Der Religionsführer Louis Farrakhan als (Außen-) Politiker der USA


Magisterarbeit, 2002

102 Seiten, Note: 2-3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Nation of Islam im Kontext der afro-amerikanischen Bewegung
2.1 Grundzüge der Nation of Islam
2.1.1 Wo kommt die Nation of Islam her?
2.1.2 Wo gehört die Nation of Islam hin?
2.1.3 Religion oder Nation?
2.2 Die Nation of Islam – eine soziale Bewegung?
2.2.1 Soziale Aspekte
2.2.2 Vergleiche mit Vorläufern
2.2.2.1 Henry McNeal Turner (1834-1915)
2.2.2.2 Booker T. Washington (1856-1915)
2.2.2.3 W.E.B. Du Bois (1869-1963)
2.2.2.4 Noble Drew Ali (1866-?)
2.2.2.5 Marcus Garvey (1887-1940)
2.2.2.6 Father Divine
2.3 Die Struktur der Nation of Islam als Organisation
2.3.1 Das System Nation of Islam
2.3.2 Das Erziehungs- und Bildungssystem der Nation of Islam
2.4 Die Wurzeln der NOI
2.5 Zielgruppe und Adressaten
2.6 Grundpositionen der Nation of Islam

3 Die Ideologie der Nation of Islam
3.1 Beziehung zum amerikanischen Kapitalismus
3.2 Beziehung zur protestantischen Arbeitsethik
3.3 Beziehung zum Individualismus/Kollektivismus und schwarze Identität
3.4 Beziehung zum arabischem Islam (Sunniten, Wahhabiten, Shiiten)
3.4.1 Orthodoxer Islam
3.4.2 Sunnitischer Islam
3.5 Beziehung zu Juden
3.6 Gender – Frauen unter Männer
3.7 Beziehung zum Christentum in den USA

4 Louis Farrakhan und der Islam
4.1 Der Redner Louis Farrakhan
4.1.1 Seine Herkunft
4.1.2 Sein Charakter
4.1.3 Seine Reden am Beispiel Saviour’s Day Speech 1996
4.2 Die Attraktivität der Nation of Islam
4.2.1 Farrakhans Wirkung auf seine Adressaten
4.2.2 Die Gefängnisreform der Nation of Islam
4.2.3 Farrakhans Wirkung auf Jugendliche
4.2.4 Die Popularität der Nation of Islam
4.3 Der Aufstieg Farrakhans zum Religionsführer
4.4 Das Dilemma Louis Farrakhan
4.5 Louis Farrakhans innere Einstellung
4.6 Die Entwicklung Louis Farrakhans in der Nation of Islam

5 Louis Farrakhan als Politiker der USA
5.1 Farrakhans „Außenpolitik“
5.2 Farrakhans pragmatischen Ziele
5.2.1 Das Programm „P.O.W.E.R.“
5.2.2 Die Armee „Fruit of Islam” F.O.I
5.2.3 Der „Million Man March“ 1995
5.2.4 Die HipHop- und Rap-Musik als Sprachrohr Farrakhans
5.2.5 Die Zeitschrift „The Final Call“
5.3 Farrakhans Mittel
5.3.1 Auseinandersetzung mit der Geschichte der USA
5.3.2 Kritik an der US-amerikanischen Regierung
5.3.3 Unterstützung für Jesse Jackson
5.4 Farrakhans Umgang mit den Medien
5.5 Instrumentalisierung außenpolitischer Aktionen für innenpolitische Ziele
5.5.1 Kontakte nach Libyen
5.5.2 World Friendship Tour und andere Reisen
5.6 Reaktion in den USA auf ihn

6 Schluss

7 Literaturverzeichnis

8 Anhang

1. Einleitung

Die Idee für diese Arbeit entstand nach der Belegung eines Hauptseminars mit dem Titel: „Mormonen, Mennoniten, Moslems – ausgewählte Kapitel zur Geschichte der Religionen in Nordamerika“ am Amerika-Institut der LMU München.

Angetrieben von der Neugier, mehr über die Nation of Islam und Louis Farrakhan als Religionsführer erfahren zu wollen, ging die Autorin der Frage nach, wer dieser Mensch ist, dem vorgeworfen wird, ein Rassist zu sein, und was hinter der Nation of Islam genauer steckt. Darüber hinaus wurde zum einen Louis Farrakhans Rolle als Religionsführer genauer untersucht, zum anderen seine Rolle als Außenpolitiker der USA analysiert.

Die Arbeit gliedert sich insgesamt, neben der Einleitung und einem Ausblick am Ende, in vier große Kapitel. Nach einer Beschreibung der Nation of Islam und ihre Einordnung im Kontext der afroamerikanischen Bewegung folgt in Kapitel 3 eine Untersuchung der Ideologie der Nation of Islam. Kapitel 2 und 3 haben das Ziel, darzustellen, welche Entwicklung die Nation of Islam seit ihrem Bestehen durchgemacht hat und wo sie heute steht. In den anschließenden Kapiteln 4 und 5 geht es um Louis Farrakhan selbst, wobei zunächst seine Karriere innerhalb der Organisation erörtert wird und dann seine Funktion als inoffizieller Politiker der USA beleuchtet wird.

Bei den Recherchen in deutschen Bibliotheken hat sich herausgestellt, dass Louis Farrakhan in deutscher Literatur kaum Beachtung geschenkt wird. Allerdings stieß die Autorin auf einen deutschen Journalisten, der im Auftrag des SPIEGELS innerhalb von zehn Jahren das Glück hatte, Farrakhan persönlich sprechen zu können. Das Ergebnis waren zwei Artikel, die in der Zeitschrift erschienen sind sowie ein Buch, in dem der Autor seine Beobachtungen und sein Wissen über den Religionsführer genauer beschreibt.

Diese Magisterarbeit zieht fast ausschließlich englischsprachige Quellen heran: von Büchern und Zeitungsartikeln, sowohl Primär- als auch Sekundärliteratur, bis hin zu Internetrecherchen.

