Nachrichtenselektion als Problem in Informationssendungen des Fernsehens


Magisterarbeit, 2003

82 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Fernsehnachrichten in der Bundesrepublik Deutschland
2.1 Entwicklung von Fernsehnachrichten in der BRD
2.2 Funktion und Leistungen von Fernsehnachrichtensendungen als Teil des journalistischen Systems

3. Journalismus als Wirklichkeitskonstruktion
3.1 Der ´ptolemäische´ Standpunkt
3.2 Der ´kopernikanische´ Standpunkt

4. Klassische Theorie- und Untersuchungsansätze zur Nachrichtenauswahl
4.1 Die Nachrichtenwert-Theorie
4.1.1 Ursprung der Nachrichtenwert-Theorie in den USA
4.1.2 Beginn der europäischen Tradition
4.1.3 Nachrichtenfaktorenkatalog von Galtung und Ruge
4.1.4 Theoretische Neuorientierung durch Schulz
4.1.5 Erklärungspotential der Nachrichtenwert-Theorie
4.1.6 Fernseh-Nachrichtenfaktorenkatalog von Kamps und Meckel
4.2 Die Gatekeeper-Forschung
4.2.1 Individualistische Untersuchungen
4.2.2 Institutionale Untersuchungen
4.2.3 Kybernetische Untersuchungen
4.2.4 Integratives Gatekeeping-Modell Shoemakers
4.2.5 Erklärungspotential der Gatekeeper-Forschung
4.3 Die News Bias-Forschung

5. Auswahl und Ausschluss von Nachrichten an aktuellen Beispielen
5.1 Themenstruktur und Nachrichtengeographie der Tagesschau 2002
5.2 Die Initiative Nachrichtenaufklärung
5.2.1 Entstehung der jährlichen Top Ten-Liste
5.2.2 Ursachen für das Ausbleiben von Themen nach Pöttker und Ludes
5.2.3 Die Top Ten des Jahres 2002
5.2.4 Kollektive Vernachlässigung?

6. Schlussbetrachtung

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Ausgehend von einer nicht zu bewältigenden Menge an Geschehnissen auf der Welt, werden durch journalistische Auswahlprozesse routinemäßig einige wenige Ereignisse selektiert und in den täglichen Nachrichtensendungen des Fernsehens massenmedial verbreitet. Dabei stehen die bereitgestellten Informationen meist mehr oder minder zusammenhangslos nebeneinander: Die Zuschauer sehen Bilder der gerade beendeten Bischofskonferenz, erfahren Neuigkeiten über die entscheidende Runde der ungarischen Parlamentswahl und über die Sicherheit von Autobahntunneln; hier scheitern Tarifverhandlungen in der Chemieindustrie, dort werden zwei Islamisten festgenommen; Pakistan setzt seine Raketentests fort und der SC Freiburg schöpft neue Hoffnung im Abstiegskampf. Eine Nachricht lässt sich demnach definieren als „ein Ereignis, das aus einer Gesamtheit an Geschehnissen zur Berichterstattung ausgewählt wurde“, also als „Ergebnis eines Selektionsprozesses durch Journalisten“ (Kamps/Meckel 1998, 17).

Bei einem so komplexen Feld wie der Nachrichtenberichterstattung muss sich freilich die Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum bestimmte Vorgänge als Nachrichten sichtbar gemacht und andere systematisch ignoriert werden, als problematisch erweisen. Im Zentrum des Interesses des ersten Teils dieser Arbeit soll daher zunächst vor allem die Frage stehen, welche journalistischen Selektionskriterien und welche Einflussfaktoren sich durch die Fortentwicklung klassischer Theorie- und Untersuchungsansätze zur Nachrichtenauswahl als bedeutsam erwiesen haben. Dabei wird schon hier der Versuch unternommen, das gesamte Problemfeld in den Kontext von Fernsehnachrichtensendungen in der BRD einzubetten.

Ferner wird auf einer zweiten Ebene unter Bezugnahme auf den journalistischen Output der Tagesschau sowie auf die Arbeit der medienkritischen Initiative Nachrichtenauf-klärung versucht, sich der Problematik der Bewertung der von Fernsehnachrichten entworfenen Wirklichkeitsmodelle zu nähern, die Resultat der im ersten Teil der Arbeit beleuchteten Selektionsmechanismen sowie der vielfältigen Bedingungen, unter denen sie ablaufen, sind. Dabei wird ausgehend von der Tatsache, dass die Auswahl von Nachrichten zwangsläufig immer auch den Ausschluss andererer möglicher Themen bedingt, vor dem Hintergrund der Themenstruktur und Nachrichtengeographie der Tagesschau des vergangenen Jahres vor allem die Publikation einer Liste der aus der Sicht der Initiative Nachrichtenaufklärung im Jahr 2002 vom Nachrichtenjournalismus vernachlässigten Themen diskutiert.

2. Fernsehnachrichten in der Bundesrepublik Deutschland

„Fernsehnachrichten erheben üblicherweise den Anspruch, über die wichtigsten Ereignisse des jeweiligen Tages einen zuverlässigen und aktuellen Überblick zu bieten“ (Ludes 1994, 59) und erzielen ungeachtet der Tatsache, dass das Fernsehen in erster Linie als ein Unterhaltungsmedium gilt, bis heute beachtliche Einschaltquoten. So wurden im Jahr 2001 die Nachrichten von Tagesschau, Tagesthemen, heute, heute-journal, RTL-aktuell, SAT.1 Newsmagazin und ProSieben Nachrichten insgesamt von täglich durchschnittlich 26,9 Millionen Zuschauern gesehen (vgl. o.V. 2002). Die Tatsache, dass mit diesen Zahlen lediglich die Hauptnachrichtensendungen der in Deutschland am meisten rezipierten Sender erfasst werden, zu denen die Zuschauer der weiteren Nachrichtenangebote wie etwa die der reinen Nachrichtenkanäle, der Magazinsendungen mit Nachrichtenblöcken oder der nächtlichen Nachrichtensendungen wie heute nacht oder RTL-Nachtjournal noch hinzugerechnet werden müssen, macht mehr als deutlich, dass Fernsehnachrichten seitens der Rezipienten als selbstverständlicher Teil ihrer alltäglichen Kommunikationskultur angesehen werden (vgl. Kamps/Meckel 1998, 11). So stuften auch in einer 1999 durchgeführten bundesweit repräsentativen Befragung, in der nach der subjektiven Wichtigkeit von 26 verschiedenen Programmsparten gefragt wurde, 93% der Befragten die Programmsparte Nachrichten als wichtig bzw. sehr wichtig ein (vgl. Blödorn/Gerhards/Klingler 2000, 171).

