"Wir sind Talentsucher und keine Müllsortierer!"

Eine kritische Untersuchung zum Einfluss von Castings-Shows auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.


Masterarbeit, 2012

131 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung
A. Theoretischer Teil
II. Jugend und das Medium Fernsehen
II.1 Jugend und Identitätsbildung
II.2 Der Einfluss von Medien auf Identitätskonstruktion und Selbstbild
II.3 Die Kultivierungshypothese
III. Casting-Shows
III.1 DSDS und GnTm
III.1.1 DSDS
III.1.2 GnTm
III.2 Casting-Shows als Hybridgenre
III.3 Faszination Casting-Show
III.4 Rezeption von Casting-Shows von Kindern und Jugendlichen - Was Heranwachsende aus Casting-Shows lernen
IV. Star-Kult und Schönheitswahn
IV.1 Die Bedeutung von Stars in der Lebenswelt von Jugendlichen
IV.2 Jugend und Körper, Jugend und Schönheit
V. Zwischenfazit

B. Empirischer Teil
VI. Casting-Show-Rezeption und ihr Einfluss auf Jugendliche Eine Studie mit Osnabrücker Jugendlichen.
V.1 Methodenwahl
V.2 Beschreibung des Fragebogens
V.3 Ergebnisdarstellung
V.3.1 Soziodemographische Daten der Osnabrücker Jugendlichen .
V.3.2 Allgemeine Daten zum Fernsehverhalten der Osnabrücker Jugendlichen
V.3.3 Rezeptionsgrund und Jury-Wahrnehmung
V.3.4 Berufswahl
V.3.5 Schönheitsempfinden
V.3.6 Einschätzung des Realitätsgehaltes von Castingshows
V.4 Interpretation der Ergebnisse
VII. Fazit
VIII. Literaturverzeichnis

C. Anhang
a. Fragebogen
b. Ergebnisse der Umfrage

I. Einleitung

Castingshows wie Deutschland sucht den Superstar oder Germany ‘ s next Topmodel haben längst Einzug in unseren Alltag gehalten. Dabei wird nicht nur nach Menschen gesucht, die die verheißungsvollen Titel ,Superstars‘, ,Topmodels‘ oder ,Popstars‘ tragen dürfen, sondern ebenso Schauspieler, Magier, Musical-Darsteller, Fußballer, Tänzer, potentielle Kanzler-Kandidaten, Friseure, Mitbewohner sowie Handwerker werden mehr oder weniger regelmäßig öffentlich im Fernsehen gecastet. Casting ist fest verankert im Leben einer ganzen Generation und findet heute sogar auch in Be- rufswahlverfahren anstelle von Bewerbungsgesprächen statt. Selbstpräsentation scheint alles geworden zu sein. Kinder und Jugendliche verbringen viel Zeit damit Castingshows zu sehen und darüber mit ihren Freunden1 zu diskutieren. Wer hat am Samstag die beste ,Performance‘ abgelegt, welches Möchtegern-Model hat den Cat- walk am elegantesten abgeschritten oder welcher der vermeintlichen Sangeskünstler ist denn wohl der niedlichste und welche Sängerin sieht am heißesten aus.

Dieter Bohlen und Heidi Klum sind nicht nur Juroren, sondern geben der jeweilige Castingshow durch ihre Jurorentätigkeit ein Gesicht. Hört man Deutschland sucht den Superstar assoziieren viele den Namen Dieter Bohlen, Germany ‘ s next Topmodel trägt sogar den Zusatz by Heidi Klum. Die Shows kommen somit generell nicht ohne Leit- und Schlüsselfiguren aus, welche als Vorbilder für Kinder und Jugendliche die- nen können. Klum und Bohlen stehen allerdings regelmäßig in der Kritik mit ihren Äußerungen im TV schlechten Einfluss auf ihre Zuschauer auszuüben. Insbesondere Dieter Bohlen ist wegen seiner beleidigenden und herablassenden Bewertungen der Kandidaten bekannt: „Wenn du deine Stimmbänder in die Mülltone schmeißt, ist das artgerechte Haltung.“ (Bohlen 2008) „Solange wir Stimmen wie deine haben, müs- sen wir uns nicht wundern, wenn die Geburtenrate zurückgeht.“ (Bohlen 2007). Ju- gendschützer wurden auf Deutschland sucht den Superstar auch aufgrund von ihrer Ansicht nach jugendgefährdenden und die Kandidaten persönlich angreifenden Kommentare aufmerksam: „Der Unterschied zwischen 'ner Batterie und dir: Batteri- en haben auch 'ne positive Seite.“ (Bohlen 2010), „Dich haben sie bei der Mülltrennung offenbar auf den falschen Haufen getan.“ (Bohlen 2007), „Persönlichkeit wie 'ne Bockwurst“ (Bohlen 2009), „Ich glaube du hast viel größere Probleme als das Singen.“ (Bohlen 2011).

Klums Bewertungen der Kandidatinnen ist nicht ganz so scharfzüngig wie die Boh- lens, dennoch geriet sie bzw. die gesamte Jury bei GnTm wegen ihrer Äußerung „Da- für bist du zu dick“ (2006) einem sehr schlanken Mädchen (1,76m / 52 Kilo) gegen- über in die Kritik und ihr wird vorgeworfen den Schlankheitswahn unter jungen Mädchen zu unterstützen.2 Außerdem spielt sie die Kandidatinnen in der Sendung oft gegeneinander aus, damit diese lernen wie hart das ,Business‘ tatsächlich ist.

Ob eine Sendung aufgrund solcher Äußerungen und Handlungen tatsächlich jugend- gefährdend ist, ist ein ständiges Diskussionsthema unter Pädagogen, Medienwissen- schaftlern und Rezipienten der Sendungen. Deutschland sucht den Superstar läuft somit nur noch unter bestimmten Auflagen durch den Jugendmedienschutz, der eben- so Germany‘s next Topmodel stärker beobachtet. Auch in den Medien findet teils stark programmatische Kritik an diesen Sendungen statt und lässt Eltern gar zum Teil das Schlimmste befürchten, wenn sie ihren Kindern erlauben Castingsendungen zu sehen. Für diese bleibt die Faszination an Deutschland sucht den Superstar oder Germany ‘ s next Topmodel aber weiterhin bestehen. Fraglich ist auch ob die Juroren den Jugendlichen tatsächlich als Vorbilder dienen, oder ob sie innerhalb der Sendung doch eher eine andere Funktion inne haben. Auch wenn Castingsshow-Formate im- mer wieder mit schlechten Quoten zu kämpfen haben, sind sie aus dem heutigen Fernsehprogramm kaum noch wegzudenken. Es bleiben die Fragen danach, warum diese Sendungen immer noch eine so große Faszination auf die Zuschauer ausüben und was die Jugendlichen daraus mitnehmen. Auch, welche Einfluss Castingshows grundsätzlich haben und wie jugendgefährdend DSDS und Co. tatsächlich sind.

Daher möchte ich mich in der folgenden Masterarbeit genauer mit dem Thema Cas- tingshows und Jugendliche auseinandersetzen. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen stehen die zwei zentralen Fragen: Was macht die Faszination Castingshow aus? und Wie gehen Jugendliche mit dem Dargestellten um bzw. inwieweit wirkt das Darge- stellte auf sie ein? Dazu soll in Kapitel II.1 zunächst der Begriff ,Jugend‘ geklärt werden und herausgestellt werden wie Identitätsbildung im Jugendalter passiert. In II.2 geht es um das Medium Fernsehen. Es soll auch die Frage geklärt werden, in wie weit sich Fernsehkonsum generell auf Jugendliche auswirkt, um dann in Kapitel II.3 die Kultivierungshypothese zu den bisherigen Betrachtungen hinzuzuziehen. Das dritte Kapitel dreht sich dann um das Format Castingshows. Am Besipiel von DSDS (Deutschland sucht den Superstar) und GnTm (Germany ‘ s next Topmodel) wird zu- nächst dargestellt, was Castingshows überhaupt sind und wie sie aufgebaut sind. In Kapitel II.2 soll dann das Konzept Castingshow medienanalytisch betrachtet und die Besonderheiten des Reality-TV-Formates herausgestellt werden, um dann in Kapitel III.3 die Anziehungskraft, die Castingshows auf Kinder und Jugendliche ausüben, erklären zu können. In Kapitel III.4 werden zwei Studien zu dieser Thematik hinzu- gezogen, in denen der Fokus neben dem Rezeptionsverhalten an sich, auch auf den Auswirkungen, die Castingshow-Rezeption für Heranwachsende mit sich bringt, liegt. Kapitel IV befasst sich als letztes der theoretischen Kapitel mit der Bedeutung von Stars in der Lebenswelt von Heranwachsenden (IV.1) und dem Thema Körper und Schönheit (IV.2). Alle Ergebnisse der bisherigen Kapitel werden dann nochein- mal in einem Zwischenfazit in Kapitel V zusammengefasst. Im anschließenden empi- rischen Teil sollen die bisher dargestellten Aspekte mit denen aus einer eigenen Er- hebung mit Osnabrücker Kindern und Jugendlichen verglichen und verknüpft werden (Kapitel VI). Zunächst beschreibe ich hier meine Vorgehensweise und die Methodik der Studie in Kapitel V.1. Daran anschließend soll in Kapitel VI.2 der von mir erstell- te Fragebogen erläutert werden und die zentralen, für diese Arbeit besonders wichti- gen, Items hervorgehoben werden. In Kapitel VI.3 erfolgt dann die Präsentation und Auswertung der Ergebnisse, die in Kapitel VI.4 interpretiert und mit den in III.4 be- schriebenen Studien zusammengeführt. Abschließend ein kurze Abschlusdiskussion im letzten Kapitel VII, dem Fazit.