An einigen Stellen der Arbeit werden Begriffe der Nation of Islam und der Schwarzenbewegung verwendet, die nicht übersetzt sind. Dies geschieht vor allem dann, wenn ihre Übersetzung für wenig aussagekräftig gehalten wird oder die Worte als Eigennamen zu verstehen sind. Die Abkürzung NOI steht für Nation of Islam.

2. Die Nation of Islam im Kontext der afroamerikanischen Bewegung

2.1 Grundzüge der Nation of Islam

2.1.1 Wo kommt die Nation of Islam her?

Im Zuge der Migration vom Süden der USA in den Norden des Landes nach der Abschaffung der Sklaverei sahen sich Afroamerikaner gezwungen, mit Weißen um bestehende Arbeitsplätze zu konkurrieren. Sie waren einer Konkurrenz ausgesetzt, die sie bis dato nie kennen gelernt hatten. Dem Kampf um Arbeitsplätze schloss sich ein Kampf um Wohnungen an, und Immigranten wie Migranten fanden sich in den Slumgebieten der Städte des Nordens wieder.

In der neuen Welt der modernen Städte gingen Familientraditionen und sozialer Status der Lebensgemeinschaften, wie sie im relativ einfachen und ländlichen Süden praktiziert wurden, verloren (Frazier, S. 363ff.). Frazier erkannte bereits in den 1940er Jahren, dass der Prozess der Assimilierung der Afroamerikaner an das weiße Amerika davon abhing, inwiefern sie in die wirtschaftliche Organisation integriert werden und am täglichen Leben der Gesellschaft teilhaben werden (“… the process of assimilation and acculturation will be limited by the extent to which the Negro becomes integrated into the economic organization and participates in the life of the community.” S. 368).

Wallace Fard tauchte 1930 zum ersten Mal in Detroit auf. Als hausierender Händler ging er von Tür zu Tür, um mit Hausfrauen und arbeitslosen Männern der Schwarzensiedlungen ins Gespräch zu kommen. Seinem Aussehen nach schien er arabischer Herkunft zu sein, und er machte einer Vielzahl der Menschen seine Theorien und Prophezeiungen über Allah und die Weißen als Teufel glaubhaft.

Ohne Spuren zu hinterlassen tauchte er 1934, genau so plötzlich wie er vier Jahre zuvor erschien, wieder unter. Im Nachhinein betrachtet schein es für Fard ein leichtes gewesen zu sein, in diesen Jahren Anhänger unter den Neuankömmlingen im Norden der USA zu gewinnen. Nach seinem Verschwinden entstand ein Mythos um seine Person und sein Nachfolger, Elijah Muhammad, machte ließ seine Anhänger glauben, er sei Gott in Person gewesen.

Lincoln war einer der ersten Autoren, der sich mit der Nation of Islam beschäftigte. Sein Buch mit dem Titel „The Black Muslims in America“ erschien im Jahre 1961. Für Lincoln stand fest, als Black Muslims bezeichnen sich Afroamerikaner, die Anhänger Elijah Muhammads sind, und der „Lost Found Nation” angehören („ … a Black Muslim is an African American who is a follower of Elijah Muhammad, ‘Spiritual Leader of the Lost-found Nation in the West’”, S. 20).

Black Muslims unterschieden sich für ihn von orthodoxen Moslems zum einen durch die unterschiedliche Schreibweise ihrer Namensgebung, zum anderen durch den Glauben daran, dass ihr Führer, Elijah Muhammad, Gottes Bote sei („the Messenger of Allah“). Gott erschien ihm in der Person Fards, der ihm direkt beauftragte, die schlafende schwarze Nation wach zu schütteln und sie von der jahrelangen Herrschaft der Weißen zu befreien.

Als Louis Farrakhan in den 1970er Jahren die Führung der Religionsgemeinschaft übernahm, entschied er sich für den Namen „Nation of Islam“ (NOI). Unter seiner Leitung hat sich die Religionsgemeinschaft von dem Begriff „Black Muslims“ distanziert. Der Autor Clifton E. Marsh führte im September 1994 mit Dr. Abdul Alim Muhammad, dem nationalen Sprecher Louis Farrakhans und “Minister of Health and Human resources” der Nation of Islam, in Washington, D.C. ein Interview (S. 173ff.). Dr. Muhammad kritisierte in diesem Gespräch C. Eric Lincoln und dessen Buch über so genannte „Black Muslims“. Er habe mit diesem Buch einen weltweiten Bekanntheitsgrad erlangt, habe aber den Begriff „Black Muslims“ nie mit der Nation of Islam abgesprochen.

In diesem Interview wird außerdem erklärt, Mike Wallace habe den Begriff „Black Muslims“ in einem TV-Programm im Jahr 1957 erfunden. Die Religionsbewegung um Louis Farrakhan wolle sich nicht Black Muslims nennen, sondern als die „Lost-Found Nation of Islam“ bezeichnet werden und Mitglieder würden schlicht den Titel „Muslims“ tragen. Dr. Muhammad schien verärgert über das Unwissen vieler Autoren, die sich nicht richtig über die Nation of Islam informieren und einfach Bücher schreiben, mit denen sie eine hohe Popularität erlangen.

Wie schon Elijah Muhammad vor ihm, ging Farrakhan bei der Anwerbung seiner Anhänger zunächst direkt auf Menschen der unteren Gesellschaftsschichten zu (Marsh, S. 117: „… Farrakhan’s resurrected Nation of Islam is seeking to find its mass base again in its lower class origins.”).

