L'amant - ein intermedialer Vergleich zwischen Buch und Film


Examensarbeit, 2007

88 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

EINLEITUNG

I. LITERATURVERFILMUNG IN DER THEORIE
I.1. LITERATURVERFILMUNG IM KONTEXT DER INTERMEDIALITÄT
I.1.1. Intermedialität – Entwicklung und Begriffsklärung
I.1.2. Gegenstand der intermedialen Forschung
I.2. LITERATURVERFILMUNG – EIN ADAPTIONSPROZESS
I.2.1. Zum Begriff der „Literaturverfilmung“
I.2.2. Bewertungskriterien einer Adaptionsanalyse
I.2.3. Möglichkeiten der Adaptionsanalyse
I.3. LITERATURVERFILMUNG – ZWISCHEN LITERATUR- UND FILMWISSENSCHAFT
I.4. DIE SEMIOTIK ALS ANALYSEMETHODE VON LITERATURVERFILMUNGEN
I.4.1. Die Semiotik – eine kurze Begriffsklärung
1.4.2. Sprachliches vs. filmisches Zeichen
I.4.3. Literarische vs. filmische Syntax
I.4.4. Exkurs: Musik als filmisches Zeichen
I.4.5. Die Analyse einer Literaturverfilmung – ein Transformationsprozess

II HINTERGRÜNDE DER VERFILMUNG
II.1. DIE BUCHAUTORIN ZUM FILM
II.2. DER REGISSEUR ZUM FILM
II.3. L’AMANT IN DER FILMKRITIK

III ADAPTIONSANALYSE
III.1. ZUM PROBLEM DER SEGMENTIERUNG DES GESCHEHENS
III.2. ZEIT ALS ASPEKT DER ERZÄHLFORM
III.2.1. „Ordre“
III.2.2. „Durée“
III.2.3. „Fréquence“
III.3. ERZÄHLPERSPEKTIVE
III.4. DIE GREIFBARSTEN NARRATIVEN EINHEITEN: RAUM UND FIGUR
III.4.1. Der Raum
III.4.1.1. Natur vs. umbauter Raum
III.4.1.2. Privater vs. Öffentlicher Raum
III.4.2. Die Figuren
III.4.2.1 Die Kleine
III.4.2.2. Der Liebhaber
III.4.2.3. Die Mutter
III.4.2.4. Der ältere Bruder
III.4.2.5. Der kleine Bruder
III.4.2.6 „Une famille en pierre“
III.4.2.7. Die Nebenfiguren: „La dame“ und Hélène Lagonelle

ZUSAMMENFASSUNG

ANHANG: FILMPROTOKOLL

LITERATURVERZEICHNIS

EINLEITUNG

„Das Buch war besser als der Film!“

Diesen Satz hört man überall, wo Kinobesucher den Aufführungssaal verlassen. Auch in Filmkritiken schneiden Literaturverfilmungen meist eher schlecht ab. Jüngste Beispiele sind die Verfilmungen „The Da Vinci Code“[1] und „Das Parfum“[2]. Woher kommt diese allgemeine „Überbewertung“ der Literatur gegenüber dem Film?

Ein Grund ist zunächst in der Beurteilung der beiden Medien an sich zu suchen. So stand die Literatur als ältere und seit jeher anerkannte Kunst lange Zeit hierarchisch über dem jüngeren Medium Film. Daraus resultiert, dass auch heute noch Kinder in der Schule bereits in jungen Jahren lernen, mit Literatur umzugehen, sie zu lesen und zu interpretieren. Filme hingegen werden im Allgemeinen eher selten behandelt,[3] wodurch vergessen wird, dass es auch gelernt sein will, einen Film „zu lesen“. „Wir wissen sehr wohl – und das ist hier die Ironie –, daß wir lernen müssen zu lesen, bevor wir versuchen können, Literatur zu genießen oder zu verstehen; aber wir neigen dazu zu glauben, daß jeder einen Film lesen kann.“[4]

Schließlich ist es mittlerweile eine Konstante unserer Zeit geworden, dass mediale Grenzen stets überschritten werden. Vor diesem Hintergrund hat sich auch das Bild des Literaturschaffenden geändert: Neben die ausschließliche Buchproduktion sind zahlreiche multimediale Ausprägungen getreten. So schreibt ein zeitgenössischer Autor nicht nur aus finanziellen Gründen auch für das audiovisuelle Medium.[5]

Schon immer waren literarische Texte beliebte Stofflieferanten für Verfilmungen.[6] Unter solchen Texten werden vornehmlich Romane oder Novellen als Grundlage einer Adaption gewählt, da im Gegensatz zum Drama beispielsweise der Roman mit seinen narrativen Strukturen dem Film am nächsten steht: Beide Medien erzählen aus der Perspektive eines Erzählers eine längere Geschichte mit einer Vielzahl an Details.

In ihren Anfängen entsprach die Filmkunst jedoch eher einer nicht-literarischen Populärkunst

der Variétés, der Music-Halls, des Vaudeville-Theaters und des Jahrmarktes. Erst ab ca.1908 begann sich die Filmsprache immer mehr an der Tradition literarischer Erzählformen zu orientieren. Hierbei überwandt der Film zunächst das an bühnensprachlichen Normen angelehnte „film d’art“ und wandte sich zunehmend Stoffen und Strukturen zu, die der zeitgenössischen Erzählkunst bekannt waren. Diese Ausrichtung an der Literatur resultierte aus dem bereits erwähnten Legitimationszwanges des Films gegenüber der etablierten Literatur. Hierbei wurden grundsätzliche Verfahrensweisen des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts teilweise schlecht und medienfremd adaptiert, was dazu führte, dass Literaturverfilmungen lange Zeit abgelehnt wurden. Dennoch nahmen sich einige Romanautoren (in Frankreich z.B. Emile Zola) dieser Problematik an und entwickelten Möglichkeiten, literarische Verfahren für das audiovisuelle Medium nutzbar zu machen. So lernte der Film rasch seine Instrumente zu perfektionieren, wodurch er seinerseits die zeitgenössische Literatur über seine essentiellen Stilformen (Montage[7] und Großaufnahme) beeinflusste.[8]

Die eigentliche Re-Integration der Literatur in den Film fand dann über den Tonkanal statt: Der sprachliche Diskurs erhielt seinen Platz neben dem bewegten Bild und leitete auf der Ebene des Zusammenspiels zwischen literarischer- und filmischer Sprache transitive Einflüsse zwischen den beiden Medien ein.[9]

Zudem entwickelten Disziplinen wie Semiotik, Psychoanalyse und Texttheorie immer detaillierte Analysemethoden, die sowohl in der Film- als auch in der Literaturwissenschaft Anwendung finden konnten.

