Textanalyse aus Sicht verschiedener Grammatiktheorien

Ein Perspektivpanorama


Examensarbeit, 2008

89 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung

Der Text aus Sicht der:

2. Traditionellen Grammatik
2.1 Theorie
2.2 Eine schulgrammatische Satzanalyse
2.3 Was ist ein Satz?
2.4 Das Scheinsubjekt

3. Dependenzgrammatik
3.1 Theorie
3.2 Valenz in der Praxis
3.3 Adjektive und Valenz
3.4 Valenz und die Satzbestimmung

4. Phrasenstrukturgrammatik
4.1 Theorie
4.2 Strukturelle Ambiguitäten

5. Kasustheorie
5.1 Theorie
5.2 Tiefenkasus im Aktiv und Passiv

6. Inhaltsbezogenen Grammatik
6.1 Theorie
6.2 Was ist eine Sauna ? - Die Lexik
6.3 Eine syntaktische Betrachtung
6.3.1 Das Tempussystem
6.3.2 Passivsätze

7. Funktionalen Grammatik
7.1 Theorie
7.2 C- und F-Struktur
7.3 Perspektivierung und Rhema-Thema-Beziehung
7.4 Modalverben

8. Fazit

Bibliographie

Abkürzungsverzeichnis:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Grammatik - ein im Alltag häufig verwendeter Begriff. Im gemeinen Gebrauch wird der Terminus jedoch kaum in seiner ganzen sprachwissenschaftlichen Komplexität reflektiert, wonach Morphologie und Syntax, im weiteren Sinne auch Phonetik und Phonologie der Grammatik zuzurechnen sind. Selten wird dabei berücksichtigt, wie kontrovers die unterschiedlichen Grammatiktheorien sind. Um deren Differenzen und Gemeinsamkeiten, Praktikabilität und Überzeugungskraft soll es in dieser Arbeit gehen.

In dieser Arbeit steht der folgende Abschnitt, der einen Ausschnitt aus einem von mir geschriebenen Text darstellt, im Mittelpunkt der Betrachtungen:

„ Es gewitterte. Gewitter dort drübenängstigen mich noch heute immer. Und hier? Auf dieser Seite des Tals? Dampfüberschlug sich aus der Küche hinaus ins Freie. Dampf, so dicht, wie man ihn hier nur in der Sauna gewohnt ist. Ich musste gar nicht sehen, wie der Lump mit dem Fernglas herüber schaute. Ich stand, du sahst und riefst ihm etwas zu, um letztendlich deinen Schall zuüberholen und mit dem Motorrad hinüber zu fahren.

Warum du mit dem Schicksal spielen musstest, ist mir bis heute nicht klar. Denn du legtest dein Glück abermals in seine Hände, anstatt zu sehen, dass du dich nicht abhängig machen darfst. Begreifst du denn nicht? Wir leben auf dieser Seite, er auf jener. Ja, er sieht aus wie du. Und? Nachbarn, nichts anderes als Nachbarn. Unser Hügel steht ö stlich ihres Hügels und im Osten geht die Sonne auf. “

Dieses sprachliche Gebilde bildet in dieser Arbeit den Ausgangspunkt einer jeden grammatischen Betrachtung. Methodisch wird auf diesen kurzen Absatz immer wieder Bezug genommen, wobei induktiv vom Text ausgehend argumentiert wird. Punktuell sollen darüber hinaus auch „externe“ Beispiele herangezogen werden, um die jeweilige Argumentation zu stützen. Dabei dienen nicht nur schriftlich fixierte Sprachbeispiele als Basis, sondern es soll auch auf ausgewählte Beispiele der gesprochenen Sprache wie z.B. aus dem Fernsehen zurückgegriffen werden. Der Text wird aus Sicht der verschiedenen grammatischen Theorien analysiert, wobei die Traditionelle, die Dependenz-, die Phrasenstruktur-, die Inhaltsbezogene und die Funktionale Grammatik Berücksichtigung finden. Darüber hinaus wird der Absatz auch aus Sicht der Kasustheorie eruiert. Diese Richtungen bilden demnach auch den theoretischen Grammatikfundus für diese Arbeit. Sie werden behandelt und untergliedert - in einen Theorieteil und Schwerpunkte, die bei der Analyse hervortreten. Auch wenn die Kapitel voneinander abgegrenzt sind, soll hier darauf hingewiesen werden, dass eine strikte Trennung der Theorien nicht möglich ist und weder im Interesse des Verfassers, noch im Sinne der Thematik ist.

Die verschiedenen grammatischen Ansätze werden auf den Text angewendet, wobei bestimmte Analyseverfahren - besonders in der Traditionellen Grammatik - als bekannt vorausgesetzt und nicht explizit erklärt werden. So soll herausgefunden werden, welche Theorie eventuell am überzeugendsten ist, welche Schwächen sich bei bestimmten Sachverhalten in Bezug auf einzelne Theorien herauskristallisieren und welche Ungenauigkeiten oder Unklarheiten dauerhaft im Raum stehen.

Das Fazit, welches sich den Analysen anschließen wird, soll begründet eine kleine Zusammenfassung bieten und herausstellen, welche Theorie überzeugt und welche weniger. In Bezug auf die einzelnen Grammatiktheorien soll darauf hingewiesen werden, dass diese Arbeit aufgrund von Umfang und Zielstellung nicht den Anspruch stellt und stellen kann, eine allumfassende Darstellung einzelner Theorien zu bieten. Vielmehr soll ein Überblickswissen bereitgestellt und punktuell auf Besonderheiten eingegangen werden - immer ausgehend vom Text, welcher als Erstes aus Sicht der Traditionellen Grammatik betrachtet wird.