A. Theoretischer Teil

II. Jugend und das Medium Fernsehen

Es ist für die meisten Menschen im 21. Jahrhundert kaum vorstellbar ein Leben ohne elektronische Medien zu führen. Der Fernseher hat heute - seitdem er in den 30er Jahren auch für den Privatgebrauch konstruiert wurde -, Einzug in fast alle deutschen Wohnzimmer gefunden und stellt seitdem nicht nur das wohl wichtigste Medium un- serer heutigen Zeit dar, sondern ist oft auch Mittelpunkt des sozialen und gesell- schaftlichen Lebens. Die Medien sind „ein Ausdruck unserer Kultur, und unsere Kul- tur funktioniert in erster Linie durch die von den Medien zur Verfügung gestellten Materialien“ (Castells 2001, zitiert nach Mikos/ Winter/ Hoffmann 2007, S. 8).

Kinder und Jugendliche wachsen heute in einer stark multimedial geprägten Umwelt auf, in der das Fernsehen eine zentrale Rolle spielt und sehen sich so auch immer wieder neuen TV-Formaten ausgesetzt. Nach der JIM-Studie 2011 sehen 89% der Jugendlichen zumindest mehrmals pro Woche fern, 60% sogar täglich, mit einer durchschnittlichen Sehdauer von 109 Minuten täglich, allerdings ist es nur noch für 56% der Jugendlichen wichtig das Medium Fernsehen regelmäßig zu nutzen (MPFS 2011, S.15ff). Bei den Kindern im Alter zwischen 6 und 13 Jahren geben gar 95% an regelmäßig den Fernseher zu nutzen. Die durchschnittliche Sehdauer beläuft sich hierbei auf ca. 96 Minuten täglich (MPFS 2010, S. 19). Aufgrund der enormen Zeit, die Jugendliche und Kinder in ihrer Freizeit vor dem Fernseher verbringen, gehen viele Pädagogen, Rezeptionsforscher und Medienpsychologen davon aus, dass der Einfluss, den das Fernsehen auf Jugendliche, ihre Sozialisation und ihre Entwicklung ausübt ebenso enorm sei.

Im folgenden Kapitel soll es zunächst darum gehen, wie die Identitätsbildung bei Ju- gendlichen stattfindet und inwiefern diese durch das Medium Fernsehen beeinflusst wird. In Kapitel II.1 werden zunächst unterschiedliche Ansätze zur Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung beschrieben. Die Auswirkungen des Fernsehens auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wird Kapitel II.2 thematisiert. Hier ste- hen verschieden Theorien und Ansätze aus Medienrezeptions- und Mediensozialisa- tionsforschung im Mittelpunkt der Ausführungen. In Kapitel II.3 soll daran anschlie- ßend vertieft auf die sogenannte Kultivierungshypothese eingegangen werden.

II.1 Jugend und Identitätsbildung

Die Jugend als Lebensphase wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erstmals be- schrieben und nimmt seit dem stets an Bedeutung zu. Verschiedene Forschungsdis- ziplinen beschäftigen sich mit ihr, binden sie in bestehende Entwicklungskonzepte ein und schreiben dieser Lebensphase immer wieder neue Entwicklungsaufgaben zu. Der Psychologe R.J. Havighurst hat 1948 das sogenannten normative Konzept der Entwicklungsaufgaben definiert und hierin unter anderem die Anforderungen und Erwartungen, die an einen Jugendlichen in der Zeit der Adoleszenz gestellt werden, beschrieben:

1. „Neue und reifere Beziehungen zu Altersgenossen beiderlei Geschlechts aufbauen
2. Übernahme der männlichen oder weiblichen Geschlechtsrolle
3. Akzeptieren der eigenen körperlichen Erscheinung und effektive Nutzung des Körpers
4. Emotionale Unabhängigkeit von den Eltern und von anderen Erwachsenen
5. Vorbereitung auf Ehe und Familienleben
6. Vorbereitung auf eine berufliche Karriere
7. Werte und ein ethisches System erlangen, das als Leitfaden für das Verhal- ten dient - Entwicklung einer Ideologie
8. Sozial verantwortliches Verhalten erstreben und erreichen“ (Schenk-Danziger 1993, S. 357)

Ist der Jugendliche in der Lage diese Aufgaben erfolgreich zu bewältigen, hat er somit nach Havighurst auch seine Identitätsfindung positiv abgeschlossen.

Bei näherer Auseinandersetzung mit der Lebensphase Jugend, stößt man immer wieder auf den Begriff Identität, welchem in zahlreichen sich durchaus unterscheidenden Theorien, seien sie nun soziologischer, psychologischer oder pädagogischer Natur, wiederholt eine hohe Bedeutung beigemessen wird.

Der deutsche Professor für Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Universität Bielefeld Klaus Hurrelmann vereint diverse Ansätze zur Beschreibung der Lebens- phase Jugend zum „integrierende[n] Ansatz der Sozialisationstheorie“ (Hurrelmann 2007, S. 63), mit dem er den Sozialisationsprozess von Jugendlichen beschreibt. Im Mittelpunkt hierbei steht der Jugendliche als produktiver Realitätsverarbeiter, der seine Umwelt, die geteilt ist in innere (psychisch) und äußere (physisch) Umwelt ak- tiv verarbeitet und durch die Auseinandersetzung mit eben diesen eine persönliche und soziale Identität entwickelt. Für die Entwicklung einer Persönlichkeit müssen diese, trotz möglicher Konflikte, Widersprüche und Spannungen, vom Jugendlichen zu einer gemeinsamen Realität vereint werden. Nach Hurrelmann kann sich die Le- bensphase Jugend bis zum 27. Lebensjahr (frühe Jugendphase (Adoleszenz) 12-17 Jahre; mittlere Jugendphase 18-21 Jahre und späte Jugendphase 22-27 Jahre) auf- grund soziologischer und gesellschaftlicher Faktoren ausweiten; somit bekommt die- ser Lebensabschnitt heute eine noch größere Bedeutung. (vgl. Hurrelmann 2007, S 41).

Nicht nur bei Hurrelmann ist der Begriff der Identität ein zentrales Merkmal der Ju- gendphase. Bereits 50 Jahre zuvor beschreibt der Psychologe Erik H. Erikson in sei- nem Stufenmodell der psycho-sozialen Entwicklung die Jugend als 5. Stadium mit dem zu bewältigenden Konflikt zwischen Identität und Identitätsdiffusion. Die Iden- titätsbildung ist nach Erikson hierbei auch der „erfolgreiche Abschluss der Adoles- zenz“ (Wegener 2009, S. 56). Hierzu gehört vor allem das Loslösen von Eltern und anderen bisherigen Bezugspersonen und unabhängig von diesen „nach seinem eige- nen Selbst zu fragen“ (Hobmair et al 2003, S. 314), um eine eigene Identität zu schaffen, einschließlich des Findens einer eigenen gesellschaftlichen und sozialen Rolle. Für Erikson bildet die Jugend und insbesondere die Adoleszenz einen Schon- raum, der zum einen als Rückzugsmöglichkeit dient, gleichzeitig aber auch erlaubt mit und in Rollen zu experimentieren. Ist der Jugendliche allerdings nicht in der La- ge sich in ein bestimmtes Rollenmodell zu integrieren, entsteht ein innerer Zwiespalt und somit eine Art Zersplitterung der eigenen Identität, von Erikson Identitätsdiffusi- on genannt.