Die gesellschaftliche Akzeptanz audiovisueller Informationsangebote beruht nicht zuletzt auch auf der Tatsache, dass das Fernsehen in seiner Berichterstattung Authentizität suggeriert, „[...] weil es scheinbar nachprüfbare Bilder präsentiert“ (Scholl/Weischen-berg 1998a, 145). Dementsprechend werden Fernsehnachrichtensendungen im Vergleich zu anderen Informationsangeboten im Durchschnitt immer noch als am glaubwürdigsten erachtet (vgl. Geißler/Ludes 2000, 89)[1]. Auf Seiten der Rundfunkanbieter wiederum gelten häufig insbesondere die Hauptnachrichtensendungen als prägend für das publizistische Profil und maßgebend für das Ansehen des Senders hinsichtlich seiner Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit. Nicht selten sind in diesem Zusammenhang Formulierungen wie „Flaggschiff“ des Gesamtprogramms (Ludes 1994, 22) oder „Visitenkarte der Kategorie ´Information’“ (Kamps/Meckel 1998, 11) zu finden.

2.1 Entwicklung von Fernsehnachrichten in der BRD

Ein schlaglichtartiger Blick[2] auf wenige Punkte in der Entwicklung der Fernsehnachrichten in der Bundesrepublik verdeutlicht bereits einige Aspekte, die hinsichtlich des Problems der Nachrichtenauswahl von Interesse sind. So war in der Frühzeit der Tagesschau als erster Fernsehnachrichtensendung der BRD zunächst die begrenzte Verfügbarkeit von Bildmaterial determinierend für die Zusammenstellung der Nachrichtenbeiträge. Bis 1955 war die Hamburger Redaktion ausschließlich auf das Filmmaterial der Neuen Deutschen Wochenschau angewiesen (vgl. Straßner 1982, 6), sodass selbst der ehemalige Redaktionsleiter Hans-Joachim Reiche die Sendung in ihrer Frühphase rückblickend als eine aus Schnittresten der Wochenschau zusammengestellte „Raritätenschau“ (zit. nach Ludes 1994, 20) bezeichnete. Ein exemplarischer Blick auf die erste Ausgabe der Sendung vermag diese Einschätzung kaum zu widerlegen: Gesendet wurden lediglich vier Beiträge, die sich mit der Rückkehr Eisenhowers aus Korea, dem Neubau des Fernsehhauses des NWDR, dem Start einer Eisrevue in Hamburg sowie einem Fußballspiel zwischen Deutschland und Jugoslawien befassten (vgl. Straßner 1982, 100), wobei insbesondere der Text des einzigen politischen Beitrags „die filmisch-erzählerische Tradition [verdeutlicht], mit der die Tagesschau an die Wochenschauen anknüpft[e]“ (Kamps/Meckel 1998, 13):

Dieser schwere Kreuzer brachte den zukünftigen amerikanischen Präsidenten Eisenhower aus Korea zurück. – Nach dem Schlachtenlärm am 38. Breitengrad ein erholsames Tontaubenschießen an Bord. Es gab an Bord aber auch schwerwiegende Beratungen: über Korea. In Hawai angekommen, wurde Eisenhower nach alter Landessitte zur Begrüßung ein Blumenkranz umgehängt. Das etwas ernüchternde Resultat seiner 35.000 Kilometer-Reise nach Korea faßte Eisenhower in New York in der Erklärung zusammen: ´Für die Korea-Frage gibt es keine Patentlösung. Ich bin aber zuversichtlich in Hinblick auf eine befriedigende Lösung´ (zit. nach Straßner 1982, 4-5).

Bemerkenswert ist auch die ebenfalls unter heutigen Kriterien journalistischer Nachrichtenbearbeitung skurril anmutende textliche Präsentation des letzten Beitrags, die allerdings durchaus mit dem Soft News-Charakter der Meldung korrespondiert:

Unter dem Titel ´Zirkusluft´ wurde in Hamburg eine neue Eisrevue gestartet, die den Namen Maxi und Ernst Baier neuen Glanz und neue Triumphe bringen soll. Ein beschwingter Walzer des Balletts auf spiegelglattem Parkett. Übrigens: keines dieser Mädchen ist älter als 22 Jahre. Und die Jüngste? Sie feiert eben ihren 15. Geburtstag. Nun teilt sich das Ballett, um Ernst Baier und Maxi Baier zu ihrem großen Walzer auf das Eis zu holen. ´Wildes Kurdistan´. Frank de Sawer zeigt, daß er neben Dick Button einer der besten Artisten auf dem Eise ist (zit. nach ebd., 5).

Auch wenn mit dem redaktionellen Ausbau der Tagesschau die politische Berichterstattung sehr bald zunehmend an Gewicht gewann, blieb aufgrund der Berücksichtigung von vermuteten Rezipientenpräferenzen und in Anlehnung an die Tradition der Wochenschau der letzte Beitrag der jeweiligen Sendung nach Aussage des ersten Chefredakteurs der Sendung Martin S. Svoboda zunächst stereotyp: Er „mußte ´leicht´ sein: Mode, Pferderennen, ein Boxkampf, Tanzturnier usw. Als Belohnung gewissermaßen für Politik, Wirtschaft, Unglücksfälle, Brände. Das war eine eiserne Regel“ (zit. nach ebd., 100). Dies zeigt vor allem, dass es sich bei den im Rahmen von kritischen Äußerungen bezüglich der Nachrichtenauswahl nahezu rituell beklagten Boulevardisierungs-tendenzen im Fernsehnachrichtenbereich sowie der Vermischung von Unterhaltungs- und Informationsangeboten keineswegs um Phänomene handelt, deren Ursachen ausschließlich in Entwicklungen der jüngsten Vergangenheit zu suchen sind.

