Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Der GER im Überblick


Masterarbeit, 2011

87 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung: Ein Rahmen für ein multikulturelles Europa

Abschnitt I: Anspruch

2. Die Entstehungsgeschichte des GER
2.1 Die Geschichte des Europarates
2.2 Entstehung des GER

3. Eigenanspruch des Referenzrahmens

4. Der handlungsorientierte Ansatz des GER

5. Der Mehrsprachigkeitsbegriff

6. Zentrale Komponenten für Anwender des Referenzrahmens
6.1 Gemeinsame Referenzniveaus
6.2 Dimensionen: Kontext und Kategorien der Sprachverwendung
6.3 Kompetenzen
6.3.1 Allgemeine Kompetenzen
6.3.2 Kommunikative Sprachkompetenzen
6.4 Vorschläge für die Praxis

Abschnitt II: Umsetzung

7. Das Europäische Sprachenportfolio und Lernerautonomie
7.1 Entwicklung des Portfolios und seine Rolle für die Lernerautonomie
7.2 Aufbau und Benutzung des Europäischen Sprachenportfolios

8. Perspektiven der Bildungspolitik auf den GER
8.1 Bildungspolitischer Umbruch in Polen
8.2 Weiterentwicklung in Katalonien

9. Lehrwerkentwicklung unter Einfluss des GER

10. Der Referenzrahmen und Leistungsmessung
10.1 Der Verknüpfungsprozess - Vorschlag des Europarates
10.1.1 Arten der Verknüpfung
10.1.2 Konzept und Probleme des Verknüpfungsprozesses
10.1.3 Die vier Schritte des GER-Verknüpfungsprozesses
10.2 Theorie und Praxis: Drei Beispiele für Testentwicklung mit dem GER

11. Curriculumentwicklung mit dem GER

12. Der Referenzrahmen und Asien

Abschnitt III: Kritik

13. Ein systematischer Überblick der Kritikpunkte

14. Anspruch und Realität: Steckt drin, was draufsteht?
14.1 Flexibilität und Multi-Funktionalität versus Vagheit?
14.2 Offenheit und Dynamik?
14.3 Benutzerfreundlich?
14.4 Undogmatisch - Und ohne Fundament?
14.5 Umfassend?

15. Der Referenzrahmen und die Forschung

16. Resümee: Hat der GER seine Ziele erreicht?

Literaturverzeichnis

1. Einleitung: Ein Rahmen für ein multikulturelles Europa

„Wir stellen nur Fragen, wir geben keine Antworten.“ (Europarat 2001, 8)

Dieser Satz findet sich bereits in den ersten Absätzen der Einleitung des Gemeinsamen europ ä ischen Referenzrahmens für Sprachen (Europarat 2001). Diese Formulierung ist für ein Dokument, welches den Anspruch erhebt, eine allgemeingültige und sprachenübergreifende „gemeinsame Basis […] für die Entwicklung von zielsprachlichen Lehrplänen, curricularen Richtlinien, Prüfungen, Lehrwerken usw. in ganz Europa“ (Europarat 2001, 14) zu bieten, doch eher unerwartet. Erhofft sich der Leser eines solchen Dokuments nicht gerade genau dies: Antworten? Antworten aber haben für die Autoren des Referenzrahmens in diesem Zusammenhang wohl etwas zu dogmatisches; man will keine Vorschriften machen oder den Benutzern des Referenzrahmens vorschreiben, „welche Ziele [sie] anstreben oder welche Methoden sie dabei einsetzen sollen“ (Europarat 2001, 8).

Dass hier von „Benutzern“ und nicht etwa von Lehrenden und Lernern (oder auch Lesern) gesprochen wird, ist bezeichnend für das Selbstverständnis des Referenzrahmens: Er ist ein Werkzeug, das je nach individueller Situation angewendet werden soll. Hinweise für diese individuellen Situationen, also vielleicht die gesuchten „Antworten“, finden sich in Form von „ausführlichen Handreichungen (User Guides)[, die man] entweder vom Europarat beziehen oder auch auf seiner Website einsehen [kann]“ (Europarat 2001, 8). Vor allem will der Referenzrahmen aber laut eigener Aussage dazu ermutigen, über grundlegende Fragen des Sprachenlehrens und -lernens nachzudenken:

- „Was tun wir eigentlich, wenn wir miteinander sprechen (oder einander schreiben)?
- Was befähigt uns dazu, auf diese Weise zu handeln?
- Wie viel davon müssen wir lernen, wenn wir eine neue Sprache zu benutzen versuchen?
- Wie setzen wir uns Ziele und wie stellen wir Lernfortschritte fest auf dem Weg von völliger Unwissenheit zur effektiven Sprachbeherrschung?
- Wie läuft der Sprachlernprozess ab?
- Was können wir tun, damit wir selbst und andere Sprachen besser lernen können?“ (Europarat 2001, 8)

Auf diese Auflistung folgt das eingangs genannte Zitat; man gibt keine Antworten. Man hat aber sehr wohl darüber nachgedacht, wird gleich darauf beteuert, denn man verfolge schließlich ein hehres Ziel: Die „Förderung eines demokratischen, staatsbürgerlichen Bewusstseins“ (Europarat 2001, 8). Hier wird zum ersten Mal deutlich, dass der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen auch ein (sprachen-) politisches Dokument ist: Als Produkt des Europarates verfolgt auch er vornehmlich die gleichen Ziele - hier, „die Qualität der Kommunikation unter Europäern mit unterschiedlichem sprachlichen und kulturellen Hintergrund zu verbessern“ (Europarat 2001, 8). Dabei soll auch „das reiche Erbe der Vielfalt der Sprachen und Kulturen in Europa“ geschützt und entwickelt werden, ebenso „das gegenseitige Verstehen und die Zusammenarbeit gefördert“ und darüber eine „größere Konvergenz der politischen Maßnahmen“ erreicht werden (Europarat 2001, 15). Man will vernetzen ohne zu verdrängen, vereinheitlichen ohne zu zwingen und zusammenarbeiten, „um Mehrsprachigkeit im gesamteuropäischen Kontext zu fördern“ (Europarat 2001, 16).