2. Traditionelle Grammatik

2.1 Theorie

In diesem Abschnitt steht aus Gründen des Umfangs lediglich die Schulgrammatik im Mittelpunkt. Gemeinhin wird die Traditionelle Grammatik oft auch mit der Schulbzw. Dudengrammatik gleichgesetzt (vgl. Linke [u.a.] 2004: 59); obwohl es genauer heißen müsste, dass diese nur ihre Wurzeln in der Traditionellen Grammatik hat. Der Bezug ist - so scheint es - nicht von der Hand zu weisen. So heißt es bereits im Vorwort der Dudengrammatik:

„ Mit der 7. Auflage wurde der Gegenstand der Dudengrammatik erweitert: Traditionelle Grammatiken beschreiben die geschriebene Sprache ausgehend vom Laut bzw. Buchstaben bis hin zum Satz. Die Dudengrammatik hingegen erläutert nun erstmals auch den Aufbau und die Eigenschaften von Texten, und sie widmet der Grammatik der gesprochenen Sprache ein eigenes Kapitel. “

(2005: Vorwort)

Hier wird also der Bezug der Dudengrammatik zur Traditionellen Grammatik explizit, wobei die klassische Trennung und Gliederung zwischen Laut-, Wort- und Satzlehre deutlich wird. Dennoch lassen sich in der Dudengrammatik Bezüge zu verschiedenen Grammatiktheorien finden - so z.B. zur Valenz- und Phrasenstrukturgrammatik. Dies zeigt, dass die theoretischen Ansätze oft nicht strikt voneinander zu trennen sind und unabhängig voneinander existieren, sondern vielmehr in ihren Relationen zueinander betrachtet werden müssen.

Die Traditionelle Grammatik mit ihrem präskriptiven und deduktiven Charakter (Bredel 2007: 227) bedient sich Begriffen aus der Logik bzw. der Philosophie (Subjekt, Prädikat etc.), weshalb sie u.a. auch als „ halblateinische verpfuschte Logiklehre “ beschimpft wurde (Helbig 1986a: 197). Es ist Becker mit seinem logizistischen Ansatz, der diese Begriffe später aufnimmt, in die uns bekannte Schulgrammatik mit Wortarten- und Satzgliedlehre überführt und in diesem Zusammenhang die grammatische Bedeutung neben die logische stellt. Die Schulgrammatik versteht sich dabei als didaktische Grammatik mit normativem Charakter (vorwiegend präskriptiv), die traditionelles Regelwissen in Wortlehre und Satzbau bündelt. Sie vermittelt deduktiv einen terminologischen Apparat zur Beschreibung formaler sprachlicher Eigenschaften. Zugrunde liege ihr nach Bredel (2007: 227) in der Regel „ eine einfache traditionelle, am Lateinischen orientierte Grammatik. “

Doch was kann die Schulgrammatik in Bezug auf den in der Einleitung bereitgestellten Text leisten?

2.2 Eine schulgrammatische Satzanalyse

(1) Warum du mit dem Schicksal spielen musstest, ist mir bis heute nicht klar.

Die von Becker eingeführten zehn Wortarten1 lassen sich an diesem Satz nachvollziehen. Warum ist ein Interrogativadverb, du und mir Personalpronomen, klar ist ein Adjektiv , mit und bis sind Präpositionen, dem der bestimmte Artikel zu Schicksal, welches ein Nomen darstellt. Heute und nicht können in diesem Zusammenhang als Adverbien beschrieben werden, währenddessen die Duden- grammatik nicht als Negationspartikel klassifiziert (2005: 597). Die Wortart der Partikel kommt bei Becker jedoch nicht vor. Spielen, musstest und ist sind Verben - teils konjugiert, teils als Infinitiv (spielen) gebraucht. Müssen ist dabei Modalverb, weshalb spielen im Infinitiv ohne zu gebraucht wird. Ist als konjugierte Form von sein ist ein Kopularverb.

Des Weiteren lässt sich sagen, dass Verben dabei zu den flektierbaren Wortarten (nach Fläming 1991: 338ff.) gehören, weil sie konjugierbar sind. Substantiv, Artikel und das Personalpronomen des Satzes sind flektierbar, weil sie deklinierbar sind. Darüber hinaus sind die Präposition und die Adverbien zu den unflektierbaren Wortarten zu zählen. Hierzu zählen auch die Partikel.

Der Satz besteht in seiner Syntax aus einem Haupt- und aus einem Nebensatz, welcher dem Hauptsatz vorangestellt ist. Es handelt sich hierbei demnach um ein Satzgefüge (Hypotaxe).

„ Ein Satzgefüge ist ein zusammengesetzter Satz, der mindestens einen Nebensatz aufweist. Da Nebensätze immer von einem anderen Teilsatz abhängen und gegenseitige Abhängigkeit ausgeschlossen ist, enthält ein Satzgefüge immer auch mindestens einen Hauptsatz. “

(Dudengrammatik 2005: 1029)

In Bezug auf Satzglieder im Hauptsatz ergibt sich Folgendes: ist [...] klar ist das Prädikat, welches sich aus der finiten Form des Kopularverbes sein und dem Adjektiv klar zusammensetzt, mir ist das Dativobjekt, bis heute ist eine temporale Adverbialbestimmung und nicht ist eine Adverbialbestimmung, wie es auch in der Dudengrammatik beschrieben wird (ebd.: 921).

Satzglieder lassen sich ebenfalls für den vorangestellten Nebensatz bestimmen. Du ist das Subjekt im Nebensatz, mit dem Schicksal ist ein präpositionales Objekt und musstest spielen ist das Prädikat, wobei musstest die finite Verbform der zusammengesetzten Verbform ist.

Es wird deutlich, dass das Interrogativadverb warum in diesem Fall eine Verweisfunktion hat, weshalb es in der Dudengrammatik auch zu den Pro-Adverbien im engeren Sinn gezählt wird (ebd.: 583). Das Interrogativadverb erfragt ein Adverb bzw. eine Adverbialbestimmung, nämlich in diesem Fall den Grund dafür, warum du mit dem Schicksal spielen musstest. Es ist eben diese Verweisfunktion, die zur Folge hat, dass warum in der Dudengrammatik (ebd.: 638) nicht zu den kausalen Subjunktionen im engeren Sinne gezählt wird. Bei den Subjunktionen steht jedoch eben diese verknüpfende bzw. unterordnende Funktion im Vordergrund (vgl. weil, indem, während etc.).

In der Schulgrammatik wird dem Nebensatz eine Satzgliedfunktion zugeschrieben. In diesem Fall ist der vorangestellte Nebensatz ein Subjektsatz. Er übernimmt dementsprechend inhaltlich die Rolle des Subjekts im Satzgefüge. Der Satzgliedwert lässt sich über die Ersatzprobe (Ersatztest)2 nachweisen, wobei der Nebensatz durch ein Satzglied ersetzt wird, welches Bestandteil des übergeordneten Satzes - in diesem Fall des Hauptsatzes - ist.

Es ließe sich also folgender Satz bilden.