Das Modell Eriksons differenzierte der amerikanische Psychologe James E. Marcia in Bezug auf den Identitätsaspekt in seinem Identity-Status-Modell (1966) weiter aus und teilt diesen in vier Indentitätsstadien ein:

- Diffuse Identität
- Übernommene Identität
- Identitätsmoratorium
- Erarbeitete Identität

In Abhängigkeit von den zwei Einflussgrößen Identitätsexploration und Identitäts- verpflichtung lassen sich diese vier Stadien klassifizieren und beschreiben. Unter Identitätsexploration versteht Marcia „die Tendenz, einen Lebensbereich zu erkun- den, um so künftige Entscheidungen fundierter treffen zu können“ (Tücke 1999, S. 302). Dies erlaubt Jugendlichen z.B. ein Verweilen in unterschiedlichen Szenen oder Subkulturen, ohne fest in diesen verankert zu sein, bzw. ohne diese in alle Lebensbe- reiche zu integrieren. Identitätsverpflichtung ist nach Marcia die „Art und [der] Um- fang des Engagements in einem Bereich und die Bereitschaft, darin auch Verantwor- tung zu übernehmen“ (ebd.). Dieses Engagement kann zum Beispiel in Jugendgrup- pen/ -vereinen ausgelebt werden, in welchen der Jugendliche auch Aufgaben und somit Verantwortung übernimmt. Die Einflussgrößen Identitätsexploration und Iden- titätsverpflichtung lassen sich nun den vier definierten Identitätsstadien zuordnen (Abb. 1):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Formen der Identität nach J. E. Marcia

Ein Jugendlicher, der also eine hohe Explorationsidentität sowie eine niedrige Ver- pflichtung aufweist befindet sich im Identitätsmoratorium, erkundet also seine Um- welt, wägt unterschiedliche mögliche Lebensstile ab und geht keine verbindlichen Verpflichtungen ein.

Jugendliche mit einer diffusen Identität haben noch keine festen Überzeugungen, sind orientierungslos, entscheidungsunfähig und desorientiert - manchmal gar über- fordert mit ihrer Aufgabe eine Identität zu finden. Sie sind überwältigt von ihrer Umwelt und tragen so auch wenig dazu bei ihre Lebenssituation zu bestimmen und sind weniger engagiert.

Jugendliche, die ohne zu hinterfragen Werte und Normen von Erwachsenen, insbe- sondere den Eltern, adaptieren, haben eine übernommene Identität. Bei ihnen ist die Explorationsidentität also sehr niedrig, ihre Verpflichtungsidentität aber sehr hoch.

Die Jugendlichen, die sich ihre Identität erarbeitet haben, sind in der Lage begründete eigene Entscheidungen zu treffen, haben sich mit Alternativen auseinander gesetzt und übernehmen Verantwortung für ihr Handeln.

Nach diesen Charakterisierungen Marcias lassen sich weitere Kennzeichen für den jeweiligen Identitätstypus ableiten (Tab 1.):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tab 1.: Weitere Kennzeichen der Identitätstypen (nach Tücke 1999, S. 303)

Im Gegensatz zu Erikson, für den eine nicht erfolgreich bearbeitet Krise, bedeutet die Entwicklungsaufgabe unwiderruflich nicht gelöst zu haben, ist Marcia der Überzeu- gung, dass die Grenzen zwischen den Identitätsstadien fließend sind und jederzeit von einem in den anderen Identitätszustand gewechselt werden kann. Darüber hinaus müssen natürlich nicht alle von Marcia vollständig und rein auftreten, da durchaus Mischformen dieser auftreten können.

In seinen langjährigen Forschungen zeigte sich nun, dass vor allem der Anteil an Jugendlichen mit einer diffusen Identität stark zugenommen hat (von 20% auf 40%) was Marcia 1989 zu weiteren Analysen veranlasste, aus denen vier Substadien der diffusen Identität abgeleitet wurden.

- Entwicklungsdiffusion (developmental diffusion): Sie stellt eher ein Stadium zwi- schen Identitätsdiffusion und erarbeiteter Identität oder dem Moratorium dar, da der Jugendliche sich entwicklungsbedingt nicht verbindlich festlegen möchte und seine Alternativen noch erkundet.
- Sorgenfreie Diffusion (carefree diffusion): Dem Jugendlichen fehlt es an verbindlichen Wertvorstellungen, daher sind Beziehungen nur oberflächlich und der Jugendliche ist nicht in der Lage Verpflichtungen einzugehen.
- Störungsdiffusion (disturbed diffusion): Oftmals ist der Störungsdiffusion ein Trauma vorausgegangen oder es liegt eine noch zu bewältigende kritische Lebens- situation vor, mit der der Jugendliche nicht umgehen kann. Häufig sind diese Ju- gendlichen gesellschaftlich isoliert.
- Kulturell adaptive Diffusion (adaptive diffusion): Diese Form der Identität ist laut Marcia in der heutigen multikulturellen Gesellschaft, diejenige die zunehmend an Bedeutung gewinnt und ggf. sogar zu einem fünften vollwertigen Identitätsstatus werden kann. Der Jugendliche ist offen, flexibel und unverbindlich. Ihm ist es nicht wichtig sich festzulegen, bzw. dies wird weder beruflich noch persönlich von ihm verlangt, dennoch strebt er das ,Normale‘ als Lebensziel an. (vgl. Oerter/ Dreher 2002).

Insbesondere der Aspekt der kulturell adaptierten Identität wurde von Marcia aus heutiger Perspektive augenscheinlich korrekt vorhergesagt. Kraus/Mitzscherlich untermauerten Marcias Vermutung durch eine Studie mit 120 Jugendlichen:

„In einer Gesellschaft, die gekennzeichnet ist von der Auflösung traditioneller Beziehungen, von Umstrukturierungen und Wertverschiebungen in allen Bereichen, mag es für Jugendliche nicht nur wenig sinnvoll, sondern geradezu kontraadaptiv sein, sich auf Werte, Beziehungen und persönliche Lebensziele verbindlich festzulegen.“ (Kraus/Mitzscherlich 1995, zitiert nach Tücke 1999, S. 303)

Die Frage, die sich nun stellt ist, ist wie die Identitätsfindung stattfindet und welchen Anforderungen sich der Jugendliche auf diesem Weg stellen muss.

So wie sich im Kindesalter das Ich-Bewusstsein herausbildet, bildet sich vor allem im Jugendalter das Selbst heraus. Daher wird der Prozess der Identitätsbildung auch oft als Selbstfindung bezeichnet, bei der der Jugendliche immer wieder Problemen, Krisen oder Konflikten gegenübersteht. Hierbei ist die Fähigkeit der Selbstreflexion von größter Bedeutung, bei der der Jugendliche sich mit drei Fragen besonders auseinandersetzen muss (vgl. Schenk-Danziger 1994, S. 371):

1. Wie bin ich? (subjektive Identität)
2. Wie möchte ich sein? (optative Identität)
3. Für wen hält man mich? (zugeschriebene Identität)

Die eigene Identität ist somit definiert als „die Beschaffenheit des Selbst als einma- lige und unverwechselbare Person durch die soziale Umgebung und durch das Indi- viduum selbst“ (Hobmair et al. 2003, S. 315). Allgemein betrachtet ist Identitätsbil- dung also nicht nur irgendeine Entwicklungsaufgabe von vielen, sondern die Wich- tigste von allen.

Gerade in einer Zeit in der Jugendliche durch ein erhöhtes Maß an Umweltreizen, insbesondere aus medialen, stimuliert werden, scheint der Prozess der Identitätsbil- dung schwieriger und verwirrender zu werden. Inwiefern Medien und speziell das Fernsehen Einfluss auf die Identität und die Bildung des Selbstkonzeptes von Ju- gendlichen nimmt soll im folgenden Unterkapitel näher untersucht werden.