Die meisten Lerner haben nur (direkten) Kontakt mit einem besonders umfangreichen und auch äußerst beachtenswerten Teilbereich des GER, auf den er auch leider oft reduziert wird - die Rede ist von den Deskriptoren für die Sprachkompetenz. Diese Skala mit den sechs Niveaustufen von A1 (Breakthrough) bis C2 (Mastery) begegnet Lernern mittlerweile in vielen gängigen Testverfahren und Sprachzertifikaten und ist zu einem weiträumig anerkannten Standard zur Beschreibung von Leistungsniveaus geworden; auch über die europäischen Grenzen hinaus. Das sprachenpolitische Ziel des Referenzrahmens unterstützen die von einem schweizer Forschungsprojekt im Auftrag des Europarates erstellten Skalen dabei insofern, als dass sie eine grenzübergreifende Vergleichbarkeit von Testergebnissen ermöglichen wollen - etwas, das in einem Europa der unzähligen verschiedenen Lehr- und Leistungsmessungstraditionen bis dahin nur schwer möglich war (Papageorgiou 2009, 1). Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen bietet mit seinen Skalen für alle Elemente des modernen Sprachlehrbetriebes, insbesondere für Anbieter von Tests und Zertifikaten, eine einheitliche, vergleichbare Basis. Eine augenfällige Besonderheit der Deskriptoren stellt dar, dass diese als sogenannte Kann-Beschreibungen abgefasst sind und somit die vorhandenen Fähigkeiten der Lerner beschrieben werden sollen, nicht deren Defizite.

Aber auch abseits dieses bekanntesten Bestandteils hat der GER weitreichende Auswirkungen insbesondere auf die Lehre, bzw. ihre Teilbereiche, gehabt. So werden immer mehr Lehrwerke an die Ansätze und besonders die Skalierungen des GER angepasst: Immer häufiger finden sich Hinweise auf die Stufen des Referenzrahmens auf den Buchumschlägen, um so eine leichtere Orientierung zu ermöglichen und die Niveaustufen verschiedener Lehrwerke untereinander aber auch über Lehrwerksreihen hinweg vergleichbar zu machen. Ebenso haben sich Einflüsse auf die Curriculumentwicklung und die Fremdsprachendidaktik ergeben; letztere vor allem aus dem grundsätzlich handlungsorientierten Ansatz des Referenzrahmens: „Der hier gewählte Ansatz ist im Großen und Ganzen handlungsorientiert, weil er Sprachverwendende und Sprachenlernende vor allem als sozial Handelnde betrachtet, d. h. als Mitglieder einer Gesellschaft, die […] kommunikative Aufgaben bewältigen müssen, und zwar nicht nur sprachliche“ (Europarat 2001, 21). Es herrscht also ein pragmatischer, kompetenzorientierter Ansatz vor, der bei einer konsequenten Umsetzung alle Bereiche der Fremdsprachendidaktik betrifft, bis hin zu einer Abkehr von textorientiertem Unterricht hin zu kompetenzorientierter Sprachvermittlung.

Ist der Referenzrahmen nun bloß ein nützliches Werkzeug, das der Europarat hier für die Europäischen Lehrer und Lerner zur Verfügung stellt? Empirisch gestützte Skalen, die bei der Bewertung helfen, und eine Vielzahl an methodischen Vorschlägen, die aber nicht binden oder einschränken wollen? Das klingt zunächst einmal nach einem wenig kontroversen und möglicherweise überaus hilfreichen Beitrag zur modernen Fremdsprachendidaktik. Jedoch führt vor allem die politische Dimension des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen zu Problemen: Als Dokument und Richtlinie des Europarates, der quasi das kulturelle Gegenstück zur ökonomisch ausgerichteten Europäischen Union darstellt, wohnt dem GER die Autorität einer Institution inne, die seit den Fünfzigerjahren im Bereich des Lehrens und Lernens fremder Sprachen aktiv ist (Morrow 2004, 3). Dabei gibt sich der GER als neutral und allen theoretischen Ansätzen offen, obwohl er letztlich doch eine starke Tendenz zur Handlungsorientierung zeigt, die eine stärkere Betonung des Individuums und seiner sozialen Handlungen beinhaltet (Heyworth 2004, 13).

Dabei bleibt - und dies ist ein weiterer, oft genannter Kritikpunkt - der Referenzrahmen oft mehr als nur vage, was seine theoretischen Grundlagen betrifft. Überhaupt stören sich viele Sprachwissenschaftler (Bausch, et al. 2003) an der unklaren theoretischen Basis und einer durchgehenden begrifflichen Unschärfe, die in den Formulierungen des GER vorherrschen. Gleichzeitig wird aber selbst von Kritikern auf den großen Nutzen des Referenzrahmens verwiesen und sein Erscheinen als „längst überfällig“ (Bausch 2003) postuliert oder auch als notwendiger frischer Wind anerkannt:

„Wenn es den Gemeinsamen europ ä ischen Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen nicht gäbe, man hätte ihn sich wenigstens wünschen müssen: so sehr fordert er dazu heraus, die je eigenen wissenschaftlichen Positionen im gemeinsamen Geschäft der Sprachlehr- und -lernforschung daran anzumessen, sich in Forschungslinien und methodischen Programmatiken zu gruppieren, sich dem Stand und Gang der Dinge zu stellen.“

(Barkowski 2003, 22)

In den folgenden Abschnitten Anspruch, Umsetzung und Kritik werden zunächst die selbstgestellten Ansprüche des Referenzrahmens und die zu Grunde liegenden Konzepte vorgestellt und die verschiedenen zur Verfügung stehenden Komponenten beschrieben, anschließend deren praktische Umsetzung in verschiedenen Bereichen betrachtet und zuletzt die von verschiedenen Stellen aus angesprochenen Kritikpunkte untersucht.

Abschnitt I: Anspruch

2. Die Entstehungsgeschichte des GER

2.1 Die Geschichte des Europarates

Um die Entstehungsgeschichte des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen zu verstehen, muss man sich zunächst mit der Geschichte der Institution auseinandersetzen, die ihn ins Leben gerufen hat: Der Europarat ist seit seiner Gründung im Jahr 1949 auf 47 Mitgliedsstaaten angewachsen und deckt damit fast ganz Europa ab. Zu seinen Zielen zählt, wie man auf der Webseite http://www.coe.int nachlesen kann:

„Schutz der Menschenrechte, der pluralistischen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit Förderung des Bewusstseins um die kulturelle Identität und Vielfalt Europas und Unterstützung von deren Entwicklung Suche nach gemeinsamen Lösungen für die Herausforderungen, denen sich die europäische Gesellschaft gegenübersieht Konsolidierung der demokratischen Stabilität in Europa durch Förderung politischer, rechtlicher und konstitutioneller Reformen“