Mit Farrakhans Übernahme der Führung der Nation of Islam stieg deren Mitgliederzahl („The 1980s saw the Nation of Islam under Minister Louis Farrakhan grow in size, power, and visibility…”, Marsh, S. 117). Für das Wohlbefinden ihrer Mitglieder sorgt die Religionsgemeinschaft auf vielen Ebenen. So werden zum Beispiel Ärzte und Krankenschwerstern angeworben, um eine adäquate medizinische Betreuung in Kliniken bereitzustellen. Ebenso unterrichten gut ausgebildete Spezialisten an eigenen Schulen und wirtschaftlichen Institutionen.

2.1.2 Wo gehört die Nation of Islam hin?

Die sich herauskristallisierenden Grundzüge der Nation of Islam lassen sich nach Kepel (S. 27ff.) in zwei Kategorien aufteilen. Einerseits beabsichtige die NOI radikal mit der US-amerikanischen Gesellschaft zu brechen. Das für sie erstrebenswerte Ziel, einen eigenen Schwarzenstaat zu erschaffen, indem sie sich von Weißen sozial und wirtschaftlich unabhängig machten, wird Schritt für Schritt verfolgt. Wird dieses Ziel erreicht, werden nach dem Glauben der Muslims Schwarze den Weißen überlegen sein.

Die Nation of Islam dämonisiert darüber hinaus den Weißen Mann als blauäugigen Teufel. Die dafür notwendige Mythologie setzt sich zusammen aus Elementen des Islam, des Messianismus der Heerschar von schwarzamerikanischen Kirchen und Sekten und der Zeugen Jehovas (Kepel, S. 27). Sie projiziert somit das Bild, das den Schwarzen aufgedrängt wurde, auf die Weißen, und man kann von einem umgekehrten Rassismus sprechen.

Andererseits bemüht sich die NOI darum, Kriminelle und Sozialfälle in die Gemeinschaft zu resozialisieren. Sie schafft es, eine Gegenwelt zum Ghetto aufzubauen und bringt vor allem Jugendliche und junge Erwachsene weg von Drogen, Alkohol und Prostitution (Kepel, S.28).

Die Nation of Islam ist darum bemüht, eine tugendhafte Gemeinschaft schwarzer Muslime entstehen zu lassen, die der kriminellen Welt entkommen, in die sie aufgrund der Weißen hineinrutschten. Der Weg dort hin erfordert strenge Selbstdisziplin sowie soziale Beziehungen, die Afroamerikaner innerhalb der NOI erfahren. Laut Farrakhan ist das der einzige Ausweg, den er für die schwarze Bevölkerung der USA sieht, um aus der schlechten sozialen Situation zu entkommen.

Diese Auffassung wird von manchen Autoren mit der protestantischen Ethik verglichen, auf die in Kapitel 3.2 näher eingegangen wird.

In den letzten Jahrzehnten wurde die Nation of Islam zunehmend friedliebender im Vergleich zu der Zeit vor Louis Farrakhan. Laut Kelleter (S. 20) agierte die Nation of Islam in den 1960er und 1970er Jahren weniger als eine “anti-white terrorist group” wie es propagiert wurde, sondern ihre Mitglieder steckten ihre ganze Energie in die Gewalt Schwarzer gegen Schwarze. Deshalb wirft noch heute der Mord an Malcolm X seine Schatten auf Louis Farrakhan.

Zu ihrem Heimatland, der USA, unterhält die Nation of Islam kein sehr gutes Verhältnis. Die NOI behauptet laut Kelleter, die Regierung versuche gezielt die schwarze Minderheit im Land auszurotten („It is, in fact, a standard conviction among NOI members that the federal government deliberately smuggles drugs and weapons into poor black neighbourhoods in order to exterminate the race.”, S. 40). Diese Behauptung stützt sie auf Argumente, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit untersucht werden.

2.1.3 Religion oder Nation?

Betrachtet man die Ziele der Nation of Islam sowie die Bezeichnung der Gemeinschaft, kommt die Frage auf, ob sie nun einer Religion oder eine Nation gleich kommt.

Die NOI ist in den Augen Kelleters (S. 57) primär eine religiöse Organisation. Er hält sie für eine nationalistische Gegenbewegung zum amerikanischen Christentum, die an Teufel glaubt, und zudem mit der westlichen Geschichte und der modernen amerikanischen Kultur verwurzelt ist („ … a demonological, millenarian, messianic and nationalist countermovement to American Christianity – a countermovement deeply rooted in Western intellectual history and modern American culture…”, S. 83).

Dr. Abdul Alim Muhammad erläuterte hingegen im bereits erwähnten Interview mit Clifton E. Marsh (S. 184), dass die Nation of Islam immer schon in die Politik einbezogen war. Allein der Name „Nation“ sei ein politisches Wort („The Nation of Islam has always been involved in politics. If you look at the meaning of our name, Nation is a political word.”).

Bereits Lincoln erkannte eine Verwicklung der Nation of Islam in die Politik in den 1950er Jahren (S. 224ff.). Demnach sei Islam mehr als eine Religion, denn er setze politische Kräfte frei. Anhänger Elijah Muhammads wurden laut Lincoln oft mit arabischen Republiken in Verbindung gebracht. Man beschuldigte sie, finanzielle Unterstützung aus Ägypten angenommen zu haben und somit Pro-Nasser[1] zu sein, was Muhammad jedoch abstritt. Der damalige Religionsführer erklärte, Sympathien basieren nicht immer nur auf Geld; sie würden Zusprüche, Ratschläge und Begeisterung von arabischen Republiken erhalten. Nicht abzustreiten ist, dass Elijah Muhammad ein gutes persönliches Verhältnis zu Nasser hatte.

Elijah Muhammad als Führer der Nation of Islam, nahm die angebotene Unterstützung dieser Staaten gerne an. Er wollte sich jedoch auf die USA konzentrieren, auch im Bezug auf Verherrlichung und Anbetung („They have their Mecca and they have Medina, but Elijah has Chicago. And New York. And Los Angeles.” Lincoln, S. 227).