II.2 Der Einfluss von Medien auf Identitätskonstruktion und Selbstbild

Nach neueren sozialpsychologischen Ansätzen findet „die Entwicklung von Identität in Auseinandersetzung mit der Umwelt“ (Wegener 2009, S. 55) statt oder wird manchmal gar, im Hinblick auf die postmoderne, globalisierte und stark individuali- sierte Gesellschaft, als nicht mehr existent beschrieben. Grundlegend hierfür ist zum einen die sozialwissenschaftliche Theorie zur Identität von George Herbert Mead (1968), die davon ausgeht, dass der Einzelne die Fähigkeit zur Rollenübernahme be- sitzt, so dass der Jugendliche sein Selbst im Dialog mit anderen immer neu definiert und Eigenschaften adaptiert. Zum anderen gehen Anhänger des sozialen Konstrukti- vismus davon aus, dass durch den Zuwachs an neuen Technologien Jugendliche in der Lage sind „mit einer immer größeren Anzahl von Personen [Beziehungen] einzu- gehen und diese auch aufrecht zu erhalten“ (ebd., S.57), was ihnen allerdings ein ho- hes Maß an Reflexionsfähigkeit abverlangt und so Anlass bietet „dem Selbst höchst differente Rollen“ (ebd.) in unterschiedlichen Kontexten zuzuweisen. Medien spielen hierbei eine sehr große Rolle und insbesondere das Fernsehen vergrößert „dieses Be- ziehungsgeflecht des Einzelnen ,am dramatischsten‘ durch die Intensität der Darstel- lung und die Pluralität seiner verschiedenen Charaktere“ (ebd.). Dieses Überangebot an sozialen Beziehungen führt laut Wegener zu einer ,sozialen Sättigung‘ die wieder- um zur Folge hat, dass der Einzelne das Suchen und Etablieren eines identifizierba- ren Selbsts aufgeben und dessen Teilung in Multiphrene akzeptieren muss.

Medien bieten den Jugendlichen „temporäre und kontingente Felder der Identifikation, die mit libidinösen Energien, Affekten und Phantasien verknüpft werden“ (Mikos/ Winter/ Hoffmann 2007, S. 7 ). Sie bieten also eine Identifikationsgrundlage, auf der Identitäten konstruiert werden. Medien sind somit eine Sozialisationsinstanz geworden, mit der Jugendliche lernen müssen umzugehen, da sie in ihr und mit ihr ihre Identität aushandeln (vgl. ebd).

In der Medienrezeptionsforschung wird angenommen, dass die Medien „Handlungs- und Deutungsmuster, Darstellungs- und Inszenierungsformen, Rollenvorlagen und Erscheinungsbilder“ (Wegener 2009, S. 58) transportieren, und diese als Identitäts- angebote dienen, indem sie als Modelle für die „reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Person im Sozialisationsprozess“ (ebd.) fungieren. Dennoch werden die- se Identitätsangebote von Jugendlichen höchst reflektiert und individuell interpre- tiert, bevor sie Einfluss auf die Identitätsbildung nehmen und so Teil der jugendli- chen Lebenswelt werden. „Im Zuge lebensweltlicher Pluralisierung taugen Medien und ihre Inhalte damit als symbolisches Material, das in der je spezifischen Aneig- nung zur Aushandlung des eigenen Standpunktes beansprucht wird“ (ebd.).

Jugendliche setzen sich kontinuierlich mit dem in den Medien Dargestellten ausei- nander, was zu „einer wechselseitigen Durchdringung von Medien und Alltag ge- führt“ (Mikos/ Winter/ Hoffmann 2007, S. 8) hat. Denn insbesondere die audiovisu- ellen Medien, also auch das Fernsehen, nähern sich auf unterschiedliche Weisen dem Alltag an, vor allem indem sie neue Handlungsregeln determinieren sowie alte ausser Kraft setzen und somit gleichzeitig neue Alltagsbedingungen herstellen, die ebenso auf Macht-, Gesellschafts- und Sozialstrukturen wirken. Somit werden im Fernsehen gelieferte Informationen auch für die alltäglichen Lebenswelten relevant, haben Ein- fluss auf Einstellungen, Wertvorstellungen und Kommunikation und verändern das Wissen. In der Regel laufen diese Einflussnahmen unbewusst ab, was den Medien auch ein erhöhtes Manipulationsvermögen zuteil werden lässt (vgl. ebd.).

Genau hier liegt auch die mutmaßliche Gefahr, die Medienforscher, Pädagogen und auch Eltern für Kinder und Jugendliche im Medium Fernsehen sehen. In den Peer- Groups werden Rollenmuster, Einstellungen und Moralvorstellungen untereinander festgelegt, hierauf haben auch die Medien einen nicht unerheblichen Einfluss, da na- türlich auch die Medienpräferenzen innerhalb der Peers ausgehandelt werden.

Der Umgang mit Medien sowie das Reden über Medien trägt in Familien und Peergroups insgesamt zu sozialem Lernen bei und fördert somit vor allem die pädagogische Zielsetzung der Empathie und Frustrationstoleranz: Miteinander Reden und Streiten; gegenseitig Toleranz zeigen; Kompromisse finden; auf den anderen Rücksicht nehmen; nachgeben können u.ä.“ (Barthelmess/ Sander 1997, zitiert nach Mikos/ Winter/ Hoffmann 2007, S. 9 ).

Die Mediensozialisationsforschung geht somit davon aus, dass das Fernsehen durch die Verbindung von medialer und sozialer Interaktion und die audiovisuelle Bereits- tellung verschiedenster Lebensmodelle eine große Rolle in Bezug auf die Identitäts- bildung und Persönlichkeitsentwicklung Jugendlicher ausübt, ja sogar eine Schlüssel- rolle bei der Festigung einer zeitgenössischen Identität einnimmt.

Sozialisationstheoretiker allerdings sehen das Fernsehen und andere Medien nicht als echte Sozialisationsinstanzen, da diesen die Authentizität fehlt. Jugendliche können demnach nur aus Primärerfahrungen lernen und diese reflexiv verarbeiten. Das Fern- sehen bietet keine Wirklichkeitserfahrungen und gibt somit keine Rückmeldung auf das Verhalten der Jugendlichen und stellt auch keine authentische Kommunikations- situation dar, weswegen es nicht zu Interaktion, Verhaltensadaption oder Identifikati- on kommen kann.

Kritisch betrachtet, werden durch die Medien allerdings reale und fiktive Aspekte verknüpft, so dass man die Wirkungsfähigkeit der Medien wohl kaum so einfach au- ßer Acht lassen kann. Die bildhafte Darstellung unterschiedlichster Lebensgeschich- ten, die Thematisierung von Idealen, Werten und Einstellungen, die Präsentation ver- schiedenster Lebensformen und Rollenbildern können von Jugendlichen als identi- tätsbildendes Muster genutzt werden und so ihr Vorstellung von der eigenen Le- benswelt formen und festigen. Sie werden zu einer Ressource der Identitäts- und Per- sönlichkeitsbildung. „Gerade Medien versorgen uns mit symbolischen Ressourcen, Identifikationen und Geschichten, die die Basis für unser reflexives Projekt der Ich- Identität sind. Deshalb entwickeln wir eine Lust auf Medien, die für unsere Identi- tätsbildung essentiell sind“ (Mikos/ Winter/ Hoffmann 2007, S. 13).