Webseite des Europarates

Das Ziel der Entwicklung der kulturellen Vielfalt Europas ist demnach die Basis für die Schaffung des Referenzrahmens (Europarat 2001, 14-16). Diese kulturelle Vielfalt aber stellte den Europarat von Anfang an vor besondere Herausforderungen; nicht umsonst spricht man auch vom „Europäischen Babel“ (Morrow 2004, 4). Die große Anzahl unterschiedlicher Muttersprachen stellten ein offensichtliches Hindernis für das Bestreben des Europarates dar, die Europäer zum Blick über den Tellerrand der eigenen Kultur zu bewegen - wie soll man die Kultur des Nachbarn zu schätzen wissen, wenn man ihn gar nicht verstehen kann (Morrow 2004, 4)? Der Europarat hätte die Einführung einer europäischen Lingua Franca anstreben können, doch dagegen sprechen zwei offensichtliche Gründe: Zum Einen hätte die Auswahl einer vorhandenen und möglichst weltweit gebrauchten Sprache wie Englisch, Französisch, Deutsch oder Spanisch zu Spannungen zwischen den Staaten führen können, zum Anderen hätte die Einführung einer erfundenen Sprache wie Esperanto den interkulturellen Faktor der sprachlichen Kommunikation ausgeblendet (Morrow 2004, 4). Somit entschloss sich der Europarat, das Sprachenlehren und -lernen zu einer seiner Hauptaufgaben zu machen, die er dabei über die rein sprachliche Dimension hinaus um die Entwicklung interkultureller Kompetenzen erweiterte, welche als essentieller Teil fremdsprachlicher Kompetenz angesehen werden (Morrow 2004, 4-5).

Sein Bestreben in diesem Bereich fasst der Europarat im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen unter dem Begriff „Mehrsprachigkeit“ (Europarat 2001, 17) zusammen, welcher an anderer Stelle noch genauer betrachtet werden soll. Ein wichtiger (kulturpolitischer) Kernpunkt besteht aber darin, dass der Europarat die Regierungen Europas in die Pflicht nehmen will, um die Mehrsprachigkeit durch Schaffung neuer Kontakt- und Lernmöglichkeiten zu erweitern und dabei auch unvollkommene Sprachkompetenz anzuerkennen, solange sie dem internationalen und interkulturellen Dialog förderlich ist. Dabei ist es die Aufgabe der Lehre, den Menschen ihre Sprachkenntnisse, egal welchen Umfang diese haben mögen, bewusst zu machen und sie zu aktivieren (Morrow 2004, 5).

Die frühen Bestrebungen des Europarates im Bereich des Fremdsprachenlehrens (zusammengefasst bei Morrow 2004, 5) gehen dann auch zurück bis in das Jahr nach seiner Gründung, 1950, als er die Entwicklung von französischen Lernmaterialen für Erwachsene unterstützte. Überhaupt war es die Erwachsenenbildung, in deren Kontext der Europarat vor der Veröffentlichung des GER die größten Erfolge hatte. Viele Konzepte der modernen Fremdsprachendidaktik, wie z. B. das Threshold Level und der kommunikationsorientierte Ansatz in der Lehre gehen ursprünglich auf die Arbeit des Europarates zurück, auch wenn sie natürlich erst später und außerhalb des Rates auf ihren heutigen Stand weiterentwickelt wurden.

Herausragend war dabei vor allem der Bruch mit damals gängigen didaktischen Ansätzen, die den Lerner mit immer komplexeren Aspekten der Sprache konfrontierten, zugunsten eines die konkrete Anwendbarkeit des Gelernten betonenden Weges, der im Einklang mit den Zielen des Europarates zur Förderung internationalen, gegenseitigen Verstehens standen, bei denen auch Sprecher mit unvollkommenen Fähigkeiten als kompetente Sprachverwender angesehen werden. Das Konzept des Threshold Levels (deutsch: Kontaktschwelle) ist dabei von besonderer Bedeutung: Der Europarat definierte damit die nötigen Kenntnisse, die ein Lerner in einer Sprache (zunächst Englisch, später weitere) haben muss, um sich selbständig in einem Land, in dem diese Sprache im Alltag gesprochen wird, zu bewegen (Webseite Europarat). Hier zeigen sich auch die ersten Ansätze des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen, der in seiner Basis auf diesem handlungsorientierten Kompetenzverständnis aufbaut.

2.2 Entstehung des GER

Die Geschichte des Referenzrahmens selbst beginnt im November 1991 mit einem intergouvernementalen Symposium in Rüschlikon, das „Transparenz und Kohärenz im Sprachenlernen in Europa: Ziele, Evaluation, Zertifizierung“ zum Thema hatte (Europarat 2001, 6). Gastgeber war die Schweiz, ausgerichtet wurde das Symposium von Eurocentres, einem Anbieter von Sprachenschulen, der seit 1968 vom Europarat den "‘Status Consultatif de la Catégorie 1‘ - Beraterstatus auf dem Gebiet Sprachen lehren und Sprachen lernen“ (Eurocentres Webseite) innehat und seitdem eine große Rolle in der Entwicklung der Arbeit des Europarates in diesem Bereich einnahm. Neben einer erneuten Wiedergabe der bereits genannten Ziele des Europarates (Intensivierung des Sprachenlehrens und -lernens, zum Erhalt der kulturellen Vielfalt) wurde auf dem Symposium auch die Problematik der unzähligen konkurrierenden Bewertungsstandards in Europa thematisiert, die durch ihre Intransparenz nur dann miteinander vergleichbar waren, wenn die bewertenden Personen oder Institutionen zufällig mit mehreren Standards vertraut waren - eine Situation mit offensichtlichen organisatorischen Problemen. Deshalb wurde die Entwicklung eines Referenzrahmens für „erstrebenswert“ (Europarat 2001, 18) erachtet, der als explizit rein beschreibender und nicht vorschreibender Standard (Morrow 2004, 6) entwickelt werden soll, um:

„die Kooperation zwischen den Bildungseinrichtungen in den verschiedenen Ländern zu fördern und zu erleichtern;

die gegenseitige Anerkennung der sprachlichen Qualifikationen auf eine solide Basis zu stellen;

Lernende und Lehrende, Autoren von Sprachkursen, Prüfungsanbieter und die Bildungsverwaltung dabei zu unterstützen, ihre Bemühungen in diesen Rahmen einzubetten und sie zu koordinieren“

(Europarat 2001, 18)

Dabei sollte der Referenzrahmen auch die Ziele des Sprachenlernens mit einbringen, die durch den Europarat seit den Siebzigerjahren definiert wurden (North 2007, 1). Schon zu Beginn der Arbeiten wurde betont, dass der Referenzrahmen als Wegweiser gedacht sei; als Werkzeug, das den Benutzern sagt, wo sie stehen, nicht, was sie tun sollen (North 2007, 2). Die Entwicklung selbst fand zwischen 1993 und 1996 unter der Federführung einer vierköpfigen Autorengruppe1 statt, die im Auftrag des Symposiums in Rüschlikon arbeiteten und deren Schlussfolgerungen umzusetzen suchten. Wenn im Folgenden von „den Autoren“ die Rede ist, sind neben der o. g. Autorengruppe natürlich auch sämtliche weiteren, an der Entstehung des Referenzrahmens beteiligten, Personen und Institutionen mit eingeschlossen, die einen mehr oder minder großen Beitrag zur Entwicklung des GER geleistet haben.