Haben sich [also] die spezifisch filmischen Verfahren aus der Begegnung mit dem Narrativen heraus entwickelt, so kann jetzt umgekehrt gefragt werden, wie sie sich im Sinn […] einer erzählenden Textvorlage einsetzen lassen und welche Funktion sie erfüllen können.[10]

Somit stellt sich konkret für die am Beispiel von L’Amant durchgeführte Anlayse die Frage, welcher Mittel sich Jean-Jacques Annaud bedient, um die spezifisch literarischen Vorgaben in das filmische Medium zu übersetzen. Daran schließt sich die Frage an, inwieweit Kontinuitäten oder gewollte und ungewollte Unterschiede (welche auf intermedialen Umsetzungsproblemen basieren) auftreten, um schließlich klären zu können, aus welchen Gründen Jean-Jacques Annaud an bestimmten Stellen von der Vorlage abweicht und wie sich dies auf die Prämisse, dass „ Literaturverfilmungen Analogiebildung zur literarischen Vorlage sein sollten“[11], auswirkt. Neben dieser eher quantitativen Analyse soll auch eine qualitative Einschätzung nicht fehlen, welche anhand bestimmter Kriterien vorgenommen wird, die in Kapitel I.2.2. vorgestellt werden.

Zunächst wird nun die Theorie der Literaturverfilmung dargestellt, woran sich eine Erläuterung der Entstehungshintergründe der Verfilmung von L’Amant anschließt. Daraufhin soll die eigentliche Transformation vom Buch zum Film genauer untersucht werden, um die zuvor gestellten Leitfragen in einer abschließenden Zusammenfassung zu beantworten.

I. LITERATURVERFILMUNG IN DER THEORIE

I.1. LITERATURVERFILMUNG IM KONTEXT DER INTERMEDIALITÄT

I.1.1. Intermedialität – Entwicklung und Begriffsklärung

In einer Zeit, in der das Stichwort Intermedialität die Diskussion beherrscht, richtet sich das Augenmerk in erster Linie auf das Medium einer Kunstform und auf dessen spezifischen, unverwechselbaren Charakter. Nicht das Wesen der Kunst ist Gegenstand der Betrachtung, sondern die mannigfaltigen Erscheinungsformen des Ästhetischen in ihrer Besonderheit und Unverwechselbarkeit.[12]

Dies ist ein Grund dafür, warum die philosophische Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts in der Epoche des Films und des Fernsehens von spezifischen Disziplinen wie Kunstgeschichte, Musikwissenschaft, Kommunikationssoziologie, Literaturwissenschaft sowie von Filmsemiotik abgelöst worden ist. Die jeweiligen Vertreter dieser Disziplinen suchen nicht mehr so sehr nach einem gemeinsamen Nenner auf ästhetischem Niveau, sondern konzentrieren sich auf den spezifischen Charakter der Malerei, der Literatur oder des Films.

Der Medienwissenschaftler Joachim Peach begann 1998 einer seiner Aufsätze mit den Worten „Intermedialität ist `in´.“[13] Er hat damit eine interdisziplinäre Entwicklung aufgegriffen, die sich bereits seit Jahrzehnten abzeichnet und in den letzten Jahren in unserer multimedialen Welt besonders an Aufmerksamkeit gewonnen hat.

Intermedialität kann im Allgemeinen als „Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“[14] bezeichnet werden. Eine etwas andere Begriffsbestimmung liefert Thomas Eicher, indem er von „kulturell kodierten Kommunikationssystemen“ spricht, „die sich beeinflussen, nachahmen, berühren oder gar zu einer Einheit verbinden können.“[15]

Diese Interdependenzen zwischen den Künsten bzw. Medien werden in der wissenschaftshistorischen Auseinandersetzung durch zwei getrennte Forschungsstränge repräsentiert, die sich erst in den letzten Jahren aufeinander zu bewegen. Gemeint ist damit zum einen die Komparatistik (interart studies), die verdienstvolle Studien zu wechselseitigen Beziehungen der Künste hervorbrachte. Zum anderen entwickelte sich aus der Beschäftigung verschiedener Autoren, Film- und Kulturtheoretiker mit dem ehemals neuen Medium „Film“ Anfang des 20. Jahrhunderts ein weiterer Forschungsstrang heraus. Die bekanntesten und ersten Vertreter dieses Forschungszweigs sind der ungarische Schriftsteller, Dichter und Filmkritiker Bela Balázs sowie der Filmkritiker und geistige Vater der „Nouvel Vage“ André Bazin. Mit ihren Überlegungen setzten sich in erster Linie Literaturwissenschaftler aus philologischen Einzeldisziplinen auseinander, da diese es mit Blick auf die zunehmende Bedeutung der audiovisuellen Medien für notwendig hielten, auf diese Entwicklung zu reagieren. Sowohl die extensive Beschäftigung mit der Erscheinung der Verfilmung literarischer Texte, als auch Begriffe wie die „filmische Schreibweise“[16], die „Filmisierung der Literatur“ oder die „Literarisierung des Films“ stammen aus diesem Bereich, in dem seit den 1970iger Jahren eine eigene, grenzüberschreitende Disziplin, namentlich die „Medienkomparatistik“[17] bzw. Medienwissenschaft, gefordert wurde.

I.1.2. Gegenstand der intermedialen Forschung

Die Disziplin der Intermedialität besteht grundsätzlich aus drei unterschiedlichen Bereichen. Diese Teilgebiete basieren auf qualitativ verschiedenen Begriffen von „Intermedialität“, welche in der Forschung oft vermischt werden. Somit muss zwischen „Medienkombination“, „Medienwechsel“ und „Intermedialen Bezügen“ unterschieden werden. Von Bedeutung für die vorliegende Arbeit ist das an zweiter Stelle genannte Teilgebiet der Intermedialitätsforschung.

Silvia Kling sieht im Bereich des Medienwechsels den generellen Schwerpunkt in der Diskussion intermedialer Prozesse.[18] Die Begrifflichkeit des Medienwechsels, der auch als „Medientransfer“ oder „Medientransformation“ bezeichnet wird, bestimmt Irina Rajewsky wie folgt:

Die Qualität des Intermedialen betrifft hier den Produktionsprozeß des medialen Produkts, also den Prozeß der Transformation eines medienspezifisch fixierten *Prä`textes´ bzw. `Text´stubstrats in ein anderes Medium, d.h. aus einem semiotischen System in ein anderes. […] `Intermedialität´ wird hier zu einem produktionsästhetisch orientierten, genetischen Begriff. Der Ursprungs`text´ wird zur `Quelle´ des medialen Produkts, dessen Genese ein jeweils medienspezifischer und obligatorischer Transformationsprozeß intermedialen Charakter zugrunde liegt.[19]

Der Medienwechsel kann sich prinzipiell zwischen sämtlichen Medien vollziehen, also z.B. von der Zeitschrift zum Hörspiel, vom Sprechstück zur Oper, vom Video zur Schallplatte oder eben vom Buch zum Film. Letzterer Transformationsprozess ist allgemein unter der Bezeichnung „Literaturverfilmung“ geläufig.