Zwar etablierte sich die Tagesschau bis 1956 als eine täglich außer sonntags ausgestrahlte Nachrichtensendung (vgl. ebd., 6), den Anspruch, umfassend und tagesaktuell zu berichten, konnte die Sendung nach Ansicht des oben genannten ehemaligen Redaktionsleiters Reiche allerdings erst Anfang der 60er erfüllen, nachdem wichtige finanzielle, technische und organisatorische Verbesserungen wie der Ausbau des Korrespondentennetzes oder der Beginn des Nachrichtenaustausches der Eurovision erreicht worden waren (vgl. Ludes 1994, 20). Als Hauptaufgabe sah Reiche fortan die politische Berichterstattung aus dem In- und Ausland an, die noch bis heute ihren deutlichen Ausdruck in der Themenstruktur der Tagesschau findet:

Nachrichten, die im Fernsehen [...] verbreitet werden, müssen Nachrichten für alle sein: [...] für Menschen aller Schichten und Berufe. Das Informationsbedürfnis jeder dieser Gruppen ist bei der Zusammenstellung und Redaktion der Sendung mitzubedenken. Das Zentrum jeder Nachrichtensendung der Tagesschau bildet die politische Information. Das heißt nicht, daß es nur um Politik gehen darf [...]. Aber die Politik ist das Kernstück jeder Tagesschau-Ausgabe. Ein Nachrichtendienst, der für das ganze Bundesgebiet gemacht wird, muß weltweit orientiert sein. Die enge internationale Verflechtung von Politik und Wirtschaft, die Stellung der Bundesrepublik in den europäischen Bündnissen und den Weltorganisationen erfordern einen über die nationalen Grenzen hinausreichenden Einzug von Nachrichten (zit. nach Straßner 1982, 6-7).

Als im Jahr 1963 mit dem Start von heute die Monopolstellung der Tagesschau endete, hatte sich die ARD-Sendung bereits „als ein habituelles Fixum des Fernsehabends etabliert und [sich] wohl auch ihr Nachrichtenverständnis und ihre Präsentationsweisen dem Bewußtsein nachdrücklich eingeprägt“ (Kübler 1979, 254). Zu diesem Nachrichtenverständnis gehört nicht nur die Orientierung an ereignishaften, tagesaktuellen Geschehnissen (vgl. Straßner 1982, 104), sondern auch die bereits genannte Themenstruktur, für die die ersten empirischen Daten für die Jahre 1966/1967 vorhanden sind. Demnach behandelten 67,6% der Beiträge politische Themen, gefolgt von Wirtschaft mit 12,1%, Katastrophen und Unglücksfälle 5,9%, Sport 3,7% sowie Restliches 10,7% (vgl. Straßner 1982, 100). Obwohl zum Zeitpunkt des Starts von heute nur rund die Hälfte der in Deutschland verbreiteten Fernsehgeräte zum Empfang des ZDF geeignet waren (vgl. Ludes 1994, 26), nahm die heute -Sendung sehr bald den Konkurrenzkampf um Zuschauerzahlen auf und versuchte diesen vor allem mit mehr „Volksnähe [...] und ein[em] lockere[n] Präsentationston“ (Straßner 1982, 9) zu ihren Gunsten zu entscheiden: „Da die Zuschauer ein möglichst umfassendes Bild vom Tagesgeschehen in aller Welt erwarten dürfen, bemüht sich die Redaktion um ein ausgewogenes Verhältnis von ´schwerer´ und ´leichter´ Kost für die Sendung um 19 Uhr 30“ (o.V. 1966, 68).

Demnach offenbarte sich schon zum Start der Phase des Duopols von Tagesschau und heute, dass, beispielsweise aus Gründen der Medienkonkurrenz, verschiedene journalistische Wirklichkeitsentwürfe basierend auf unterschiedlichen Selektionskriterien parallel zueinander koexistieren können. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass „[...] Fernsehnachrichten [...] mit Blick auf ein Nachrichtenpublikum konzipiert [werden], mit Blick also auf unterstellte Relevanz der Meldungen für die Teil-Publika einer Mediengesellschaft“ (Kamps/Meckel 1998, 24). Zudem weist die vorübergehende Ausdehnung der Gesamtlänge von heute auf 30 Minuten im Jahr 1969 (vgl. Ludes 1994, 27) nicht nur auf die Möglichkeit unterschiedlicher Auffassungen darüber hin, welche Themen zu einer ´umfassenden´ Information des Zuschauers in die Sendung genommen werden müssen, sondern auch darüber, wie viele Themen wie ausführlich behandelt werden sollten.

Die Tatsache, dass anders als heute Fernsehnachrichten über Jahrzehnte nicht nur über ihre Inhalte weitreichenden Einfluss auf die Rezipienten hatten, sondern unabhängig davon auch ein wichtiges tagesstrukturierendes Element darstellten, verdeutlicht exemplarisch die Aussage des ehemaligen ZDF-Intendanten Dieter Stolte zur Vorverlegung der heute -Sendung auf 19 Uhr im Rahmen der Programmreform des ZDF im Jahr 1973:

Mit dem zeitverschobenen Beginn des Hauptabendprogramms [...] bieten sich dem Zuschauer fraglos erweiterte Wahlmöglichkeiten. Generell hat er die Wahl, seinen Feierabend früher als bisher zu beginnen, oder es bei dem bisherigen zeitlichen Ablauf zu belassen. Diese Alternative fordert den Zuschauer auf, bewusster als bisher – entsprechend seiner familiären Infrastruktur – die Programmentscheidung für den Abend zu treffen (zit. nach Langenbucher 2001, 31-32).

Eine in diesem Rahmen zudem gewagte Umgestaltung von heute zu einer „´Nachrichtenwerkstatt´ mit echter ´Arbeitsatmosphäre´“ (Ludes 1994, 28) musste allerdings rasch zurückgenommen werden, weil sie dem Publikum mehr Hektik als wertvolle Informationen vermittelte. Straßner (1982, 11) spricht in diesem Zusammenhang von einem „Baustellencharakter“ der Sendung, der auf Rezipientenseite „offenes Entsetzen“ hervorgerufen habe.