Nach der Erstellung zweier interner Pilot-Ausgaben wurde der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen dann im Jahr 2001 veröffentlicht (North 2007, 2). Der Beginn eines, man könnte beinahe sagen, „Siegeszuges“ durch Klassenräume, Verlage und Institutionen.

3. Eigenanspruch des Referenzrahmens

Die Ziele, die der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen verfolgt, sind in den vorangegangenen Abschnitten hoffentlich ausreichend klar geworden. Letztlich war die Erstellung des GER die Folge sprach- und kulturpolitischer Erkenntnisse des Europarates, der einen konkreten Handlungsbedarf erklärte. Die Autoren hatten jedoch zunächst einige Vorüberlegungen zu treffen, die im ersten Kapitel des Referenzrahmens auch erläutert werden. Dazu zählen die klare Definition des eigentlichen Zweckes und auch die Darlegung der Kriterien, denen der Referenzrahmen genügen muss (Europarat 2001, 18f).

Die primären Verwendungszwecke des GER liegen dementsprechend bei der Planung von Sprachlernprogrammen, der Planung von Sprachzertifikaten und der Planung von selbst bestimmtem Lernen (Europarat 2001, 18). Dabei gehen die Autoren noch weiter ins Detail, indem sie bei den Sprachlernprogrammen eine besondere Berücksichtigung der Vorkenntnisse an den Schnittstellen im Bildungssystem fordern, bei den Sprachzertifikaten Beurteilungskriterien bevorzugen, die nicht defizitorientiert sind, und beim selbst bestimmten Lernen „die Anwendung von Instrumenten zur Selbstbeurteilung [nutzen wollen, um] das Bewusstsein der Lernenden für den Kenntnisstand, den sie erreicht haben, zu entwickeln“ (Europarat 2001, 18). Lernprogramme und Zertifikate können dabei flexibel geplant werden, um z. B. eine Gewichtung oder Modularisierung vorzunehmen, die einzelne Fähigkeits- und Themenbereiche betont - ein dem zu Grunde liegender Referenzrahmen muss dafür den notwendigen Umfang und die entsprechende Flexibilität mitbringen, während er außerdem noch oberhalb des Threshold Levels anwendbar sein muss, da auch dort noch Beschreibungskriterien notwendig sind (Europarat 2001, 19).

Die Autoren fassen die grundlegenden Kriterien für den Referenzrahmen, um die oben genannten Zwecke zu erfüllen, in folgendem Satz durchaus treffend zusammen: „Um seine Aufgaben zu erfüllen, muss ein Gemeinsamer europ ä ischer Referenzrahmen umfassend, transparent und kohärent sein“ (Europarat 2001, 19, Unterstreichungen vom Verfasser). Diese drei Kriterien lassen sich unterschiedlich gut erfüllen: Den Anspruch, ein umfassendes Dokument zum Thema vorzulegen, relativieren die Autoren gleich wieder, indem sie feststellen, dass „alle Möglichkeiten der Sprachverwendung in allen Situationen vorherzusagen […] eine unerfüllbare Aufgabe wäre!“ (Europarat 2001, 19). Mit Transparenz meinen die Autoren an gleicher Stelle, „dass die Informationen klar und explizit formuliert und für den Benutzer verfügbar und leicht verständlich sein müssen“ - ein Anspruch, den zu erfüllen vielen Kritikern und Benutzern zufolge nur mäßig gelungen ist, was sich allein schon aus dem durch das erste Kriterium entstehenden Umfang des Dokuments ergibt. Kohärenz wollen die Autoren erreichen, indem sie innere Widersprüche bei der Beschreibung vermeiden; konkret meinen sie damit das Herstellen einer sinnvollen Beziehung zwischen den verschiedenen Komponenten der Erziehungssysteme, wie z. B. den Bedürfnissen und den eingesetzten Lehr- und Lernmethoden. Zuletzt betonen die Autoren nochmal die offene, nicht vorschreibende Natur des Referenzrahmens und listen die in diesem Zusammenhang besonders wichtigen Merkmale.

„Der Referenzrahmen sollte sein:

multi-funktional: nutzbar für die ganze Bandbreite von Zwecken und Zielsetzungen bei der Planung und Bereitstellung von Sprachlernmöglichkeiten;

flexibel: adaptierbar für die Benutzung unter unterschiedlichen Bedingungen und Umständen;

offen: geeignet für Erweiterungen und Verfeinerungen des Systems

dynamisch durch die kontinuierliche Weiterentwicklung als Reaktion auf Erfahrungen aus seiner Verwendung;

benutzerfreundlich: abgefasst in einer für die Adressaten leicht verständlichen und brauchbaren Form;

undogmatisch: nicht unwiderruflich und ausschließlich einer der vielen verschiedenen konkurrierenden linguistischen oder lerntheoretischen Theorien bzw. einem einzigen didaktischen Ansatz verpflichtet.“

(Europarat 2001, 20)

Inwiefern diese Kriterien und Merkmale tatsächlich vom Referenzrahmen eingehalten werden, soll später genauer diskutiert werden, jedoch kann man schon jetzt offensichtliche (potenzielle) Probleme ausmachen: Multi-Funktionalität und Flexibilität stehen durch den daraus entstehenden Umfang des Dokuments im Widerspruch zur Benutzerfreundlichkeit - tatsächlich beklagen viele Nutzer den unübersichtlichen Aufbau des Referenzrahmens und seinen schieren Umfang, der eine schnelle Einarbeitung unmöglich macht. Erst bei mehrmaliger, intensiver Lektüre erschließt sich das Potenzial des Werks (Morrow 2004, 7).

Was die anderen Merkmale betrifft, führt der undogmatische Ansatz wie bereits erwähnt zu Unklarheit bezüglich der theoretischen Grundlagen. Zur Offenheit und Dynamik, sprich einer Weiterentwicklung und Überarbeitung sei gesagt, dass es seit der Erstveröffentlichung des Referenzrahmens 2001 keine nennenswerten inhaltlichen Änderungen in den neuen Auflagen gab - die Erweiterungen finden sich wenn dann nur in Form von Handreichungen zu bestimmten Themengebieten und in der Sekundärliteratur, der Referenzrahmen selbst blieb in den letzten Jahren unangetastet.