II.3 Die Kultivierungshypothese

Dass das Fernsehen einer der wichtigsten Sozialisationsagenten unseres Zeitalters ist, hat der Kommunikationswissenschaftler George S. Gerber bereits in den 1960er Jah- ren angenommen und hierauf basierend die Kultivierungshypothese (cultivation hy- pothesis) entwickelt. Das Fernsehen ist heute das wohl einflussstärkste Medium, da es für jeden - alters- und schichtenübergreifend - zugänglich und damit allgegenwär- tig ist. Gerbner selbst spricht sogar von einer Sakralisierung des Medium Fernsehens in einer säkularisierten Welt. Durch seine vorgetäuschte Wirklichkeit und der „Kohä- renz der transportierten Botschaften“ (Lehmann/ Wulff 2008, S. 274) trägt das Fern- sehen „zur Formung eines kollektiven Bewusstseins in der Kultur“ (ebd.) bei. Dem- nach wird Vielsehern eine höhere Tendenz zugeschrieben fiktive Eigenschaften, Wer- te und Normen, die durch das Medium Fernsehen transportiert werden, auch der Rea- lität zuzuschreiben:

„The more time one spends ‘living’ in the world of televisions, the more likely one is to report perceptions of social reality which can be traced to (or are congruent with) television representations of life and society“. (Gerbner/ Gross/Morgan/Signorielli 1980, zitiert nach Shane 2001, S. 86)

Die Forschungsgruppe rund um Gerbner untermauerte diese Hypothese in den 1960er Jahren durch Analysen von Gewalt im Fernsehen und des Umganges der Zu- schauer hiermit. Zunächst wurde ein Vergleich zwischen den Gewaltdarstellungen im Fernsehen und der in der Realität vorkommenden Gewalt angestellt, bei dem ein ü- berproportional hoher Anteil von Gewaltdarstellungen im Fernsehen festgestellt wurde. Im zweiten Zug wurde per Fragebogen ermittelt, dass Vielseher im Vergleich zu Wenigsehern die Realität für gewalttätiger halten als sie tatsächlich ist und dem- nach ängstlicher und misstrauischer sind, sowie behaupten in einer ,erbärmlichen Welt‘ zu leben. Diese Studie wurde in den folgenden Jahren um verschiedene im Fernsehen präsente Themen erweitert (Sexualität, Politik, Drogen etc.). Hieraus ent- wickelten sich weitere Hypothesen in Bezug auf Vielseher: ,Maistreaming‘ und ,Re- sonance‘. Mainstreaming geht davon aus, dass stark auseinander liegende oder ext- reme Einstellungen oder Vorstellungen z.B. in Bezug auf die politische Haltung aus- geblendet und sich einer vorherrschenden, gemäßigten Meinung zugewandt wird.

Unter Resonance versteht Gerbner, dass eine Botschaft des Fernsehens, die mit einer durch die Alltagserfahrungen geprägten Einstellung des Rezipienten übereinstimmt, die Kultivierungseffekte zusätzlich verstärkt“ (Lehmann/ Wulff 2008, S. 275).

Die Kultivierungshypothese geriet zu Beginn der 80er Jahre immer wieder stark in die Kritik und ist auch heute noch ein ständiger Diskussionsanlass. Insbesondere die methodische Vorgehensweise wurde u.a. von Paul M. Hirsch dahingehend kritisiert, als dass sie nicht nur unpräzise, sondern zum Teil auch vereinfachend sei. Hirschs eigene Untersuchungen stehen im kompletten Widerspruch zu denen Gerbners, so dass weitere Kritiker dafür plädierten, den Fernsehzuschauern einen kompetenteren Umgang mit dem Medium zuzugestehen. Dennoch konnte Gerbners Theorie bis heu- te nicht vollständig widerlegt werden und findet in diversen neueren Ansätzen Unter- stützung (vgl. ebd., S. 275).

Für die folgenden Ausführung in dieser Masterarbeit soll die Kultivierungshypothese trotz der massiven Kritik auch weiterhin als Grundlage gelten. Zum einen deshalb, da die meisten Kritikpunkte an der Arbeit Gerbners für die weiteren Untersuchungen irrelevant sind und zum anderen, da der Kern der Hypothese, also dass Vielseher stärker durch das Fernsehen beeinflusst werden als Wenigseher, immer noch als gül- tig angenommen wird, und dass das Fernsehen, sowie auch alle anderen Massenme- dien, Einfluss auf unsere heutige Lebenswirklichkeit nimmt, ist kaum von der Hand zu weisen. So wirkt das Medium Fernsehen auch, oder gerade besonders, auf die Le- bensrealität von Jugendlichen, insbesondere, da diese sich während der Adoleszenz in einer Phase befinden, die von Unsicherheiten und Unwägbarkeiten geprägt ist. Das Fernsehen kann hier durch seine Kohärenz, einen wichtigen Stützpfeiler für die Aus- bildung der Identität darstellen. Wie stark der Einfluss hier tatsächlich ist, bleibt al- lerdings offen.

III. Castingshows

Castingshows gibt es praktisch seit dem das Fernsehen den Weg in die Wohnzimmer der Privathaushalte gefunden hat. Damals noch als Talent- oder Musikwettbewerbe bezeichnet, startete das ZDF beispielsweise bereits 1952 mit dem jährlichen Musik- wettbewerb. Seit 1966 strahlte der Südwestfunk für fast 20 Jahre den Talentschuppen aus und im DDR-Fernsehen gab es die Talentbude (vgl. Gräßer/ Riffi 2012, S. 17). Seitdem nun im Jahre 2000 die erste ,moderne‘ Castingshow Popstars auf dem Pri- vat-Sender RTL II zum ersten Mal über den Bildschirm lief und unerwartete Erfolge zeigte, ebnete diese den Weg für alle nachfolgenden Formate. So schossen kontinu- ierlich neue Konzepte aus dem Boden und jeder Sender präsentierte bald sein eigenes Castingshow-Format. Popstars wird im Jahr 2012 zum 10. Mal produziert, obwohl die Quoten der vorangegangenen Staffeln deutlich zurück gegangen waren und keine der zusammengestellten Formationen (mit Ausnahme der zuerst gecasteten Mäd- chenband) nennenswerte Erfolge erzielte. Dennoch brachte die Show mit der ersten Staffel die erfolgreichste (gecastete) Mädchenband Kontinentaleuropas mit dem Na- men No Angels hervor, die mehrere Nummer 1 Hits und über 5 Mio. verkauften Plat- ten verzeichnen können. Im Gegensatz zu den meisten nachfolgenden aus Popstars zusammengestellten Bands sind No Angels auch nach 10 Jahren noch immer im Pop- geschäft tätig, haben aber deutlich weniger kommerziellen Erfolg als in den ersten drei Bandjahren3.

Deutschland sucht den Superstar (DSDS), welches seit 2002 im ebenso privaten RTL läuft und im Jahr 2012 in die nunmehr 9. Staffel geht, ist wohl die bis heute quoten- mäßig erfolgreichste Musik-Castingsendung im deutschen Fernsehen, gefolgt von Heidi Klum‘s Germany ‘ s next Topmodel (GnTm), einer Model-Castingsendung auf ProSieben, die 2012 in der siebten Staffel ausgestrahlt wird und thematisch bedingt hauptsächlich für das weibliche Publikum geschaffen ist. Der Erfolg beider Sendun- gen liegt womöglich zum einen in den eigentlichen Trägern der Show, den Juroren Dieter Bohlen und Heidi Klum, begründet, zum anderen aber auch in ihrer Konzepti- on junge Menschen regelmäßig vorzuführen und dadurch zu unterhalten.

Heute stehen die meisten Castingshows, so auch DSDS und GnTm, in der Kritik jugendgefährdend, herabwürdigend oder unmoralisch zu sein. Sie vermitteln ein falsches Bild von den Kandidaten und des Berufes Musiker oder Model. Bei DSDS zum Beispiel werden in den Castings regelmäßig Teilnehmer vorgeführt und persönlich kritisiert. Dies passiert zum einen durch die Worte der Jury, insbesondere Dieter Bohlens, aber auch durch die Schnitttechnik, Kameraführung oder eingeblendete Animationen. Dennoch oder vielleicht auch gerade deswegen schalten regelmäßig durchschnittlich ca. 5 Millionen Zuschauer mit zum Teil Marktanteilen von über 60% bei der Kernzielgruppe, der 12- bis 17-Jährigen ein.

Im folgenden Kapitel soll es um die Faszination Castingshow gehen. Nach einer kur- zen Beschreibung der Sendungen DSDS und GnTm in Kapitel III.1, wird in Kapitel III.2 die Castings-Show als Hybridgenre analysiert und in Kapitel III.3 versucht zu erklären warum Castingshows eine so große Anziehungskraft auf Kinder und Ju- gendliche ausüben. Zudem werden in Kapitel III.4 zwei Studien zum Thema Cas- tingshow-Rezeption aufgeführt und deren Ergebnisse herausgearbeitet.

III.1 DSDS und GnTm

Für diese Masterarbeit habe ich mich deshalb exemplarisch für die Sendungen Deutschland sucht den Superstar (DSDS) und Germany ‘ s next Topmodel (GnTm) entschieden, da diese nicht nur die erfolgreichsten, bekanntesten und am längsten existenten Sendungen sind, sondern auch, weil beide Sendungen aufgrund ihrer In- szenierung und der Juroren Bohlen und Klum stark polarisieren. Im Folgenden be- schreibe ich kurz den Ablauf der beiden Sendungen und stelle ihre Besonderheiten und die Kritik an ihnen heraus. Des Weiteren möchte ich die Stammjuroren Dieter Bohlen und Heidi Klum kurz vorstellen und ihre Rolle innerhalb des Formates darle- gen.