Man kann festhalten, dass sich die Nation of Islam nicht aus dem Islam als solchem entwickelt hat, sondern aus der Tradition des schwarzen religiösen Nationalismus („…the Nation of Islam grew out from, not Islam as such but the tradition of black religious nationalism“, Gardell, S. 114ff).

Sieht man die Nation of Islam als eine religiöse Bewegung an, so kann man sagen, sie hat sich dem sunnitischen Islam angenähert, auf den im Kapitel 3.4.2 näher eingegangen wird.

Von einem sozialen Standpunkt aus betrachtet, hat sich die Nation of Islam, die sich ursprünglich als Organisation der unteren Bevölkerungsschicht zusammenfand, über die Jahre hinweg zu einer Bewegung der mittleren Schicht gewandelt. Diese Veränderung, die auch ihre Mitglieder durchliefen, beeinflusste deren Weltanschauung. Allerdings hält sich die NOI an die strikten Vorgaben des Korans im Bezug auf Tagesablauf und Essen und schreibt ihren Mitgliedern strenge Regeln vor: Keine Drogen, kein Ehebruch, keinen Gottesdienst auslassen oder verschlafen, kein Verkauf oder Verzehr von Schweinefleisch, besonders vor weiblichen Mitgliedern keine anstößigen Wörter benutzen und auf ihr Körpergewicht zu achten („..no drugs, adultery, sleeping during meetings, or missing meetings; no selling or eating pork or using foul language in front of female members; no weight problems; … “, Magida, S. 63).

2.2 Die Nation of Islam – eine soziale Bewegung?

2.2.1 Soziale Aspekte

Die Vermutung liegt nahe, die Nation of Islam sei vielmehr ein soziales Programm oder eine soziale Initiative und keine Religionsgemeinschaft, betrachtet man die Auswirkung, die sie auf das soziale Leben ihrer Anhänger ausübt.

Mitglieder der Nation of Islam begannen 1988 zum ersten Mal in den Stadtvierteln Mayfair Mansion und Paradise Manor in Washington D.C. die Zeitschrift „The Final Call“ zu verkaufen (Marsh, S. 125). Mit ihrem Programm „Crime Prevention and Community Safety“ versuchten sie durch bloße Präsenz, Drogenverkauf und Kriminalität einzudämmen. Ihre Patrouillen in der Nacht, lediglich bewaffnet mit Taschenlampen und Funkgeräten, waren sehr effektiv.

Dieses Konzept ließ sich ebenso erfolgreich in Stadtteilen New Yorks durchführen und die NOI wurde dafür öffentlich geehrt.

Ein Jahr später nahm Louis Farrakhan auch Straßenbanden in Angriff. Er hielt in einem Hotel in Los Angeles eine Rede und fast 6000 junge Menschen, vorwiegend Mitglieder von Straßen-Gangs hörten ihm zu. Marsh vergleicht die Bewegung um Farrakhan mit einem Zug, der immer mehr in Fahrt kommt, und auf den immer mehr Menschen aufspringen, um mitzufahren. Der Autor ist der Meinung, Farrakhan habe seinen Erfolg und seinem zunehmenden Einfluss vor allem der nach rechts tendierenden, konservativen Regierung unter Reagan und Bush zu verdanken, mit der viele Afroamerikaner nicht zufrieden waren („The Farrakhan train began to pick up speed in the 1980s thanks to the right-wing, conservative push of Reagan/Bush administration. Leading into the new decade of the 1990s it appeared the train cannot be stopped. Minister Louis Farrakhan has grown in stature, prestige, power, and influence… ”, S. 125).

Ein weiteres Beispiel für das Bemühen der NOI um sozial schwächer gestellte Menschen ist das erste geistliche amt, das bereits 1942 von Elijah Muhammad in einem Gefängnis gegründet wurde (Marsh, S.130). Diese Einrichtungen, die sich fortan über das gesamte Land streuten, erwies sich für die Nation of Islam als sehr förderlich im Kampf für Religionsfreiheit hinter Gefängnismauern. Die Gefängnisverwaltungen fürchteten sich zunächst vor der islamischen Religionsgemeinschaft, doch heute sind ihre Anhänger dafür bekannt, dass sie für ein stabiles und beständiges Auskommen der Insassen untereinander sorgen.

Inzwischen erkennt die Polizei in den USA, dass von der Nation of Islam eine positive Kraft für einen sozialen Wandel ausgeht. Es gibt mittlerweile auch Filme des Los Angeles Police Departments (LAPD) über die Nation of Islam, um Polizeioffiziere über Muslims zu unterrichten (Marsh, S. 133).

Das soziale Engagement der Nation of Islam beschränkt sich in allen Bereichen auf Menschen ihrer eigenen Hautfarbe. Kelleter (S. 41) ist der Meinung, dass man einen doppelten Effekt erzielt, wenn man die Schuld an der trostlosen Situation der schwarzen unteren Klasse einer Verschwörung mächtiger Weißen zuschreibt. Zum einen wird Farrakhans Behauptung, Afroamerikaner seien selbst für ihre Situation verantwortlich, neutralisiert. Denn im Prinzip sind sie nur dafür verantwortlich, in welchem Ausmaß sie an eine Verschwörung glauben, sind somit selbst verantwortlich dafür, ob sie deren angebotene Drogen annehmen und sich auf einen inszenierten Bandenkrieg einlassen. Beschuldigt werden können sie demnach lediglich dafür, dass sie nicht realisieren, wer wirklich schuldig ist und sie mangels dieses Wissens ihr Verhalten nicht ändern können. Laut Farrakhan sollten sich Menschen, die unter der der weißen Übermacht zu Opfern wurden, zusammenschließen, gemeinsam dagegen kämpfen und ihre eigene Gruppe stärken, indem sie kollektiv leiden („…collective virtue in terms of collective suffering“, Kelleter, S. 41).