4. Der handlungsorientierte Ansatz des GER

„Ein umfassender, transparenter und kohärenter Referenzrahmen für das Lernen, Lehren und Beurteilen im Sprachenbereich muss von einer sehr umfassenden Sicht von Sprachverwendung und Sprachenlernen ausgehen. Der hier gewählte Ansatz ist im Großen und Ganzen handlungsorientiert, weil er Sprachverwendende und Sprachenlernende vor allem als sozial Handelnde betrachtet, d. h. als Mitglieder einer Gesellschaft, die unter bestimmten Umständen und in spezifischen Umgebungen und Handlungsfeldern kommunikative Aufgaben bewältigen müssen, und zwar nicht nur sprachliche.“ (Europarat 2001, 21)

Damit beginnt das zweite Kapitel des Referenzrahmens, das umfangreich den Ansatz hinter den Überlegungen der Autoren erläutert. Durch die Wahl eines handlungsorientierten Ansatzes distanzieren sich die Autoren deutlich von (heute gemeinhin als veraltetet betrachteten) Vorstellungen des Sprachenlehrens und -lernens, in denen die Perfektion vorwiegend linguistischer Kompetenzen wie Grammatik- und Vokabelkenntnissen sowie der Aussprache im Zentrum standen. Stattdessen herrscht ein pragmatischer Ansatz vor, der Sprachverwendung (einschließlich des Lernens) als „Handlungen von Menschen [sieht], die als Individuen und gesellschaftlich Handelnde eine Vielzahl von Kompetenzen entwickeln, und zwar allgemeine, besonders aber kommunikative Sprachkompetenzen “ (Europarat 2001, 21). Dies kennzeichnet ein kompetenzorientiertes Verständnis von Sprachverwendung (Heyworth 2004, 15). Kompetenzen werden dabei im Sinne als „die Summe des (deklarativen) Wissens, der (prozeduralen) Fertigkeiten und der persönlichkeitsbezogenen Kompetenzen und allgemeinen kognitiven Fähigkeiten [verstanden], die es einem Menschen erlauben, Handlungen auszuführen“ (Europarat 2001, 21). Die kommunikativen Sprachkompetenzen im speziellen „befähigen Menschen zum Handeln mit Hilfe spezifisch sprachlicher Mittel“, während die allgemeinen Kompetenzen explizit „nicht sprachspezifisch sind“ sondern überall eingesetzt werden können (Europarat 2001, 21). Dabei beinhalten sie eine linguistische, eine sozio-linguistische und eine pragmatische Komponente, die miteinander in Verbindung stehen (Europarat 2001, 24).

Die Autoren des Referenzrahmens betten ihren handlungsorientierten Ansatz zusätzlich zum eben genannten Kompetenzbegriff in eine Reihe weiterer Begrifflichkeiten ein, von denen einige später noch vorgestellt werden müssen. Im Zusammenhang mit der Handlungsorientierung sticht dabei aber besonders der Begriff der (kommunikativen) Aufgabe heraus - diese „wird definiert als jede zielgerichtete Handlung, die eine Person für notwendig hält, um ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen“ (Europarat 2001, 22). Mit „jede zielgerichtete Handlung“ meinen die Autoren dann auch wirklich jede, selbst solche, die keine mündliche oder schriftliche Sprachverwendung miteinschließen - als Beispiel führen sie z. B. auch das Umstellen eines Schrankes an. Für die Erfüllung solcher Aufgaben spielen viele verschiedene Faktoren eine Rolle, z. B. der Kontext und auch der Lebensbereich (beides ebenfalls zentrale Begriffe), innerhalb dessen die Aufgabe ausgeführt wird.

Die Autoren stellen weiter fest, dass die „verschiedenen Dimensionen bei der Verwendung von Sprache und beim Sprachenlernen miteinander verknüpft sind“ (Europarat 2001, 22). Dies steht aber nicht im Widerspruch zu ausdifferenzierten Zielsetzungen beim Lernen bzw. in der Lehre: Es sei durchaus üblich und auch zweckmäßig, dass Sprachverwender unterschiedliche Schwerpunkte setzen und auch in der Regel nur Teilaspekte der kommunikativen Sprachverwendung fördern. Eine Fokussierung auf „die Performanz in einem bestimmten Lebensbereich“, „die Entwicklung bestimmter allgemeiner Kompetenzen“ oder „die Verbesserung von Strategien“ (Europarat 2001, 22) ist oft notwendig und im Sinne eines handlungsorientierten Ansatzes, der vor allem auch die individuelle Gesamtkompetenz (Heyworth 2004, 15) betont.

Diese Gesamtkompetenz ist dabei weder komplett noch umfassend, das kann sie gar nicht sein, selbst für einen Muttersprachler. Außerdem beinhaltet sie die Kenntnisse aller Sprachen, mit denen ein Individuum Kontakt hat oder hatte - und die damit verbundene indirekte Kenntnis in weiteren Sprachen; schließlich kennt man durch die Strukturen einer Sprache beispielsweise oft auch Teile anderer, verwandter Sprachen, auch wenn man sich dessen nicht bewusst sein sollte. Daraus ergibt sich weiterhin die Notwendigkeit, mit Lernern deren Ziele individuell zu verhandeln, einschließlich der Möglichkeit, dass ein vollständiges Erlernen einer Sprache für viele Lerner gar nicht nötig sein muss. „Alles oder nichts“ ist kein funktionierendes Prinzip für effizientes Sprachenlernen, und der Referenzrahmen bietet mit seinen Beschreibungsskalen Lehrern und Lernenden die Möglichkeit, vorhandene Ressourcen exakt zu beschreiben und Lernziele genauer festzulegen (Heyworth 2004, 15).

Der handlungsorientierte Ansatz des GER versucht insgesamt, ein kompetenzorientiertes Beschreibungssystem für Fremdsprachenbedarf und -kenntnisse zu etablieren. Dabei geht es zunächst nur um eine Aufgliederung der möglichen Fertigkeiten in einzelne Teilkompetenzen wie linguistische, sozio-linguistische und pragmatische Kompetenzen, sowie in die verschiedenen Sprachaktivitäten wie Rezeption und Produktion, Interaktion und auch Sprachmittlung. Auch Lebensbereiche finden hier ihre Berücksichtigung (der GER unterscheidet hier den öffentlichen Bereich, den privaten Bereich, das Bildungswesen und den beruflichen Bereich) (Europarat 2001, 24ff), genauso wie „Kommunikative Aufgaben, Strategien und Texte“ und deren Beziehungen untereinander (Europarat 2001, 26f).