III.1.1 DSDS

Deutschland sucht den Superstar oder kurz DSDS ist Deutschlands wohl erfolg- reichstes Musik-Casting-Format. Im Jahr 2012 geht die Sendung in ihre nunmehr 9. Staffel. Das deutsche Format DSDS beruht auf der britischen Version Pop Idol, die von Simon Fuller kreiert wurde und im Vereinigten Königreich im Gegensatz zur deutschen Version nur in zwei Staffeln lief. Das Konzept von Pop Idol wurde in mehr als 50 Länder verkauft und produziert von Jahr zu Jahr neue - bislang gar 179 - „Idole“ (vgl. Döveling/ Kurotschka/ Nieland 2007, S. 109). Die US-amerikanische Version American Idol, die mittlerweile in die zwölfte Staffel geht, konnte bereits mehrere kommerziell sehr erfolgreiche und international bekannte Künstler, wie z.B. Kelly Clarkson hervorbringen. In Deutschland konnte DSDS immer wieder Erfolgs- quoten erzielen. So startete die erste Staffel mit einem Marktanteil von über 50 % bei den 14- bis 49-jährigen Zuschauern (ebd., S. 103). Attraktiv wird DSDS vor allem durch die Möglichkeit hinter die Kulissen des Musikgeschäftes zu schauen, den Weg vom Niemand zum Star zu verfolgen, aber auch dadurch, dass der Zuschauer „Ein- blick in die Erlebnisse und Gefühle der Menschen, die diesen Prozess durchleben“ (ebd., S. 104), bekommen kann. Dass sich die Bewerberzahlen seit Beginn der Sen- dung von knapp 15000 auf über 35000 erhöht haben, ist weiterhin ein Beleg für das große öffentliche Interesse an der Sendung.

Ablauf

Das Basiskonzept der Sendung ist in allen Ländern gleich. Es gibt zunächst natio- nenweite Vorauswahlen, die vom Produktionsteam vorgenommen werden. Wer diese Vorauswahl bestanden hat, darf dann vor die ,richtige‘ Jury und wird von dieser beur- teilt. Im Mittelpunkt der Jury steht in der Regel ein charismatischer ,Jurykopf‘, der zum einen polarisieren soll und zum anderen den Eindruck vermitteln soll qualitativ hochwertige Entscheidungen zu treffen. In Amerika ist das Pendant zum deutschen Juror Dieter Bohlen Simon Cowell, der ebenso für seine beißenden und stumpfen Kommentare bekannt ist. Kandidaten, die vor die Jury treten dürfen, werden, so scheint es, nach bestimmten Kriterien, die zuvorderst nichts mit dem eigentlichen Talent des Kandidaten zu tun haben scheinen, ausgewählt. Besonders stark polarisie- rende Charaktere oder Kandidaten, die eine spannende, traurige oder dramatische Geschichte zu erzählen haben, werden bevorzugt ausgesucht. Wenn die Jurybewer- tung positiv ist, darf der Kandidat am sogenannten ,Recall‘ teilnehmen. Hier werden Kleingruppen gebildet, in denen dann von der Jury oder dem Produktionsteam aus- gewählte Lieder gemeinsam vorgetragen werden. Im Anschluss findet dann der ,Re- recall‘ statt. Seit der sechsten Staffel findet dieser auf Teneriffa oder den Malediven statt. Bis zu diesem Zeitpunkt entscheiden die Juroren über das Weiterkommen der Kandidaten. 15 von ihnen erreichen dann die ,Top 15-Show‘, bei der per Televoting dann über die finalen 10 Kandidaten entschieden wird. Die danach folgenden Live- Sendung stehen jeweils unter verschieden Mottos, zu denen ein Lied passend ausge- wählt und vor Live-Publikum und der Jury präsentiert wird. Die Jury gibt nach jedem Auftritt eine Bewertung ab und macht auf Besonderheiten des Auftrittes oder die Entwicklung der Kandidaten aufmerksam. Auch hier entscheidet der Zuschauer per Televoting über die Platzierung der Kandidaten. Der Kandidat, der die wenigsten Stimmen erhalten hat, darf am Wettbewerb nicht mehr teilnehmen. In der letzten Sendung wird dann der ,Superstar‘ gekürt, welcher hier zum ersten Mal auch seinen ersten eigenen Song, der im Falle eines Gewinns als Single zu kaufen sein wird, vor- stellt.

Dieter Bohlen

Bohlen (geboren 1954 in Berne, Niedersachsen) ist seit den 1980er Jahren im Mu- sikgeschäft erfolgreich und konnte mit seinen Bands Modern Talking und Blue Sys- tem, in denen er selber aktiv als partizipierte, enorme Erfolge erzielen. So wurde er mehrfach mit Gold- und Platin- Schallplatten ausgezeichnet und gewann mehrere öffentliche Preise, wie z.B die goldenen Stimmgabel, den Echo oder den Bambi mit seiner Musik. Auch als Produzent und Songschreiber hat er sich in der Branche einen Namen machen können und hat mit erfolgreichen und bekannten Künstlern wie Peter Alexander, Nino de Angelo, Roy Black, Dionne Warwick oder Bonnie Tyler zusam- mengearbeitet. Sein Privatleben stellt er gerne öffentlich zur Schau und sorgt mit neuen Liebschaften und intimen Details für Aufsehen und hält sich so immer im Gespräch. Seitdem Bohlen im Jahr 2002 als Jurymitglied bei DSDS tätig ist, hat nicht nur sein Bekanntheitsgrad zugenommen, er kann dadurch auch weitere musikalische Erfolge verzeichnen, da er sich das Recht vorbehält jeden Gewinner der Sendung zu produzieren und Songs für diesen zu schreiben4.

Bohlen ist schon von Beginn der Sendung als Juror aufgefallen, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Seine trockenen teils persönlichen Kommentare „Wir sind Talentsucher und keine Müllsortierer“ oder „Also, der Werbevertrag für Clerasil ist dir jedenfalls sicher.“ sind immer wieder Anlass zur Diskussion. Allerdings haben auch einige durch ihn geprägte Redewendungen und Floskeln wie z.B. „talentfrei“ „hammergeil“ oder „Du bist ein Rohdiamant, dich muss man nur noch ein bisschen schleifen“ Einzug in den allgemeinen Sprachgebrauch gehalten.

Durch die Sendung bekam Bohlen den Beinamen „Poptitan“, den er auch stolz trägt und sich in den Bewertungen auch immer wieder darauf beruft. Dieser Beiname steht auch mehr oder weniger für seine Rolle innerhalb der Jury. Er ist der Einzige, der von Anfang an als Juror in der Sendung zu sehen ist. Die Besetzung um ihn herum wechselt ständig und wird im Laufe der Staffeln auch scheinbar immer belangloser. Zu Beginn waren noch Personen im Jurorenteam, die als echte Musikexperten gelten (Thomas Stein, Thomas Bug oder Anja Lukaseder), vertreten, mittlerweile findet man neben semi-bekannten Popsternchen, wie Patrick Nuo oder Fernanda Brandao, auch Personen, wie Bruce Darnell, die in keinster Weise mit dem Musikgeschäft in Verbindung stehen. Es wird so suggeriert, dass die einzige Meinung, die hier zählt, die Bohlens, also die des Poptitans, ist. Er ist sowohl Schlüssel- als auch Leitfigur innerhalb des Formates, mit seinem Konterfei wird geworben und seine kontrover- sen, polarisierenden Kommentare stehen im Mittelpunkt des Sendungskonzeptes.