Zum anderen ist durch die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre eine schwarze Mittelschicht entstanden, aus der sich einzelne dem von der NOI verurteilten System der Weißen angepasst haben und sich durch Integration in die Gesellschaft in ihrer beruflichen Karriere weitergekommen sind. Genau diese Anpassung ärgert Farrakhan, denn er ist der Meinung, sie hätten sich an das System verkauft und hätten dadurch ihre eigene Kultur verloren. Dass Schwarze Schwarzen helfen, wird ein bedeutender Wendepunkt in der wirtschaftlichen Entwicklung sein (Marsh, S. 129: „The self-help philosophy continued to be the cornerstone for economic development”).

Im Laufe der letzten Jahrzehnte dehnte sich die NOI immer weiter aus und gewann zunehmend an Einfluss. Ihr Eingreifen löste soziale Probleme der Schwarzen. Man ist heute sogar der Meinung, dass sich viele Muslims so sehr mit der Black Community identifizieren, dass sie zu einem Maßstab für die Stimmung innerhalb der Afroamerikanischen Gemeinschaft insgesamt geworden sind („Many Muslims feel they have such an intimacy with the black community that they have become a barometer to measure the pulse and mood of the African-American community…“, Marsh, S. 129).

Auch im Gesundheitswesen ist die Nation of Islam tätig und setzt sich besonders für den Kampf gegen AIDS ein. Dies wird erneut im Interview mit Dr. Abdul Alim Muhammad deutlich (S. 178), der betont, die Nation of Islam sei sehr bemüht bei der Behandlung von AIDS, und sie würden Medikament aus Kenia anwenden.

Im selben Atemzug vermittelt die NOI den Glauben, dass AIDS vom Teufel, also den Weißen, als Genozid kreiert wurde, um alle Schwarzen dieser Welt auszulöschen (Gardell, S. 325). Nichtsdestotrotz wurde 1992 der Kampf gegen AIDS zur obersten Priorität der NOI.

Die Fakten, die uns Gardell (S. 318ff.) liefert, sprechen für das bestehende Agieren der Nation of Islam im sozialen Bereich. Demnach machen Afroamerikaner 13% der Bevölkerung der USA aus, sind aber nur mit 3% am Reichtum des Landes beteiligt. 1992 lebten 33,3% der Afroamerikaner unterhalb der Armutsgrenze und ungefähr jedes zweite afroamerikanische Kind wächst noch heute in Armut auf. Die Arbeitslosigkeit unter Afroamerikanern nimmt in Großstädten ständig zu, während sie in Vororten nur leicht zurückgeht. In manchen städtischen Bezirken ist mehr als jeder zweite unter ihnen arbeitslos. Davon abgesehen verdient ein Schwarzer durchschnittlich 40% weniger als ein Weißer für dieselbe Arbeit in den USA.

In diesem Zusammenhang muss die Wirtschaftspolitik der Nation of Islam betrachtet werden, denn mit genau diesen Fakten gelingt es ihr, ihre Zielgruppe zum Zuhören zu bringen. Fühlt sich das Publikum angesprochen, und schafft es die NOI, in ihnen das Gefühl der Benachteiligung zu schüren, sind die Zuhörer auf ihrer Seite. Akzeptieren diese zudem das Programm und teilen die Einstellung der NOI, hat die Bewegung neue Mitglieder gefunden.

Louis Farrakhan stellt deshalb den Aufbau einer Infrastruktur unter Schwarzen an erste Stelle, um afroamerikanische Gemeinschaften zu stärken und der ersehnten Unabhängigkeit von Weißen einen Schritt näher zu kommen.

Inzwischen haben sich zahlreiche Wirtschaftszweige der Nation of Islam etabliert. So exstieren bereits mehrere Niederlassungen von „Salaam Restaurants”, „Shabazz Bäkereien“, und eine Kollektion mit dem Namen „Fashahnn Islamic clothings /i.g. Dress 19 Collection”. Des weiteren unterhält die Organisation Bekleidungsgeschäfte, Supermärkte, eine Versicherung, Buchhandlungen, Kosmetikprodukte, Kliniken, Liegenschaften, Fischmärkte, Farmland und ein Einkaufszentrum in Chicago mit Supermärkten und Restaurants. Für die Zukunft plant die NOI weitere Supermärkte sowie eine Bank zu eröffnen. Sie möchte zudem mehr Druckereien bauen und mehr Farmland für die landwirtschaftliche Nutzung kaufen.

Die Organisation NOI legt darüber hinaus großen Wert auf ein gesundes und göttliches Leben. Um einen frühen Tod auszuschließen, verpflichten sich die Mitglieder, folgendes Regelwerk einzuhalten (Gardell, S. 329):

1. Beten, um stark und diszipliniert zu sein
2. Wissen durch das Buch „How to Eat to Live“ von Elijah Muhammad anzueignen
3. Gesunde und ausgewogene Nahrung zu sich zu nehmen
4. Bewegung zu bekommen
5. Sich von schlechten Angewohnheiten zu verabschieden
6. Genügend zu schlafen
7. Regelmäßig Zeit in der Natur zu verbringen
8. Regelmäßige ärztliche Untersuchungen wahrzunehmen

Indem sie Elijah Muhammads Doktrin der Hilfe zur Selbsthilfe angenommen haben, haben es Farrakhans Anhänger geschafft, sich über ihren Platz im politischen Leben ihres Landes sicher zu sein („Having also adopted Elijah Muhammad’s doctrine of self-help, it is likely that Farrakhan’s followers will begin to feel more certain of their place in American political life“, Lee, S. 105).

Afroamerikaner in den USA sahen sich durch den Verlust ihrer geschichtlichen Identität schon immer einem fundamentalen Problem gegenüber gestellt. Doch die Nation of Islam behauptet von sich selbst, ihren Mitgliedern geholfen zu haben, mit dieser Schwierigkeit umzugehen.

2.2.2 Vergleiche mit Vorläufern

2.2.2.1 Henry McNeal Turner (1834-1915)

Henry McNeal Turner war Bischof der African Methodist Episcopal Church und einer der prominentesten Befürworter für Rückführung Schwarzer nach Afrika seiner Zeit in den USA.