Die Skalen tragen dem handlungsorientierten Ansatz ebenfalls Rechnung. Im Gegensatz zur traditionellen Beschreibung sprachlicher Fertigkeiten in den klassischen Kategorien Hörverstehen, Leseverstehen, Schreiben und Sprechen bedienen sie sich einer Aufteilung in Rezeption, Produktion, Interaktion und Mediation, was wiederum dem handlungsorientierten Ansatz entgegen kommt (Heyworth 2004, 16). Da sie ihre deskriptiven Kategorien den oben genannten Teilbereichen entsprechend auffächern, sind sie zunächst rein beschreibend, haben also nur eine horizontale Dimension. Erst durch die Einführung der Niveaustufen, also eine vertikale Aufteilung der Skalen in verschiedene Leistungsniveaus, werden die Skalen des Referenzrahmens von einem Beschreibungs- zu einem Bewertungsinstrument (Europarat 2001, 27). Gleichzeitig betonen die Autoren, „dass sich der Prozess des Sprachenlernens über eine lange Zeit erstreckt und individuell ist“ und dass auf Grund der individuell unterschiedlichen Voraussetzungen der Lerner „jeder Versuch, ‚Niveaustufen‘ der Sprachkompetenz festzusetzen […] bis zu einem gewissen Grad willkürlich“ ist, was sie aber insbesondere für die Curriculumerstellung nicht weniger nützlich macht (Europarat 2001, 28).

Trotz aller Nützlichkeit der Skalen, auch zur Bewertung, will der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen offen bleiben, genauer: „offen, dynamisch und undogmatisch“ (Europarat 2001, 29). Obwohl der GER einen grundsätzlich handlungsorientierten Ansatz verfolgt, schließt er andere Theorien und vor allem Methoden des Sprachenlernens und -lehrens nicht aus, sondern versucht mit seinen Begriffen und den Deskriptoren der Skalen vor allem ein Werkzeug zu sein, mit dem Lerner und Lehrer ihre Methoden, Bedürfnisse und Ziele beschreiben und kritisch durchleuchten können. Man äußert sich zwar unvermeidlich auch zu den Prozessen des Spracherwerbs und des Lernens, bezieht aber (zumindest offenkundig) keine Stellung in der Diskussion (Europarat 2001, 29).

5. Der Mehrsprachigkeitsbegriff

Eines der zentralen Ziele des Europarates ist es, die „Mehrsprachigkeit im gesamteuropäischen Kontext zu fördern“ (Europarat 2001, 16). Was ist aber mit Mehrsprachigkeit überhaupt gemeint? Die Autoren widmen diesem Teil ihrer Terminologie einen ganzen Textabschnitt (Europarat 2001, 17) und erläutern den Unterschied zwischen Mehrsprachigkeit und Vielsprachigkeit. Christ (2003, 58) fasst zusammen: „Unter Vielsprachigkeit verstehen sie die (in ihren Augen unverbundenen) Kenntnisse einer Anzahl von Sprachen, unter Mehrsprachigkeit die (ganzheitliche) Spracherfahrung eines Menschen in seinen kulturellen Kontexten “. Mit dieser ganzheitlichen Spracherfahrung ist gemeint, dass „Sprachen und Kulturen […] nicht in strikt voneinander getrennten mentalen Bereichen gespeichert [werden]“, sondern die bereits angesprochene gemeinsame kommunikative Kompetenz bilden (Europarat 2001, 17). Dabei bezieht der Referenzrahmen explizit außerschulische Erfahrungen mit ein; ebenso auch intersprachliche Strategien wie Code- Switching und den Transfer von Kenntnissen einer Sprache auf eine neue, ganz oder teilweise Unbekannte.

Was der Europarat mit diesem Verständnis von Mehrsprachigkeit aussagt, ist beinahe revolutionär: Er „führt das Konzept der mehrsprachigen und plurikulturellen Kompetenz in die Nähe des legitimen Curriculums“ (Gogolin 2003, 88) und macht damit den Normalzustand der Monolingualität zum alten Eisen. Gleichzeitig hebt er die Trennung zwischen den Sprachen auf, auch beim Lernen, und entzieht dem Bildungswesen seine Monopolstellung. „Man kann [das Ziel des Sprachunterrichts] nicht mehr in der Beherrschung einer, zweier oder vielleicht dreier Sprachen sehen, wobei jede isoliert gelernt und dabei der ‚ideale Muttersprachler‘ als höchstes Vorbild betrachtet wird“ (Europarat 2001, 17). Vielmehr soll eine mehrsprachige Kompetenz entwickelt werden, und es liegt bei den Bildungsbehörden und Prüfungsanbietern dafür die Voraussetzungen zu schaffen.

Ein praktisch anwendbares Werkzeug, um dieser plurikulturellen Vorstellung von Sprachenlernen gerecht zu werden, hat der Europarat schon kurz nach dem Referenzrahmen 16 veröffentlicht: Das Europäische Sprachenportfolio. Mit diesem Werkzeug soll eine Dokumentation der Mehrsprachigkeit für jeden Lerner individuell möglich sein; als Basis dienen dabei die Skalen und Deskriptoren der Referenzniveaus und deren Kategorien der Sprachverwendung und Sprachkompetenz (Europarat 2001, 17). Dabei ermöglicht das Sprachenportfolio auch explizit die Dokumentation von Mehrsprachigkeits-Kompetenzen im Sinne des Referenzrahmens in offiziell anerkannter Form. Im nächsten Kapitel wird noch genauer darauf eingegangen, wie das Europäische Sprachenportfolio und der Referenzrahmen ineinander greifen.

6. Zentrale Komponenten für Anwender des Referenzrahmens

Die bisherigen Abschnitte haben sich vorwiegend mit den Ansätzen und dem sprach- und kulturpolitischen Anspruch des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens für Sprachen beschäftigt. Der Referenzrahmen selbst wendet auch eine nicht unerhebliche Seitenzahl dafür auf, sich in diesem Kontext zu etablieren und seine Rolle darzustellen. Im Folgenden sollen die weiteren Komponenten des Referenzrahmens vorgestellt und ihre Funktionen für den Benutzer näher erläutert werden.