(1.1) Das ist mir bis heute nicht klar.

Das Demonstrativpronomen das ersetzt hier also syntaktisch und strukturell den Nebensatz, ohne dieselbe semantische Leistung zu vollbringen. Der Subjektsatz wird in diesem Fall vom Verb bzw. Prädikat (ist klar) verlangt und könnte in diesem Zusammenhang als Ergänzungsnebensatz beschrieben werden (ebd.: 1037).

Der Nebensatz ist in dem hier untersuchten Fall vorangestellt. Interessant ist es, den Nebensatz nachzustellen.

(1.2) Es ist mir bis heute nicht klar, warum du mit dem Schicksal spielen musstest.

Es fällt auf, dass hier zusätzlich zu der vorangestellten Version das Wort es im Hauptsatz erscheint. Dieses es wird als Korrelat bezeichnet und stellt eine Art Verweiswort für den nachgestellten Nebensatz dar. Laut Dudengrammatik (ebd.: 1064) hängt der Subjektsatz deshalb nur indirekt vom übergeordneten Hauptsatz ab - nämlich nur über das Korrelat es.

Betrachtet man diesbezüglich den Hauptsatz separat, fällt schnell auf, dass die Frage nach dem Handlungsträger bzw. nach dem Subjekt mit „ wer oder was ist mir bis heute nicht klar? “ ohne den Nebensatz, welcher durch warum eingeleitet wird, nicht beantwortet werden kann. Die Bezugsgröße des Interrogativadverbs ist dabei, wie erwähnt, implizit vorhanden - der Grund.

Obwohl warum keine Subjunktion ist, bewirkt es hier, dass es zur Bildung eines Spannsatzrahmens (Strukturtyp: Spannsatz3 ) im Deutschen kommt, wobei die finite Verbform musstest ans Ende des Nebensatzes gestellt wird. In der Liste der Subjunktionen taucht warum jedoch in der Dudengrammatik nicht auf, obwohl der Nebensatz dem Hauptsatz untergeordnet wird (Verbendstellung). Im Hauptsatz handelt es sich um eine Kernsatzstellung, wobei das finite Verb ist an zweiter Stelle im Satz steht, weil die erste Stelle vom Subjektsatz eingenommen wird. Bei der Stellung im Satz geht es dabei immer um die Satzglieder und nicht um die Wörter.

Geht man davon aus, dass es sich bei dem Nebensatz dieses Beispiels um einen w-Interrogativnebensatz handelt (ebd.: 1052), in dem es um einen offenen Sachverhalt geht (den Grund), so ist warum als ein Interrogativadverb zu sehen. In Bezug auf Interrogativadverbien gibt die Dudengrammatik diese Möglichkeit der Einleitung von Nebensätzen neben der Stellung an der Satzspitze eines selbstständigen Fragesatzes an (ebd.: 584). Das Interrogativadverb warum leitet demnach den Interrogativnebensatz, der ein Inhaltssatz ist, ein. Inhaltssätze - in diesem konkreten Fall ein Subjektsatz - werden hier als Nebensätze verstanden, die weder zu den Relativsätzen noch zu den Adverbialsätzen gehören.

Es wird jedoch in Bezug auf die Dudengrammatik nicht klar, warum sich dort auf einige wenige Interrogativpronomen wie wer, was, welche(r/s) etc. (ebd.: 313) beschränkt und warum nicht dazu gezählt wird, da auch für Interrogativpronomen die Möglichkeit angegeben wird, Nebensätze einzuleiten. Dies geht unter Umständen auf den von der Dudengrammatik betonten Pro-Charakter des Interrogativadverbs warum zurück. Dagegen spricht, dass das Finitum eigentlich hinter die Adverbialbestimmung verschoben werden kann, was in unserem Beispielsatz nicht möglich ist und, wie im folgenden Beispiel (1.3) gesehen werden kann, zu einer ungrammatischen Aussage führt.

(1.3) *Warum musstest du mit dem Schicksal spielen, ist mir bis heute nicht klar.

2.3 Was ist ein Satz?

(2) Und hier?

Betrachtet wird des Weiteren die Vorstellung darüber, was einen Satz im Deutschen ausmacht - ausgehend von der Schulgrammatik. Kindern wird in der Schule beigebracht, dass ein Satz aus einem Subjekt und einem Prädikat besteht. Alles andere wird als unvollständiger Satz, Ellipse oder der funktionalen Grammatik folgend als kommunikative Minimaleinheit beschrieben, wobei in „falschen“ Sätzen dieser Art meistens das Subjekt eingespart wird. Vor allem zeigt sich hier einmal mehr der normative Charakter der Duden- bzw. Schulgrammatik, denn sie beschränkt sich nicht darauf zu beschreiben, sondern kategorisiert in richtig oder falsch und schreibt somit bestimmte Dinge vor. So heißt es bereits auf dem Cover der Dudengrammatik „ Unentbehrlich für richtiges Deutsch “. Im Gegensatz dazu heißt es im Vorwort derselben Grammatik fast kontrovers, dass die Dudengrammatik geschriebene und gesprochene Standardsprache der Gegenwart beschreibe (ebd.: Vorwort). Vielmehr müsste es hier heißen, dass die Dudengrammatik vorgibt - was standardsprachlich ist und was nicht, was den Sprachnormen der als Elite fungierenden Dudenredaktion entspricht und was nicht.

Der Satz stellt also eine formal bestimmte Einheit dar, da er ein finites Verb und die notwendigen Komponenten eben dieses Verbs enthalten muss. Der Dudengrammatik nach ist ein prototypischer Satz „ [...] eine Einheit, die aus einem finiten Verb und allen vom Verb verlangten Satzgliedern besteht. “ (ebd.: 773f.) Darüber hinaus sei ein Satz eine abgeschlossene Einheit, die nach den Regeln der Syntax gebildet wird und die größte Einheit, die man mit den Regeln der Syntax erzeugen kann. An der Definition eines Satzes wird bereits deutlich, was Carnap (2004: 115) meint, wenn er sagt, dass die Regeln der Grammatik zumeist formaler Natur seien. Allerdings, so Wittgenstein (Schulte 1989: 113f.), bestehe Grammatik generell aus Vereinbarungen, wobei die Regeln der Grammatik, wie hier die Abgrenzung vom Satz zur Ellipse, Konventionen seien, weil man sie nicht nachweisen könne.

Hier zeigt sich auch ein Punkt, für den die Traditionelle Grammatik insgesamt stark kritisiert wurde. Sie baue zu stark auf formalen Kategorien auf (Formalismus), so Kritiker wie der Schweizer Glinz. Im Gegensatz dazu ist eine kommunikative Minimaleinheit funktional bestimmt und es können sprachliche Handlungen mit ihr vollzogen werden. In diesem Zusammenhang sind Vollsätze zum einen Satz, zum anderen aber auch kommunikative Minimaleinheit. Teilsätze hingegen sind Sätze, aber keine kommunikativen Minimaleinheiten. Demnach ist der unter (1) analysierte untergeordnete Nebensatz durchaus ein Satz, aber keine kommunikative Minimaleinheit.

Es stellt sich somit die Frage, wie das unter (2) genannte sprachliche Gebilde Und hier? zu klassifizieren ist. Zuallererst fällt auf, dass die Einheit auf graphischer Ebene durch ein Fragezeichen als Satzschlusszeichen abgegrenzt ist - demnach als Einheit beschrieben werden kann. Das Gebilde enthält kein finites Verb und kann nicht als autonom beschrieben werden, denn ohne den Kontext fehlt dem Leser das Verständnis - worauf bezieht sich das Und hier? In diesem Zusammenhang bleibt auch offen, worauf sich das dort drüben im vorangegangenen Satz bezieht.

Es ist diese Bedeutung des Kontextes, der auch in einer Richtung der strukturellen Linguistik - dem britischen Kontextualismus - von Bedeutung ist. Es geht dabei zum einen um den Sprach-, aber vor allem auch um den Situationskontext, der laut Helbig (1986a: 110) viel differenzierter ist. Firth u.a. holen außersprachliche Faktoren zur Analyse und Erklärung sprachlicher Phänomene hinzu, indem sie ihre Orientierung auf die parole legen.

Nach Engel (1988: 179f.) ist die Einheit unter (2) kein Satz, denn erst mit der sich anschließenden ebenfalls elliptischen Frage Auf dieser Seite des Tals? wird deutlich, worauf sich hier bezieht und was mit dort drüben gemeint ist - die sich gegenüberliegenden Abgrenzungen bzw. Punkte desselben Tals. Laut Porzig wird bei dieser elliptischen Art von Äußerungen innerhalb der Situation hinreichend klar, „ wozu aufgefordert, was mitgeteilt, wonach gefragt oder in welchem Sinne Stellung genommen wird “ (Porzig 1993: 109). Denn Reden haben eine Aufgabe - „ der Sprechende mu ß zu bestimmtem Zweck etwas bestimmtes sagen und der Partner mu ß ihn verstehen “ (ebd.: 111). Hier wird eine pragmatische Interpretation bei Porzig deutlich, weil er sich verglichen mit traditionellen Grammatikern weniger auf formale Kategorien konzentriert. Nach Porzig (ebd.: 114), der hier stellvertretend für die Inhaltsbezogene Grammatik stehen soll, ist ein Satz a) durch seine äußere Form (die Tonbewegung), b) die innere Form (die Aufhebung der Zeit) und c) durch seine etwas besagende Leistung bestimmt.

Und hier? lässt sich aber auf der anderen Seite als kommunikative Minimaleinheit beschreiben, da die Äußerung ein „illokutives Potential“ (vgl. Sprechakttheorie u.a. bei Searle) enthält, sich durch eine terminale Intonationskontur auszeichnet und einen propositionalen Gehalt hat (Zifonun/Hoffmann/Strecker 1997: 86-92). Wenn, wie erwähnt, die Punktion auf graphische Aspekte zurückgeht, so geht die Intonationskontur, nämlich das bemerkbare steigende oder fallende Grenztonmuster (hier abhängig von individueller Interpretation) am Äußerungsende, auf Aspekte der gesprochenen Sprache zurück, mit der der Sprecher in diesem Fall den Abschluss der sprachlichen Handlung markiert. In Bezug auf das illokutive Potential der Äußerung Und hier? muss herausgestellt werden, dass es sicherlich nicht genügend differenziert ist. Dies wurde bereits oben in Zusammenhang mit den Unklarheiten, die weiterhin bestehen, dargestellt. So hängt es von der Perspektive ab, wie die kommunikative Minimaleinheit verstanden wird.

Semantisch ist es insofern klar, als dass und einen Widerspruch, eine Art Gegenargument einläutet und hier sich vom vorangegangenen Kontext - der Handlung dort drüben - unterscheiden muss. Dies ist auch in Abwesenheit einer finiten Verbform zu erkennen. Allerdings ließe sich hier durchaus auch argumentieren, dass Und hier? in gewisser Hinsicht, wie oben erläutert, als nicht dekontextualisierbar beschrieben werden könnte und somit als Ellipse gelten kann. Es soll hier lediglich darauf hingewiesen werden, dass nach Dentler (1990: 4f.) selbst der Begriff der Ellipse nicht eindeutig in der Wissenschaft bestimmt ist.

Ellipsen finden sich nicht nur in dem in dieser Arbeit betrachteten, sondern auch in anderen, z.B. literarischen Texten; so u.a. sehr gehäuft in Schnurres Das Begräbnis („ [...] mach auf: Nacht, Regen. “; „ Nehm ihn. Klappt die Tür unten. “).4 Verstöße von Dichtern gegen die „grammatischen Normen“ und die dadurch erzielten poetischen Wirkungen sind immer Teil von grammatischen Betrachtungen gewesen - wie z.B. in der Stiltheorie. So werden nach Helbig (1986a: 319f.) u.a. Verstöße nur als poetisch beschrieben, wenn sie bestimmte poetische „Superstrukturen“ erfüllen. Für die Dichter soll hier stellvertretend Wolfgang Borchart, für eine „pragmatische Literatur“ argumentierend, zitiert werden.

„ Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns die Geduld. “

(In: „ Das ist unser Manifest “, 1947)

Borcharts Äußerung zeigt, dass Literatur, zumindest für ihn, anscheinend nicht den Anspruch stellt, irgendwelchen Kriterien zu entsprechen - und wenn, dann uneinheitlichen. Auch sollte von ihr demnach nicht „korrekte“ oder „gute“ Grammatik erwartet werden. Vielmehr sind es die „Ecken und Kanten“, die „Verstöße“ gegen die Sprachnorm - und nicht nur der Einsatz von Ellipsen - die Literatur zu dem machen, was sie ist. Interessant ist an dieser Stelle auch zu beobachten, dass Carnap (2004: 91ff.) von Scheinsätzen spricht, welche allgemein das meinen, was hier und in der Sprachwissenschaft als Ellipse verstanden wird. Die Syntax gebe danach an, welche Verbindungen zulässig und welche es nicht seien. Allerdings, so Carnap, der wie Whitehead, Russell u.a. eine logistische Sprachtheorie vertritt, schließe die Syntax sinnlose Wortverbindungen nicht überall aus. So sei der Satz Caesar ist und. laut Syntax in Bezug auf Carnaps normatives Sprachverständnis5 nicht zulässig. Im Gegensatz dazu ist der Satz Caesar ist eine Primzahl. so möglich, weil er dieselbe grammatische Struktur wie Caesar ist ein Feldherr. habe. Allerdings sei der Satz sinnlos und somit als Scheinsatz zu beschreiben. Die Bildung dieser Art von sinnfreien Sätzen erinnert stark an Chomsky, der aufgrund seiner z.T. rein strukturalistischen Ansätze die Bildung solcher Sätze auf die Spitze treibt. Die grammatische Syntax ist demnach laut Carnap (ebd.: 92) unzureichend und unterscheide sich eben in ihrer Mangelhaftigkeit von der logischen Syntax, für deren Einführung er plädiert.

Doch nicht nur die Definition eines Satzes ist schwierig. Insgesamt fällt auf, dass die Traditionelle Grammatik über Laut-, Wort- und Satzlehre nicht hinaus geht, weswegen Thema- und Rhemabeziehungen - eigentlich schon in den Bereich der Textlinguistik bzw. der Textgrammatik gehörend - in dieser Arbeit aber noch einmal in Zusammenhang mit der Funktionalen Grammatik Beachtung finden. Die Traditionelle Grammatik bewegt sich somit im begrenzten Rahmen des Satzes, was es hier schwierig macht, Und hier? zu klassifizieren.

Und hier? ist, obwohl hier schriftlich in einem literarischen Text fixiert, eher im mündlichen Sprachgebrauch anzutreffen - zumindest wesentlich gebräuch- licher. Die Dudengrammatik (2005: 773) sagt diesbezüglich, dass die Definition eines prototypischen Satzes aus der schriftlichen Sprache entwickelt worden sei, weshalb sie der gesprochenen Sprache nicht immer gerecht werden könne. Dieser Ansatz erklärt die Widersprüchlichkeit des hier betrachteten Problems nur ansatzweise, denn Und hier? ist durchaus schriftlich fixiert und trotzdem schwer klassifizierbar. Ähnliches gilt für die sprachlichen Gebilde Und? Nachbarn, nichts anderes als Nachbarn. aus dem zweiten Absatz des analysierten Textes.

Doch nicht nur die Traditionelle Grammatik bleibt überzeugende Argumentationen diesbezüglich schuldig. So gibt auch Porzig (1993: 139) keine schlüssigen Antworten. Zwar weist er darauf hin, dass es Sätze gibt, die kein Finitum enthalten und geht somit schon einen Schritt weiter als die Traditionelle Grammatik, dennoch gibt er keine überzeugenden Klassifizierungsmuster dieser sprachlichen Gebilde an. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang lediglich zwischen Nominal- und Verbalsätzen und weist abschließend darauf hin, dass es Sprachen gibt, in denen kein Finitum vorhanden ist, aber trotzdem prädikative Fügungen existieren (ebd.: 140). Es sei hier jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass formale Kategorien bei der Inhaltsbezogenen nicht denselben Stellenwert einnehmen wie bei der Traditionellen Grammatik. Subjekt und Prädikat sowie folglich ihre Bedeutsamkeit für die Existenz eines Satzes treten im Vergleich zur semantischen Bedeutung einer Äußerung in den Hintergrund.

2.4 Das Scheinsubjekt

(3) Es gewitterte.

Interessanterweise hält auch dieser einleitende Satz des zu betrachtenden Textes eine Besonderheit parat, die uns in der Schulgrammatik vor spezielle Herausforderungen stellt. Wie erwähnt, wird ein Schüler bewusst nach Subjekt und Prädikat eines jeden Satzes suchen. Scheinbar wird er beides in dieser Äußerung finden, und sie demnach als Satz klassifizieren - es als Subjekt und gewitterte als Prädikat (hier als Verbform im Präteritum) beschreiben. Es handelt sich hierbei um ein Witterungsverb, welches zu den unpersönlichen Verben (Impersonalia) gehört.

Es muss jedoch herausgestellt werden, dass Witterungsverben (also auch schneien, hageln, regnen etc.) eine Besonderheit darstellen. Denn hier zeigt sich ein weiteres Problem, für das die Traditionelle Grammatik auch kritisiert wurde. Sie sei zu stark von der traditionellen Logik abhängig und würde Kriterien vermischen und so an bestimmten Punkten an ihre Grenzen stoßen. In (3) stößt die Traditionelle bzw. Schulgrammatik definitiv an ihre Grenzen. Es lässt sich durchaus danach fragen: wer oder was regnet?6 Jedoch kann die Antwort es nicht mehr als ein Scheinsubjekt sein, das verhindert, dass eine syntaktische Leerstelle entsteht. Semantisch bleibt es eine Leerstelle, denn dieses es ist in semantischer Hinsicht keinesfalls aufgeladen und bleibt „leer“.

Die Dudengrammatik hingegen verteidigt den Subjektstatus von es (2005: 412), da es der Verschiebeprobe nach als eigenständig und demnach als Satzglied (Subjekt) einzuschätzen sei. Auch könne anstelle von es eine Substantivphrase im Nominativ als Subjekt erscheinen. So ließe sich Es hagelte. folgendermaßen umwandeln: Regen hagelte behäbig hinab. Es wird deutlich, dass die Traditionelle Grammatik hier nicht berücksichtigt, dass diese „Ersatzformen“ äußerst ungebräuchlich und von einigen Muttersprachlern als „fehlerhaft“ empfunden werden. Auch lässt sich diese Ersatzprobe nicht auf alle Witterungsverben anwenden. Für den in diesem Abschnitt betrachteten Satz Es gewitterte. wäre unter Umständen eine transformierte Form der folgenden Art denkbar.

(3.1) Der Himmel gewitterte.

In der Alltagssprache ist diese Form nicht gebräuchlich und entspricht eher der bildhaften Sprache, die in literarischen Texten vorkommt. Es wird deutlich, dass die Traditionelle Grammatik den Fokus lediglich auf formale Kategorien legt und in dieser Form auch ihre präskriptiven Beschreibungen begründet. Inhaltlichen Komponenten, wie hier die Ungebräuchlichkeit oder Unvollständigkeit, wird kaum Bedeutung beigemessen. So wird in diesem Fall nicht darauf eingegangen, dass z.B. Der Himmel gewitterte. eine unübliche Form in der Alltagssprache ist.

Ähnlich ungewöhnlich erscheint dem „Durchschnittssprecher“ die Form Schnee regnen oder schneien (O-Ton Tagesthemen Wetterbericht; 08.04.2008; ARD). Es wird hier deutlich, dass Meteorologen zwischen Schneeregen und Schnee im allgemeinen Verständnis unterscheiden. Deswegen kann der Schnee ihnen zufolge schneien oder regnen - je nach Konsistenz des Schnees. Hier wird vor allem die Rolle verschiedener Funktiolekte deutlich - in diesem Fall der Fach- bzw. Wissenschaftssprache der Meteorologen. Es zeigt sich außerdem, dass die kognitive Seite der Sprache bzw. die Frage nach differenzierten Inhalten und Bedeutungen von Lexik bei unterschiedlichen Sprechern nicht nur eine Frage von intersprachlichen Beziehungen und Vergleichen, sondern vielmehr auch in der Varietätenlinguistik von Bedeutung ist.

In Bezug auf das unter 2.2 analysierte Beispiel des Interrogativadverbs warum macht die Dudengrammatik (ebd.: 578) auf der anderen Seite eine überraschend umfangreiche und stark differenzierte Kreuzklassifikation der Adverbien auf. So wird in dieser Bezug auf Semantik, Funktion, Geltungsbereich, Bildungsweise und Syntax genommen, um Adverbien zu klassifizieren und warum infolgedessen zu den interrogativen Pro-Adverbien und zu den kausalen Situierungsadverbien im weiteren Sinne zu zählen. Die stark differenzierte Klassifikation der Adverbien bildet in Bezug auf diese Beobachtung eine Ausnahme.

Insgesamt betrachtet zeigt sich allerdings, dass die Traditionelle Grammatik, obwohl sie sich logischer Kategorien bedient, nicht logisch ist. Sie formalisiert lediglich Begriffe wie hier das Subjekt es - man weiß sozusagen etwas über die Form, aber nicht über den Inhalt. Dabei geht sie nicht einmal konsequent vor, weswegen Fries (Helbig 1986a: 250f.) auch starke Kritik an der Satzglied- und Wortartenlehre übt, welche nach uneinheitlichen - formalen, syntaktischen und semantischen - Kriterien klassifiziert. So werden bei den Satzgliedern Begriffe aus der Logik (Subjekt, Prädikat), semantische (Adverbialbestimmungen) und strukturelle (Attribute) Termini angewendet.

In dem hier betrachteten Fall ist es kein logisches Subjekt. Die im nächsten Kapitel beleuchtete Dependenzgrammatik sieht es lediglich als Stellenhalter an und beschreibt regnen infolgedessen bezüglich seiner Valenz als nullwertiges Verb. Um Verben und deren Wertigkeit geht es im nun folgenden Abschnitt.

3. Dependenzgrammatik

3.1 Theorie

Die auf Lucien Tesnière zurückgehende westeuropäische7 Dependenz- oder Valenzgrammatik als spezifische Form der strukturellen Linguistik ist auch in der Gegenwart von Bedeutung (vgl. Eroms 2000). Besonders im Fremdsprachen- bereich wird ihr eine große Bedeutung zugeschrieben, so auch im Fach Deutsch als Fremdsprache. Auf deutscher Seite sind besonders die Arbeiten von Helbig (1982, 1992), Heringer (1972, 1973) und Engel (1982, 1988) hervorzuheben.

Laut Valenzgrammatikern

„ [...] haben lexikalische Elemente - besonders Verben - die Potenz, ihre Umgebung syntaktisch und semantisch zu strukturieren, indem sie in komplexen syntaktischen Gefügen eine bestimmte Art und Anzahl von Ergänzungen (Aktanten) verlangen. “

(Linke [u.a.] 2004: 94)

Dem Verb wird, verbunden mit seiner Valenz (Wertigkeit), eine zentrale Rolle in Bezug auf die Organisation eines Satzes zugeschrieben - seine Wertigkeit (vgl. Erben 1958: 165) bestimmt demnach den Aufbau des Satzes. Die Struktur eines Satzes hängt also für Tesnière von der Architektur seiner Konnexionen ab. Konnexionen sind für ihn die Seele eines Satzes, denn ohne sie gäbe es keinen Satz, weswegen er ihnen eine strukturelle Funktion zuschreibt. Der Satz Paul spielt. kann in einem Stammbaum (auch: Dependenzbaum) in Bezug auf seine Valenz dargestellt werden.

spielt

Paul

Es handelt sich bei diesem Satz nicht um zwei, sondern drei Elemente - spielt und Paul sowie die Verbindung zwischen den beiden. Spielt und Paul sind die Nuclei des Satzes, deren Verbindung connexion genannt wird. Diese enthält dabei ein regierendes (spielt) und ein regiertes Nucleus (Paul). Das regierende Nucleus enthält als Kern die Idee und übt eine semantische Funktion aus - es ist also das „konstitutive Atom“ des Satzes - Tesnière vergleicht die Valenz eines Verbs mit der Wertigkeit eines Atoms. Für ihn ist das Verb „ der Knoten aller Knoten “ (Helbig 1986a: 200), weswegen es den Satz regiert und Aktanten und Umständen vorsteht. Dabei beschränkt sich die Valenz jedoch auf Subjekte, Akkusativ- und Dativobjekte (ebd.: 209). So seien Adverbialbestimmungen und Prädikative ausgeschlossen. Dies scheint für das Deutsche nicht haltbar, weswegen für Brinkmann und Erben im Deutschen auch Umstandsbeziehungen in manchen Fällen nötig sind. So zeigt der Satz bzw. die Sätze Er stellt die Lampe in die Ecke/auf den Tisch/neben den Stuhl., dass eine „Umstandsbezeichnung“ obligatorisch ist, um den Satz grammatisch zu machen.

In Bezug auf die Valenz des Verbs müssen demnach bestimmte Stellen im Satz obligatorisch besetzt werden - andere sind freie Ergänzungen. Helbig (ebd.: 214) unterscheidet in Bezug auf das strukturelle Minimum zwischen obligatorischen und fakultativen Aktanten sowie freien Angaben. Außerdem wird zwischen qualitativer und quantitativer Valenz (avalent, monovalent, divalant, trivalent etc.) unterschieden. Vom Französischen ausgehend gibt es für Tesnière keine tetravalenten - also vierwertigen - Verben. Die Valenz von Verben ist dabei nach Helbig und Schenkel in erster Linie eine Angelegenheit der Oberflächenstruktur, auch wenn sie einräumen, dass mit der Valenz abstraktere Beziehungen eingefangen werden als mit den konkreten Segmentierungen der amerikanischen Deskriptivisten (Helbig/Schenkel 1969: 28).

Es soll hier darauf hingewiesen werden, dass abgesehen von Verben auch andere Wortarten Valenz und damit die Fähigkeit besitzen, ihr Umfeld syntaktisch und semantisch zu strukturieren. Dies zeigt sich z.B. bereits im Titel Sommerfeldts und Schreibers W ö rterbuch der Valenz etymologisch verwandter W ö rter: Verben, Adjektive, Substantive (Tübingen 1996). So sind es nach Helbig zwar besonders Verben, denen Wertigkeit zugesprochen wird, aber auch Substantive und Adjektive haben Valenz. Die Dudengrammatik geht in diesem Zusammenhang sowohl auf Valenz von Verben als auch von Adjektiven ein. Ein Kapitel für Valenz bei Nomen findet man dort jedoch nicht. Insgesamt gesehen gibt es keine einheitliche Auffassung von Valenz. Helbig (1986a: 212) nennt drei verschiedene Auffassungen des Valenzbegriffs: Valenz nur bei Verben (Tesnière, Brinkmann, Erben), Valenz bei allen Wortarten (Admoni etc.) und Valenz nicht nur bei Wortarten, sondern Elementen aller sprachlichen Ebenen (Berkow etc.). So ist Valenz für Brinkmann „ die Fähigkeit des Verbums, weitere Stellen im Satz zu fordern “ (ebd.: 209). Brinkmanns Valenzbegriff soll in dieser Arbeit Ausgangspunkt für die valenzgrammatischen Betrachtungen sein.

Im Laufe des wissenschaftlichen Diskurses wurde viel über die Bedeutung des Begriffes Valenz geschrieben - so wird heute oft zwischen verschiedenen Valenzrelationen unterschieden (u.a. syntaktische, semantische, textuelle Valenz). Der Begriff der Valenz kommt ursprünglich aus der Chemie und beschreibt die Eigenschaften von Elementen, sich mit anderen zu verbinden. Tesnière übertrug die Idee der Valenzbindung aus der Chemie im Rahmen der strukturellen Syntax auf die strukturellen Verhältnisse im Satz.

In der Dudengrammatik (2005: 396f.) wird wie bei Helbig (siehe oben) von der syntaktisch-semantischen Valenz gesprochen. Es hängt demnach von der Bedeutung des Verbs ab, wie viele und welche semantischen Rollen es vergibt. Eben dieser Valenzrahmen und die syntaktische Wertigkeit definieren zusammen die syntaktisch-semantische Valenz eines Verbs. Deren syntaktisch-semantische Leerstellen werden durch Satzglieder besetzt, die man Verbergänzungen nennt.

Tesnière selbst, der als Vertreter der strukturellen Syntax und insgesamt als bedeutender Vertreter des französischen Strukturalismus gilt, unterschied zwischen einer strukturellen und einer semantischen Ebene. So kann ein Verb auf der syntaktischen und auf der semantischen Ebene eine unterschiedliche Valenz haben. Ein Zustand, an dem sich Tesnière nicht störte (Storrer 1992: 28).

3.2 Valenz in der Praxis

(4) Denn du legtest dein Glück abermals in seine Hände , anstatt zu sehen, dass du dich nicht abhängig machen darfst.

Am Beispiel des Verbs legen soll hier die quantitative und qualitative Valenz (nach W. Schmidt; vgl. Helbig 1986a: 213) ermittelt werden. Früh wird hier der Bezug zur Traditionellen Grammatik deutlich, denn um zu erkennen, welche Elemente obligatorisch (Präsuppositionen) und welche fakultative Ergänzungen bzw. freie Angaben (schwach präsupponiert oder gar nicht präsupponiert) sind, kann man sich des Eliminierungstests bedienen, den wir schon aus der Traditionellen Schulgrammatik kennen. So lässt sich das Minimum bzw. die quantitative Valenz des Verbs legen nachvollziehen. Die Dudengrammatik (2005: 787) unterscheidet dabei zwischen Ergänzungen und Angaben.

„ Eine Ergänzung ist eine Phrase, die im Valenzrahmen eines Wortes [...] angelegt ist. Eine Angabe ist eine Phrase, die ein Wort, eine Phrase oder unter Umständen auch den gesamten Satz modifiziert. Sie ist im Valenzrahmen der zugeh ö rigen W ö rter nicht angelegt. “

Die Dudengrammatik geht in diesem Zusammenhang darauf ein, dass die Weglassprobe dabei hilft, zu bestimmen, welche Phrasen verzichtbar sind, ohne den Satz ungrammatisch werden zu lassen. Typisch für die Traditionelle Grammatik ist hier die Dichotomie grammatisch vs. ungrammatisch, die letztendlich bestimmt, was ein „richtiger“ Satz und was eine Ellipse darstellt . Allerdings kann dies als Gemeinsamkeit zwischen Traditioneller und Valenzgrammatik gesehen werden, denn auch die Valenz eines Verbs schreibt vor, welche Ergänzungen vorhanden sein müssen.

Nicht immer ist die Weglassprobe dabei ausreichend. Manchmal steht der Betrachter vor dem Phänomen, dass ein Verb mehrere Varianten aufweist. So ist sowohl der Satz Max kocht eine Suppe. als auch Max kocht. denkbar. Es wird in diesem Zusammenhang zwischen weglassbaren und nicht weglassbaren Ergänzungen unterschieden.

Der in (4) enthaltene Adversativsatz (Nebensatz) anstatt [...] kann als erstes ausgelassen werden, ohne das gesamte Satzgefüge „ungrammatisch“ bzw. „falsch“ zu machen. Dieser Zusatz kann gesichert als freie Ergänzung gelten. Dasselbe gilt für die temporale Adverbialbestimmung abermals. Der einleitenden Konjunktion denn wird keine Valenz zugeschrieben - sie stellt demnach keine Valenzstelle dar, da sie als kausale Konjunktion im engeren Sinn nur koordinierenden Charakter hat. In Bezug auf die Inhaltsbezogene Grammatik soll hier nur darauf hingewiesen werden, dass Tschirch (1954: 14) Wortarten wie Artikeln, Präpositionen und - besonders interessant - Konjunktionen jede gegenständliche Realität abspricht. Der hier betrachtete Satz ist immer noch verständlich, wenn man all diese Bestandteile weglässt.

Bestimmt man die Satzglieder nach dem Vorbild der Traditionellen Grammatik, woran ein weiterer Bezugspunkt deutlich wird, erkennt man, dass du das Subjekt des Hauptsatzes und dass dein Glück das Akkusativobjekt ist. Wenn mit dem Schicksal in dem unter (1) betrachteten Satz als präpositionales Objekt beschrieben werden konnte, so ist die Bestimmung von in seine Hände in diesem Falle weniger einfach und eindeutiger.

Primär geht es um die Frage, ob in seine Hände als lokale Adverbialbestimmung oder präpositionales Objekt zu bestimmen ist. Die Dudengrammatik (2005: 852) verweist darauf, dass zwischen den beiden Kategorien keine klaren Grenzen gezogen werden können - es sich hierbei demnach um eine Art „Grauzone“ handelt. Laut Valenzwörterbuch (1991: 338) fordert legen hier ein präpositionales Substantiv. Grundsätzlich gilt, dass bei Präpositionalobjekten die Präpositionen gar nicht oder nur eingeschränkt wählbar sind (z.B. sich verlassen auf; sich kümmern um etc.). Bei Adverbialbestimmungen, vor allem lokaler und temporaler Art, wird die Präposition nach semantischen Gesichtspunkten gewählt - d.h. der Austausch von Präpositionen führt zu Bedeutungsveränderungen (z.B. spielen auf/hinter/vor dem Haus). Der Gebrauch von sein Schicksal in jemandes Hände legen ist stark figurativen Charakters. Dies scheint die Wahl der Präposition merklich einzuschränken, was folglich für ein Präpositionalobjekt spricht. Im nicht figurativen Gebrauch (z.B. Du legtest die Bücher in/auf/unter/hinter den Schrank .) ist die Präposition auf der anderen Seite weniger vorgegeben und es lässt sich die Phrase nicht durch eine präpositionale Fügung - hier ein Pronominaladverb - ersetzen, was wiederum für eine lokale Adverbialbestimmung spräche. In Bezug auf den unter (4) betrachteten Satz führt diese Probe aufgrund der figurativen Sprache zu einem ungrammatischen Satz.

(4.1) * Du legtest dein Schicksal dorthin .

Zu Recht weist die Dudengrammatik (2005: 852) darauf hin, dass auch diese Probe der Pronominalisierung des Satzglieds keine Garantie für eine zweifelsfreie Bestimmung bietet. Eine endgültige Bestimmung kann auch hier nicht geleistet werden.

Alle hier für (4) bestimmten Konstituenten bzw. Satzglieder ordnen sich um das satzorganisierende Verb herum - in diesem Fall das Verb legen, das in der

[...]


1 Verb, Nomen, Artikel, Adjektiv, Pronomen, Numerale, Adverb, Konjunktion, Präposition und Interjektion (vgl. Gansel, Ros, Schiewe 2004: 79).

2 Die Verfahren der Weglass-, Verschiebe-, und Ersatzprobe wurden von Glinz entwickelt und gelten als Verfahren der strukturellen Linguistik (Helbig 1986a: 177), obwohl Glinz - aus der strukturellen kommend, später aber eher inhaltsbezogen wirkend - nicht einer ausschließlichen sprachwissenschaftlichen Richtung zugeordnet werden kann. Es zeigt sich hier, dass auch andere Strömungen punktuell Einfluss auf die Schulgrammatik hatten und haben.

3 Stirn-, Spann- und Kernsatzform wurden von Glinz eingeführt (Helbig 1986a: 223). Es ist auch Glinz, welcher der Traditionellen Grammatik vorwirft, die Sprache mit ihrer unsäglichen Zweiteilungssucht zu vergewaltigen (ebd.: 218). Becker habe dabei jeden Satz aus Verbindungen von zwei Gliedern gesehen und in dem Zusammenhang drei Arten von Satzverhältnissen definiert (prädikatives, objektives und attributives Satzverhältnis).

4 Erstveröffentlichung: „Ja. Zeitung der Jungen Generation“, Berlin 1948, Nr.3, S. 5.

5 Vgl. „ sprachwidrig “ , „ korrekt aufgebaute Sprache “ (Carnap 2004: 92).

6 Auf sprachphilosophischer Seite erkennt bereits Nietzsche das Problem des „Täters“ in „Es- Sätzen“ wie „ Es blitzt. “ („Impersonal“; vgl. Lee 1992: 117) In seinem Schaffen habe sich der Mensch als Täter erfahren, woraus die Annahme gewachsen sei, es gebe Subjekte (Müller-Lauter 1999: 208).

7 Andere Arten von Abhängigkeitsgrammatiken wurden z.B. in den USA (Hays etc.) und in der Sowjetunion (Meltschuk etc.) entwickelt. Für die deutsche Grammatik machen u.a. Brinkmann und Erben den Valenzbegriff nutzbar.

Ende der Leseprobe aus 89 Seiten

Details

Titel
Textanalyse aus Sicht verschiedener Grammatiktheorien
Untertitel
Ein Perspektivpanorama
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Institut für Deutsche Philologie)
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
89
Katalognummer
V193452
ISBN (eBook)
9783656184850
ISBN (Buch)
9783656185185
Dateigröße
740 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grammatiktheorien, Grammatik
Arbeit zitieren
Paul Schmidt (Autor:in), 2008, Textanalyse aus Sicht verschiedener Grammatiktheorien, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/193452

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