Zu dieser Einstellung gelang er nach dem Bürgerkrieg durch seine Überzeugung, dass es hoffnungslos sei, nach Gleichberechtigung zu streben. Seiner Meinung nach lag die Zukunft der Schwarzen der USA in Afrika. Daher schlug er zwar keine Massenmigration vor, sondern eine beständige Umsiedlung schwarzer Christen, die bereit dazu waren, hart für sich in Afrika arbeiten zu wollen. Diese ehemaligen Sklaven, die in ihr Vaterland zurückkehren, würden Afrika evangelisieren und den Kontinent vor europäischen Kolonialsten verteidigen. Es war so zu sagen ihre Pflicht, ein starkes christliches Afrika aufzubauen. Von diesem Projekt würden alle Afrikaner wo immer sie auch lebten, profitieren. 1884 wurde die International Migration Society gegründet zum Zweck der Repatriierung (Gardell, S. 20ff.).

Diese erste nennenswerte Aktion weist insofern Parallelen zur Nation of Islam auf, als dass sie ebenfalls nicht an eine Gleichberechtigung zwischen Schwarzen und Weißen glaubt, und deshalb eine Trennung von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe anstrebt.

2.2.2.2 Booker T. Washington (1856-1915)

Booker T. Washington verurteilte die Sklaverei seit seines Lebens, glaubte aber, dass Afroamerikaner, die am eigenen Leib erfahren haben, was Sklaverei bedeutet, zu seiner Zeit stärker, hoffnungsvoller, intelligenter, moralischer und religiöser waren im Vergleich zu Schwarzen auf einem anderen Flecken der Erde. Ihm war klar, dass die Befreiung der Sklaven mehr verlangte als „nur“ die Freiheit. Deshalb gab es sich selbst viel Mühe, durch Bildung und harte Arbeit weiterzukommen. Seine Vision, der gesamten schwarzen Gemeinde diese Möglichkeit des Vorankommens zu geben, verwirklichte er, indem er 1881 das Tuskegee Institute in Macon County, Alabama eröffnete.

Die Pädagogik dieser Schule legte Wert auf eine Kombination von Handarbeit, wirtschaftlicher Praxis und intellektuellem Unterricht sowie praktische Fähigkeiten und zivilisiertes Verhalten. Washingtons Ziel war es, dass Afroamerikaner durch nützliches Wissen in der Gesellschaft respektiert und gebraucht wurden und somit eine Verbesserung des Verhältnisses zwischen Schwarzen und Weißen zu erreichen (Gardell, S. 16ff.).

Auch die Nation of Islam unterhält ihre eigenen Bildungseinrichtungen und ist ebenso der Auffassung, dass Afroamerikaner unter sich besser lernen können als in gemischten Schulen, zudem wird dort nach einem Lehrplan unterrichtet, der die Geschichte der Schwarzen in den USA nicht vernachlässigt und somit auf ihre Bedürfnisse eingeht.

Außerdem kann man Parallelen zwischen dem Wirtschaften Booker T. Washingtons und den wirtschaftlichen Aspekten der Nation of Islam ziehen. Louis Farrakhan betont wie auch Washington immer wieder wie wichtig die Einhaltung von traditionellen kapitalistischen Werten wie Selbstvertrauen, private Initiativen und soziale Disziplin für Muslims sei, damit sie sich selbst voranbringen (Keleter, S. 42).

2.2.2.3 W.E.B. Du Bois (1869-1963)

W.E.B. Du Bois war ein panafrikanischer Ideologe, der Booker T. Washingtons Position herausforderte. Er war Antikapitalist, Journalist, Herausgeber und Forscher. Sichtlich beeinflusst durch den akademischen Diskurs seiner Zeit, studierte Du Bois zwei Jahre lang in Deutschland und war der erste Afroamerikaner mit einem Studienabschluss.

Von 1896 bis 1910 unterrichtete Du Bois an der Atlanta University, einer Einrichtung für Afroamerikaner, die mit dem Tuskegee Institute, um die Anerkennung wetteiferte.

Im Gegensatz zu Washington verlangte Du Bois für alle Schwarzen die gleichen intellektuellen Möglichkeiten wie sie auch Weißen geboten wurden. Er rief außerdem Schwarze dazu auf, sich jeglicher Form von Rassismus zu widersetzen (Enduring Vision, S. 716ff.). Sein Standpunkt war, Afroamerikaner müssen noch an ihrer Botschaft arbeiten, die sie der weltweiten Zivilisation vermitteln wollen. Dies würden sie nur schaffen, indem sie sich dagegen wehrten, von der Kultur der Weißen absorbiert zu werden.

Die Qualitäten der schwarzen Rasse müssten seiner Meinung nach konserviert werden und nach Rassen getrennte Einrichtungen für Bildung, Wirtschaft und Kunst müssten errichtet werden (Gardell, S. 17ff).

Aus dem „Niagara Movement“ heraus, das, 1905 mit der ersten Konferenz in Niagara Falls stattfand, gründeten unter anderem Du Bois und der Zeitungsverleger Oswald Garrison Villard die „National Association for the Advancement of Colored People“ (NAACP). Die Organisation lehnte die Gleichstellung der Schwarzen sowie eine Integration in die Gesellschaft der Weißen ab und kämpfte für ein Ende rassistischer Diskriminierung. Mit diesem Konzept sprach die NAACP vor allem die mittlere Bevölkerungsschicht der USA an und konnte 1914 bereits 6000 Mitglieder verzeichnen (Enduring Vision, S. 717).

Die von Du Bois ins Leben gerufene Bewegung wird von der Nation of Islam als bedeutendstes Vorbild gesehen. Mit seiner Ablehnung von Integration der Schwarzen in die Gesellschaft identifiziert sich die NOI voll und ganz.