6.1 Gemeinsame Referenzniveaus

Es wurde bereits auf den Unterschied zwischen der horizontalen Dimension der Skalen (Ausdifferenzierung der Kompetenzen und ihrer Dimensionen) und der vertikalen Dimension (Niveaustufen) hingewiesen. Die Definition dieser Niveaustufen und deren sinnvolle Skalierung stellte für die Autoren des Referenzrahmens eine große Herausforderung dar; nicht zuletzt weil der Anspruch eines allgemeingültigen, gemeinsamen Referenzrahmens besondere Ansprüche an die Gestaltung solcher Niveaustufen stellt. Die Autoren stellen vier Kriterien vor, die bei der Definition der gemeinsamen Referenzniveaus soweit wie möglich berücksichtigt werden mussten (Europarat 2001, 32):

- „Eine gemeinsame Referenzskala sollte kontextfrei sein“, d. h. ihre Anwendbarkeit sollte unabhängig vom Kontext gewährleistet sein, indem sie nicht für einen speziellen Kontext (z. B. Schulen) entwickelt wurde. Gleichzeitig muss sie aber „ kontext-relevant “ sein: Man muss die Referenzskala auf verschiedene Kontexte beziehen können, damit ihre Funktionsfähigkeit wirklich universal gewährleistet ist.
- „Die Beschreibung muss auch auf Theorien der Sprachkompetenz basieren“, wobei dies nur schwer zu gewährleisten ist, da die verfügbaren Theorien nicht auf diese Art der Verwendung ausgelegt sind. Nichtsdestotrotz müssen die Beschreibungen „theoretisch fundiert“ sein, wobei natürlich sichergestellt werden muss, dass die Beschreibungen trotzdem „ benutzerfreundlich “ bleiben.
- Um Fehler bei der Systematisierung zu vermeiden sollten die verschiedenen Stufen der Skala, auf denen Objekte abgelegt werden, „im Rahmen einer Theorie der Messverfahren objektiv festgesetzt werden.“ Die Verwendung von „wissenschaftlich nicht fundierten Konventionen“ sollte vermieden bzw. ausgeschlossen werden.
- „Die Anzahl der Niveaus, die man einführt, sollte geeignet sein, in verschiedenen Bereichen Fortschritte zu erfassen.“ Dabei können auch verschiedene Aufteilungen zum Einsatz kommen, z. B. „unterschiedlich große Stufen […] bzw. ein zweischichtiges Modell mit breiteren (gemeinsamen, konventionellen) und mit engeren (lokal anwendbaren, didaktischen) Niveaustufen.“

Die Autoren des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens stellen im unmittelbaren Anschluss an die Vorstellung dieser Kriterien fest, dass diese nur eingeschränkt zu erfüllen seien. „Sie können in der Tat nur durch eine Kombination intuitiver, qualitativer und quantitativer Methoden eingelöst werden“ (Europarat 2001, 32). Dies steht im Gegensatz zu den vorwiegend intuitiven Verfahren zur Skalenentwicklung, die sonst üblicherweise eingesetzt werden, da ein intuitives (und damit subjektives) Vorgehen für einen gemeinsamen, allgemeingültigen Referenzrahmen ungeeignet ist. Intuitiv erstellte Skalen sind durch die verschiedenen, in deren eigenem Kontext durchaus sinnvoll ausdifferenzierten Ansichten der Autoren beeinflusst, während der GER aber objektiv in der Skala eingeordnete Formulierungen notwendig macht. Damit ein gemeinsamer Referenzrahmen glaubwürdig zuverlässig sein kann, müssen zur Erstellung der GER-Skalen intuitive Platzierungen von Formulierungen in Niveaustufen durch qualitative und quantitative empirische Methoden bestätigt werden (Europarat 2001, 32). Die Autoren fassen den Entwicklungsprozess der Skalen wie folgt knapp zusammen:

„Das methodische Verfahren zur Entwicklung der Gemeinsamen Referenzniveaus und der Beispieldeskriptoren ist deshalb sehr streng gewesen: Es wurde eine systematische Kombination von intuitiven, qualitativen und quantitativen Forschungsmethoden benutzt. Zunächst wurden bereits existierende Skalen mit Bezug auf die Beschreibungskategorien im Referenzrahmen analysiert. Dann wurde dieses Material in einer intuitiven Phase bearbeitet; es wurden neue Deskriptoren formuliert und die ganze Sammlung wurde von Experten diskutiert. Danach wurden verschiedene qualitative Methoden benutzt, um zu überprüfen, dass Lehrende mit den ausgewählten Beschreibungskategorien etwas anfangen konnten und dass die Deskriptoren wirklich diejenigen Kategorien beschrieben, die sie beschreiben sollten. Schließlich wurden die besten Deskriptoren aus dieser Sammlung mit Hilfe quantitativer Methoden skaliert. Die Richtigkeit der Skalierung ist seitdem in vielen Folgeuntersuchungen überprüft worden.“ (Europarat 2001, 33)

Die Autoren des Referenzrahmens gehen an dieser Stelle nicht näher auf den Entwicklungsprozess der Skalen ein und verweisen auf die umfangreichen Anhänge des Werks (Europarat 2001, ab 200), jedoch erscheint es im Rahmen dieser Arbeit sinnvoll, einen kurzen Abriss über einige Eckpunkte der Entwicklung und die dabei festgelegten Leitlinien zu geben. Besonders auffällig ist bei den Deskriptoren, dass diese alle als Kann-Beschreibungen abgefasst sind, also positiv formuliert. Kompetenzorientierte Kann-Beschreibungen sind schon länger bei verschiedenen anderen Bewertungssystemen verwandt worden, jedoch selten auf niedrigen Niveaustufen, da es dann schwerer wird, „zu sagen, was der Lernende tun kann, als zu sagen, was er nicht tun kann“ (Europarat 2001, 200). Defizitorientierte Formulierungen kommen für den Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen allerdings durch sein kompetenzorientiertes Basiskonzept von vornherein nicht in Frage: „Wenn Kompetenzniveaus auch als Lernziel dienen sollen und nicht nur als ein Instrument zur Überprüfung und Auslese von Kandidaten“ (Europarat 2001, 200), dann ist es wenig sinnvoll, die Niveaustufen negativ in Form von Defiziten zu formulieren.

positiv negativ

Verfügt über eine Auswahl an elementaren sprachlichen Mitteln und Strategien, die es ihm/ihr ermöglichen, mit voraussagbaren Alltagssituationen fertig zu werden. (Eurocentres Niveau 3: Zertifikat)

Elementares Repertoire an sprachlichen Mitteln und Strategien, das den meisten Anforderungen des Alltags genügt, erfordert allerdings in der Regel Kompromisse in Bezug auf die Realisierung der Sprechabsicht und macht die Suche nach Worten nötig. (Eurocentres Niveau 3: Beurteilungsraster)

Verfügt über ein enges Repertoire sprachlicher Mittel, das ständige Neuansätze bei Formulierungen und die Suche nach Wörtern erfordert. (ESU Niveau 3)

Begrenzte Sprachkompetenz verursacht in nichtroutinemäßigen Situationen häufige Abbrüche und Missverständnisse. (Finnische Niveaustufe 2)

Die Kommunikation bricht ab, weil sprachliche Begrenzungen die Übermittlung des Inhalts behindern. (ESU Niveau 3)

Auszug aus Europarat 2001, 200

Bei der Ausarbeitung der Deskriptoren wurde neben der positiven Formulierung außerdem möglichst darauf geachtet, dass die Formulierungen eindeutig sind, also keine vagen oder missverständlichen Ausdrücke benutzen, dabei aber auf Fachjargon verzichten, um die Klarheit zu gewährleisten. Weiterhin wurden die Deskriptoren so kurz wie möglich abgefasst und eher in einzelne, kurze Aussagen aufgespalten, statt umfangreiche Fähigkeitsstadien zu formulieren, die dann auf kaum jemanden zutreffen, der nicht einer gewissen arbiträren Norm entspricht. Zuletzt wurde darauf geachtet, dass die Deskriptoren voneinander unabh ä ngig stehen und damit ihre Erfüllung als eigenständiges Lernziel verstanden werden können - so können einzelne Fertigkeitsbereiche besser als verbesserungswürdig erkannt werden und einer unmittelbaren Bearbeitung steht kein zu beachtender Gesamtkontext im Wege (Europarat 2001, 201).

Die Deskriptoren beschreiben insgesamt sechs Niveaustufen von A1 bis C2. „Betrachtet man aber diese sechs Niveaus, merkt man, dass hier die klassische Aufteilung des Lernbereichs in Grund-, Mittel- und Oberstufe noch einmal in je eine höhere bzw. niedrigere Stufe aufgefächert wird“ (Europarat 2001, 34), in denen sich verschiedene Begriffe wiederfinden, die z. T. aus anderen Entwicklungen schon bekannt sind - allen voran das Threshold-Level, die Kontaktschwelle ab der ein Lerner ausreichend Kenntnisse besitzt, um selbständig in der Fremdsprache zu agieren.

(Europarat 2001, 34)

Beschreibungen der Kontaktschwelle sind bereits länger bekannt und wurden ebenfalls durch den Europarat vorangetrieben. Die besondere Leistung des Gemeinsamen europäischen Referenzrahmens besteht aber darin, dass die neuen Niveaustufen A und C auch möglichst detailliert beschrieben wurden, obwohl sich dabei besondere Schwierigkeiten ergeben und sich manche Niveaustufen auch nicht vollständig sinnvoll beschreiben lassen - in diesen Fällen hat der Referenzrahmen (noch) Lücken. Beispielsweise gibt es keine sinnvollen Deskriptoren für das Schreiben von Berichten und Aufsätzen auf den Niveaus A1 und A2, der Referenzrahmen stellt hier nur fest: „Keine Deskriptoren verfügbar“ (Europarat 2001, 68). Es ist beachtenswert, dass die Autoren hier ‚Mut zur Lücke‘ zeigen und ihre eigenen Kriterien strikt auslegen und auch im Verlauf der empirischen Kalibrierung oder bei sonstigen Qualitätskontrollmechanismen manche Deskriptoren fallen lassen (Europarat 2001, 45f). Im genannten Fall wurde möglicherweise festgestellt, dass dieser spezifische Kontext auf einem derart niedrigen Niveau nicht sinnvoll erfassbar bzw. unterscheidbar ist. In der übergeordneten Skala zur schriftlichen Produktion im Allgemeinen heißt es dann aber doch: „Kann einfache, isolierte Wendungen und Sätze schreiben“ (Europarat 2001, 67).

Das System wirkt an dieser Stelle relativ starr, jedoch weisen die Autoren darauf hin, dass die Einteilung der Niveaustufen durchaus weiter ausdifferenzierbar ist (Europarat 2001, 41f). So ist es denkbar, diejenigen der sechs vorhandenen Niveaustufen weiter aufzuteilen, deren Erfüllung man derzeit verfolgt, was besonders jenseits der elementaren Sprachverwendung (A1-A2) sinnvoll erscheint: Leistungssteigerungen schreiten auf den höheren Niveaustufen wesentlich langsamer voran, weshalb eine feinere Ausdifferenzierung zur exakteren Verfolgung des Leistungsstandes notwendig sein kann. Nach dem gleichen Prinzip ist es auch denkbar, Zwischenstufen wie A2+ zu definieren, wenn ein Lerner zwar mehr Kompetenzen zeigt als für A2 notwendig, aber die verfügbaren Deskriptoren der Stufe B1 noch nicht zutreffend sind (Europarat 2001, 40f). Man könnte sich fragen, ob ein derart offenes System, das eigene Adaptionen und Erweiterungen fördert, einer internationalen Vergleichbarkeit von Ergebnissen überhaupt zuträglich sein kann. Eine Antwort darauf findet man womöglich in folgender Aussage:

„Die Gemeinsamen Referenzniveaus können in sehr vielfältigen Formaten und unterschiedlich detailliert dargestellt werden. Jedoch sorgt schon das Vorhandensein von festen gemeinsamen Referenzpunkten für Transparenz und Kohärenz und ist ein Werkzeug für zukünftige Planungen und eine Basis zukünftiger Entwicklungen. Dieses System von Deskriptoren soll - zusammen mit den Kriterien und Methoden für die weitere Entwicklung von Deskriptoren - Entscheidungsträgern helfen, Umsetzungen zu entwerfen, die ihren Arbeitskontexten entsprechen.“ (Europarat 2001, 45)

Hier wird erneut der Werkzeugcharakter des Referenzrahmens betont. Die gemeinsamen Referenzniveaus sind als Eckpunkte zu verstehen. Außerdem gibt es innerhalb des Referenzrahmens sehr viele, sehr spezialisierte Skalen, aber auch wesentlich allgemeiner formulierte übergeordnete Beschreibungen.

[...]


1 “The authoring group consisted of John Trim (project director), Daniel Coste (CREDIF), Brian North (Eurocentres Foundation) and Joe Sheils (Council of Europe Secretariat).” (North 2007, 2)

Ende der Leseprobe aus 87 Seiten

Details

Titel
Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Der GER im Überblick
Hochschule
Universität Siegen
Veranstaltung
Angewandte Sprachwissenschaft
Note
2,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
87
Katalognummer
V193938
ISBN (eBook)
9783656192350
ISBN (Buch)
9783656193517
Dateigröße
1071 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
GER, Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen, Europarat, Gemeinsame Referenzniveaus, CAN DO statements, Sprachenportfolio, Sprachenlernen, Sprachen lehren
Arbeit zitieren
Kai Hilpisch (Autor:in), 2011, Gemeinsamer Europäischer Referenzrahmen für Sprachen: Der GER im Überblick, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/193938

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