Analog dazu ließ sich Mitte der achtziger Jahre auch eine graduelle Rücknahme früher Profilierungsversuche mittels der Präsentationsform bei den ersten Nachrichtensendungen der privat-kommerziellen Sender beobachten, die sich „nach allerlei Experimenten [...], um beim Publikum dauerhaft akzeptiert zu werden, weitgehend dem formalen Imperativ der sozusagen klassischen Fernsehnachrichten anpassen [mussten]“ (Langenbucher 2001, 32). Besonders aber in Bezug auf die Nachrichten inhalte lässt sich für die Zeit nach der Einführung des dualen Systems – auch angesichts der Etablierung neuer Formate wie Wirtschafts-, Sport- oder Musiknachrichtensendungen – zweifellos von einer Diversifizierung und Differenzierung der Fernsehnachrichtenangebote in Deutschland sprechen, die – etwa mit der Möglichkeit der Rezeption ausländischer Nachrichtenkanäle – durch eine Internationalisierung des Informationsangebotes ergänzt wird. Trotz des sich bietenden heterogenen Nachrichtenspektrums kommt allerdings „im Bereich [...] der Informationsnutzung via Fernsehen [...] dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen aus der Perspektive der Zuschauer [...] nach wie vor die eindeutig dominante Rolle zu“ (Blödorn/Gerhards/Klingler 2000, 180). So entfielen beispielsweise im Jahr 2000 noch etwa 76% des gesamten Nachrichtenkonsums der Bundesbürger auf ARD, ZDF, die dritten Programme und 3Sat (vgl. Darschin/Zubayr, 2001, 238). Dabei kann insbesondere offenbar „die veränderungsresistente Tagesschau [...] nach wie vor mit dem Pfund ihres schwer zu erklärenden Glaubwürdigkeitsvorsprungs wuchern“ (Scholl/Weischenberg 1998a, 138) und mit ihrer Hauptausgabe täglich durchschnittlich noch rund neun Millionen Zuschauer erreichen (vgl. Darschin/Zubayr 2001, 238; vgl. auch o.V. 2002).

2.2 Funktion und Leistungen von Fernsehnachrichtensendungen als Teil des journalistischen Systems

Angesichts der genannten Bevorzugung von Fernsehnachrichten bei der Nutzung medialer Informationsangebote liegt es nahe, diesem Genre bei der Erfüllung der Leistungen und Funktionen des Journalismus eine besondere Rolle zuzuweisen. Dabei kann sich eine hinreichende Bestimmung der gesellschaftlichen Funktionalität des journalistischen Systems allerdings nicht allein auf die ihm vom Gesetzgeber zugewiesenen öffentlichen Aufgaben stützen. Auf die Unzulänglichkeit eines solchen Versuchs verweist beispielsweise Rühl (1980, 18-19), indem er betont, dass „[...] auch nichtjournalistische Sozialsysteme [...] kommentieren, bilden und unterhalten, so daß eine durch diese Aufgabenstellung erhoffte Präzision für Journalismus nicht eintritt“.

Hilfreicher ist demnach die Frage nach der Funktion, die das soziale System Journalismus als einziges System für die gesamte Gesellschaft erbringt. Diese vom Journalismus in modernen pluralistischen Gesellschaften wahrgenommene Funktion ist nach Huber (1998, 38) „[...] aktuelle Informationsangebote aus den diversen sozialen Systemen (Umwelt) zu sammeln, auszuwählen, zu bearbeiten und dann diesen sozialen Systemen (Umwelt) als Medienangebote wieder zur Verfügung zu stellen“ (vgl. auch Weischenberg 1992, 41). Dabei sind unter Medienangeboten journalistische Themen zu verstehen, die „in Orientierung an Gesellschaft“ (Rühl 1980, 324) erst hergestellt werden müssen:

Sie gelten als poietisch, als machbar. Über Weltereignisse unter sozialen, sachlichen und zeitlichen Bedingungen Themen zur Kommunikation herzustellen und bereitzustellen, darin ist die Primärfunktion des Journalismus [...] zu erkennen. Durch sie erst schafft Journalismus Identität für einen zentralen Bereich öffentlicher Kommunikation. Er produziert für die Gesellschaft permanent ´aktuelle Themen´ [...], indem er andere, in der Gegenwart grundsätzlich auch mögliche Themen neutralisiert.

Mit seiner Thematisierungsfunktion trägt der Journalismus zur Selbstbeobachtung der Gesellschaft bei, wobei sich in diesem Kontext angesichts der Nutzungsdaten für die Nachrichtensendungen des Fernsehens durchaus von Fernsehnachrichtensendungen als „Hauptbeobachter moderner Gesellschaften“ (Geißler/Ludes 2000, 91) sprechen ließe:

Journalismus stellt Themen [...] zur Verfügung, die Neuigkeit und Faktizität besitzen, und zwar insofern, als sie an sozial verbindliche Wirklichkeitsmodelle und ihre Referenzmechanismen gebunden sind. Diese Thematisierung folgt den internen Systemregeln und reproduziert die eigenen Strukturen. Auf der Grundlage dieser Regeln arbeitet das System Journalismus selbstorganisierend und selbstbezogen (Weischenberg 1998, 103-104).

Über die zentrale Funktion der „Herstellung und Bereitstellung von Themen zur öffentlichen Kommunikation“ (Rühl 1980, 319) hinaus erbringt Journalismus aber auch unterschiedliche Leistungen für einzelne gesellschaftliche Teilsysteme. So legt insbesondere die Politikwissenschaft bei ihrer Beschäftigung mit dem Journalismus den Maßstab fest, „[...] dazu beizutragen, den Pluralismus von Informationen und Meinungen herzustellen, der die Grundlage für die demokratischen Wahlentscheidungen bildet“ (Weischenberg 1992, 83):

Die Demokratisierungsprozesse in Europa, die überwiegend in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen [...], haben [...] den Blick für den Umstand geschärft, daß eine fundierte politische Beteiligung aller Bürger, soll sie nicht zur Farce werden, einer von den politischen Akteuren unabhängigen, regelmäßigen und zuverlässigen Berichterstattung zur Information über Politik und zur Herstellung von Öffentlichkeit bedarf. Der Logik der arbeitsteiligen Verfaßtheit moderner demokratischer Gesellschaft entspricht daher zur Wahrnehmung dieser Integrations- und Vermittlungsfunktion mit dem Ziel der Information die Ausdifferenzierung eines gesellschaftlichen Subsystems Massenkommunikation (Kaase 2002, 286).

Diese auf die utilitaristische Denktradition der Aufklärung zurückgehende Idee, die Medien hätten eine öffentliche Aufgabe zu erfüllen (vgl. Hagen 1995, 38), findet ihren Niederschlag auch in der bundesdeutschen Mediengesetzgebung. So sind nach den Bestimmungen des Staatsvertrags über den Rundfunk im vereinten Deutschland (1991, 3) sowohl der öffentlich-rechtliche als auch der private Rundfunk „der freien, individuellen und öffentlichen Meinungsbildung sowie der Meinungsvielfalt“ verpflichtet. In diesem Sinne sind die Rundfunkanbieter nach § 25 dazu angehalten, „die bedeutsamen, politischen, weltanschaulichen und gesellschaftlichen Kräfte und Gruppen“ zu Wort kommen zu lassen, sowie „Auffassungen von Minderheiten [...] zu berücksichtigen“ (ebd., 19). Des Weiteren sind vor allem Informationssendungen gesetzlich zur Einhaltung „anerkannte[r] journalistische[r] Grundsätze“ verpflichtet:

Sie müssen unabhängig und sachlich sein. Nachrichten sind vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Wahrheit und Herkunft zu prüfen. Kommentare sind von der Berichterstattung deutlich zu trennen und unter Nennung des Verfassers als solche zu kennzeichnen (ebd., 12).

3. Journalismus als Wirklichkeitskonstruktion

Obwohl empirische Befunde belegen, dass eine Mehrheit der deutschen Journalisten nach eigenen Angaben das Ziel verfolgt, mit Hilfe ihres Mediums die Realität abzubilden, und rund 80% glauben, dass die Berichterstattung diesem Ziel überwiegend auch gerecht wird (vgl. Scholl/Weischenberg 1998a, 142), „[...] ist in einem interdisziplinären wissenschaftlichen Diskurs gründlich mit der Vorstellung aufgeräumt worden, die Menschen hätten einen direkten Zugriff auf die Realität und könnten diesen Zugriff an Journalistinnen und Journalisten delegieren“ (ebd. 143):

Absolute Maßstäbe wie Wahrheit, Objektivität, und der Anspruch, mit den Mitteln des Journalismus die Wirklichkeit abzubilden, sind [...] nicht zu vereinbaren mit den empirisch belegten Erkenntnissen zur menschlichen Wahrnehmung und Kommunikation, die Biologen, Psychologen und Kybernetiker anbieten. Sie belehren uns, daß wir nicht in der Lage sind, mit Hilfe unserer Sinnesorgane direkt auf ´die Welt´ zuzugreifen. Das Nervensystem ist ein geschlossenes System, das zur Umwelt keine direkten Verbindungen hat. Es ist offen für Anregungen, die es aber in seiner eigenen Sprache verarbeitet. Unser Bewußtsein ist [...] in diesem Verständnis nichts anderes als das Ergebnis von Verarbeitungsprozessen im Gehirn (Weischenberg 1992, 218).

Genauso wie es sich bei der menschlichen Wahrnehmung und dem Versuch, der (Um-) Welt einen Sinn zuzuordnen, um eine Konstruktion von Realität handelt, können auch die Massenmedien lediglich Wirklichkeitsentwürfe anbieten, zumal an massenmedialen Beobachtungsprozessen in den allermeisten Fällen gleich mehrere Instanzen beteiligt sind. Dies ist wohl für keinen Bereich offensichtlicher als für den der Nachrichten, da diese, bevor sie die Rezipienten schließlich erreichen, von einzelnen Journalisten, Redaktionen oder Nachrichtenagenturen bereits mehrfach thematisch neu zugeordnet, bearbeitet und interpretiert worden sind:

Indeed [...] news events are seldom witnessed directly by journalists. Events usually become known through the already coded and interpreted discourses of others, most prominently through the dispatches of news agencies. It is the processing of the multitude of input text and talk which lies at the heart of news discourse production (van Dijk 1988, 96-97).

Wenngleich auch als generelles Ergebnis verschiedener medienwissenschaftlicher Forschungstraditionen übereinstimmend festgehalten werden kann, dass die Massenmedien die Realität nicht unverzerrt widerspiegeln können, da „[...] die in den Medien dargebotene Wirklichkeit [...] in erster Linie die Stereotype und Vorurteile der Journalisten, ihre professionellen Regeln und politischen Einstellungen, die Zwänge der Nachrichtenproduktion und die Erfordernisse medialer Darstellung [repräsentieren]“ (Schulz 1989, 139), gibt es bei der Beantwortung der sich daraus ergebenen Fragen bis heute ungleich weniger Einigkeit:

Winfried Schulz (ebd., 139-140) unterscheidet bei den Reaktionen auf die beiden Fragen, welche Folgen die Orientierung an einer verzerrten Medienrealität für den Einzelnen und die Gesellschaft habe, und wie der Widerspruch zwischen den tatsächlichen Leistungen der Medien und den Prinzipien der Objektivität, Unparteilichkeit und Wahrhaftigkeit einzuschätzen sei, zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Antworten, die auf gegensätzliche Vorstellungen über das Verhältnis von Medien und Realität zurückzuführen sind. Dabei unterscheidet er zwischen einem ´ptolemäischen´ und einem ´kopernikanischen´ Standpunkt, wobei damit freilich nicht konkrete Parallelen zu den kosmologischen Grundvorstellungen Ptolemäus´ und Kopernikus´ gemeint sind, sondern lediglich auf den „epistemologischen Antagonismus“ (ebd., 140) Bezug genommen werden soll.

3.1 Der ´ptolemäische´ Standpunkt

Die ´ptolemäische´ Antwort auf die Frage nach den Folgen der Orientierung an einer verzerrten Medienrealität ist nach Schulz (ebd) „die These von der mächtigen Medienwirkung“. Diese stützt sich auf die Grundannahme, dass die Rezipienten ihr Verhalten zumindest teilweise am medial vermittelten Wirklichkeitsentwurf ausrichteten, womit sie und die Gesellschaft insgesamt einem starken von den Massenmedien ausgehenden Einfluss unterworfen seien. Als grundlegend für diese Vorstellung vom Einfluss der Massenmedien identifiziert Schulz zwei Prämissen, von denen die erste ein prinzipieller Gegensatz zwischen den Massenmedien und der Gesellschaft ist: „Nach dieser Auffassung sind die Massenmedien ein Fremdkörper, eine der Gesellschaft ´aufgesetzte´ wesensfremde Technik – mit dem Potential, Individuen und soziale Gruppen zu kontrollieren und zu manipulieren, der Gesellschaft zu schaden“ (ebd.). Die zweite Prämisse ist die Annahme, es sei die Aufgabe der Medien, insbesondere der Nachrichtenmedien, ein möglichst getreues Abbild der Wirklichkeit zu repräsentieren, also eine Vorstellung, die nicht nur „recht gut mit unserem Alltagsverständnis von der Rolle der Massenmedien [übereinstimmt]“, sondern auch „mit dem traditionellen epistemologischen Denken in der europäischen Philosophie kompatibel [ist]“ (ebd.).

Die übliche Reaktion der Vertreter des ´ptolemäischen´ Standpunktes auf die Diskrepanz zwischen den Prinzipien der Objektivität, Unparteilichkeit und Wahrhaftigkeit einerseits und der offensichtlich verzerrten Medienrealität andererseits ist nach Schulz eine massive Medienkritik:

Zum Beispiel Klagen darüber, dass im Fernsehen zu viel Gewalt gebracht wird [...], Kritik über zu viel Negativismus in den Nachrichten, zu viel Sensationalismus und Fragmentierung, zu viel ´big power news´ und Hofberichterstattung; Vorwürfe gegenüber den Medien, sie würden das Image von Politikern und das Ergebnis von Wahlen manipulieren, indem sie einseitig berichten, Nachricht und Meinung vermischen, die öffentliche Meinung nicht repräsentieren, das Erscheinungsbild der Politiker deformieren (ebd., 141).

In ihrer Tendenz zielen die ´ptolemäischen´ Kritiker damit meist zumindest auf eine stärkere Kontrolle der Massenmedien (vgl. ebd.).

3.2 Der ´kopernikanische´ Standpunkt

In der ´kopernikanischen´ Sicht hingegen werden nach Schulz (ebd., 142) die Massenmedien „als integraler Bestandteil der Gesellschaft“ und „aktives Element in dem Prozeß begriffen, aus dem eine Vorstellung von Wirklichkeit erst hervorgeht“:

Ihre Aufgabe besteht darin, die Stimuli und Ereignisse in der sozialen Umwelt zu selektieren, zu verarbeiten, zu interpretieren. Auf diese Weise nehmen sie Teil am kollektiven Bemühen, eine Realität zu konstruieren und diese – durch Veröffentlichung – allgemein zugänglich zu machen, so daß eine gemeinsame Basis für soziales Handeln entsteht.

Damit ist in der ´kopernikanischen´ Auffassung die Realität – anders als in der ´ptolemäischen´ Sichtweise – nicht Voraussetzung und Gegenstand von Kommuni-kation, sondern deren Ergebnis. Die Medienrealität speist sich dabei aus zwei verschiedenen Quellen: den ´objektiv´ vorfindbaren Ereignissen und ihrer Merkmale sowie den im Mediensystem angelegten Erfahrungen und Schemata (vgl. ebd). Diese führen u.a. zu den aus ´ptolemäischer´ Sicht kritisierten Selektionen, Strukturierungen, Bewertungen usw., die hingegen „in der ´kopernikanischen´ Perspektive nicht nur als unvermeidbare Nebenwirkungen, sondern als erwünschte Funktionen von Kommunikation [erscheinen]“ (ebd.).

Bei der Beantwortung der Frage nach den Folgen einer Orientierung an der verzerrten Medienrealität verweist Schulz (ebd., 143) zum einen auf das „epistomologische Dilemma“, dass „[...] Realität immer nur über Informationsprozesse konkret erfahrbar ist“, wodurch eine Überprüfung der Medienrealität an einer ´reinen´ Realität nicht möglich ist. Zum anderen sei das epistemologische Problem sowie „die empirische Ungewißheit aller Wirklichkeitskonstrukte [...] jedoch vorwiegend von akademischer, theoretischer Bedeutung“, da es in der Praxis lediglich darauf ankomme, „[...] daß die Wirklichkeitskonstrukte als plausibel anerkannt werden und als Handlungsbasis taugen“ (ebd.).

Die Einschätzung des Widerspruchs zwischen den tatsächlichen Leistungen der Massenmedien einerseits und den Prinzipien der Objektivität, Unparteilichkeit und Wahrhaftigkeit andererseits muss aus ´kopernikanischer´ Sicht ebenfalls anders ausfallen als aus der ´ptolemäischen´. Durch die Substitution von mechanistischen Modellen der Medien als passive Vermittler der Realität durch Modelle, die der Vorstellung von Realität als ein soziales, von den Massenmedien mitbestimmtes, Konstrukt entsprechen (vgl. ebd. 143-145), wandelt sich auch das Verständnis des Konzeptes der Objektivität und damit auch das journalistischer Regeln wie Sachlichkeit, Wahrhaftigkeit oder Unparteilichkeit:

Das Konzept der Objektivität [...] wird nicht als eine Eigenschaft der Journalisten oder der Medien betrachtet, die man empirisch testen kann, um zu entscheiden, ob Objektivität vorhanden bzw. in welchem Grade sie ausgeprägt ist. Statt dessen gilt Objektivität als ein abstraktes Ziel, als handlungsleitende Norm, als ein ´Ideal´. In dieser Betrachtungsweise hat Objektivität die Aufgabe, das faktische Verhalten der Journalisten zu leiten, die Medien anzuhalten, so genau und unparteilich wie möglich zu berichten. [...] Wenn das so verstandene Objektivitätsideal seine Steuerungsfunktion angemessen erfüllt, dann wird das konkrete Verhalten der Journalisten, gemessen am abstrakten Ziel, immer defizitär erscheinen. Wäre das nicht der Fall, dann hätte man das Objektivitätsideal zu anspruchslos formuliert (ebd., 145).

Im Sinne eines Ideals ist journalistische Objektivität demnach „both necessary and impossible“ (McQuail 1983, 108). Donsbach (1993, 65) hat darauf hingewiesen, dass auch in der modernen Wissenschaftstheorie Objektivität „kein Merkmal der Aussage in ihrer Beziehung zur Realität, sondern ein Merkmal der Vorgehensweise“ ist. Als objektiv gilt die Erkenntnisgewinnung demnach dann, wenn sie den zuvor festgelegten wissenschaftslogischen und methodischen Anforderungen gerecht wird und somit intersubjektiv überprüfbar ist (vgl. ebd). Übertragen auf den Journalismus bedeutet dies, „[...] daß vor allem durch bestimmte Methoden der Recherche, der Überprüfung und Darstellung von Aussagen eine entsprechende Form ´methodischer Objektivität´ erreicht werden kann“ (ebd.). Medienkritik, die sich gegen mangelnde Objektivität richtet, ist demnach auch aus ´kopernikanischer´ Sicht legitim und funktional, „[...] sofern sie auf Verhaltenskontrolle nach Maßgabe der Berufsnormen abzielt“ (Schulz 1989, 145). Ausgehend von der Tatsache, dass Medien ihre eigene Wirklichkeit entwerfen, erweist sich folglich ein Festhalten am Maßstab einer Objektivität, die als Abbildung von Wirklichkeit verstanden wird, als widersinnig. Eine so verstandene journalistische Objektivität ist durchaus als „Berufsideologem“ (Weischenberg 1995, 162) anzusehen.

4. Klassische Theorie- und Untersuchungsansätze zur Nachrichtenauswahl

Den genannten Anforderungen der Mediengesetzgebung entsprechend wird trotz gelegentlich auftretender Irrtümer bei den vom Nachrichtenjournalismus bereitgestellten Informationen grundsätzlich vorausgesetzt, dass sie der Wahrheit entsprechen (vgl. Luhmann 1995, 25). Nicht in der Wahrheit der Einzelmeldungen liegt daher das Problem, „[...] sondern in der unvermeidlichen, aber auch gewollten und geregelten Selektivität“ (ebd.). Dabei unterstreicht insbesondere der häufig den Massenmedien prinzi-piell unterstellte Manipulationsverdacht, für den im Folgenden stellvertretend die Einschätzung des Philosophen Günter Anders (1956, 164) zum Problem der Nachrichtenauswahl stehen soll, auf die Notwendigkeit einer eingehenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Thematik:

Keine Lüge, die etwas auf sich hält, enthält Unwahres. [...] Auch wenn man alles einzelne als solches wahrheitsgemäß senden würde, könnte man doch das Ganze, allein schon dadurch, daß man vieles Wirkliche nicht zeigt, in eine präparierte Welt, und den Konsumenten des Ganzen in einen präparierten Menschen verwandeln. Dieses Ganze ist dann weniger wahr, als die Summe der Wahrheiten seiner Teile; oder, in Abwandlung des berühmten Hegelsatzes: ´Das Ganze ist die Lüge; erst das Ganze.´ Die Aufgabe derer, die uns das Weltbild liefern, besteht also darin, aus vielen Wahrheiten ein Ganzes für uns zusammenzulügen.

Tatsächlich ist jedoch die Frage nach den Grundlagen der Nachrichtenauswahl bis heute trotz intensiver Forschungsarbeit vor allem auch ein Forschungsproblem geblieben (vgl. Kepplinger 1989, 3).

Im Folgenden sollen daher zunächst die drei üblicherweise voneinander unterschiedenen Traditionen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Thematik (vgl. Staab 1990, Kepplinger 1989, Kunczik/Zipfel 2001[3] ), nämlich die Nachrichtenwert-Theorie, die Gatekeeper- und die News Bias-Forschung,[4] behandelt und auf ihre Erklärungskraft untersucht werden. Dabei ist zu bemerken, dass „[...] eine eindeutige Zuordnung der einzelnen empirischen Untersuchungen nicht immer möglich ist“ (Staab 1990, 11).

4.1 Die Nachrichtenwert-Theorie

Wie der Blick auf die Entwicklung bundesrepublikanischer Fernsehnachrichten bereits gezeigt hat, haben die konkurrierenden Anbieter von Fernsehnachrichten „genügend Spielraum [...] aus dem Überangebot an Informationsinput charakteristische sendereigene Nachrichtenprofile zu entwickeln“ (Krüger 1998, 70). Dabei verweisen unterschiedliche Relevanzstrukturen[5] vor allem auf eine Orientierung an den Bedürfnissen unterschiedlicher Zielpublika. Eine Erklärung dafür, dass das von den unterschiedlichen Nachrichtenanbietern entworfene Bild der Welt trotz dieses Spielraums nicht Resultat eines völlig beliebigen oder rein nachfrageorientierten Selektionsprozesses ist, bietet die Nachrichtenwert-Forschung durch die Identifikation von selektionssteuernden Nachrichtenfaktoren an.

Die offensichtliche Attraktivität des Nachrichtenwert-Konzeptes für die Nachrichtenforschung, die wohl vor allem auf die starke Komplexitätsreduktion bei der Betrachtung des Prozesses der Nachrichtenauswahl zurückzuführen ist (vgl. Kamps/Meckel 1998, 21), hat zu einer Vielzahl von Untersuchungen geführt, weshalb bei der folgenden Auseinandersetzung mit dem Ansatz eine Konzentration auf einzelne für die Entwicklung der Forschungsrichtung sowie im Rahmen der Fragestellungen dieser Arbeit relevante Publikationen unvermeidlich ist.

4.1.1 Ursprung der Nachrichtenwert-Theorie in den USA

Das Grundkonzept der Nachrichtenwert-Theorie wurde erstmals vom amerikanischen Publizisten Walter Lippmann in seinem 1922 erschienenen Buch „Public Opinion“ (dt. 1964) formuliert. Auch Lippmann (1964, 65) ging zunächst von der Grundüberlegung aus, dass es den Menschen im Allgemeinen nicht möglich ist, die Realität angemessen und vollständig zu erfassen. „Denn die akzeptierten Typen, die geläufigen Denkschemata, die Standardversionen unterbrechen die Informationen auf ihrem Weg zum Bewußtsein“ (ebd.). Im gleichen Maße könne demnach auch die Berichterstattung der Presse stets immer nur eine Interpretation der Realität sein:

Wir mißverstehen die begrenzte Natur der Nachrichten und die nicht begrenzbare Komplexität der Gesellschaft; wir überschätzen hingegen unsere eigene Ausdauer, unseren Sinn für die Öffentlichkeit, unsere allumfassende Zuständigkeit. [...] Wenn man also den Zeitungen die Verpflichtung aufbürdet, das ganze öffentliche Leben umzusetzen, [...] so versagen sie, müssen sie zwangsläufig versagen, ja, werden sie in jeder vorstellbaren Zukunft darin versagen (ebd.).

Bei der Schaffung eines vereinfachten Modells der Realität spielten vor allem Stereotype eine gewichtige Rolle, wobei Stereotype im Sinne Lippmanns „vom Vor-Urteil bestimmte Vereinfachungen der Weltsicht, gängige Modelle und Schemata mit oft emotivem Gehalt [sind], die der raschen Orienierung dienen und als Abwehrmechanismus gegen ungewisse, ungewohnte und unangenehme Informationen wirken“ (Schulz, 1976, 9). Dabei sind, so Lippmann (1964, 240), Journalisten bei der Bewältigung ihrer täglichen Arbeit in besonderem Maße auf die Anwendung einer derart komplexitätsredu-zierende Informationsverarbeitung angewiesen:

Ohne Standardisierung, ohne Stereotypen, ohne Routineurteile, ohne eine ziemlich rücksichtslose Vernachlässigung der Feinheiten stürbe der Redakteur bald vor Aufregungen. [...] Die Sache könnte ohne Systematisierung überhaupt nicht bewältigt werden, denn ein standardisiertes Produkt erfordert Sparsamkeit an Zeit und Mühe und eine Teilgarantie gegen Mißerfolg.

Die Medienrealität im Sinne Lippmanns ist demnach schon deshalb notwendigerweise eine Konstruktion, weil sich in den medialen Auswahlroutinen die grundlegenden Routinen der menschlichen Wahrnehmung spiegeln. In diesem Zusammenhang fragte Lippmann nach den Kriterien journalistischer Selektionsentscheidungen, wobei er erstmals auch den Begriff des Nachrichtenwerts verwendete (vgl. ebd., 237). „Unter Nachrichtenwert versteht Lippmann die Publikationswürdigkeit von Ereignissen, die aus dem Vorhandensein und der Kombination verschiedener Ereignisaspekte resultiert“ (Staab 1990, 41), wobei nach Lippmann (1964, 241) bei der Bestimmung des Nachrichtenwerts einzelner Ereignisse als Grundlage des journalistischen Selektionsprozesses keine objektiven Regeln, sondern lediglich Konventionen zur Anwendung kommen.

Anhand von konkreten Einzelbeispielen entwickelte Lippmann schließlich einen Katalog von Ereignismerkmalen, also Nachrichtenfaktoren, die seiner Ansicht nach den Nachrichtenwert eines Geschehens bestimmen. Dazu gehören die Ungewöhnlichkeit eines Ereignisses, sein Bezug zu bereits eingeführten Themen, seine zeitliche Begrenzung und Einfachheit, seine Konsequenzen sowie die Beteiligung bekannter Personen und die Entfernung des Ereignisortes zum Verbreitungsgebiet eines Mediums (vgl. Staab 1990, 41). Je mehr dieser Aspekte ein Ereignis aufweist und je genauer es ihnen entspricht, desto größer ist nach Lippmann die Wahrscheinlichkeit, dass es publiziert wird.

Das damit erstmals formulierte Konzept der Nachrichtenwert-Theorie, also die Bestimmung von Ereignismerkmalen (Nachrichtenfaktoren), an denen sich die journalistische Selektionsentscheidung orientiert und die damit die Publikationswürdigkeit (Nachrichtenwert) eines Ereignisses bestimmen, wurde im Anschluss in US-amerikanischen Studien immer wieder aufgegriffen, ohne jedoch explizit auf Lippmann Bezug zu nehmen (vgl. Staab 1990, 42). Eingang fand das Nachrichtenwert-Konzept zudem in Journalistenhandbücher, in denen es „im Sinne normativer Handlungsanweisungen“ (ebd., 49) formuliert wurde. Trotz zahlreicher Modifizierungen und Ausarbeitung der Liste der Nachrichtenwert-Kriterien in verschiedenen Studien (vgl. ebd. 42) benannten frühe Handbücher meist einen Katalog von insgesamt sechs verschiedenen Nachrichtenfaktoren, zu denen Unmittelbarkeit, Nähe, Prominenz, Ungewöhnlichkeit, Konflikt und Bedeutung (Konsequenzen) gehören (vgl. ebd., 49).

4.1.2 Beginn der europäischen Tradition

Den Beginn der europäischen Forschungstradition markiert die Forschungsarbeit von Einar Östgaard (1965), der sich im Rahmen der skandinavischen Friedensforschung mit den Ursachen und Folgen von Verzerrungen im internationalen Nachrichtenfluss befasste, wobei er zwischen internen und externen Faktoren unterschied, „[...] which cause the ´picture of the world´ as it is presented through the news media to differ from ´what really happened´“ (ebd., 39). Zu den externen Faktoren zählte Östgaard Zensur, Propaganda und Nachrichtenmanagement durch Regierungen (vgl. ebd., 40-41) sowie den Einfluss ökonomischer Eliten etwa auf die Wirtschaftsberichterstattung (vgl. ebd., 41-42). Insgesamt seien in der Praxis jedoch politische und ökonomische Einflussfaktoren und ihre jeweiligen Auswirkungen schwer voneinander zu unterscheiden:

Obviously economic interests often operate not only on the political field, but also through news media, and they can do this by direct control of these media and more indirectly, as for example, by the power which advertisers are able to exert on the editorial policy of the news media which they are helping to finance (ebd., 44).

Außerdem verwies Östgaard im Zusammenhang mit dem Einfluss externer Faktoren auf die Rolle der vier großen westlichen, den internationalen Nachrichtenfluss determinierenden Nachrichtenagenturen, deren Handeln vor allem von der Motivation bestimmt sei, Nachrichten als Ware an ihre jeweiligen Kunden zu verkaufen, wodurch das inter-

[...]


[1] Die Glaubwürdigkeit, die (audio-) visuellen Informationen entgegengebracht wird, lässt sich historisch darauf zurückführen, dass der Gesichtssinn als der verlässlichste der Sinne gilt. Schon Aristoteles empfahl, sich in der Metaphysik nur auf den Gesichtssinn zu verlassen (vgl. Schmidt 1994, 14).

[2] Zu einer programmgeschichtlich orientierten Phaseneinteilung der bundesrepublikanischen Fernsehnachrichtengeschichte vgl. Ludes 1994.

[3] Kunczik und Zipfel (2001, 271) benennen als weiteren Ansatz das Framing-Konzept, dessen empirische Überprüfung und Konkretisierung allerdings erst am Anfang steht. Zudem bestehe ein weiteres Problem darin, „[...] daß den verschiedenen Studien oft ein sehr unterschiedliches Verständnis des eher diffus verwendeten ´Framing´-Begriffs zugrunde liegt“ (ebd.).

[4] Lutz M. Hagen (1995, 39) hat vorgeschlagen, in dieser Systematik künftig die Qualitätsforschung anstelle der News Bias-Forschung aufzuführen, da Letztere nur ein Teilgebiet der Qualitätsforschung darstelle.

[5] Diese äußern sich bei bundesdeutschen Hauptnachrichtensendungen derzeit beispielsweise in eine stärkeren Berücksichtigung von Themen aus den Bereichen Schule und Gesundheit oder in der Hinzunahme von Service- bzw. Verbraucherthemen bei RTL aktuell (vgl. ebd. 71-72).

Ende der Leseprobe aus 82 Seiten

Details

Titel
Nachrichtenselektion als Problem in Informationssendungen des Fernsehens
Hochschule
Ruhr-Universität Bochum  (Institiut für Medienwissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2003
Seiten
82
Katalognummer
V19562
ISBN (eBook)
9783638236539
Dateigröße
821 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Nachrichtenselektion, Problem, Informationssendungen, Fernsehens
Arbeit zitieren
Michael von Scheidt (Autor:in), 2003, Nachrichtenselektion als Problem in Informationssendungen des Fernsehens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/19562

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