Lebensschwäche und Dekadenz im Frühwerk von Thomas Mann

Über den Determinismus und Pessimismus in den frühen Erzählungen und der Geschichte des Hanno in „Buddenbrooks“


Magisterarbeit, 2008

87 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Grundlagen zu Thomas Manns frühen Erzählungen
2.1 Biographisches
2.2 Zeitgeist
2.3 Dekadenz
2.4 Dilettantismus

3. Der Philosophische Hintergrund: Schopenhauer und Nietzsche als Vordenker
3.1 Schopenhauers Pessimismus
3.2 Nietzsches lebensstarker Mensch
3.3 Verquickung beider Theorien durch Thomas Mann

4. Lebensschwäche mit Todesfolge bei Thomas Manns frühen Figuren
4.1 Beispiele für Dekadente im Frühwerk Thomas Manns
4.1.1 Paolo Hofmann („Der Wille zum Glück“), 1896
4.1.2 „Der kleine Herr Friedemann“, 1897
4.1.3 „Der Bajazzo“, 1897
4.1.4 „Tobias Mindernickel“, 1898
4.1.5 Rechtsanwalt Jacoby („Luischen“), 1900
4.1.6 Hanno Buddenbrook („Buddenbrooks“), 1901
4.2 Die hypersensiblen Lebensschwachen und ihr Verhältnis zu Kunst und Leben
4.2.1 Künstlerproblematik
4.2.1.1 Die Antagonie Kunst – Leben
4.2.1.2 Entfremdung der Empfindsamen von den Vitalen und Asozialität
4.2.2 Stellenwert der Musik für die Lebensschwachen
4.2.2.1 Die Wirkung Wagners auf die Lebensschwachen
4.2.2.2 Thomas Mann und Richard Wagner
4.3 Untersuchungen zum Tod der hier behandelten Figuren
4.3.1 Suizid
4.3.2 Der nicht selbst verschuldete Tod
4.4 Krankheit und Genie

5. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Ich möchte schlafen und nichts mehr wissen. Ich möchte sterben, Kai!... Nein, es ist nichts mit mir. Ich kann nichts wollen. Ich will nicht einmal berühmt werden. Ich habe Angst davor, genau, als wäre ein Unrecht dabei! Es kann nichts aus mir werden, sei sicher. Man sollte mich nur aufgeben. Ich wäre so dankbar dafür!... Ich habe so vielerlei Sorgen, und Alles fällt mir so schwer.“[1]

Der frühe Tod, der den Protagonisten unentrinnbar entgegeneilt, ist das immer wiederkehrende Thema in Thomas Manns Frühwerk. In den Erzählungen „Der Wille zum Glück“, „Der kleine Herr Friedemann“, „Der Bajazzo“, „Tobias Mindernickel“, „Luischen“ und bezüglich der Figur des Hanno in dem Roman „Buddenbrooks“ ist der frühe Tod den Protagonisten bereits in den ersten Sätzen auferlegt. Ihr Niedergang wird symbolisiert durch äußere Symptome wie ungesunde Gesichtsfarbe, schiefe Körperhaltung und nicht zuletzt durch ihre der Dekadenz und dem Dilettantismus verhaftete Lebensweise. Sie leiden unter Krankheit, Stagnation und Isolation und sind ihrem Schicksal jeweils ausgeliefert.

Thomas Manns frühe Erzählungen entbehren politischen Inhalts, Thomas Mann legt den Fokus auf die psychische, physische und soziale Verfassung seiner Figuren, die in jeder der drei Hinsichten mangelhaft bis beklagenswert ist. Thomas Manns Erzählungen sind pessimistisch, und zwar im außerordentlichsten Sinne: Die physischen, psychischen und sozialen Mängel seiner Protagonisten führen zumeist zum Tod.

In Thomas Manns frühem Werk, welchem seine ersten Erzählungen – bis zu „Der Tod in Venedig“ von 1912 – und die Romane „Buddenbrooks“ und „Königliche Hoheit“ zuzuordnen sind,[2] sind die zentralen Krankheitssymptome mangelhafte Zähne, Blässe (Anämie), Depressionen, Neurosen und nervliche Leiden, Neurasthenie. Die Kranken bei Thomas Mann sind in einem Auflösungsprozess gefangen, der sich sowohl körperlich als auch geistig, seelisch manifestiert. Oftmals ist nicht klar, inwieweit die beiden Erscheinungsgebiete miteinander zusammenhängen, bzw. ob das Leiden der einen Sphäre das der anderen zur Folge hat, und wenn ja, in welcher die Krankheit ihren Ursprung hat. Denn die meisten Figuren bei Thomas Mann, die an einer organischen Disposition zur Krankhaftigkeit leiden, zeichnen sich durch eine besonders sensible Einstellung zum Leben und eine feine Beobachtungsgabe aus, welche sie von den anderen, gesunden Menschen abgrenzen.[3]

Gleichzeitig sind Thomas Manns empfindsame und an sich selbst und dem Leben leidende Protagonisten in irgendeiner Weise Künstler. Ihre feinen Sinne suchen Ausdruck in der Musik, aber auch in der Malerei und in Worten. Tonio Kröger, Gustav Aschenbach und Detlef Spinell sind Schriftsteller, die ihr Erleben in Worten auszudrücken suchen. Häufiger jedoch finden Thomas Manns Figuren das adäquate Medium ihres Inneren in der Musik, einige ausschließlich durch Rezeption – Hans Castorp, Sigmund Ahrendorf –, andere (auch) in der Produktion: Johann Friedemann, Hanno Buddenbrook. Oftmals heben sie sich dadurch von der übrigen, bürgerlichen Gesellschaft, vom ‚Leben’ ab.

In einigen literarischen Texten Thomas Manns finden sich Söhne, die sich durch ihre Leidenschaft zum Theater oder zur Musik von ihren kaufmännischen Vätern abgrenzen. Jene Väter sind meist vorbildliche Mitglieder der Gesellschaft, während die empfindsamen Söhne sich selbst ausgrenzen oder ausgegrenzt werden.

