna si disegna qua e làvagamente - perch é allora la sciara sembra pi ù bella e desolata.

- Per noi che siamo fatti per vivere sotterra, - pensava Malpelo, - dovrebbe essere buio sempre e da per tutto. ” (RM, S. 250)

Er weiß um die Schönheit der Mondnächte und sehnt sich insgeheim nach ihnen, doch sie sollen ihm verwehrt bleiben. Malpelo übernimmt die Meinung seiner Umwelt, zwängt sich in das Fremdbild, dass ihm die Außenwelt gegeben hat und macht es zu seinem Selbstbild. Dieses besagt, dass er kein fühlender Mensch ist, sondern ein Tier, ein Fuchs in seinem Bau, der dazu bestimmt ist, unter der Erde zu leben.

Als er sich für seine letzte Erkundungstour in die Grube bereit macht, entsinnt er sich eines Bergarbeiters, der vor einiger Zeit in die Tiefen der Höhle gedrungen ist und nicht mehr zurückkehrte: “ [...] il quale si era smarrito, da anni ed anni, e cammina e cammina ancora al buio, gridando aiuto, senza che nessuno possa udirlo. Ma non disse nulla. Del resto a che sarebbe giovato? “ (RM, S. 261) Er bereitet sich gut vor, nimmt seinen Pickel, eine Hacke und die Laterne, und als nehme er sein Schicksal widerstandslos in Kauf, macht er sich auf den Weg nach unten, um nicht mehr an die Oberfläche zurückzukehren.

[...]


1 Vgl. Lipp 2004, S. 207 f.

2 Vgl. Ebd., S. 208.

3 Siehe Lipp 2000, S. 448, 201 ff.; Martens in: Rössner 1997, S. 163 ff.

4 Anm. Da der Naturalismus eine gesamteuropäische Strömung ist, wird er an dieser Stelle analog zu dem Begriff Verismo benutzt. Der Versimo wird ausschließlich Italien zugeordnet.

5 Vgl. Burdorf 2007, S. 532 ff.

6 Anm. Die Zitate, die der Primärliteratur folgen, sind der Übersicht wegen in kursiv gesetzt.

7 [RM = Rosso Malpelo], Verga 1998.

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Novellen Pirandellos zwischen Verismus und Surrealismus
Autor
Jahr
2012
Seiten
18
Katalognummer
V197023
ISBN (eBook)
9783656230632
ISBN (Buch)
9783656231714
Dateigröße
424 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
novellen, pirandellos, verismus, surrealismus
Arbeit zitieren
Conny Dohse (Autor:in), 2012, Die Novellen Pirandellos zwischen Verismus und Surrealismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/197023

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