2.2.2.4 Noble Drew Ali (1866-?)

Noble Drew Ali wurde als Timothy Drew geboren und gründete im Alter von 47 Jahren eine religiöse Organisation, die er „Moorish Science Temple“ nannte. Mit seiner Bewegung sprach er Afroamerikaner in Städten des Mittleren Westens an.

Drew war beeinflusst von orientalischen religiösen Philosophien und bemerkte, dass diese keinerlei Anmerkungen über die menschliche Rasse enthielten. Er dachte sich, dass in den USA lebende Schwarze von einer Philosophie profitieren könnten, die das Rassenbewusstsein ausschaltet. Er beschloss, dass Afroamerikaner in Zukunft als Asiaten angesehen werden sollten, da sie seiner Meinung nach asiatischen Ursprungs waren, und die Bezeichnung „Moor“ bekommen sollten, um sie zu beschreiben.

Eine Erlösung der Schwarzen in den USA war seiner Auffassung nach nur möglich, wenn sie den Ursprung ihrer Herkunft herausfanden und den Glauben annahmen, dass nur ein asiatischer schwarzer Mann spirituelles Erwachen erreichen konnte.

Drew glaubte selbst an Allah und die Lehren des Korans. Seine Anhänger nannten sich „Moors“ und waren wie er davon überzeugt, dass die weiße Rasse bald in ihr Verderben rennen werde und nicht-weiße Asiaten die Weltherrschaft übernehmen werden. In ihren Augen war Drew ein Prophet und sie fühlten sich durch ihn von der Unterdrückung weißer Europäer befreit.

Drew wurde umgebracht, da es innerhalb der Organisation zu Streitereien kam, jedoch konnte der Mord an ihm nie aufgeklärt werden. Nach seinem Tod spaltete sich die Bewegung in mehrere Gruppierungen auf, wobei jede weiterhin am Glauben an den „Holy Koran of the Moorish Temple Society“ festhielt.

Drew war somit der erste einflussreiche Man der USA, der verkündete, dass jede Rasse ihren eigenen Glauben haben sollte und demnach das Christentum die Religion der Weißen sei und der Islam die Religion der Asiaten.

Obwohl viele Mitglieder der Nation of Islam abstreiten, dass ihre Bewegung von Noble Drew Ali beeinflusst wurde, kann man starke Parallelen zwischen den beiden Organisationen bezüglich des Glaubens an Allah und an den Koran feststellen (Dodds, S. 2/3).

2.2.2.5 Marcus Garvey (1887-1940)

Ungefähr eine halbe Million Afroamerikaner zogen während des Ersten Weltkriegs vom Süden der USA in den Norden und siedelten sich überwiegend in Städten an. Durch den Krieg ebbte der Einwandererstrom aus Europa ab und die US-amerikanische Industrie konzentrierte sich auf die schwarze Bevölkerung. Die Neuankömmlinge brachten ihre eigene sozialen Strukturen sowie eine ihrer essentiellsten Einrichtungen mit: die Kirche.

Die hohe Konzentration Schwarzer in den nördlichen Städten legte nicht nur den Grundstein für die Harlem Renaissance in New York in den 1920er Jahren, sondern sorgte auch dafür, dass genügend potentielle Mitglieder für bestehende oder neu gegründete Organisationen unter Afroamerikanern vorhanden waren. Dies erkannte auch der aus Jamaika stammende Nationalist Marcus Garvey.

Im Jahre 1916 verlegte Garvey den Sitz seiner jungen Organisation „Universal Negro Improvement Association” (UNIA) von Jamaika nach New York. Bereits 1919 hatte die UNIA in fast allen Städten im Norden der USA Zweigniederlassungen errichtet und erreichte eine explosionsartige Wachstumsrate in den 1920er Jahren.

Die meisten Afroamerikaner, die der Armut im ländlichen Süden und dem dortigen Rassismus entkommen wollten, fanden sich in verarmten Ghettos des Nordens wieder und sahen sich erneut Rassismus ausgesetzt. Viele von ihnen fühlten sich von Marcus Garvey und seinem Redetalent sichtlich angezogen. In einer Gesellschaft, in der Weiße als Ideale dargestellt wurden, drehte Garvey den Spieß um und verherrlichte alles, was mit Schwarzen zusammenhing. So regte er Schwarze an, wirtschaftliche Kooperationen untereinander einzugehen und gründete unter anderem eine Supermarktkette im Namen der UNIA.

Außerdem rief Garvey alle Schwarzen in der Welt auf, in ihr Heimatland Afrika zurückzukehren, um dort eine Nation zu erschaffen, die stark genug ist, als Stütze für im Ausland lebende Afrikaner zu dienen und diese zu beschützen. Ungefähr 8000 Afroamerikaner traten in die UNIA ein, wobei sich unzählige mehr der Organisation nahe fühlten und den Traum der Rückkehr nach Afrika mitträumten.

1923 wurde Marcus Garvey des Betrugs in Zusammenhang mit einem seiner Unternehmen, der Black Star Steamship Company schuldig gesprochen und zu zwei Jahren Haft verurteilt. Nach seiner Freilassung wurde Garvey nach Jamaika abgeschoben.

Ohne ihn als charismatischen Führer und Gründer kollabierte die UNIA. Jedoch blieb sie bis heute in den Köpfen der Menschen als erste Massenbewegung Afroamerikaner verankert und der Slogan „Black is beautiful“ ist noch immer aktuell (Enduring Vision, S. 757/758 und S. 795/796).

Marcus Garvey Bewegung war ausschlaggebend für die Entwicklung einer afroamerikanischen Identität und für das Bewusstsein ihrer Existenz; Elemente, die auch bei der Nation of Islam zu finden sind.

Nationalismus der Schwarzen kam erneut in der Mitte der 1960er sowie Mitte der 1980er Jahre auf. Für afrozentrische Neonationalisten gilt Garvey als der Gründervater und das von ihm verfasste Werk „Philosophy and Opinions“ wird als Lektüre sehr empfohlen. Zudem wird Garvey, wie auch Louis Farrakhan, immer wieder in Texten der HipHop- und Raga-Musik sowie bei nationalistischen Religionen unter Afroamerikanern erwähnt, die den Glauben an einen schwarzen Moses aufrechterhalten. Nach seinem Ableben wurde der Kult um seine Person sogar noch größer (Gardell, S. 30).

2.2.2.6 Father Divine

Father Divine wurde auf einer Insel nördlich von North Carolina in die Gullah-Gemeinschaft[2] hineingeboren. Über sein Geburtsjahr und auch sein erreichtes Alter sind keine genauen Daten vorhanden. Vermutlich wurde er 1880 geboren und starb 1965[3].

Der Afroamerikaner hielt sich selbst für Gottes letzten Propheten, sah sich, wie sein Name schon sagt, als göttlichen Vater und nannte sich selbst „The messenger“ und “Son of God“ (Evanzz, S. 70). Ende der 1920er Jahre zog er als Prediger der Baptistenkirche nach New York. Wie auch Fard, der von sich ebenso behaupten ließ, er sei Gott, verkündete er unter seinen Anhängern, dass Schwarze den Weißen übergeordnet seien.

Viele Afroamerikaner schienen sehr angetan von seinen religiösen Lehren, zumal er Essen und Kleidung an Bedürftige verteilte und Unterkünfte zur Verfügung stellte. Ein Merkmal, das bei der Nation of Islam wiederkehrt. Auch sie kümmerte sich zu Beginn sehr intensiv um sozial schwächer gestellte Menschen.

Während der Zeit der Großen Depression relativierte er frühere Aussagen bezüglich einer Übermacht der Schwarzen, da er erkannte, dass er auch Weiße in seine Kirche locken konnte. So war es ihm möglich, eine weiße Frau zu heiraten, der er den Namen „Mother Mary“ gab.

Der Kult um seine Person nahm ein jähes Ende, als seine Frau im April 1937 eine Pressekonferenz einberief, in der sie ihn als Hochstapler und Betrüger beschuldigte (Evanzz, S. 124 ff.). Sie kündigte an, ein Buch über ihren Mann zu schreiben, indem sie darstellen wollte, dass Divines Bewegung von Anfang an ein Schwindel war. Divine sei niemals um die Armen besorgt gewesen, er benutzte sie lediglich, um sich selbst zu bereichern.

Weitere Beschuldigungen, die ans Tageslicht gebracht wurden, betrafen seinen Assistenten, John the Revelator. Dieser zwang ein jugendliches Mitglied der Organisation, seine Konkubine zu sein mit der Begründung, sie sei die Reinkarnation Marias, der Mutter Jesu, und sie würde einen neuen Messias gebären.

Darüber hinaus wurde Divine für verschiedene kriminelle Delikte angeklagt. So wurde zum Beispiel mit gestohlener Kohle geheizt und eine ältere Frau zeigte ihn an, die ihm 2000$ gab, ihr komplett erspartes Geld, da er ihr versprochen hatte, für den Rest ihres Lebens monatlich eine Sozialversicherung auszubezahlen, die sie nie bekommen hatte.

Letztendlich wurde Divine festgenommen und seine Bewegung nahm drastisch an Mitgliedern ab.

[...]


[1] Gamal Abd An Nasser, ägyptischer Offizier und Politiker, * 15. 1. 1918 Beni Mor, Asyut, † 28. 9. 1970 Kairo; Mitorganisator des nationalistischen Geheimbundes Freie Offiziere. Nach dem Staatsstreich des Komitees der Freien Offiziere von 1952 gegen Faruk wurde er Mitglied des Revolutionsrats, im Juni 1953 Stellvertretender Ministerpräsident. Im November 1954 stürzte er General A. M. Nagib und übernahm das Amt des Staatspräsidenten; er verstaatlichte 1956 den Suezkanal und löste damit die Suezkrise aus. Als anerkannter Führer des Panarabismus war er eine der hervorragenden Persönlichkeiten der Dritten Welt. Nach der Niederlage im Sechstagekrieg im Juni 1967 übernahm er auch die Ämter des Ministerpräsidenten und des Generalsekretärs der Staatspartei Arabische Sozialistische Union (ASU). Quelle: http://www.wissen.de, 26.03.2003.

[2] Die Geschichte der Afro-Amerikaner entlang der Küste Georgias gründet tief. Die Gullah-Kultur ist in der Küstenregion sehr ausgeprägt, wo Traditionen, Songs, Folklore, Handwerk und Speisen noch immer ein große Bedeutung haben. Die historischen Stätten wie z.B. das Seabrook Village, ein Geschichtsmuseum in Midway, stellen das Leben der Afro-Amerikaner zu Beginn des 20. Jahrhunderts dar. Eine der letzten noch bestehenden Inselgemeinden der Afro-Amerikaner ist Hog Hammock auf der Sapelo Island. Die Einwohner dieser Insel sind die Nachfahren der ehemaligen Sklaven der Inselplantagen. Quelle: http://www.georgiaonmymind.de/geschichte_kultur/in_georgia.cfm, 26.03.2003.

[3] http://www.americanreligion.org/cultwtch/frdivine.html, 17.03.2003.

Ende der Leseprobe aus 102 Seiten

Details

Titel
Der Religionsführer Louis Farrakhan als (Außen-) Politiker der USA
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Amerika Institut)
Note
2-3
Autor
Jahr
2002
Seiten
102
Katalognummer
V19680
ISBN (eBook)
9783638237451
ISBN (Buch)
9783638700542
Dateigröße
754 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Religionsführer, Louis, Farrakhan, Politiker
Arbeit zitieren
Sabine Krieg (Autor:in), 2002, Der Religionsführer Louis Farrakhan als (Außen-) Politiker der USA, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19680

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