Die Söhne hingegen rücken durch ihre Empfindsamkeit in die Nähe des Künstlertums. Dies bewirkt jedoch nicht eine Aufnahme in die Gesellschaft, sondern ein ambivalentes Verhältnis zu ihr. Thomas Mann hat sein Künstlerbild auf der Grundlage von Friedrich Nietzsches Philosophie geschaffen:

„Die Eigenart der Künstlerexistenz besteht auch für Nietzsche darin, daß sie einerseits das Leben liebt und um dieselbe Liebe wirbt, daß sie aber andererseits aus diesem Leben ausgeschlossen ist und ihre Isolation sogar bejahen und auf ihr bestehen muß.“[4]

Abgesehen von der Künstlerproblematik finden sich in Thomas Manns Werk viele weitere Verbindungen zu seinen philosophischen Vordenkern Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer, weshalb bestimmten Grundzügen ihrer Philosophien in der vorliegenden Arbeit ein eigenes Kapitel gewidmet wird.

Thomas Mann zeichnet seine Protagonisten nicht nur auf philosophischem Untergrund, sondern auch mit psychologischem Feingefühl, in welchem sich sein Pessimismus widerspiegelt. Das Schicksal jeder in dieser Arbeit zu besprechenden Figur ist in vielerlei Hinsicht einseitig, da ausweglos. Ihre Mangelhaftigkeit wirkt sich auf mehrere Lebensbereiche aus: den körperlichen, den psychischen und den sozialen.

„[Thomas Buddenbrooks] physischer Tod erscheint letztlich nur als Vollzug eines psychischen Dahinsterbens, das in der äußersten Isolation endet.“[5]

Dieser Satz könnte für jede der im Folgenden behandelten Figuren stehen. Ihr früher Tod scheint eine Folge von ihren physischen, psychischen und sozialen Dispositionen zu sein, er äußert sich in Form einer Krankheit, als plötzliches nicht näher beschriebenes organisches Versagen oder als Suizid. Es stellen sich folgende Fragen:

Haben jene Lebensschwachen eine Chance zu überleben, oder erzwingt ihre physische, psychische und soziale Disposition den frühen Tod? Sind die Lebensschwachen einem Determinismus unterworfen, der sie von Geburt an in den frühen Tod leitet? Und schließlich: Warum sind die Lebensschwachen bei Thomas Mann derart determiniert?

Thomas Mann zeichnet ein sehr negatives Bild von den überreflektierten Künstlergestalten. Ihre Überlebenschancen in der bürgerlichen Gesellschaft sind gering. Ihre künstlerische Begabung, ihre erhöhte Sensibilität und ihre Neigung zur Krankheit machen sie zu Außenseitern und begründen den ihnen auferlegten Determinismus. Um diese These zu erörtern, beginne ich mit der Untersuchung der biographischen und zeitgenössischen Ausgangslage von Thomas Manns Werk.

So werden in Kapitel 2 die Grundlagen zu Thomas Manns Frühwerk betrachtet, welche sowohl biographische Elemente, als auch einen Blick auf den Zeitgeist und die Theorien über Dekadenz und Dilettantismus umfassen. Im darauf folgenden Kapitel werden die Theorien Friedrich W. Nietzsches und Arthur Schopenhauers besprochen, welche Ausgangspunkte von Thomas Manns philosophischem Denken sind. Das Kapitel 4 ist unterteilt in die Interpretation der ausgewählten Erzählungen hinsichtlich der Ausgangsthese und Ursprünge des in den Erzählungen zu findenden Determinismus’ und des Pessimismus’.

Wesentlich für die frühen Protagonisten Thomas Manns ist ihre Neigung zur Kunst, welche sich sowohl im Rezipieren als auch im Produzieren niederschlägt. Bei Thomas Mann deutet sich ein Missverhältnis zwischen Kunst und Leben an, welches in Kapitel 4.2.1 untersucht wird.

Ausdruck des Pessimismus’ und Determinismus’ ist bei Thomas Mann v. a. die Musik, insbesondere die Richard Wagners. Diese These wird in Kapitel 4.2.2 untermauert.

Am Ende dieser Arbeit befasse ich mich mit dem Tod der vorgestellten Protagonisten, der sich auf zwei verschiedene Arten vollzieht: „Der kleine Herr Friedemann“ und „Der Bajazzo“ – bzw. die gleichnamigen Protagonisten beider Erzählungen – wählen den Suizid, die Protagonisten von „Der Wille zum Glück“, „Luischen“ und „Buddenbrooks“ sterben nicht selbst verschuldet. In der Erzählung „Tobias Mindernickel“ wird der Tod des Protagonisten nicht thematisiert. Trotzdem gehört jene Figur unbedingt zu den Lebensschwachen, welche von Geburt an nicht fähig sind, sich in das gesunde Leben einzugliedern.

Die Lebensschwäche ist allen ausgewählten Figuren gemein, weshalb sie in dieser Arbeit zur Untersuchung stehen.

Den Abschluss bildet eine kurze Überlegung über den Zusammenhang von Krankheit und Genie, der nicht erst durch Thomas Mann gebildet wurde.

2. Grundlagen zu Thomas Manns frühen Erzählungen

Das Denken eines jeden Menschen – und so auch das eines Schriftstellers – wird von seinen Erfahrungen beeinflusst. Zu diesen Erfahrungen zählen biographische Ereignisse und das allgemein vorherrschende Denken einer Zeit. Beides soll im Fall Thomas Mann zur Erhellung bezüglich der aufgestellten These betrachtet werden. Diese besagt, dass in Thomas Manns Frühwerk ein Pessimismus vorherrscht, der den Protagonisten Lebensschwäche und einen frühen Tod auferlegt und ihnen keine Möglichkeit zur Abwendung dieses Schicksals lässt.

Bei den biographischen Angaben handelt es sich lediglich um die für diese Arbeit relevanten. Die späteren Lebensjahre Thomas Manns waren sicherlich interessant, haben aber aus logischen Gründen keinerlei Relevanz für die Interpretation seines Frühwerks. Insofern werden sie in dieser Arbeit ausgespart, und ich beschränke mich auf Thomas Manns Jugend.

Thomas Manns Biographie und der Zeitgeist zeigen eine Hinwendung zum Verfall. In den folgenden Kapiteln soll gezeigt werden, dass Thomas Mann sich mit Dekadenz und dem dazugehörigen Dilettantismus beschäftigte, und dass diese Phänomene maßgeblich zur Bildung des Determinismus und Pessimismus in seinem Frühwerk beitragen mussten.

