Der verfassungsrechtliche Widerspruch der „Radbruchschen Formel“ und des „nulla poena sine lege“ - Grundsatzes


Essay, 2012

13 Seiten


Leseprobe


I. Die Idee Radbruchs

„ Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit d ü rfte dahin zu l ö sen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckm äß ig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Ma ß erreicht, dass das Gesetz als ‚ unrichtiges Recht ‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.

Es ist unm ö glich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚ unrichtiges ‘ Recht, vielmehr entbehrt es ü berhaupt der Rechtsnatur.

Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen. “ 1

Diese in die rechtsphilosophische Ideengeschichte eingegangene Textpassage stammt aus einer Schrift, die der deutsche Rechtsgelehrte Gustav Radbruch im Jahre 1946 veröffentlicht hatte. Diese Schrift befasste sich im Wesentlichen mit dem Konflikt eines Richters, der zwischen den Möglichkeiten schwankt, eine ihm ungerecht erscheinende Norm des positiven Rechts entweder anzuwenden oder sie zugunsten der materiellen Gerechtigkeit zu verwerfen (Ausnahmesituation).

Gustav Radbruch wurde 1878 in Lübeck geboren. Er promovierte und habilitierte über strafrechtsdogmatische Themen und erlangte 1914 eine außerordentliche Professur in Königsberg. Nach dem Ende des ersten Weltkriegs wurde er im Jahr 1919 für die SPD in den Reichstag gewählt, ein für einen Universitätsprofessor damals ganz ungewöhnlicher Vorgang. Über die Grenzen seiner Zunft hinaus wurde er als Reichsjustizminister in den Kabinetten Wirth und Stresemann in den Jahren 1921 und 1923 bekannt. Dabei war er vor allem mit Fragen der Justiz- und der Strafrechtsreform befasst. Ab 1926 wirkte Radbruch als Professor in Heidelberg, bis er 1933 von den Nationalsozialisten unter Berufung auf das ”Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums” entlassen wurde. Aufgrund seiner deutlichen und unbestrittenen rechtlichen und moralischen Distanz zum Nationalsozialismus wurde er bereits im September 1945 in Heidelberg wieder in seine Ämter als ordentlicher Professor eingesetzt. Vier Jahre später starb er am 23. November 1949.

Radbruch unterscheidet im Grundsatz drei Typen ungerechter Gesetze. Den drei Gesetzestypen stehen drei Aussagen bezüglich der rechtlichen Geltung dieser Gesetze gegenüber:

(1) Positive Gesetze müssen auch dann angewendet werden, wenn sie ungerecht und unzweckmäßig sind.
(2) „Unerträglich“ ungerechte Gesetze müssen der Gerechtigkeit weichen.
(3) Falls Gesetze nicht einmal das Ziel verfolgen, gerecht zu sein, sind sie kein Recht.

Adressat der Radbruchschen Formel ist die Rechtsprechung. Die Formel postuliert zunächst folgende Grundregel: Das positive Recht verdiene aus Gründen der Rechtssicherheit im Prinzip auch dann gegenüber nichtpositivierten Gerechtigkeitsgrundsätzen den Vorzug, wenn es sich als ungerecht erweise. Insoweit stimmt Radbruchs Position mit derjenigen des Rechtspositivismus überein. Gleichzeitig betont Radbruch, dass Gerechtigkeit und Rechtssicherheit als aus der „Idee des Rechts“ entspringende Forderungen prinzipiell gleichrangig seien. Keiner dieser beiden Seiten der Rechtsidee gebühre der Vorrang vor der jeweils anderen. Es handle sich um gleichberechtigte, einander jedoch potentiell widersprechende Forderungen. Diese beiden Prämissen - die prinzipielle Gleichrangigkeit und die Konfliktgeneigtheit - führen Radbruch zu einer vom Rechtspositivismus abweichenden Schlussfolgerung: Das Prinzip der Rechtssicherheit müsse zumindest dann gegenüber dem Prinzip der Gerechtigkeit zurücktreten, wenn die Ungerechtigkeit des fraglichen Gesetzes ein bestimmtes Maß überschreite, mit Radbruchs Worten also „unerträglich“ werde.