I.2. LITERATURVERFILMUNG – EIN ADAPTIONSPROZESS

I.2.1. Zum Begriff der „Literaturverfilmung“

Für Helmut Schanze ist die Besonderheit einer Literaturverfilmun – also das, was sie vom so genannten „Film-Film“ unterscheidet – die Tatsache, dass sich „das Publikum in der Lage [sieht], die eigene innere Visualisierung mit der professionellen zu vergleichen, es fühlt sich kritikfähig und nicht dem Apparat schier ausgeliefert.“[20]

Eine ausführliche Definition der Literaturverfilmung liefert z.B. Walter Hagenbüchle:

Literaturverfilmungen sind per definitionem einerseits eine besondere Form von Film, andererseits aber auch, weil sie nach literarischen Vorlagen geschaffen wurden, ein neues Konstrukt, welches aus der Umwandlung von einem wortsprachlichen in ein audiovisuelles Medium entsteht. Die Feststellung erscheint banal, ist aber zu Begriffsbestimmung der Literaturverfilmung von enormer Wichtigkeit.[21]

Im ersten Teil der Definition betont der Verfasser, dass die Auseinandersetzung mit Literaturverfilmungen die Kenntnis wichtiger Positionen der Filmtheorie sowie den Überblick über das filmanalytische Instrumentarium erfordert. Die zweite Prämisse der Definition besagt, dass es beim Vergleich der beiden Medien durchaus legitim ist, Begrifflichkeiten der Literaturtheorie heranzuzuziehen. Dabei muss jedoch darauf geachtet werden, dass die Literaturwissenschaft (aufgrund ihrer längeren Geschichte) keine Vorrechte gegenüber dem jüngeren Medium Film geltend machen darf, denn laut Irmela Schneider geht es in einer Verfilmung

um die Umsetzung einer literarischen Vorlage in filmische Bilder, bei der intentionale Analogien zum literarischen Text feststellbar sind, die es verbieten, die literarische Vorlage als puren Stoffliferanten zu bestimmen. Der Prozeß der Verfilmung selbst wird als eine ästhetische Arbeit verstanden.[22]

Entsprechend kommt Walter Hagenbüchle zu dem Schluss, dass eine bloße Ausdehnung des Literaturbegriffs auf den Film für einen Vergleich nicht fördernd wäre. Zunächst ist eine Literaturverfilmung eine Analogiebildung zu ihrer literarischen Vorlage. Maßstab der Ausarbeitung dieser Analogie ist stets die Interpretation des literarischen Textes. Demgemäß gibt es keine einfache Bebilderung der literarischen Vorlage.

Ralf Schnell plädiert dafür, bei der Beschäftigung mit Literaturverfilmungen den Fokus der Analyse auf den Film selbst zu legen. In einem Aufsatz nennt er einige Filmbeispiele und erläutert, weshalb „`Literaturverfilmung´ nur wenig mit Literatur zu tun haben kann, viel aber mit Film zu tun hat. `Literaturverfilmung´ ist immer und zuerst Film, Literatur nur in abgeleiteter Form.“[23]

I.2.2. Bewertungskriterien einer Adaptionsanalyse

Adaptionen literarischer Werke sind komplexe Verfahren, die von drei Hauptfaktoren bestimmt werden. Zunächst muss die Organisation der Filmindustrie, welche grundsätzlich auf Profit und Rentabilität angelegt ist, in Betracht gezogen werden. Ein weiterer Faktor stellt die Rücksichtnahme des Produzenten dar, der die Stimmung bzw. die Präferenzen des Publikums für bestimmte Stoffe beachten muss, um einen sowohl „populären“ als auch kommerziell erträglichen Film zu schaffen. Zuletzt wird eine Adaption von den Konditionen des Mediums Film selbst, seinen technischen und künstlerischen Möglichkeiten hinsichtlich der Transformation ausgewählter Stoffe bestimmt. Folglich müsste eine auf Vollständigkeit basierende Adaptionstheorie alle drei Gebiete berücksichtigen. Die meisten Adaptionsanalysen beschränken sich jedoch auf den letzten Aspekt, um den Rahmen einer Analyse nicht zu sprengen.[24] Diesem Paradigma wird sich auch diese Arbeit anschließen.

Für die methodische Vorgehensweise lassen sich drei quantitativ-beschreibende Adaptionstypen[25] identifizieren:

Geoffrey Atheling Wagner unterscheidet hier zwischen „Transposition“, „Commentary“ und „Analogy“. Um Ersteres handelt es sich, wenn „a novel is directly given on the screen, with the minimum of apparent interference.“[26] Wagner qualifiziert diesen Typus der Adaption, der in Hollywood lange Zeit ausschließlich produziert wurde, als unbefriedigend. Er stelle als Buchillustration die naivste Form der Übersetzung dar. Dieser sehr stark an der Vorlage orientierte Adaption kann jedoch auch in positivem Sinne entsprochen werden, indem man sich der medienspezifischen Unterschiede bewusst ist und somit keine Bebilderung der Vorlage vornimmt, sondern versucht, ein eigenständiges Werk zu schaffen. So schreibt Franz-Josef Albersmeier:

der Film versucht, der literarischen Vorlage nach `Geist´ und `Buchstabe´ gerecht zu werden. Man könnte auch sagen: der Film weiß sich der literarischen Vorlage, ihrer schon etablierten `Literarizität´ verpflichtet und stellt sich bewusst […] in den Dienst seiner Vulgarisierung.[27]

Im Kommentar hingegen „an original is taken and either purposely or inadvertently altered in some aspect. It could be called a reemphasis or re-structure.“[28] Albersmeier bezeichnet diese Adaptionsart als Zwischentypus. Hierbei unternimmt der Film den Versuch, in völlig freier Form bestimmte Empfindungen, Stimmungen oder Assoziationen, die durch die Lektüre des literarischen Textes ausgelöst wurden, in das audiovisuelle Medium umzusetzen. Das literarische Werk ist nur noch analog, punktuell im Film vorhanden. „Bei solcher Attitüde gegenüber dem literarischen Text liegt die größte Distanz zwischen beiden Medien vor.“[29] Filmisch-literarische Analysen sind auch insofern problematisch, als die literarischen Spuren im Film nur teilweise materialisierbar sind.

Die ungetreueste Wiedergabe einer Literaturvorgabe bezeichnet Wagner mit „Analogy“. Diese „may simply take a fiktion as a point of departure. […] analogy must represent a fairly considerable departure fort he sake of making another work of art.“[30] Nach Franz-Josef Albersmeier bleibt bei diesem Adaptionstyp die Funktion der Literaturvorlage auf die bloße Inspiration des Szenaristen und des Regisseurs beschränkt. Die literarische Vorlag dient als Ausgangspunkt, von dem sich der Film letztendlich entfernt, und diesen spätestens bei der Inszenierung verdrängt.[31]

Schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass es sich bei dieser Einteilung um Idealtypen handelt, welche in der Realität nur in Form von Überschneidungen auftreten. Dennoch können diese Kategorien Aufschluss über gewisse Tendenzen und Adaptionsmuster einer Literaturverfilmung geben. Demgemäß wird in der folgenden Adaptionsanalyse von L`Amant zu untersuchen sein, wo die Verfilmung innerhalb dieser Kategorien anzusiedeln ist.

Neben quantitativ-beschreibender Typologien der Adaption sollte auch eine qualitative Beurteilung der filmischen Umsetzung nicht fehlen. Albersmeier differenziert zwischen drei Kriterien: An erster Stelle nennt er die „filmische Erneuerung einer Vorlage“. Darunter versteht er Verfilmungen, welche nicht beabsichtigen, die Adaption des Romans zu sein. Sowohl das literarische als auch das filmische Werk existieren gänzlich unabhängig voneinander. Als zweites, qualitatives Kriterium führt Albersmeier die „filmische Überhöhung, Transfiguration der literarischen Vorlage“ an. Damit bezeichnet er, inwiefern der Film den literarischen Text nicht einfach bebildert, sondern ihn neu erschafft. Das letzte Kriterium bezieht sich auf die „filmische Degradierung der literarischen Vorlage“[32], was bedeutet, dass der Film aus unterschiedlichen Gründen weit hinter dem literarischen Werk zurück bleibt und sogar unter Umständen eine sehr verstümmelte Version des Ursprungstextes darstellt.

Entsprechend der Forderung von Irmela Schneider wird auch dieser Arbeit der normative Annahme zu Grunde gelegt, dass „Literaturverfilmungen Analogiebildungen zur literarischen Vorlage sein sollten.“ Denn z.B. die bloße Illustration einer literarischen Vorlage verfehle zufolge Irmela Schneider „die Chancen von Literaturverfilmungen, da es weder die Möglichkeit der filmischen Übersetzungsarbeiten nutzt noch dem Rezipienten neue oder einführende Erfahrungen über einen literarischen Text vermittelt.“[33]

I.2.3. Möglichkeiten der Adaptionsanalyse

Bei literarischen Verfilmungen lassen sich grundsätzlich drei Fragen stellen, welche ihrerseits Möglichkeiten bzw. Methoden der Adaptionsanalyse eröffnen. Zunächst kann nach den Veränderungen gefragt werden, die sich beim Übergang des literarischen Textes zum Drehbuch und vom diesem zum Film ergeben. Außerdem stellt sich die Frage nach der Endfassung der Adaption, also mit welchen literaturwissenschaftlichen und filmologischen Kategorien sich diese analysieren lässt. Zudem können im Falle mehrerer Adaptionen ein und derselben Vorlage diese miteinander verglichen werden.[34] Da das Drehbuch von L`Amant nicht veröffentlicht wurde und von L’Amant nur eine einzige Adaption existiert, beschränkt sich der dritte Teil der Arbeit auf die Analyse des Übergangs vom Roman zum Film.[35]

Im Weiteren wird nun näher auf die Bedeutung bzw. auf mögliche Methoden der Analyse von Literaturverfilmungen in der Literaturwissenschaft sowie in der Filmwissenschaft eingegangen.

I.3. LITERATURVERFILMUNG – ZWISCHEN LITERATUR- UND FILMWISSENSCHAFT

Die Literaturwissenschaft hat lange erfolgreich ignoriert, daß ihre Texte gedruckt und in Büchern verkauft und nun auch noch statt gelesen in Filmen, im Fernsehen, Video und auf CD-ROM gesehen (und technisch neu gelesen) werden können. Überlegungen zur Intertextualität und zur Transformation zwischen Typen von Texten und anderen Medien haben auch die Literaturwissenschaft an den Rand der Intermedialität gebracht.[36]

Es darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass ebenso die Filmwissenschaft die Literaturverfilmung lange Zeit „vergessen“ hat. Woher rührt diese fehlende Auseinandersetzung mit Literaturverfilmungen? Dies ist zum Teil auf den „Ambivalenzcharakter einer Literaturverfilmung“[37] zurückzuführen. Die Literaturverfilmung galt lange Zeit als ein aus der Beziehung zwischen Literatur und Film entstandener „Bastard“. Deshalb lehnte einerseits die Literaturwissenschaft die Beschäftigung mit Adaptionen literarischer Vorlagen ab, da durch den Adaptionsprozess der Literatur „Leid“ zugefügt würde; andererseits beschäftigte sich die Filmwissenschaft nur mit Literaturverfilmungen unter der Prämisse, dass die Literatur vergessen und die Verfilmung nur als Film betrachtet werde.[38] Dennoch sind einige Gründe anzuführen, warum die Literaturwissenschaft sich mit Literaturverfilmungen auseinandersetzen sollte. So darf laut Paul Goetsch der Literaturwissenschaftler nicht übersehen, dass Verfilmungen allein schon deswegen Beachtung verdienen, „weil ihre Breitenwirkung weitaus größer ist als alle Bemühungen der Literaturwissenschaft.“[39] Walter A. Koch fordert eine intensivere Beschäftigung mit dem Medium Film, da es sich dabei um ein „Grundelement menschlicher Texterfahrung“[40] handelt. Zudem treten im 20. und 21. Jahrhundert vermehrt literarische Texte auf, die eine Öffnung hinsichtlich anderer medialer Artikulationsformen belegen. Dieser Entwicklung muss die Literaturwissenschaft Rechnung tragen. Demgemäß erweist sich die Beschäftigung mit dem Bereich „Literatur und andere Medien“

für eine zeitgemäße Literaturwissenschaft […] nicht nur als legitim, sondern als notwendig, will sie sich mit literarischen Erschienungsformen (nicht nur) der Gegenwart auseinandersetzten und diese im Kontext kultureller und geistiger Phänomene der Zeit begreifen.[41]

Mag diese Einsicht im Hinblick auf die „Multimedialität“ unserer Zeit banal sein, so muss darauf verwiesen werden, dass sich die philologischen bzw. literaturwissenschaftlichen Disziplinen gegenüber anderen Medien erst seit Mitte der 1990er Jahren umfassend öffnen. Sicherlich reicht die Beschäftigung der Literaturwissenschaft mit dem intermedialen Phänomen der Verfilmung weiter zurück, eine systematische Erforschung beginnt sich jedoch erst abzuzeichnen.[42]

Betrachtet man schließlich Literatur- und Filmwissenschaft im Vergleich, bleibt festzuhalten, dass Letztere bisher in der Topographie der Wissenschaften keinen vergleichbaren etablierten Platz wie die Literaturwissenschaft erreicht hat.[43] Diese Feststellung lässt sich sowohl historisch (mit dem traditionellen Wissenschaftsverständnis) als auch mit dem Gegenstand des Films selbst begründen. Zum einen kann der Film unter historischen Gesichtspunkten auf eine nur vergleichsweise kurze Geschichte zurückblicken. Zum anderen offenbart sich, dass der Film für die Wissenschaften zu „alltäglich“ ist. So schreibt Roman Jakobson: „Die Geschichte des Kinos scheint dem Forscher zu alltäglich; es ist eigentlich Vivisektion, während sein Steckenpferd die Jagd nach Antiquitäten ist.“[44]

Davon abgesehen sieht Irmela Schneider in der engen Verbindung von Theorie und Praxis einen Grund dafür, warum die Filmwissenschaft nicht den gleichen Stellenwert wie die Literaturwissenschaft besitzt. So zeigt die Geschichte der Filmwissenschaft, dass es stets eine enge Verbindung zwischen theoretischer Betrachtung und praktischer Erprobung gegeben hat. Noch heute steht die Theorie größtenteils im Dienste der filmischen Entwicklung. Als Beispiel führt Irmela Schneider die Filmhochschulen an, die sich als eigentlicher Ort der Filmwissenschaft, in erster Linie mit praktischer Filmarbeit beschäftigen.

Hinzu kommt, dass sich die wissenschaftliche Zuordnung des Films als äußerst schwierig erwiesen hat. So bemerkte der französische Filmologe Gilbert Cohen-Séat bereits 1958, dass der Film sowohl Untersuchungsgegenstand des Soziologen als auch des Ästhetikers sein kann. „Jedoch könnte sich weder der eine noch der andere, selbst wenn er darauf Anspruch erhöbe, ohne weiteres des Filmgeschehens bemächtigen, ohne es zu entfremden.“[45] Zudem ließe sich die Psychologie als eine Disziplin nennen, für die das Medium Film ein interessanter Analysegegenstand sei.[46] Mit Blick auf die Literaturverfilmung kommt überdies die Instanz der Literaturwissenschaft hinzu. Folglich kann die „Filmwissenschaft […] nur ein Ensemble anderer Wissenschaften sein bzw. das Phänomen Film kann nur als Teilbereich unterschiedlicher Disziplinen erfasst werden.“[47]

Diese Zuteilungsprobleme erweisen sich auch insofern als Schwierigkeit, als eine geeignete Analysemethode einer Literaturverfilmung gefunden werden muss, die sowohl literatur- als auch filmwissenschaftliche Aspekte berücksichtigt.

I.4. DIE SEMIOTIK ALS ANALYSEMETHODE VON LITERATURVERFILMUNGEN

Christian Metz erkennt in der Filmforschung drei Phasen. Die erste war von „ekletischen und synkretischen Untersuchungen“ bestimmt. Derzeit wird noch die zweite Phase beschritten, „welche einen provisorischen aber notwendigen Methodenpluralismus, eine unvermeidliche Aufteilungskur zu definieren vermag.“[48] Erst während der dritten Phase konstituieren sich die Methoden wirklich. Somit ist aufgrund des Methodenpluralismus nach einer gemeinsamen Schnittstelle zwischen Literatur und Film zu suchen, um die geeignete Methode für eine Literaturadaption zu finden. Deshalb sei an dieser Stelle nochmals auf die Charakteristika einer Literaturverfilmung verwiesen:

Literaturverfilmung wurde als Transformation eines Textsystems von einem Zeichensystem in ein anderes Zeichensystem bestimmt. Im Zusammenhang der Frage nach einem fundamentalen tertium comparationis zwischen Buch-Literatur und Film wurde Literaturverfilmung als die Manifestation dessen bestimmt, was sich analytisch als die elementare Beziehung zwischen Buch-Literatur und Film ermitteln läßt – das Phänomen des Erzählens.[49]

Auch Franz-Josef Albersmeier verweist daraufhin, dass der Film wie der literarische Ausgangspunkt „Text“ sei. Demzufolge funktioniere „der Film […] als Erzählform analog zur sprachlich-literarischen Kommunikation des Ausgangstextes und ist folglich mit solch narrativem Instrumentarium analysierbar.“[50] Ein entsprechendes Analyseinstrumentarium liefert ein „Abkömmling des Strukturalismus“[51], namentlich die Semiotik, welche sowohl in der Literatur- als auch in der Filmwissenschaft als Analysemethode herangezogen wird.[52]

Ein bedeutender Vertreter der Literatursemiotik in Frankreich ist Gérard Genette[53], auf dessen Konzept im dritten Teil der Arbeit näher eingegangen wird. Seitens der Filmwissenschaft hat sich besonders der französische Filmwissenschaftler Christian Metz mit der Semiotik auseinandergesetzt.

I.4.1. Die Semiotik – eine kurze Begriffsklärung

Die Semiotik ist so zusagen „der letzte Stand der Filmtheorie“, die James Monaco als die „bislang komplexeste, subtilste und ausgefeilteste“ bezeichnet.[54]

Die Semiotik ist ganz sicher keine Wissenschaft im Sinne von Physik oder Biologie. Aber sie ist ein logisches System, häufig fähig, Dinge zu durchleuchten, und sie hilft zu beschreiben, wie der Film das macht, was er macht. Film ist schwer zu erklären, weil er leicht zu verstehen ist. Film-Semiotik ist leicht zu erklären, weil sie schwer zu verstehen ist. Irgendwo dazwischen liegt der Genius des Films.[55]

Neben der Psychologie und der Soziologie ist die Semiotik die dritte Disziplin, die sich systematisch mit dem Kino beschäftigt.[56] Sie lässt sich kurz als die Wissenschaft von Zeichenprozessen definieren. Demgemäß untersucht diese Disziplin sämtliche Arten solcher Prozesse. Damit vereinigt die Semiotik

die wissenschaftliche Erforschung aller verbalen und nicht-verbalen Kommunikationssysteme in sich und befaßt sich mit der Formulierung von Nachrichten durch Quellen, der Übermittlung dieser Nachrichten über Kanäle, der Dekodierung und Interpretation dieser Nachrichten durch Empfänger und der Signifikation.[57]

Unter linguistischen Gesichtspunkten basiert die Semiotik auf der Grundlage des Zeichnemodells von Ferdinand de Saussure. Seit den 1970ger Jahren werden aber auch verstärkt die drei „Universalkategorien“ der Zeichenkonzeption von Charles S. Peirce als Ausgangspunkt herangezogen.[58]

In der Literaturwissenschaft existieren strukturalistisch inspirierte semiotische Ansätze seit den 1920ger Jahren, welche dann verstärkt in den 1960ger und 1970ger Jahren vorwiegend in den Untersuchungen zur Narrativik genutzt wurden.[59] Dabei führt die Semiotik zu mehr Systematik, Wissenschaftlichkeit und Methodenreflexion. Gerade in der Literatursemiotik ist eine große Anzahl verschiedener Ansätze vorhanden.[60] Die Filmsemiotik kommt besonders zum tragen, wo „Bindeglieder zwischen film- und literaturwissenschaftlicher Analyse beschrieben werden. Für mediale Vergleiche sind somit filmsemiotische Erörterungen im Begriffsumfeld der Narrativik (Erzählform und Erzählperspektive) besonders fruchtbar.“[61]

1.4.2. Sprachliches vs. filmisches Zeichen

Welchen Weg man bei der Vielzahl der methodischen Möglichkeiten auch einschlagen mag, „stets geht es um die Ermittlung der medienspezifischen Ordnungsstrukturen der Codierung der Information.“[62] Demzufolge wird zu klären sein, wie die jeweils sprachlichen und filmischen Ordnungsstrukturen aussehen. Um einen ersten Überblick zu erhalten und die Besonderheit des filmischen Zeichens zu verdeutlichen, hat Wolfgang Raible ein detailliertes Schaubild erstellt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten[63]

Der erste bedeutende Unterschied zwischen sprachlichem und filmischem Zeichen liegt in den jeweiligen Zeichentypen. Der Code der verbalen Sprache bezieht sich ausschließlich auf arbiträre (de Saussure) bzw. symbolische (Peirce) Zeichen, welche die Basis der geschriebenen Sprache darstellen und ihrer semantischen Implikationen nach weitgehend verbindlich und strukturell homogen sind. Das filmische Zeichensystem weist hingegen eine heterogene Struktur auf. Die Encodierung der Zeicheninhalte vollzieht sich im filmischen Medium auf mehreren Ebenen und über verschiedene Typen von Zeichenträgern. Christian Metz unterscheidet dabei zwischen fünf Informationskanälen: 1. dem Bild; 2. dem Ton der Musik; 3. dem Ton der „Reden“; 4. den Geräuschen; 5. den graphischen Formen ausgeschriebener Schriftzeichen.[64]

Das filmische Zeichensystem wird letztendlich vom visuellen Zeichen dominiert, genauer gesagt vom ikonischen Zeichen[65]. In diesem Zeichen sind Signifikant und Signifikat fast identisch. James Monaco bezeichnet es somit als „Kurzschluß-Zeichen“[66]. Als Beispiel führt er an, dass das Bild einer Rose viel näher an der Rose ist als das Wort „Rose“. Hat die gezeigte Rose immer auch eine gewisse Form, Größe, Farbe, bleiben diese Eigenschaften im Wort „Rose“ eines jeden Phantasie bzw. Vorstellung überlassen. Folglich lässt die Filmsprache bedeutend weniger Konnotation zu als die Schriftsprache. Monaco fasst trefflich zusammen, dass die „Stärke der Sprachsysteme“ darin liegt, „dass es einen großen Unterschied zwischen dem Signifikant und dem Signifikat gibt; die Stärke des Films ist es, daß es diesen Unterschied nicht gibt.“[67]

Dennoch besitzt die Filmsprache Möglichkeiten, eine stärkere Konnotation zu erreichen. So ist beispielsweise eine Rose aus einem bestimmten Winkel gefilmt, ihre Farbe leuchtet oder ist matt, der Hintergrund ist klar oder unscharf (je nachdem, ob die Rose im Zusammenhang oder isoliert gesehen werden soll), die Dauer der Aufnahme ist lange oder kurz usw. Dies sind ausdrückliche Hilfen für die filmische Konnotation.[68]

Sind nun das Ikon und das Symbol jeweils typische Kategorien für das jeweilige Medium Film und Literatur, scheint „der Index“ bzw. das indexikalische Zeichen „eine dritte Möglichkeit zu sein, auf halbem Wege zwischen dem filmischen Icon und dem literarischen Symbol durch die der Film Bedeutung weitergeben kann.“[69] Der Index scheint für den Film eine äußerst brauchbare Möglichkeit zu sein, sich mit Ideen zu befassen, da er dem Zuschauer konkrete Darstellungen dieser Ideen vorführt. Wie kann man beispielsweise die Idee von Hitze im Film vermitteln? Eine schweißbedeckte Stirn wäre hierfür ein möglicher Index der Temperatur. Trotzdem bleiben Metaphern im Film schwieriger zu vermitteln als in der Literatur. Ist es im literarischen Text recht einfach, Liebe mit Rosen zu vergleichen, ist das im Film schwieriger, da die Rose (also das zweite Element der Methapher) im Film zu real und zu präsent ist. Eine Literaturadaption kann somit Gefahr laufen, literarische Metaphern direkt in filmische zu übertragen, welche dann meist platt, aufdringlich und statisch wirken.

Abgesehen davon hat der Film die Möglichkeit der simultanen Darstellung (z.B. können zwei Handlungen, die im Film parallel ablaufen, auch gleichzeitig gezeigt werden), während der sprachliche Text alles auf den „sprachlichen Faden der Rede“[70] aufreihen muss.

Darüber hinaus fällt es im Vergleich zum visuellen Film dem schriftlichen Text leichter iterative Merkmale wie „jeden Mittag um 12 Uhr“ darzustellen.

I.4.3. Literarische vs. filmische Syntax

Sowohl der schriftlicher Text als auch der audiovisuelle Film basieren auf einer syntaktischen Struktur, die sich in Segmente einteilen lässt. Jedoch unterscheiden sie sich besonders in der jeweiligen Größenordnung der Segmente: Gilt im schriftlichen Text bereits ein einzelnes Wort als ein paradigmatisch und syntagmatisch klar abgegrenztes Segment der Textstruktur, ist eine Entsprechung im Film nicht vorhanden: Die kleinste bedeutungstragende Einheit eines Filmes ist die Einstellung.[71] Da jedoch ein Bild tausend Worte wert ist, wird in einem Bild eine solche Informationsfülle vermittelt, die eher mehreren sprachlichen Sätzen entspricht als einem einzigen Wort.[72] Folglich ist eine Einstellung immer zugleich eine bereits in sich simultan-syntaktisch gegliederte Einheit. Das heißt konkret, dass das visuelle Zeichen meist von auditiven Zeichen wie Sprache, Musik oder Geräuschen begleitet wird.

Die Syntax des Films ist genau wie die gesprochene bzw. geschriebene Sprache eine organische Entwicklung und ist deshalb eher deskriptiv als normativ. Jedoch weist die filmische Syntax keineswegs ein streng grammatisches Regelsystem auf, das mit den grammatischen Regeln der Verbalsprache zu vergleichen wäre. Aus diesem Grund ist es für Michaela Mundt fragwürdig, ob man überhaupt von einer „Parole“ oder „Langue“ des Films sprechen kann. So können auch die Ausrucksmöglichkeiten des filmischen Zeichensystems nicht in einem Lexikon oder einer Grammatik zusammengefasst werden.[73]

Des Weiteren schließt die Filmsyntax, im Gegensatz zur sprachlichen, auch räumliche und zeitliche Komponenten ein. Die Veränderung des formbaren Raumes wird in der Filmkritik als „mise en scène“ bezeichnet, der Wechsel in der veränderlichen Zeit ist unter dem Stichwort „Montage“[74] bekannt, durch die die kleinsten Einheiten des Films, also die Einstellungen zu Sequenzen „zusammengebaut“ werden.[75]

[...]


[1] S. dazu SCHMIEDER, Jürgen: Viel Gral um nichts, in: Süddeutsche Zeitung (17.05.2006), http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/71/75995/ (14.12.2006).

[2] S. dazu NICODEMUS, Katja: Ein großes Nasentheater, in: Die Zeit (24.08.2006), http://www.zeit.de/2006/35/Parfum (14.12.2006).

[3] Vgl. PAECH, Joachim: Literaturwissenschaft und/oder Filmwissenschaft?, in: PAECH, Joachim (Hrsg.): Methodenprobleme der Analyse verfilmter Literatur, 2.Aufl., Münster 1988, 11.

[4] MONACO, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der neuen Medien, 4. Aufl., Hamburg 2002, 157.

[5] Vgl. HAGENBÜCHLE, Walter: Narrative Strukturen in Literatur und Film. Schilten ein Roman von Hermann Burger. Schilten ein Film von Beat Kuert, Bern 1991, 7.

[6] Vgl. MONACO (2002), 45. Zur Adaptionsgeschichte in Frankreich s. ALBERSMEIER, Franz-Josef: Einleitung: Von der Literatur zum Film. Zur Geschichte der Adaptionsproblematik, in: ALBERSMEIER, Franz-Josef, ROLOFF, Volker (Hrsg.): Literaturverfilmungen, Frankfurt am Main 1989, 24-27.

[7] W.I. Pudowkin bezeichnet die Montage als „machtvolle Methode der Filmkunst“. PUDOWKIN, W.I.: Über die Montage, in: ALBERSMEIER, Franz-Josef (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1998, 96.

[8] Daher stammt beispielsweise auch die Bezeichnung der écriture filmique, die auch in den Werken von Marguerite Duras zu finden ist. Vgl. BORGOMANO, Madeleine: L’écriture filmique de Marguerite Duras, Paris 1985.

[9] HAGENBÜCHLE (1991), 37.

[10] SEITZ, Gabriele: Film als Rezeptionsform von Literatur. Zum Problem der Verfilmung von Thomas Manns Erzählung „Tonio Kröger“, „Wälsungenblut“ und „Der Tod in Venedig“, 2. Aufl., München 1981, 382.

[11] SCHNEIDER, Irmela: Der verwandelte Text. Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung, Tübingen 1981, 293.

[12] ZIMA, Peter V.: Ästhetik, Wissenschaft und „wechselseitige Erhellung der Künste“, in: ZIMA, Peter V. (Hrsg.): Literatur Intermedial. Musik, Malerei, Photographie, Film, Darmstadt 1995, 1.

[13] PAECH, Joachim: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen, in: HELBIG, Jörg (Hrsg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998, 14-31.

[14] RAJEWSKY, Irina O.: Intermedialität, Tübingen 2002, 13.

[15] EICHER, Thomas: Was heisst (hier) Intermedialität? in: EICHER, Thomas, BLECKMANN, Ulf (Hrsg.): Intermedialität. Vom Bild zum Text, Bielefeld 1994, 11.

[16] S. dazu z.B. TSCHILSCHKE, Christian von: Ceci n’ est pas un film – Die filmische Schreibweise im französischen Roman der Gegenwart, in: MECKE, Jochen, ROLOFF, Volker (Hrsg.): Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen 1999, 203-223.

[17] Diese Disziplin fordert 1987 Ernest Hess-Lüttich. S. dazu: HESS-LÜTTICH, Ernest W. B.: Intertextualität und Medienvergleich, in: HESS-LÜTTICH, Ernest W.B. (Hrsg.): Text Transfers. Probleme intermedialer Übersetzung, Münster 1987, 12.

[18] KLING, Silvia: Filmologie und Intermedialität. Der filmologische Beitrag zu einem aktuellen medienwissenschaftlichen Konzept, Tübingen 2002, 5.

[19] RAJEWSKY (2002), 16.

[20] SCHANZE, Helmut: Literatur, Film, Fernsehen. Transformationsprozesse, in: Text und Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien, Heft 1/2 (18/1993), 10.

[21] HAGENBÜCHLE (1991), 51.

[22] SCHNEIDER (1981), 119.

[23] SCHNELL, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart 2000, 159.

[24] Vgl. ALBERSMEIER, Franz-Josef: Traditioneller Literaturbegriff oder Literatur im Zeitalter der Medien. Zur Einbeziehung der Medien (des Films) in literaturwissenschaftliche Theorie und Praxis, in: GRABES, Herbert (Hrsg.): Literatur in Film und Fernsehen: Von Shakespeare bis Beckett, Königsstein 1980, 11/12.

[25] In der Literatur finden sich sowohl drei-, vier- (Dietrich Erlach, Bernd Schurf und Helmut Schanze) und fünfgliedrige (Walter Hagenbüchle) Unterscheidungen von Adaptionstypen. Es sind jedoch nur Nuancen, worin diese Einteilungen differieren. Der Arbeit wurde ein dreigliedriges Konzept (Geoffrey Atheling Wagner; Franz-Josef Albersmeier) zugrunde gelegt, da diese vorwiegend von Autoren herangezogen werden.

[26] WAGNER, Geoffrey Atheling: The novel and the cinema, Ratherford 1975, 222.

[27] ALBERSMEIER (1980), 13.

[28] WAGNER (1975), 223.

[29] ALBERSMEIER (1980), 14.

[30] WAGNER (1975), 227.

[31] Vgl. ALBERSMEIER (1980), 14.

[32] ALBERSMEIER (1980), 20.

[33] SCHNEIDER (1981), 293.

[34] ALBERSMEIER (1980), 23/24.

[35] Klaus Kanzog ist zudem der Meinung, dass das Drehbuch für eine Filmanalyse keine Relevanz hat. Diese sollte vielmehr vom Endprodukt ausgehen. Vgl. KANZOG, Klaus: Erzählstrukturen, Filmstrukturen. Eine Einführung, in: KANZOG, Klaus (Hrsg.): Erzählstrukturen – Filmstrukturen. Erzählungen Heinrich von Kleists und ihre filmische Realisation, Berlin 1981, 11.

[36] PEACH (1998), 14.

[37] SCHACHTSCHABEL, Gaby: Der Ambivalenzcharakter der Literaturverfilmung, Frankfurt am Main 1983, 14.

[38] Vgl. SCHNEIDER (1981), 13.

[39] GOETSCH, Paul: Thesen zum Vergleich von literarischen Werken und ihren Verfilmungen, in: Film und Literatur in Amerika, Sonderdruck (Seiten 45-64), Darmstadt 1988, 54.

[40] KOCH, Walter A.: Varia Semiotica, Hildesheim 1971, 471.

[41] RAJEWSKY (2002), 2.

[42] Vgl. RAJEWSKY (2002), 2/3.

[43] Frankreich kann hierbei als eine gewisse Ausnahme gelten, da der Film dort schon sehr früh Teil einer etablierten Forschung war.

[44] Roman Jakobson zitiert nach SCHNEIDER (1981), 22.

[45] COHEN-SEAT, Gilbert: Film und Philosophie. Ein Essai, Gütersloh 1962, 11.

[46] S. Dazu MITRY, Jean: Esthétique et psychologie du cinéma, Paris 1990.

[47] SCHNEIDER (1981), 24. Vgl. PALMES, Gisela: Literatur und Film. La Colmena von Camilo José Cela, Bonn 1994, 8/9.

[48] METZ, Christian: Sprache und Film, München 1973, 22.

[49] SCHNEIDER (1981), 27.

[50] ALBERSMEIER (1980), 24.

[51] Vgl. MONACO (2002), 445. Zur strukturalistischen Filminterpretation: FAULSTICH, Werner: Die Filminterpretation, 2. Aufl., Göttingen 1997, 16-30.

[52] Vgl. SCHACHTSCHABEL (1983), 13.

[53] Außerdem sind an dieser Stelle zu nennen Roland Barthes, Tzvetan Todorov und Claude Bremond. Vgl. HORLACHER, Stefan: Semiotik, in: NÜNNING, Ansgar (Hrsg.): Meztler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze, Personen, Grundbegriffe, 2. Aufl., Stuttgart 2001, 582.

[54] MONACO (2002), 418; 445.

[55] MONACO (2002), 175.

[56] CASETTI, Francesco: Les Théories du cinéma depuis 1945, Paris 1999, 149.

[57] HORLACHER (2001), 581.

[58] Beispielsweise Gaby Schachtschabel und Michaela Mundt bauen darauf ihre Untersuchungen auf.

[59] S. dazu: JANIK, Dieter: Literatursemiotik als Methode. Die Kommunikationsstruktur des Erzählwerks und der Zeichenwert literarischer Strukturen, Tübingen 1985. EIMERMACHER, K.: Semiotik und Literaturwissenschaft, in: KOCH, Walter A.: Semiotik und Wissenschaftstheorie, Bochum 1990.

[60] Einen Überblick verschafft HORLACHER (2001), 582/583.

[61] HAGENBÜCHLE (1991), 31. Bedeutende Beiträge für diesen Forschungsstrang stammen von Irmela Schneider, Gaby Schachtschabel und Michaela Mundt, deren Werke auch in dieser Arbeit berücksichtigt werden.

[62] HESS-LÜTTICH (1987), 16.

[63] RAIBLE, Wolfgang: Medienkulturgeschichte. Mediatisierung als Grundlage unserer kulturellen Entwicklung, Heidelberg 2006, 281.

[64] Vgl. METZ (1973), 17.

[65] Ein Ikon ist ein bildhaftes Zeichen, „das mindestens eine Qualität mit dem bezeichneten Objekt gemeinsam hat […] während Indizes aufgrund einer Kausalbeziehung und Symbole aufgrund von Konventionen mit ihrem Objekt in Verbindung gebracht werden.“ SCHMAUKS, Dagmar: Ikon/Ikonizität, in: NÜNNING (2001), 270.

[66] MONACO (2002), 158.

[67] Ebd., 160.

[68] Vgl. METZ, Christian: Semiologie des Films, München 1972, 151-158.

[69] Ebd., 165. Entsprechende Beispiele sind der zuvor aufgeführten Tabelle zu entnehmen.

[70] RAIBLE (2006), 289.

[71] Vgl. METZ (1973), 175-182.

[72] Vgl. MONACO (2002), 164.

[73] Vgl. MUNDT, Michaela: Transformationsanalyse. Methodologische Probleme der Literaturverfilmung, Tübingen 1994, 21.

[74] Eine ausführliche Theorie, die nicht ohne Kritik geblieben ist (dazu MONACO, 219-228), wie Syntagmen in ihrer Montage zu klassifizieren sind, liefert Christian Metz (METZ (1972), 199-232). Es würde jedoch den Rahmen der Arbeit sprengen, darauf näher einzugehen.

[75] S. dazu das Filmprotokoll im Anhang.

Ende der Leseprobe aus 88 Seiten

Details

Titel
L'amant - ein intermedialer Vergleich zwischen Buch und Film
Hochschule
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg  (Romanisches Seminar )
Note
1,5
Autor
Jahr
2007
Seiten
88
Katalognummer
V195600
ISBN (eBook)
9783656213826
ISBN (Buch)
9783656214083
Dateigröße
4947 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Literaturverfilmung, Marguerite Duras, Adaptionsanalyse, Semiotik
Arbeit zitieren
Claudia Fischer (Autor:in), 2007, L'amant - ein intermedialer Vergleich zwischen Buch und Film, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/195600

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