2.1 Biographisches

Thomas Mann wurde 1875 in Lübeck geboren und wuchs als Sohn eines Kaufmanns und Senators auf, welcher bereits 1891 starb.[6] Jene Konstellation findet sich häufig in Thomas Manns Werk wieder, viele seiner Protagonisten sind Söhne von Kaufmännern, die ihren Vater frühzeitig verlieren. Thomas Manns Heimatstadt ist bereits in seinen frühen Erzählungen Schauplatz der Handlung, selbst wenn sie nicht explizit genannt wird, sondern allein aufgrund ihrer Beschreibung erkannt werden kann.

Thomas Mann hatte schon in jungen Jahren schriftstellerischen Erfolg, was er auch seinem Bruder Heinrich zu verdanken hatte, der bereits in schriftstellerischen Kreisen etabliert war und ihn in jene einführte. Bald hatte Thomas Mann seinen Stil gefunden, was auf seine bürgerlichen Tugenden wie Fleiß und Disziplin zurückzuführen ist.[7]

Trotzdem ist er keiner literaturwissenschaftlichen Epoche eindeutig zuzuordnen; sein Werk wird dem Impressionismus, der Neuromantik, aber auch der Neuklassik zugeteilt.[8]

In Thomas Manns Frühwerk finden sich vorrangig Kaufmannssöhne, die nicht in der Lage sind, den Erfolg ihrer Väter fortzusetzen. Meist treten sie nicht einmal in deren Fußstapfen, sondern erproben sich im künstlerischen Bereich. Sie sind gekennzeichnet durch einen erhöhten Grad an Sensibilität, der mit Krankheit und frühem Tod einhergeht.[9] Die große Rolle des Todes bei Thomas Mann ist darauf zurückzuführen, dass er selbst sich nach dem Verlust des eigenen Vaters ausgiebig mit dem Tod auseinandersetzte und dieser seitdem „hinter allem gestanden habe, was er gedacht und geschrieben habe“[10].

In vielen von Thomas Manns frühen Erzählungen sowie in „Buddenbrooks“ finden sich autobiographische Tendenzen. So schreibt Koopmann:

„In Hanno Buddenbrook sah Thomas Mann sich, und in seinem Dasein scheinen eigentlich die Probleme, Ängste und Erlebnisse beschrieben zu sein, die auch den Autor zumindest potentiell bedroht haben – wobei natürlich im epischen Bericht über die Spiegelbildfigur des kleinen Hanno vieles übertrieben, hochstilisiert und dramatisiert erscheint, was in Wirklichkeit allenfalls eine latente Gefahr gewesen sein mochte.“[11]

Dass keine seiner Erzählungen rein auf Tatsachen aus Thomas Manns Leben beruht, versteht sich von selbst. Die Schriftstellerei ist für Thomas Mann ein Mittel, um seine Erfahrungen und Gedanken zu formulieren, „[s]ich auszusprechen, auszudrücken, [s]ich künstlerisch auszuleben“. Und:

„[W]ährend ich früher eines Tagebuchs bedurfte, um, nur fürs Kämmerlein, mich zu erleichtern, finde ich jetzt novellistische, öffentlichkeitsfähige Formen und Masken, um meine Liebe, meinen Haß, mein Mitleid, meine Verachtung, meinen Stolz, meinen Hohn und meine Anklagen – von mir zu gehen... Das begann glaube ich, mit dem ‚Kleinen Herrn Friedemann’“.[12]

Auch in dem Außenseitertum seiner Protagonisten findet sich ein Hinweis auf Thomas Manns Leben. Er hielt sich selbst für einen Außenseiter, eher der künstlerischen Bohème zugehörig als dem Bürgertum. Dies machte er an seinem Reflexionsgrad[13] und an der „Unzuverlässigkeit seines Geschlechtslebens“[14] fest.

2.2 Zeitgeist

Auf der Suche nach dem Wesen des Künstlers war Thomas Mann nicht allein. Das Verhältnis zwischen Künstler und Bürger war zu Thomas Manns Zeit ein verbreitetes Thema, welches sich in der Literatur niederschlug. Es herrschte ein besonderes Bild vom Künstler vor, welches auch bei Thomas Mann zu finden ist.

„Ein zum ‚Zwiespalt zwischen Künstler- und Menschentum’ hochstilisiertes Einsamkeitspathos, existenzielle und intellektuelle Verunsicherung, Überreflektiertheit, Heimatlosigkeit, Flucht in Apolitie und soziale Verantwortungslosigkeit, das ständige Schwanken zwischen Schuldgefühl, Selbstekel und dem trotzigen Bekenntnis zur eigenen ‚Degeneration’ – dies alles sind Grundzüge der frühen Helden Thomas Manns und des zeitgenössischen Künstlerbilds, wie es sich in den frühen Arbeiten Rilkes, Hofmannsthals, Georges und nicht zuletzt in denen Heinrich Manns niedergeschlagen hat.“[15]

Thomas Manns Frühwerk bewegt sich hinsichtlich psychologischer Sichtweisen auf Individuum und Künstlertum im Einklang mit dem Geist seiner Zeit.

Damals neuartige medizinische bzw. psychologische Strömungen nahmen Einfluss auf gesellschaftliche Diskussionen und machten keinen Halt vor Thomas Manns Werk. Paul Julius Möbius proklamiert 1903 in „Geschlecht und Entartung“[16], dass Genie erkauft werde durch Andersartigkeit, Einsamkeit bzw. Ausgeschlossenheit und eine gewisse seelische Unausgeglichenheit. Zwar erschien diese Schrift erst nach den hier behandelten Erzählungen, doch kann man an ihr ablesen, welche Ideen in jener Zeit vorherrschten.

Inwieweit Thomas Mann sich vor 1911 mit der Psychoanalyse auseinandersetzte, mag dahingestellt sein.[17] Sie ist in seinen psychologischen Einsichten, die er durch Selbstbeobachtung und die Theorien Schopenhauers und Nietzsches erfuhr, schon früh enthalten.[18] Bereits in der Erzählung „Der kleine Herr Friedemann“ „wird das Muster Nietzsches auf eine Weise befolgt, als ob schon Freuds Konzept dahinter stünde“[19]. Auch Finck sieht in Thomas Manns Verhältnis zur Psychoanalyse die Theorien Nietzsches als grundlegend an:

„Will man unbedingt eine Verwandtschaft zwischen der psychoanalytischen Forschung und Th. Manns früher Auffassung der wechselseitigen Beziehungen zwischen Geist und Krankheit feststellen, so kommt nicht nur die Freudsche Psychoanalyse, sondern Adlers Individualpsychologie in Betracht, deren Grundtheorie, nämlich diejenige der Kompensierung des Minderwertigkeitsgefühls, eine zum Teil auf einem Missverständnis beruhende psychologische Übersetzung des Nietzscheschen Willens zur Macht ist.“[20]

Das psychologische Muster der Protagonisten im Frühwerk Thomas Manns war also salonfähig und fügte sich den Ideen seiner Zeit ein. Mit politischer und sozialpolitischer Meinungsbildung beschäftigte sich Thomas Mann nicht. Einen direkten Bezug zu aktuellen politischen und sozialen Geschehnissen gibt es im Frühwerk Thomas Manns kaum. Sein Schwerpunkt liegt auf dem Schicksal des Außenseiters, vornehmlich des Künstlers im Bürgertum.[21]

Zwar geht Thomas Mann mit der nationalistischen Auffassung konform, die behauptet, der Erste Weltkrieg gebe seiner Zeit, die laut Nietzsche an Willenlosigkeit erkrankt war, neuen Auftrieb und neue Ziele und helfe, die dekadente Überreflexivität der Vorkriegszeit zu überwinden.[22] Doch bis dahin kann er

„nur über Probleme des Künstlertums, nur über die Psychologie des dekadenten Bürgers schreiben. Erst der Donnerschlag des Kriegsausbruchs sollte auch ihm, wie seinem Helden Hans Castorp die Augen öffnen. Erst von da an sind Kapitel über »Zeitgeschichte und Werkgeschichte« im engeren Sinn möglich.“[23]

Allerdings konnten aufgrund Thomas Manns langsamer Arbeitsweise seine belletristischen Texte nie den politischen Zeitgeist befriedigen. „Darum ist die Wirkung der Zeit auf seine Dichtung immer indirekt gewesen, immer gebremst durch den Widerstand einer nicht mehr im engen Sinne aktuellen Konzeption.“[24]

2.3 Dekadenz

Thomas Manns Begriff des Dilettanten und Dekadenten lässt sich von dem Paul Bourgets ableiten. Ein Dekadent ist jemand, der die Arbeit und das Geschaffene seiner Väter fortführen soll, sich jedoch von jeder Tradition befreit und, anders als die tüchtigen Väter, nichts als den Genuss sucht.[25] Der Dekadent ist zwar untüchtig im bürgerlichen Sinne, jedoch nicht unbedingt unproduktiv. Er fühlt sich dem Künstlertum nahe.

„Dekadenz als biologisch-soziologische wie moralische Tatsache verträgt sich sehr wohl mit Genie; und so ist für Bourget der »Dilettant« der typische Literat des Fin de siècle, der sich auf die raffiniertesten Sinnes- und Nervenreize versteht: »qui a toutes les aristocraties des nerfs, toutes celles de l’esprit, et qui est un épicurien intellectuel et raffiné«.“[26]

Somit versteht es der Dekadent, seinen Dilettantismus nutzbar zu machen und sich durch ihn den Zugang zur respektierten höheren Gesellschaft zu erschließen.[27]

„Thomas Mann war zeitlebens fasziniert von den Phänomenen des Verfalls, der Auflösung und der Lebensschwäche; zeitlebens aber hielt er auch den Schwachen die Treue, würdigte den Heroismus der Schwäche und suchte nach Wegen zu einer »gesundere[n] Geistigkeit« […] und Lebensfreundlichkeit. Zweifellos war es Nietzsche, durch den sich Thomas Mann zum Chronisten und Analytiker der décadence inspiriert, um nicht zu sagen ermächtigt fühlte.“[28]

Diese Arbeit beschäftigt sich in ihrem Hauptteil mit den Lebensschwachen, welche Thomas Mann entworfen hat. Dort soll gezeigt werden, inwiefern der Dekadent Thomas Manns im Verhältnis zum Leben und seinen Mitmenschen steht und schließlich scheitert.

Als Thomas Mann „Buddenbrooks“ schrieb, war das Thema vom familieninternen Verfall des Bürgertums, vom Kaufmann zum Künstler, bereits aufgegriffen worden.[29] Zeitgenossen, Theoretiker des Naturalismus, vertraten die Auffassung, der Verfall sei biologisch, aber auch soziologisch bedingt. Nietzsche und auch Bourget bauten ihre Dekadenz-Theorien auf der Abstammungslehre Darwins auf. Diese besagt, allein der Tauglichste überlebe. Thomas Mann dagegen verwertet – zumindest in „Buddenbrooks“ – jene Theorien selektiv. Anders als bei Nietzsche steht die Dekadenz hier nicht so sehr im Gegensatz zum Leben, sondern mehr zur Bürgerlichkeit. Das Kennzeichen des Dekadenten Thomas Manns liegt in seiner Entfremdung vom Bürgertum.[30]

„Der Bürger rechtfertigt seine Existenz durch Nützlichkeit“[31]. Er zeichnet sich aus durch Fleiß, Pünktlichkeit und Ordnungsliebe. Dinge, die ihn vom Dekadent unterscheiden. Jener ist gekennzeichnet durch Müßiggang, Unzuverlässigkeit und Lebensgenuss, also allen Lastern, die der Produktivität entgegenstehen.[32] Gleichzeitig verfällt jedoch im 18. Jahrhundert der klassische Begriff vom Bürger; das Bürgertum sensibilisiert sich von Generation zu Generation, wodurch der Konflikt zwischen Nützlichkeit und Individualisierung entsteht.[33]

Thomas Mann sieht einen engen Zusammenhang zwischen Bürgertum, Kunst und Verfall:

„Ethik, Bürgerlichkeit, Verfall: das gehört zusammen, das ist eins. Gehört nicht auch die Musik dazu?“[34]

Der Begriff des Verfalls wird von Thomas Mann allerdings ambivalent aufgefasst. Zwar schwächen sich Gesundheit und Vitalität ab, verstärken sich aber der Geist und die Neigung zum Reflektieren und damit die Fähigkeit zum Künstlertum.[35] Dies ist auch die seit den 30-er Jahren des 19. Jahrhunderts in Frankreich vertretene Auffassung von Dekadenz.[36]

Die Analyse des Zusammenhangs zwischen Bürgerlichkeit, Verfall und Musik zieht sich durch Thomas Manns ganzes Frühwerk, in welchem Verfall und Degeneration meist mit dem Tod enden. Kurzke sieht Dekadenz als eine Art Endzustand an, in welchem der Künstler nur zurückblicken kann auf vergangenen geistigen und inspirativen Reichtum.

„Alle Gefühle sind bereits Literatur. Es gibt kein unverfälschtes Erlebnis mehr. Dekadenz ist der morbide Zustand einer Spätzeit, die keine Zukunft mehr hat und keine Hoffnungen mehr, sondern nur noch reflektierend auf eine große Vergangenheit zurückblickt. Der Künstler ist der empfindlichste Indikator dieses Zustandes, der Gradmesser der Modernität.“[37]

Das Zusammenspiel von Bürgertum, Reflektiertheit, Künstlerexistenz und Verfall werde ich im Laufe dieser Arbeit nachvollziehen.

2.4 Dilettantismus

Der Begriff des Dilettantismus ist nicht leicht zu fassen und erlangte im Laufe der Zeit mehrere variierende Bedeutungen. Der moderne Dilettant bei Thomas Mann ist der Kunst zugeneigt und versucht durch ihre Ausübung der Langeweile seines Lebens zu entrinnen.[38] Doch bringt es der Dilettant in seiner Kunst zu keiner Meisterschaft, sondern bleibt auf einem niedrigen Niveau. So ist es bei den Künstlerfiguren Thomas Manns: Gleichgültig, in welcher Kunst sie sich üben, gleichgültig, wie stark ausgeprägt ihr Talent ist: sie bleiben Dilettanten.

Vaget kommt allgemein zu dem Schluss, dem modernen Dilettanten mangele es weniger an „Talent, Ausbildung, Prinzipien“ als an „erfüllte[m] Leben“[39]. Der Begriff des modernen Dilettanten schließt also schon ein gewisse Unzufriedenheit bezüglich des Lebens ein.

So bleiben die Begabungen des Bajazzos für Schauspiel, Dichtung, Zeichnen und Musik ungefördert. Sein Vater erkennt zwar des Bajazzos Talent zur Unterhaltung – daher auch der Name[40] – doch fördert er es nicht, da es ihm nicht für ein ‚ordentliches’ Leben zu taugen scheint. Der Bajazzo selbst sieht keine Notwendigkeit im Geldverdienen; als Dekadent par exellence kann er gut vom Vermögen seines Vaters, welches er anteilig erbt, leben. Zudem weigert er sich, das grundlegende Handwerk des Klavierspiels zu erlernen.[41] Er bleibt bei einer oberflächlichen Kunstausübung.

Friedemann hingegen kann es zu keiner Meisterschaft bringen, da er ‚verwachsen’ ist. Sein Körper und sein durch sich selbst beschränkter Geist scheinen nicht geeignet, das Geigenspiel zu vervollkommnen.

Hanno seinerseits ist beim Klavierspiel kreativ, jedoch technisch unbegabt.[42] Er sagt selbst von sich:

„»Was ist mit meiner Musik, Kai? Es ist nichts damit. Soll ich umherreisen und spielen? Erstens würden sie es mir nicht erlauben und zweitens werde ich nie genug dazu können. Ich kann beinahe nichts, ich kann nur ein bißchen phantasieren, wenn ich allein bin«“.[43]

Zudem bleibt er bei Wagner hängen und ist durch dessen Musik dem Untergang geweiht. Inwiefern sich Wagners Musik negativ auf die Lebensschwachen auswirkt, wird in Kapitel 4.2.2.1 erläutert.

Hanno findet in seiner Kunst kaum Unterstützung. Zugleich fehlt ihm die Willenskraft, sich gegen seinen Vater, der die Musik verabscheut und einen tatkräftigen Kaufmannssohn aus Hanno machen will, durchzusetzen. Die „Passivität [seiner] Beeindruckbarkeit“[44] macht Hanno zum Dilettanten.

„Ihm [Hanno Buddenbrook, PH] fehlt auch die Vitalität zu wirklicher Arbeit, sowie jeder Versuch oder Wille, seine Schwäche zu überwinden“.[45]

Anders steht es um Hannos Freund Kai: Dieser

„vereint seine Sensibilität und den scharfen Blick der Erkenntnis mit der Willenskraft zu Leben und Tat. Aus dieser Mischung erwächst der Künstler. Er schreitet von der Erkenntnis zur Produktion. Er ist dem Gang des Schicksals nicht wehrlos ausgeliefert, sondern kann ihn darstellen.“[46]

In der Figur des Kai Graf Mölln wird also das Gegenbild zu den lebensschwachen Dilettanten gezeichnet. Er ist ein Hypersensibler, dessen Willenskraft dennoch stark genug ist, ihn zum Künstler zu machen.

Der ideale Künstler Thomas Manns beherrscht die Technik seiner Kunst, die sich v. a. in der Form zeige. Für ihn besteht die „Moral des Künstlers“ aus

„Sammlung, sie ist die Kraft zur egoistischen Konzentration, der Entschluß zur Form, Gestalt, Begrenzung, Körperlichkeit, zur Absage an die Freiheit, die Unendlichkeit, an das Schlummern und Weben im unbegrenzten Reich der Empfindung, – sie ist mit einem Wort der Wille zum Werk.“[47]

Der Künstler braucht laut Thomas Mann also Disziplin und Willenskraft. Das sind Tugenden, an denen es seinen dekadenten Künstlerfiguren mangelt. Anders als der ideale Künstler vermögen es Thomas Manns frühe Künstlerfiguren daher nicht, ihr Genie umzusetzen. Ihr Talent erstickt in ihrer Lebensschwäche, obwohl beides denselben Ursprung hat: die Hypersensibilität.

Dilettantismus ist bei Thomas Mann ein wichtiges Symptom der Dekadenz, doch war dies zu seiner Zeit eine relativ junge Idee. Erst Ende des 19. Jahrhunderts erfuhren Dekadenz und Dilettantismus eine enge Verknüpfung.

„Im wesentlichen wurde der Dilettantismus als ein Syndrom der Lebensschwäche gedeutet, als ein haltloses, jede Bindung und Verantwortung scheuendes Verharren in einer dandyhaften, ästhetizistischen Lebensweise, das von der konservativen Kulturkritik in Frankreich (P. Bourget, M. Barrès, E. Renan) als unmoralisch und gesellschaftsschädigend angeprangert wurde.“[48]

Die Lebensschwachen müssen Dilettanten bleiben, weil die wahre Kunst, die regelgerechte und erfolgreiche, kreativ-produktive Ausübung ein Können wäre, welches dem praktischen Leben zu nahe stünde.

Die zeitgenössischen Begriffe lassen sich auf die Protagonisten von Thomas Mann übertragen. Man sieht, dass Faktoren aus Thomas Manns eigenem Leben und seiner Zeit sich in seinem Werk niederschlagen. Eine besondere Stellung haben die Theorien der Philosophen Nietzsche und Schopenhauer, welche ein eigenes Kapitel dieser Arbeit bilden.

3. Der Philosophische Hintergrund: Schopenhauer und Nietzsche als Vordenker

Unbestritten ist der Einfluss der philosophischen Theorien Schopenhauers und Nietzsches auf Thomas Manns Denken und Werk. Schon in den frühen Texten sind deutliche Bezüge zu entdecken. Zwar befasste Thomas Mann sich erst mit Friedrich Nietzsche und las später – vermutlich erst 1899 – Texte Arthur Schopenhauers,[49] doch da Nietzsche wiederum von Schopenhauers Philosophie ausging, schlägt sich auch jene unweigerlich in Thomas Manns Frühwerk nieder.[50]

Im Folgenden sollen die für Thomas Manns Frühwerk relevanten Theorien der beiden großen Philosophen betrachtet werden.

3.1 Schopenhauers Pessimismus

Arthur Schopenhauer lebte von 1788 bis 1860, sein bekanntestes Werk ist „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (veröffentlicht 1818). Dort stellt er die Theorie auf, dass die Welt allein in unserer Vorstellung existiere, und es nichts außerhalb jener Vorstellung gebe. Gleichzeitig sei die Wahrnehmung des Menschen fehlerhaft, denn das, was der Mensch für seinen Körper hält, sei in Wirklichkeit sein Wille.[51] Die Betonung des Willens, welche jener durch Schopenhauer erfahren hat, zog sich durch die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts.[52]

Nach Schopenhauers Ansicht ist der Wille keine individualisierte Erscheinung, sondern alles in der Welt, beseelte wie unbeseelte Natur, sind einem einzigen Willen unterstellt. Dieser ist

„böse oder doch jedenfalls der Ursprung all unserer endlosen Leiden. Alles Leben ist Leiden, und je größer die Erkenntnis wird, um so größer auch das Leid. Der Wille kennt kein bestimmtes Ziel, das zu erreichen etwa befriedigen würde.“[53]

Der ursprüngliche und unbedingte Wille ist – so Schopenhauer – der einzige Grund, warum die Menschen dem offenbar sinnlosen Leben nachstreben und den Tod fürchten.[54]

Dieser Pessimismus war es, in dem Thomas Mann sich bestätigt sah und der seine Faszination von Schopenhauer begründete. Dazu kommen der „glänzende Stil der Darlegung“ und die „gewaltige[...] Architektonik von Schopenhauers Hauptwerk“[55], welche überzeugend auf den Literaten Mann wirkten.[56] Das Geistige von Schopenhauers Philosophie rückte bei Thomas Manns Ergriffenheit in den Hintergrund; ihn fesselte „das erotisch-einheitsmystische Element dieser Philosophie, das ja auch die nicht im geringsten asketische Tristanmusik bestimmt hatte“[57].

So übernahm Thomas Mann nicht bestimmte Teilaspekte von Schopenhauer, sondern dessen Philosophie in Form einer bestimmten Weltsicht als Denkmodell.[58] Allerdings eignete er sich Schopenhauers Ideen nicht unreflektiert an, sondern wandelte sie an manchen Stellen ab. Während der Tod bei Schopenhauer eine Auflösung des Individuums und „die Rückkehr in das Wesen aller Dinge“[59] ist, bedeutet er für Thomas Mann Erlösung vom Willen und vom leidvollen Leben. In Wagners „Tristan und Isolde“ sah Thomas Mann Schopenhauers Todesmetaphysik vervollkommnet.[60] Jene Oper spielt in „Buddenbrooks“ eine Rolle. Welche, wird in Kapitel 4.2.2.1 ausgeführt.

Den Erlösungsgedanken, den Schopenhauer auch in der Verneinung des Willens zum Leben sieht, übernahm Thomas Mann nicht vorbehaltlos. So kommt es, dass der Tod im Frühwerk Manns nicht allein erlösend ist, sondern auch erschreckend.[61]

Wichtig ist der Pessimismus, der sich als Grundgedanke sowohl durch Schopenhauers als auch durch Thomas Manns Frühwerk zieht. Die durch Reflektieren entlarvte Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Lebens ist die Grundlage des Erlebens der frühen Protagonisten Thomas Manns.

3.2 Nietzsches lebensstarker Mensch

Friedrich Nietzsche (1844-1900) baute seine Philosophie auf den Lehren Schopenhauers auf. Doch während es bei Schopenhauer zu einer latenten Unvereinbarkeit zwischen allmächtigem Willen und Verzichtsethos kommt, steht bei Nietzsche der Wille „sowohl ethisch wie metaphysisch an erster Stelle“[62].

Darwins Theorie vom Überleben des Stärkeren bildete die Grundlage für Nietzsches Philosophie, in welcher Machtwille ein positiver Wert ist.[63] Nietzsche ist – anders als Schopenhauer – nicht Pessimist, sondern proklamiert den gesunden, lebensstarken Menschen, der dem Leben Sinn verleiht bzw. abgewinnt.

„Während Schopenhauer jeden Endzweck des Lebens verneint, findet Nietzsche an der Tatsache der Entwicklung des Menschengeschlechts die Möglichkeit eines Zweckes, der das Leben sich wieder bejahen lässt. Für Schopenhauer ist das Leben, weil es an sich selbst Wille ist, in letzter Instanz zur Wert- und Sinnlosigkeit verurteilt. Ihm geht völlig das Gefühl ab, das bei Nietzsche überall durchbricht: das Gefühl für die Feierlichkeit des Lebens. Aus dem Entwicklungsgedanken hat Nietzsche den, Schopenhauer gegenüber, völlig neuen Begriff vom Leben geschöpft: daß es seinem innersten Wesen nach Steigerung, Mehrung, Konzentrierung der umgebenden Weltkräfte auf das Subjekt ist. Durch diesen in ihm unmittelbar gelegenen Trieb und die Gewähr der Erhöhung, Bereicherung, Wertvollendung kann das Leben selbst zum Zweck des Lebens werden, und damit ist es der Frage nach einem sonstigen Endzweck enthoben. Während Schopenhauer den Primat eines einzigen Wertes kennt: des Nicht-Lebens – kennt Nietzsche den Primat des Lebens. Wie für jenen Selbsterhaltung und Sittlichkeit nur Mittel sind, die auf das Endziel der Verneinung des Lebens ausgehen, so sind diese und alle anderen Vollkommenheiten, wie Schönheit, Heiligung und metaphysische Vertiefung, für Nietzsche ein Mittel der Bejahung und Steigerung des Lebens. Diese Vorstellung vom Leben – der dichterisch-philosophische Ausdruck der Entwicklungsidee Darwins – stellt Nietzsches tiefste und notwendige Abbiegung von Schopenhauer dar.“[64]

Der vitale Mensch Nietzsches tritt auch bei Thomas Mann auf.[65] Vor allem in Gestalt der ‚Blonden und Blauäugigen’, die von seinen Protagonisten, welche so anders sind, bewundert und geliebt werden.

Im Jahre 1894, also mit 19 Jahren, lernt Thomas Mann Nietzsches Philosophie kennen,[66] mit welcher er sich noch bis zum Ende seiner Arbeit an „Doktor Faustus“ beschäftigt.[67]

Wie Thomas Mann bewunderte Nietzsche Richard Wagner, wandte sich jedoch u. a. wegen der ihm zu christlichen Oper „Parsifal“ von ihm ab und verfasste infolgedessen mehrere polemische Kritiken über Wagner.[68]

Russel bemerkt dazu:

„Im allgemeinen aber ist eine sehr große Ähnlichkeit zwischen seiner Weltanschauung und der von Wagner im »Ring« vertretenen festzustellen; Nietzsches Übermensch ist ein zweiter Siegfried, der allerdings Griechisch kann.“[69]

Schopenhauer, Nietzsche und Wagner bildeten das große ‚Dreigestirn’, welches Thomas Manns Denken und Werk beeinflusste. Auf die große Rolle Wagners wird in Kapitel 4.2.2.2 dieser Arbeit eingegangen.

Anders als Schopenhauers Philosophie hatten Nietzsches Theorien eher „geistig-künstlerische“ als „ seelische[70] Wirkung auf den jungen Thomas Mann. Er sagt über sich selbst und sein Verhältnis zu Nietzsche:

„[I]ch nahm nichts wörtlich bei ihm, ich glaubte ihm fast nichts, und gerade dies gab meiner Liebe zu ihm das Doppelschichtig-Passionierte, gab ihr die Tiefe. Seine Verherrlichung des ›Lebens‹ auf Kosten des Geistes, diese Lyrik, die im deutschen Denken so mißliche Folgen gehabt hat, – es gab nur eine Möglichkeit, sie mir zu assimilieren: als Ironie.“[71]

[...]


[1] Thomas Mann: Buddenbrooks. – 54. Aufl. – Frankfurt a. M.: Fischer 2004, S. 743.

[2] Vgl. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung. – 2., überarb. Aufl. – München: Beck 1991, S. 27.

[3] Vgl. C. A. M. Noble: Krankheit, Verbrechen und künstlerisches Schaffen bei Thomas Mann. – Europäische Hochschulschriften. Reihe I, Deutsche Literatur und Germanistik. Bd. 30. Bern: Lang 1970, S. 75.

[4] Noble (1970): S.114.

[5] Helmut Koopmann: Thomas Mann. Konstanten seines literarischen Werks. – Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, S.19.

[6] Vgl. André Banuls: Thomas Mann. Leben und Persönlichkeit. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart: Kröner 1990, S. 1 ff.

[7] Vgl. Kurzke (1991): S. 26.

[8] Vgl. Kurzke (1991): S. 27.

[9] Vgl. Koopmann (1975): S. 37.

[10] Koopmann (1975): S. 9.

[11] Koopmann (1975): S. 19 f.

[12] Peter de Mendelssohn (Hrsg.): Thomas Mann. Briefe an Otto Grautoff 1894 bis 1901 und Ida Boy-Ed 1903 bis 1928. Frankfurt a. M.: Fischer 1975, S. 97.

[13] Vgl. Kurzke (1991), S.58.

[14] Kurzke (1991), S. 27.

[15] Karl Werner Böhm: Zwischen Selbstzucht und Verlangen. Thomas Mann und das Stigma der Homosexualität. Untersuchungen zu Frühwerk und Jugend. In: Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte. Hg. von Heinz Dollinger, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Band 2. Würzburg: Königshausen und Neumann 1991, S. 133.

[16] Paul Julius Möbius: Geschlecht und Entartung. – Halle an der Saale: Marhold 1903.

[17] Vermutlich im Jahre 1911 hat Thomas Mann zum ersten Mal eine Schrift Sigmund Freuds gelesen. Vgl. Manfred Dierks: Thomas Mann und die Tiefenpsychologie. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart: Kröner 1990, S. 284.

[18] Vgl. Dierks (1990): S. 286 f.

[19] Dierks (1990): S. 287.

[20] Jean Finck: Thomas Mann und die Psychoanalyse. – Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et lettres de l’Université de Liège. Fascicule CCIV. Paris 1973, S. 328.

[21] Vgl. Kurzke (1991): S. 39.

[22] Vgl. Kurzke (1991): S. 28.

[23] Kurzke (1991): S. 44.

[24] Kurzke (1991): S. 32.

[25] Vgl. Hellmut Haug: Erkenntnisekel. Zum frühen Werk Thomas Manns. Tübingen: Niemeyer 1969, S. 6 f.

[26] Haug (1969): S. 7.

[27] Vgl. Ebd.

[28] Hans Rudolf Vaget: Die Erzählungen. – In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart: Kröner 1990, S. 540.

[29] Vgl. Michael Neumann: Thomas Mann. Romane. – Klassiker Lektüren; Bd. 7. – Berlin: Erich Schmidt 2001, S. 25 f.

[30] Ernst Keller: Das Problem »Verfall«. In: Ken Moulden, Gero von Wilpert (Hrsg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart: Kröner 1988, S. 157 ff.

[31] Kurzke (1991): S. 44 f.

[32] Vgl. Ebd.

[33] Vgl. Kurzke (1991): S. 45.

[34] Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. – In: Peter de Mendelssohn (Hrsg.): Thomas Mann. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurt a. M.: Fischer 1983, S. 105.

[35] Vgl. Wolfdietrich Rasch: Thomas Mann und die Décadence. In: Beatrix Bludau, Eckhard Heftrich, Helmut Koopmann (Hrsg): Thomas Mann 1875-1975. Vorträge in München – Zürich – Lübeck. Frankfurt a. M.: Fischer 1977, S. 271.

[36] Vgl. Neumann (2001): S. 27.

[37] Kurzke (1991): S. 88.

[38] Vgl. Hans Rudolf Vaget: Der Dilettant. Eine Skizze der Wort- und Bedeutungsgeschichte. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Bd. 14, Stuttgart: Kröner 1970, S. 156.

[39] Vaget (1970): S. 158.

[40] „Bajazzo“ bedeutet im Italienischen Spaßmacher, Possenreißer.

[41] Vgl. Thomas Mann: Der Bajazzo, S. 107 f.

[42] Ken Moulden: Die Musik. In: Ken Moulden, Gero von Wilpert (Hrsg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart: Kröner 1988, S. 314.

[43] Thomas Mann: Buddenbrooks, S. 743.

[44] Neumann (2001): S. 29.

[45] Noble (1970): S. 95.

[46] Neumann (2001): S. 30 f.

[47] Thomas Mann: Über mich selbst. Autobiographische Schriften. – In: Peter de Mendelssohn (Hrsg.): Thomas Mann. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frankfurt a. M.: Fischer 1983, S. 160.

[48] Hans Rudolf Vaget: Thomas-Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München: Winkler 1984, S. 68.

[49] Vgl. Gero von Wilpert: Die Philosophie. In: Ken Moulden, Gero von Wilpert (Hrsg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart: Kröner 1988, S. 296. Børge Kristiansen datiert die erste Schopenhauer-Lektüre Thomas Manns allerdings schon auf die Jahre 1895 und 1896 und kann daher schon frühere Erzählungen Manns mit Hilfe der Schopenhauer-Rezeption interpretieren. Ohne die Diskussion beeinflussen zu wollen gehe ich von einem späteren Lektüredatum aus. Vgl. Børge Kristiansen: Thomas Mann und die Philosophie. In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart: Kröner 1990, S. 276.

[50] Vgl. Von Wilpert (1988): S. 300.

[51] Vgl. Bertrand Russel: Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung. – 10. Aufl. – Zürich: Europa 2001, S. 762.

[52] Vgl. Russel (2001): S. 760.

[53] Russel (2001): S. 762 f.

[54] Vgl. Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, 2. Bd., Frankfurt a. M., Leipzig: Insel 1996, S. 464.

[55] Terence J. Reed: Thomas Mann und die literarische Tradition. In: Helmut Koopmann (Hrsg): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart: Kröner 1990, S. 118.

[56] Renner formuliert in Bezug auf Thomas Manns Essay „Schopenhauer“ so vielsagend: „Und in dem Maß, wie in ihm der Pessimismus des Künstlers und der Weltpessimismus des Philosophen miteinander zur Deckung gelangen, erscheint der Philosoph als Künstler, der sich auf ihn beziehende Essayist und Künstler als Philosoph.“ Rolf G. Renner: Literaturästhetische, kulturkritische und autobiographische Essayistik. – In: Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart: Kröner 1990, S. 647.

[57] Thomas Mann: Über mich selbst, S. 113.

[58] Vgl. Kristiansen (1990): S. 277.

[59] Kristiansen (1990): S. 279.

[60] Vgl. Kristiansen (1990): S. 280.

[61] Vgl. Ebd.

[62] Russel (2001): S. 767.

[63] Vgl. Terence J. Reed (1990): S. 99.

[64] Noble (1970): S. 107.

[65] Vgl. Thomas Mann: Über mich selbst, S. 112.

[66] Nach Kurzke Hermann begann Thomas Mann erst 1895 mit der Nietzsche-Lektüre. Vgl. Kurzke (1991): S. 41.

[67] Vgl. Kristiansen (1990): S. 260.

[68] Russel (2001): S.767.

[69] Ebd.

[70] Thomas Mann: Über mich selbst, S. 112.

[71] Thomas Mann: Über mich selbst, S. 111 f.

Ende der Leseprobe aus 87 Seiten

Details

Titel
Lebensschwäche und Dekadenz im Frühwerk von Thomas Mann
Untertitel
Über den Determinismus und Pessimismus in den frühen Erzählungen und der Geschichte des Hanno in „Buddenbrooks“
Hochschule
Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen
Autor
Jahr
2008
Seiten
87
Katalognummer
V192570
ISBN (eBook)
9783668142558
ISBN (Buch)
9783668142565
Dateigröße
678 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
lebensschwäche, dekadenz, frühwerk, thomas, mann, über, determinismus, pessimismus, erzählungen, geschichte, hanno, buddenbrooks
Arbeit zitieren
Paula Hesse (Autor:in), 2008, Lebensschwäche und Dekadenz im Frühwerk von Thomas Mann, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192570

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