Die Radbruchsche Formel, die oft mittels der Kurzform „Extremes Unrecht ist kein Recht“ zusammengefasst wird, enthält bei genauerer Betrachtung zwei eigenständige und voneinander unabhängige Teilformeln, die allgemein einerseits als „Unerträglichkeitsformel“ und andererseits als „Verleugnungsformel“ bezeichnet werden.

Die „Unerträglichkeitsformel“ entpflichtet den Richter dann von seiner grundsätzlichen Bindung an das positive Recht, wenn er es für auf unerträgliche Weise ungerecht hält. In solchen Fällen trete der prinzipielle Vorrang des positiven Rechts zurück und auch eine geschriebene Norm müsse der materiellen Gerechtigkeit weichen. Die Grenzen zwischen „richtigem“, „unrichtigem“ und „unerträglich unrichtigem“ Recht sind nach Radbruch dabei fließend und eine nur unscharf zu ziehende Frage des rechten Maßes.

Nach der „Verleugnungsformel“ ist ein Gesetz, das Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt, demnach bereits kein Recht im Sinne des Rechtsbegriffs. Im Gegensatz zur „Unerträglichkeitsformel“ knüpft die „Verleugnungsformel“ nicht primär an die Eigenschaften des fraglichen Gesetzes, sondern an die Intentionen des Gesetzgebers an. Überwiegend wird jedoch die Ansicht vertreten, dass auch die Verleugnungsformel einer objektiven Auslegung zugänglich sei. Ein Rückgriff auf die tatsächlichen Regelungsabsichten des Gesetzgebers sei nicht nötig. Entscheidend sei vielmehr der im Gesetzeswortlaut „objektivierte Wille des Gesetzgebers“. Darüber hinaus wird die These vertreten, dass eine subjektive Deutung der Verleugnungsformel Radbruchs Rechtsphilosophie verfehle, da dieser auch innerhalb seiner juristischen Methodenlehre die objektive

Gesetzesauslegung („Zweck des Gesetzes“) gegenüber der subjektiven („Zwecke des Gesetzgebers“) bevorzugt habe.

Der heute herrschenden Lehre zufolge setzt die Radbruchsche Formel die erkenntnistheoretische Möglichkeit voraus, objektiv überhaupt zwischen „gerechten“ und „ungerechten“ Gesetzen unterscheiden zu können. Teilweise wird darauf hingewiesen, dass die Radbruchsche Formel erkenntnistheoretisch im Wege der Falsifikation vorgehe: Die Radbruchsche Formel versuche nicht, positiv festzustellen, was gerecht sei (Verifikation). Sie beschränke sich darauf, negativ festzustellen, welche Gesetze jedenfalls „extrem ungerecht“ seien. Dieses erkenntnistheoretisch negative Verfahren sei leichter durchzuführen und weniger Einwänden ausgesetzt als das entgegengesetzte positive Verfahren.

Die Radbruchsche Formel ist ersichtlich durch die Erfahrung des nationalsozialistischen Terrors geprägt. Radbruch nennt selbst einzelne Beispiele gesetzlichen Unrechts, etwa Bestimmungen, durch welche die NSDAP „die Totalität des Staates für sich beanspruchte”, Normen die „Menschen als Untermenschen behandelten und ihnen die Menschenrechte versagten”, sowie Straftatbestände, die Delikte „verschiedenster Schwere mit der gleichen Strafe, häufig der Todesstrafe, bedrohten.”

Nach Radbruchs Auffassung hatte der Rechtspositivismus wesentlich zum Versagen der Justiz im Dritten Reich beigetragen - eine These, die nach dem Krieg pikanterweise von Juristen geteilt wurde, die im Dritten Reich hohe Funktionen ausgeübt hatten. Diese Kritik am Positivismus wird von der heutigen Lehre nicht mehr geteilt. Denn das völkische Denken der Nationalsozialisten nahm seinerseits Naturrechtstraditionen für sich in Anspruch. Dies wurde durch eine veränderte Auslegung materiell-rechtlich unveränderter Normen des BGB, z.B. unter Rassegesichtspunkten, erreicht. Ebenfalls wurde die vom positivistischen Standpunkt aus betonte strikte Gesetzesbindung als Zeichen des bankrotten bürgerlichen Liberalismus verworfen und durch das „gesunde Volksempfinden” ersetzt.