Besonderheiten und Kritik

Die cross-mediale Vermarktung spielt beim Konzept der Sendung eine große Rolle. So wird DSDS zum einen durch sendereigene Magazine, wie exclusiv - Das Magazin oder DSDS-backstage begleitet . Auch ein eigenes sendungsbegleitendes Printmaga- zin wird in der Sendung regelmäßig beworben, das noch tiefere Einblicke in das Pri- vatleben der Kandidaten erlauben soll. Zum anderen wird DSDS durch die BILD un- terstützt, die fast täglich über die Kandidaten berichtet und so Skandale produziert, Favoritenrollen vergibt, aber auch die Affekte der Zuschauer durch ,Hintergrundbe- richte‘ über vom Leben besonders hart getroffene Kandidaten anspricht. Der musika- lische Erfolg der Kandidaten ist hier aber selten Thema. DSDS hat sich somit zu ei- ner „verkappten Doku-Soap entwickelt, in der soziale Herkunft eines Kandidaten fast so wichtig ist wie sein stimmliches Talent“ (Wick 2012, zitiert nach Gräßer/ Riffi 2011, S. 21) Die Geschichten rund um die Teilnehmer sind zudem so gesponnen, dass sich ein „in sich geschlossener Handlungsverlauf über die einzelnen Folgen hinwegspannt“ (Kurotschka 2007, S. 119), was der Sendung einen Seriencharakter verleiht.

Der Erfolg der Sendung lässt sich also an verschieden Merkmalen festmachen. Wich- tig ist neben dem Seriencharakter und der cross-medialen Vermarktung, auch die di- rekte Partizipation der Zuschauer durch das Televoting. Auch das in den Live-Shows anwesende Studiopublikum ist bedeutsam für den Sendungsverlauf, denn es steht „stellvertretend für den Rezipienten“ (vgl. Döveling/ Kurotschka/ Nieland 2007, S. 113). Darüber hinaus sind die Zuschauer durch die geschickt inszenierten Geschich- ten und den Wettbewerbscharakter der Sendung emotional involviert, insbesondere dieser Aspekt kann Identifikationsprozesse mit den Kandidaten auslösen. Ebenso zentrale Themen sind die Leistung und das Talent der Kandidaten, sowie die Bewer- tungen und Inszenierung der Juroren, insbesondere die Bohlens.

Kritik erfährt DSDS zum einen wegen der harten, stark an RTL bindenden Verträge und der damit einhergehenden Abtretung aller Film-und Fotorechte, aber auch vor allem deswegen, weil ihr insbesondere in Bezug auf die ersten Sendungen, die der Castings, Jugendgefährdung und Niveaulosigkeit vorgeworfen wird. In den Castings ist der Anteil an schlechten Darbietungen gegenüber dem der guten sehr hoch. Unta- lentierte oder sich selbst überschätzende Kandidaten werden gezeigt und nicht nur durch die herabwürdigenden Kommentare Bohlens, sondern auch durch die Inszenie- rung des Vorsingens (Wiederholungen, Einblendungen von Animationen, peinliche Interviews etc.) vor den Zuschauern bloßgestellt. Dies führte dazu, dass im Jahre 2007 gegen DSDS und Bohlen ein Prüfverfahren durch die Kommission für Jugend- medienschutz (KJM) wegen „Beleidigungen und Bloßstellungen der Kandidaten so- wie unterstem Sprachniveau“5 eingeleitet wurde. „Antisoziales Verhalten wird hier von einer Identifikationsfigur wie Bohlen als cool und erfolgsversprechend darge- stellt“6 und „Respektlosigkeiten im Umgang miteinander“7 würde gefördert. RTL musste so wegen der Verletzung diverser Auflagen des KJM und des Jugendmedien- schutz-Staatsvertrages bereits mehrere Bußgelder zahlen. Der KJM-Vorsitzende Die- ter Ring zu DSDS:

„Hier werden nicht nur beleidigende Äußerungen und antisoziales Verhalten als normale Umgangsformen präsentiert. Hier werden Verhaltensmodelle vorgeführt, die Häme und Herabwürdigung anderer als völlig legitim darstellen. Das wirkt erklärten Erziehungszielen wie Toleranz und Respekt entgegen und kann eine desorientierende Wirkung auf Kinder ausüben“8

Auch aus den eigenen Reihen wurde bereits Kritik laut. Stefan Raab, der ebenfalls eigene Castingshow-Konzepte beim Privatsender Pro7 ins Leben gerufen hat, sagt über DSDS, es sei „nur noch ein inszeniertes Abwatschen armer Seelen, das befrie- digt nur die niedersten Instinkte".9 Raab spielt hier vor allem auf die von der Produk- tionsfirma bearbeiteten, durch Animationen und Musikuntermalungen stark manipu- lierenden Einspieler an, sowie die teils persönlich verletzenden Sprüche Bohlens. „Das macht die Sendung unterhaltsamer und erfolgreicher in den perfiden Mecha- nismen, die vor allem einem dienen, der Inszenierung der Medienfigur Dieter Boh- len“ (Götz/ Gather 2010, S. 63).

III.1.2 GnTm

Germany ‘ s next Topmodel, kurz GnTm, ist eine seit 2006 auf dem deutschen Fern- sehsender Pro7 ausgestrahlte Model-Castingshow, die im Jahr 2012 in die siebte Staffel geht. GnTm basiert auf dem amerikanischen Konzept America ‘ s next Topmo- del, von der seit 2003 nun mehr siebzehn Staffeln produziert wurden und welche in zahlreiche Länder verkauft wurde, wo das Konzept, wie in den USA und Deutsch- land große Erfolge erzielte. Moderiert wird GnTm von dem international erfolgrei- chen Model Heidi Klum, das zu dem auch innerhalb der Sendung als Kopfjurorin eingesetzt wird. Die Hauptzielgruppe der Sendung sind Mädchen und junge Frauen im Alter von 14-29, in welcher Einschaltquoten von bis zu 40 % erreicht werden. Der Traum vom Model, das durch die Welt reist, schöne Kleider präsentieren darf und mit einflussreichen Menschen verkehrt, ist wohl einer den viele Mädchen träumen, was wahrscheinlich der Grund für den Erfolg der Sendung ausmacht.

Ablauf

Zu Beginn einer Staffel stellt sich eine aus ca. 15000 Bewerberinnen bereits voraus- gewählte Gruppe junger Frauen, die in der Sendung durchweg als ,Mädchen‘ be- zeichnet werden, nach einem Lauf über den Catwalk, dem Urteil der Jury um Heidi Klum. Ca. 30 der Kanditatinnen dürfen an einem gemeinsamen Fotoshooting teil- nehmen und müssen sich erneut durch die Jury beurteilen lassen. Die so ausgewähl- ten Top 20 dürfen dann mit Klum und der Jury in ein fremdes Land (Thailand, Aust- ralien, USA etc.) reisen und stellen sich von diesem Zeitpunkt an verschiedenen Auf- gaben, den sogenannten Challenges, machen regelmäßige Fotoshootings und Cat- walktraining. Am Ende der Sendung findet dann der sogenannte ,Live-Walk‘ statt, bei dem die Kandidatinnen in einem bestimmten Stil oder mit eingebauten Hinder- nissen möglichst sicher und professionell über den Laufsteg laufen müssen. Während der Sendung werden die Kandidatinnen durch professionelle und namhafte Fotogra- fen, Laufstegtrainer, Visagisten oder Models gecoacht und müssen die neu erworbe- nen Fähigkeiten in den Challenges oder Live-Walks unter Beweis stellen. Zum Ende der Sendung findet eine abschließende Beurteilung, die ,Entscheidung‘, durch die

Jury statt, die die gesamten Ereignisse der vergangenen Tage hierbei einbezieht. Hat die Teilnehmerin die Jury überzeugt bekommt sie am Ende das Foto des vorangegangenen Fotoshootings ausgehändigt, mit welchen die jeweilige Modellanwärterin ihr ,Buch‘, eine Mappe mit professionellen Fotos, aufwerten kann. Die jeweilige Staffel endet mit einer aufwändig inszenierten Show vor Live-Publikum, in der die finalen drei Kandidatinnen nochmals ihr Können unter Beweis stellen müssen. Die Gewinnerin bekommt einen Modelvertrag mit der Agentur Klums, einen Geldpreis und ein Titelbild auf der deutschen Ausgabe der ,Cosmopolitan‘.

Heidi Klum

Heidi Klum (geb. 1973 in Bergisch Gladbach) ist ein deutsches Model, das über den Wettbewerb ,Model 92‘, den sie auch gewann, den Weg in das Modelleben fand und seitdem vorrangig in den USA als Model unter anderem für Victoria‘s Secret und Sports Illustrated arbeitete. Sie ist außerdem Inhaberin der Heidi Klum GmbH, unter der sie eigene Modedesigns und Accessoires vermerktet, und hat ihren Namen als Wortmarke und Wortbildmarke schützen lassen. Klum arbeitet nicht nur als Foto- und Laufstegmodel, sondern vermarktet sich und ihr Privatleben (uneheliche Tochter, Hochzeit mit dem US-Sänger Seal, Geburt von drei gemeinsamen Kindern etc.) durch gezielte PR und wird so zu einer sehr einflussreichen Frau im Modebusiness und ihr Name zu einer eigenen Marke.

So inszeniert Klum sich selbst in der Sendung GnTm ebenso stark wie sie es außer- halb tut. In der Sendung wird ihre Machtstellung gegenüber den Kandidatinnen im- mer wieder deutlich, diese sowie ihre Allwissenheit dürfen von den Teilnehmerinnen nicht angezweifelt werden. Sie dient als Vorbild für die ,Mädchen‘, spielt sich selbst immer wieder in den Mittelpunkt, ihr Urteil ist das Einzige was zählt. “Sie weiß wie man sich in Szene setzt und neben den Amateurinnen wirkt sie stets omnipotent“ (Gültekin 2010, S. 151). Begierlich saugen die Teilnehmerinnen die Tipps Klums auf und sind gar dankbar für Kommentare, die eindeutig demontierend sind (vgl. ebd., S. 152).

Heidi Klum nimmt innerhalb der Sendung außerdem verschieden Rollen ein. Sie ist nicht nur Jurorin und Moderatorin der Sendung, sondern ebenso Coach, Beraterin, Freundin und Vertraute für die Kandidatinnen. Sie besucht zum Beispiel ,ihre Mäd- chen‘ im Hotel und isst mit ihnen gemeinsam Pizza und hört sich ihre Sorgen und Nöte an, gibt den Models Tipps und bietet ihnen eine Schulter zum Anlehnen. Darü- ber hinaus wird sie als diejenige dargestellt, die bei verschiedenen Anlässen ,ordent- lich mitanpackt‘, so übernimmt sie z.B. handwerkliche Aufgaben am Fotoset, gibt ,Regieanweisungen‘ oder greift gleich selbst zur Kamera. Trotz der vermeintlichen Nähe zu den Kandidatinnen bleibt sie immer auch räumlich und emotional distanziert und in erhöhter Position den Kandidatinnen gegenüber, was ihr eine gewissen Gran- diosität verleiht, welch sich vor allem auch dadurch zeigt, „dass die Kandidatinnen immer in ihren Defiziten gezeigt werden und sich in der Rolle der fehlerbehafteten Anfängerinnen befinden während Heidi Klum die Makellose ist: Makellos in ihrer Selbstdarstellung in vielen Rollen“ (ebd., S 157). So in Szene gesetzt, vermittelt sie immer wieder das Bild alles zu können und für alle immer da zu sein und das stets mit makellosem Auftreten, perfekt gestylt und gekleidet, mit High-Heels an den Fü- ßen und einem Lächeln der Leichtigkeit im Gesicht.

Besonderheiten und Kritik

Neben der Selbstinszenierung Klums, welche immer wieder ein Vorwurf an die Sendung ist, denn nach vielen Kritikern ging es bei der Sendung nicht um die Auswahl und Unterstützung neuer Models sondern um „die Ausweitung der Marke Klum“10, gibt es noch weitere Merkmale, die die Sendung GnTm auszeichnen. Im Vergleich zu den meisten anderen Casting-Formaten, bleibt die alleinige Entscheidungsgewalt über Erfolg und Misserfolg der Teilnehmerinnen bei der Jury. Der Zuschauer ist nur der Beobachter und kann die Wahl der Juroren nicht beeinflussen.

Wie auch bei DSDS werden um die ,Mädchen‘ Geschichten gesponnen und diesen bestimmte Rollen zugewiesen, um Konflikte zeigen zu können, die zuvor geschürt wurden. Das Leben in den Model-Villen oder Hotelzimmern ist ebenso inszeniert wie bei DSDS und folgt einer ähnlichen Zielsetzung: möglichst viele Zuschauer ge- winnen. Den Kandidatinnen werden immer wieder ,echte‘ Modeljobs in Aussicht ge- stellt und vermeintlich reale Casting-Situationen dargestellt, ihnen und dem Zu- schauer wird außerdem suggeriert, dass die in der Sendung zu bewältigenden Aufga- ben, jene sind, mit denen ein Model zurecht kommen muss. Luisa von Minckwitz, Chefin einer der größten Modelagenturen Deutschlands Luisa Models sagte dazu im Interview mit der Süddeutschen Zeitung, das Gezeigte habe „mit der Realität nur wenig zu tun. „Germany's Next Topmodel“ soll aber auch keinen lebensnahen Ein- druck von meinem Beruf oder vom Modeldasein liefern, sondern einfach gute Quo- ten bringen.“11 Ebenso wie DSDS schaffte es auch GnTm bislang nicht dauerhaft er- folgreiche und international bekannte Models hervorzubringen, es wird sich auch nicht dahingehend bemüht, denn nach Ende der Sendung ist das Interesse an der Ge- winnerin in der Regel eher gering.

Weitere Kritik muss die Sendung wegen der Knebelverträge, die die Kandidatinnen vor Drehbeginn zu unterschreiben haben, einstecken. Diese Verträge legen unter an- derem fest, dass die Teilnehmerinnen unentgeltlich für Promotionarbeiten von Pro7 auch ein Jahr nach der Sendung zur Verfügung stehen müssen. Außerdem treten sie 40% ihres Einkommens im ersten Jahr an Pro7 und die beteiligte Modelagentur Face your brand ab. Ebenso willigen die Kandidatinnen ein, dass der Vertrag nicht nur ih- re Zustimmung des Models verlängert werden kann sondern auch dass alle Rechte ebenso ohne Zustimmung an die Heidi Klum GmbH weitergegeben werden können. Auch Klums Kommentare sind, wie die Bohlens, degradierend, abwertend und ent- würdigend: „Das ist ja voll Lieschen Müller.“, „Stell dich nicht so an! Du hast noch ne Shorts an, was willste überhaupt?“ „Du bist wie eine Zwischenmahlzeit, lecker aber sehr fade“ oder ihnen wird direkt abgesprochen eine Persönlichkeit zu besitzen. Die Süddeutsche Zeitung bezeichnet die Urteile Klums als „geschmacklos, unver- schämt und entwürdigend: Wenn einer jungen Frau mit brutal-allmächtigem Unterton attestiert wird, sie komme ,langweilig rüber‘ und habe ,keine Persönlichkeit‘, ist das eine verbale Hinrichtung, die zwangsläufig in Tränen endet.“12

[...]


1 Für eine bessere Lesbarkeit wird in dieser Arbeit vornehmlich das generische Maskulinum verwen- det. Wenn es nicht ausdrücklich anders erwähnt wird, sind aber sowohl weibliche als auch männli- che Personen gemeint.

2 vgl. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45774433.html

3 vgl. http://www.musik-base.de/Bands/No-Angels

4 vgl. http://www.dieter-bohlen.net/

5 http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,461594,00.html

6 ebd.

7 ebd.

8 http://www.dwdl.de/nachrichten/24382/kjm_dsdsversto_muss_folgenlos_bleiben/

9 http://www.spiegel.de/panorama/leute/0,1518,479427,00.html

10 http://www.stern.de/lifestyle/leute/germanys-next-topmodel-heidis-masche-mit-den- maedchen-653922.html

11 http://www.sueddeutsche.de/karriere/agentur-chefin-louisa-von-minckwitz-im-interview-wir- uebergiessen-unsere-models-nicht-mit-salatsauce-1.202116

12 http://www.sueddeutsche.de/kultur/tv-kritik-germanys-next-topmodel-kampfhubschrauber-klum

Ende der Leseprobe aus 131 Seiten

Details

Titel
"Wir sind Talentsucher und keine Müllsortierer!"
Untertitel
Eine kritische Untersuchung zum Einfluss von Castings-Shows auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Hochschule
Universität Osnabrück  (Erziehungswissenschaften)
Note
1,0
Autor
Jahr
2012
Seiten
131
Katalognummer
V193602
ISBN (eBook)
9783656185840
ISBN (Buch)
9783656303794
Dateigröße
2150 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
talentsucher, müllsortierer, eine, untersuchung, einfluss, castings-shows, entwicklung, kindern, jugendlichen
Arbeit zitieren
Nadine Schmees (Autor:in), 2012, "Wir sind Talentsucher und keine Müllsortierer!", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/193602

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