Dass Radbruch selbst zu keiner Zeit ein „klassischer” Gesetzespositivist war, zeigt seine Lehre von der Idee des Rechts, wonach das Recht nicht nur Rechtssicherheit verwirklichen, sondern auch zweckmäßig und gerecht sein soll. Allerdings hat Radbruch den Gegensatz zwischen Rechtssicherheit und Gerechtigkeit gesehen und ihn als Antinomie bezeichnet. Grund für die größere Betonung der Rechtssicherheit bis 1933 ist sein relativistischer Standpunkt, den man freilich nicht mit einem Bekenntnis zur Beliebigkeit verwechseln darf, sondern in dem sich die tiefe Skepsis vor der Möglichkeit absoluter Erkenntnis ausdrückt.

Nach 1933 verschiebt sich das Verhältnis von Relativismus und Naturrecht in dem Maße, wie Radbruch seinen zuvor lediglich auf die Gleichheit reduzierten formalen Gerechtigkeitsbegriff materialisiert und mit den zentralen Forderungen des neuzeitlichen Vernunftrechts auflädt: Liberalismus, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte. Auf der anderen Seite relativiert Radbruch seine Formel wieder, wenn er im Jahr 1947 mitten in der Rennaissance des Naturrechtsdenkens von den Gerichten die Beachtung des geschriebenen Gesetzes anmahnt: „Wir sind uns der Gefahren der Anerkennung übergesetzlicher Rechte ... voll bewusst. In aller Regel wird auch in der Zukunft der Rechtspositivismus, die Anerkennung des Gesetzes ohne Rücksicht auf die Wertung seines Inhalts, das letzte Wort behalten müssen”2.

II. Die Rückwirkungsproblematik

1. Das Grundgesetz (GG)

Der historische Hintergrund der Radbruchschen Formel leitet unmittelbar über zur Problematik des Rückwirkungsverbots. Die Suche nach dem Rechtsbegriff hat nicht umsonst Konjunktur in Zeiten des Systemumbruchs und des grundlegenden Wertewandels. So erhoffen sich die Verlierer eines Unrechtssystems, daß sich nunmehr die Gerechtigkeit gegen die frühere Unterdrückung durchsetze und ihnen Genugtuung zuteilwerde. Die Funktionsträger der früheren Elite berufen sich dagegen mit dem Satz: ”Was damals Recht war, muß Recht bleiben” auf die äußerliche Übereinstimmung ihrer Maßnahmen mit dem früheren positiven Recht. Die neue Ordnung, der die Bewältigung der Vergangenheit auch mit den Mitteln des Rechts aufgegeben ist, muß nunmehr eine Lösung dieses Konflikts finden. Die rechtliche - und zugleich auch rechtsstaatliche - Vorgabe enthält das Rückwirkungsverbot.

Die bekannteste Norm ist Art. 103 Abs. 2 GG. Nach dem inhaltsgleichen §

1 StGB kann eine Tat nur bestraft werden, „wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.” Der Umfang der Strafbarkeit, das deliktische Verhalten sowie die Strafandrohung, muss also zum Zeitpunkt der Tat durch ein förmliches Gesetz bestimmt sein.

[...]


1 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105, 107.

2 Erwiderung (1947) in: Kaufmann (Hrsg.), Gustav Radbruch Gesamtausgabe; Band 3: Rechtsphilosophie III, S. 104 ff.; Heidelberg 1990

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Der verfassungsrechtliche Widerspruch der „Radbruchschen Formel“ und des „nulla poena sine lege“ - Grundsatzes
Autor
Jahr
2012
Seiten
13
Katalognummer
V192106
ISBN (eBook)
9783656175834
ISBN (Buch)
9783656176176
Dateigröße
489 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
widerspruch, radbruchschen, formel, grundsatzes, problem
Arbeit zitieren
Nils Block (Autor:in), 2012, Der verfassungsrechtliche Widerspruch der „Radbruchschen Formel“ und des „nulla poena sine lege“ - Grundsatzes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/192106

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Der verfassungsrechtliche Widerspruch der „Radbruchschen Formel“ und des „nulla poena sine lege“ - Grundsatzes



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden