Ludwik Flecks Erkenntnistheorie und der Begriff des Wirtschaftswachstums

Auf der Suche nach dem Denkstil der neoklassischen Ökonomie


Diplomarbeit, 2012

111 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Hauptabschnitt
2.1 Der Begriff der Tatsache
2.2 Die Krise der Wirklichkeit
2.3 Ludwik Flecks Erkenntnistheorie
2.3.1 Der Denkstil
2.3.2 Gestaltsehen
2.3.3 Das Denkkollektiv
2.3.4 Wissenschaftliche Denkkollektive
2.3.5 Denkstilbeharrende Kräfte
2.3.6 Dynamik wissenschaftlicher Denkkollektive
2.3.7 Die Gestalt der Prä-Idee als absolute Metapher

3. Praktischer Hauptabschnitt
3.1 Die wissenschaftstheoretische Prä-Idee der Ökonomie
3.2 Der Tatsachenbegriff in der Neoklassik
3.3 Der Begriff des Wirtschaftswachstums
3.3.1 Die Last der Tradition - der Begriff des Wachstums
3.3.2 Die Reihenfolge des Erkennens
3.3.3 Das Gewicht der Erziehung - Textanalyse des gegenwärtigen Standardwerkes
3.4 Beharrungstendenzen wissenschaftlicher Denkkollektive
3.5 Dynamik wissenschaftlicher Denkkollektive

4. Schluss

Literaturverzeichnis

Eidesstaatliche Erklärung

Curriculum Vitae

Abstract

1. Einleitung

„ Ein philosophisches Problem hat die Form: ‚ Ich kenne mich nicht aus. ‘“ 2

Der Begriff des Wirtschaftswachstums taucht an prominenter Stelle im Titel auf. Es darf gleich zu Beginn die Frage gestellt werden, warum ein fachfremder Begriff einen so zentralen Platz in einer philosophischen Diplomarbeit einnimmt. Was berechtigt das Wirtschaftswachstum hier eine solche Aufmerksamkeit zu erregen?

Die Gründe liegen in einer Art Dauerpräsenz im gegenwärtigen öffentlichen Bewusstsein. Der Begriff ist nicht bloß fachlicher Natur, sondern ein allgemein gebräuchlicher geworden. Jedes politische Grundsatzprogramm kommt ohne ihn nicht aus. Gleichzeitig verhält sich die Verwendung des Begriffs umgekehrt proportional zu seinem Vorhanden sein. Das Wort ist umso öfter zu hören, je weniger es in der Wirklichkeit feststellbar ist. Eine empirische Abwesenheit von Wachstum führt zu vermehrter sprachlicher Verwendung, die sich als eine Ermahnung interpretieren lässt. Eine Ermahnung an die Wirklichkeit, die sich nicht so verhält, wie sie sich verhalten soll.

Die zyklische Abwesenheit ist mittlerweile kein Problem mehr, spätestens Keynes hat uns mit seiner Konjunkturtheorie vor dieser Irritation befreit. Kritisch jedoch wird es, wenn nach einem Abschwung der Aufschwung auf sich warten lässt. Die Aussichtslosigkeit von Wachstum mündet zwangsweise in einer Art Dauerkrise gesellschaftlicher Verhältnisse. Denn wenn jemand von Wachstum spricht, meint er immer auch gesellschaftliche Stabilität.

Die bewertende Auslegung des Begriffs lässt sich nicht abstreiten. Der normative Charakter kommt umso stärker zum Ausdruck, wenn Sein und Sollen auseinanderfallen. Diese Differenz treibt die gesellschaftliche Debatte, zumindest in Europa, an. Es ist für mich daher nur konsequent, sich mit dieser Spannung auseinander zu setzen, weil sie gegenwärtig vorliegt. Dieser Irritation im eigenen Denken gilt es mit Hilfe der Diplomarbeit nachzugehen, wo immer der Weg auch hinführen mag. Philosophie beginnt genau dort, wo man sich nicht auskennt und wo die Antworten unbefriedigend erscheinen. Das kann daran liegen, dass die Antwort wirklich unbefriedigend ist, oder dass man die Antwort nicht gut genug versteht.

Nun ist von der philosophischen Herangehensweise noch nichts gesagt, sondern nur über deren Ausgangspunkt. Der Begriff des Wirtschaftswachstums ist wissenschaftlich unterfüttert. Er ist nicht bloße Meinung oder gar ein zur Gestalt verdichtetes Gerücht, sondern der Begriff ist in der Wirtschaftswissenschaft verankert. Er ist fester Bestandteil der spezifischen wissenschaftlichen Sprache. Als Philosoph kann man fragen, wie es zu dieser Etablierung des Begriffs gekommen ist. Die wissenschaftliche Vorgehensweise und Bewertung wissenschaftlicher Erkenntnis passiert nicht nur innerhalb von wissenschaftlichen Disziplinen, sie ist Gegenstand der Wissenschaftstheorie überhaupt. Sie ist ein Teilgebiet der Erkenntnistheorie, die wiederum seit jeher einen Kernbereich der Philosophie ausmacht. Erkenntnistheoretische Überlegungen fragen nach allgemeinen Prinzipien der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt. Der Begriff des Wirtschaftswachstums baut auf einer wissenschaftlich fundierten Erkenntnis auf. Als konkretes Beispiel einer wissenschaftlichen Tatsache spiegelt sich in ihr das methodologische Selbstverständnis von Erkenntnis in ihm wider.

Eine breit akzeptierte, gängige Auffassung vertrat den Ansatz, dass jede wissenschaftliche Theorie ein Bild der Realität entwirft. Im Gegensatz zur Kunst geht es der Wissenschaft vor allem darum, ein möglichst wirklichkeitsgetreues Abbild zu erzeugen. Die Erkenntnistheorie fragt nach dem Verhältnis von Abbild zu Realität überhaupt. In der Wissenschaftstheorie, die sich nur um wissenschaftliche Erkenntnisse kümmert, versucht man in weiterer Folge Strategien zu entwickeln, die einer strukturellen Identität von Abbild (Theorie) und Realität (Wirklichkeit) möglichst nahe kommen. Jeder wissenschaftlichen Theorie oder Aussage laufen solche Strategien vorher. Ziel der Arbeit ist es, die Denkbedingungen, die der wissenschaftlichen Tatsache von Wirtschaftswachstum in der Wirtschaftswissenschaft vorherlaufen, aufzuspüren.

Mit der Monographie Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache wagte Ludwik Fleck eine allgemeine Erkenntnistheorie, die daher den Anspruch hat, auch wirtschaftswissenschaftliche Theorien zu erklären. Er war kein gelernter Philosoph (im Sinne einer akademischen Ausbildung), sondern Mediziner, der sich mit dem Entstehen einer wissenschaftlichen Tatsache auf Basis seiner praktischen Erfahrungen innerhalb der Medizin beschäftigte. Seine einzige Monographie erschien 1935 in Basel3, die bis zum Zeitpunkt von Kuhns äußerst erfolgreichem Werk4 weitgehend unbeachtet blieb. Gegenwärtig erfährt Flecks Buch einen weiteren Aufmerksamkeitsschub, und so landete das Buch auch in meinen Händen.

Fleck radikalisiert die soziologisch akzentuierte Wissenschaftstheorie und formuliert sie als allgemeine Erkenntnistheorie, wonach jeder Gedanke von historischen und sozialen Einflüssen durchtränkt ist, davon können sich auch wissenschaftliche Theorien nicht befreien. Er begründet seine Ausführungen auf seinen experimentellen Erfahrungen im Bereich der Immunologie.5 Jeder wissenschaftlichen Theorie laufen verinnerlichte Denkzwänge vorher, die sich nicht rational erklären lassen. Fleck versucht nun die unterschiedlichen Formen solcher Denkzwänge freizulegen und sieht die gestaltenden Kräfte im Kollektiv gelegen. Der sozialen und historischen Befangenheit wissenschaftlicher Theorien sei, so Fleck, bisher in der Erkenntnistheorie zu wenig Beachtung geschenkt worden.

Die Arbeit versucht sich nun der wissenschaftlichen Aussage des Wirtschaftswachstums aus Fleckscher Perspektive zu nähern. Dabei beschränkt sie sich nicht auf das konkrete Fallbeispiel, vielmehr soll das konkrete Fallbeispiel dazu dienen, allgemeine erkenntnistheoretische Überlegungen anzustellen. Im Mittelpunkt solcher Überlegungen stehen Erkenntnisse, die bei Fleck Tatsachen genannt werden.

Am Beginn steht eine allgemeine Annäherung an den Begriff der Tatsache. Dabei tauchen auch die Begriffe Wahrheit, Wirklichkeit und Sprache auf, deren knappe Erläuterung und ihr Verhältnis zueinander wichtig sein werden. Ist diese Vorarbeit vollzogen, steht dem Fleckschen Tatsachenbegriff nichts mehr im Wege. Davon ausgehend soll die Erkenntnistheorie in einem ersten großen Abschnitt (theoretischer Hauptabschnitt - Kapitel 2) dargestellt werden. Dabei folgen Erläuterungen der Kernbegriffe Denkstil, Denkkollektiv, Denkzwang, Ur-Idee, aktive und passive Koppelungen. Das Verhältnis von Tatsache zu Wahrheit und Wirklichkeit soll in weiterer Folge die wissenschaftstheoretischen Konsequenzen seiner Ausführung erahnen lassen. Damit ist es ein Leichtes, seine Theorie einer philosophischen Strömung zuzuordnen.

Danach steht eine nähere Beschäftigung mit der Theorie der Metapher an. Die Metapher als heuristische Anlage soll ausgearbeitet werden und ihre Nähe zum Begriff der Prä-Idee dargelegt werden.

Im zweiten Teil der Arbeit (praktischer Hauptabschnitt - Kapitel 3) wird eine Operationalisierung der Grundüberlegungen von Fleck versucht. Dabei geht es darum, die Entstehung und Entwicklung einer wirtschaftswissenschaftlichen Tatsache nach Fleckscher Manier nachzuzeichnen. Zu Beginn steht das Selbstverständnis der eigenen wissenschaftlichen Vorgehensweise im Vordergrund - die wissenschaftstheoretische Prä- Idee. Sie versucht auf die grundlegenden, impliziten Hypothesen aufmerksam zu machen, die als solche die Strategie der Forscher vorgeben, ohne dass sie in weiterer Folge in Frage gestellt wird.

Danach rückt der Wachstumsbegriff ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die sozialhistorischen Momente dieser Tatsache werden in drei Elemente gegliedert. Den Beginn macht die historische Analyse - die Last der Tradition. Ein historischer Rückblick soll die Verwendung des Begriffs in der Vergangenheit aufzeigen, um die Gewöhnungskräfte, die auf die gegenwärtige Verwendung einwirken, freizulegen. Das zweite Glied befasst sich kurz mit der Reihenfolge des Erkennens von Tatsachen und seiner epistemologischen Relevanz. Das dritte und letzte Glied wird wieder ausführlicher behandelt - das Gewicht der Erziehung. Gegenstand der Auseinandersetzung ist die Textanalyse des gegenwärtigen Standardwerkes der akademischen Wirtschaftswissenschaft von Samuelson und Nordhaus. Die Analyse beschränkt sich auf das Wachstumskapitel. Dabei sollen die zur Selbstverständlichkeit gewordenen Begriffe und Aussagen herausgeschält werden. Diese Selbstverständlichkeiten verweisen auf den übergeordneten Rahmen sozialhistorischer Einflüsse um die es geht, will man den Denkstil erfassen.

Die letzen zwei Unterkapitel befassen sich mit den Beharrungstendenzen und den Dynamiken wissenschaftlichen Wissens. Erst dadurch wird wissenschaftlicher Fortgang in seiner Bewegung begreifbar.

Am Ende (Schluss - Kapitel 4) steht das obligatorische Resümee als Endabrechnung der Arbeit. Die Rechnung ist dann aufgegangen, wenn auf Zusammenhänge hingewiesen wird, denen in der Regel wenig Beachtung geschenkt wird. Wenn die Arbeit damit dienen kann, so hat sie es auch geschafft, den Forschungsdrang und die Forschungsfrage zu beantworten, die folgendermaßen aussieht:

Welcher Denkstil läuft der Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum in der gegenwärtig herrschenden ökonomischen Theorie vorher?

2. Theoretischer Hauptabschnitt

Der erste von zwei großen Abschnitten widmet sich der theoretischen Ausarbeitung der Erkenntnistheorie von Ludwik Fleck. Dabei soll der Begriff der Tatsache jener Begriff sein, der durch die einzelnen Unterabschnitte führt. Als Orientierungspunkt soll er so etwas wie den roten Faden der Diplomarbeit mimen. Die Legitimation dafür erhält er in doppelter Hinsicht. Ludwik Fleck verwendet den Begriff in seiner einzigen Monographie und die Haltung, die man gegenüber ihm einnimmt, legt zentrale erkenntnistheoretische Grundpositionen frei. Was man unter der Tatsache versteht zeigt, welcher erkenntnistheoretischen Grundposition man verfallen ist. Ihn zum roten Faden der Arbeit zu erklären, hat demnach triftige Gründe.

2.1 Der Begriff der Tatsache

„ Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge. “ 6

Es lässt sich gleich zu Beginn ein erster Verweis auf einen Namensvetter von Ludwik Fleck, Ludwig Wittgenstein anstellen. Denn eines haben die beiden Autoren gemeinsam: Auch Wittgenstein stellt den Begriff der Tatsache an den Beginn seiner Überlegungen. Dieser beginnt in seinem Frühwerk mit der Behauptung, die Welt sei ein Surrogat aus Tatsachen und nicht aus Dingen.

Ludwik Fleck beginnt seine einzige Monographie mit der Frage: „Was ist eine Tatsache?“7 Beide stellen also die Tatsache in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis. Doch was unterscheidet den Begriff der Tatsache von Erkenntnis und Wissen, jenen Begriffen, ohne die eine Erkenntnistheorie nicht auszukommen scheint? Es macht daher bereits an dieser Stelle Sinn, eine erste Begriffsklärung zu versuchen, bevor der Begriff der Tatsache näher beleuchtet wird.

Ludwik Fleck war nicht unbedingt einer, der sich um eine präzise Begriffsklärung bemühte. Er definiert zwar den Begriff der Tatsache gleich im Vorwort, geht jedoch nicht auf eine bisherige Verwendung des Begriffes ein, sondern hantiert mit ihm nach seinem Verständnis ohne explizit darauf einzugehen. Gleich im ersten Absatz findet sich der Hinweis, dass die Erkenntnistheorie den Entstehungsprozess von Tatsachen zum Gegenstand hat. Für Fleck ist Erkenntnistheorie also die reflexive Auseinandersetzung mit Sätzen über Tatsachen. Das Ergebnis von Erkenntnisakten sind Sätze, deren Aussage auf Tatsachen verweist.

Schlägt man im historischen Wörterbuch der Philosophie nach, so ist der Akt der Erkenntnis ein reflexiver Akt, an dessen Ende die Adäquatheit oder Nicht-Adäquatheit von Erkenntnissen steht.8 Es geht dabei um die Frage der Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung überhaupt. Gegenstand der Erkenntnistheorie ist also der Versuch, die Bedingungen von menschlicher Erkenntnis in Form von Wissen und Erfahrung über etwas auszuloten. In Fleckschen Termini gesprochen ist bei der Erkenntnistheorie vom Aufsuchen jener Mechanismen die Rede, die einer Tatsachenproduktion vorausgesetzt sind. Nach meinem Verständnis verwendet Fleck den Begriff der Tatsache für wissenschaftliche Kenntnisse, die in Form einer wissenschaftlichen Theorie zum Ausdruck gebracht worden sind. Tatsachen, sind wissenschaftliche Aussagen, die wahr sind. Dabei stellt sich die Frage, ob es wissenschaftliche Gegenstandsbestimmungen, also Kenntnisse über etwas gibt, die sich nicht in Form einer wissenschaftlichen Theorie ausdrücken lassen. Ist dies nicht der Fall, so lässt sich der Begriff der wissenschaftlichen Kenntnis synonym zum Begriff der Tatsache bei Fleck verwenden. Philosophiegeschichtlich kann die Erkenntnis auch als ein Suchen der letzten, nicht weiter begründungsbedürftigen Wahrheiten definiert werden, zumindest in ihren Anfängen korrespondenztheoretischer Ausprägung. Wissenschaftliche Sätze, die eine Tatsache postulieren, verweisen auf eine ontologische Wirklichkeit dieser Tatsachen.

Wenn Fleck von Tatsachen spricht, so unterscheidet er nicht explizit von wissenschaftlichen Sätzen, denen ein Wahrheitswert zukommt und dadurch eine Tatsache zum Ausdruck gebracht wird und den Tatsachen selbst. Der Begriff der Tatsache bezeichnet akzeptierte Aussagen innerhalb der Wissenschaft. Ist in weiterer Folge von einer Tatsache zu hören, so ist von einem Satz die Rede, der eine Tatsache ausdrückt. Etymologisch lässt sich der Begriff der Tatsache aus dem Lateinischen factum oder res facti herleiten.9 Der deutsche Begriff taucht erst relativ spät auf, und zwar Mitte des 18. Jahrhunderts. Das Wort findet durch die Übersetzung aus dem Englischen matter of fact Eingang in den deutschen Sprachgebrauch. Im Englischen wurde der Begriff ursprünglich nur in der juristischen Sprache verwendet, über den Umweg der Umgangssprache gewann er als philosophischer Ausdruck zunehmend an Bedeutung.10

Bereits früher in der deutschen Sprache eingebürgert wurde der Begriff faktum, abgeleitet aus demselben lateinischen Wortstamm factum. Das Faktum bezeichnet ursprünglich ein juristisches Delikt, also eine gesetzeswidrige Tat. Später löste sich der Begriff von der juristischen Fixierung und fand geläufige Verwendung als Bezeichnung eines allgemeinen historischen Ereignisses.

Im philosophischen Sprachgebrauch wurden früh zwei Bedeutungsstränge sichtbar. Einer steht notwendigerweise in Verbindung mit der Außenwelt und bezeichnet etwas Vorliegendes, etwas Geschehenes. Die Tatsache ist nicht bloße Fiktion, mentale Projektion, sondern etwas, das nicht zu leugnen ist. Es ist ein Ereignis oder Ding, das wirklich, also in der Wirklichkeit vorhanden ist. Die Tatsache verweist auf eine ontologische Wirklichkeit. Die Tatsache ist mehr als ein Satz - sie drückt etwas in der Wirklichkeit vorhandenes aus.

Wirklichkeit ist das Abstraktum von wirklich und wird in diesem Zusammenhang als ein Aggregat von vorliegenden Dingen und geschehenen Ereignissen verstanden. Dinge und Ereignisse sind als reale Phänomene raumzeitlich verankert, so dass ihnen ihre Materialität notwendigerweise mitgegeben ist. Die Wirklichkeit ist etwas außerhalb von uns Liegendes, das sich beobachten lässt. Es bezeichnet jenen Eindruck, der sich nicht durch die Willkürlichkeit des Beobachters verändern lässt. Tatsachen sind die in der Wirklichkeit beobachtbaren Dinge, die auch dann weiterexistieren, wenn sie niemand mehr beobachtet. Die Beobachtung setzt einen Beobachter voraus. Der Beobachter repräsentiert den Subjektbezug einer Tatsache. Das heißt, es handelt sich nicht um etwas rein Subjektives, das nur einem Subjekt zufällt, sondern um eine Beobachtung die potentiell jedem Subjekt in derselben Weise zukommt. Das erlaubt eine weitere Verfeinerung des Tatsachenbegriffs: Das vorliegende Etwas (ein Ding oder Ereignis) muss der Beobachtung zugänglich sein, um zur Tatsache zu werden. Die Tatsache zeigt sich als solche im Subjekt. Sie setzt einen Beobachter voraus, der etwas zur Tatsache erhebt. Die Beobachtung als Akt der Vollziehung kann als eine Tat übersetzt werden, das vorliegende Etwas als Sache dieser Tat.

Der zweite Bedeutungsstrang, der vom Begriff der Tatsache ausgeht, lässt die Wirklichkeitsbedingung in der Form eines Raum- und Zeitbezugs fallen. Diese Interpretation kennzeichnet sich selbst, indem sie dem Begriff der Tatsache das Attribut abstrakt voranstellt. Eine abstrakte Tatsache bezieht sich also nicht unmittelbar auf empirische Phänomene. Hierzu zählen apodiktische Urteile. Die Unterscheidung geht auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurück, der apodiktische Urteile als Vernunftwahrheiten bezeichnet.11 Sie definieren sich als Schlussfolgerung, die sich aus einem Gegenstand notwendigerweise ergeben. Gemeint sind logische Urteile, die vor jeder empirischen Erfahrung liegen. Wenn Immanuel Kant von analytischen Urteilen spricht, so meint er genau diese Kategorie von Tatsachen. Den analytischen Urteilen stellt er synthetische Urteile gegenüber, die einem Gegenstand immer etwas Zusätzliches hinzufügen.12 Analytische Urteile fügen einem Gegenstand, einer Aussage nichts mehr hinzu, sie haben bloß erläuternde Funktion und werden so auch als Tautologien bezeichnet.13 Abstrakte Tatsachen sind Urteile, die intrinsische Eigenschaften eines Gegenstandes explizit darstellen.14

Wissenschaftliche Tatsachen finden Ihren sprachlichen Ausdruck in gültigen wissenschaftlichen Theorien. Dabei sind unterschiedliche wissenschaftliche Bereiche voneinander zu unterscheiden. Die sogenannte formale Wissenschaft widmet sich dem Feld der analytischen Urteile. Zu Ihnen gehören Logik und Mathematik. Es ist vom Feld der Natur- und Geisteswissenschaft zu trennen. Gegenstand der Naturwissenschaft sind empirisch fassbare Phänomene der Wirklichkeit. Dabei bleibt sie nicht dabei empirische Phänomene bloß zu beobachten, sondern sie versucht die empirischen Beobachtungen miteinander in Beziehung zu setzen. Wissenschaftliche Tatsachen sind Erklärungstatsachen, die eine empirische Tatsache durch eine andere erklären.

Das unterscheidet die Naturwissenschaft von einer bloßen empirischen Tatsache. Dieser genügt es, die Wirklichkeit phänomenologisch zu beschreiben. Die wissenschaftliche Tatsache versucht in der Form einer Theorie die kausalen Zusammenhänge der Wirklichkeit offenzulegen.

Im Feld der Sozialwissenschaft begründete Emile Durkheim den Begriff der sozialen Tatsache. Damit meinte er soziale Erscheinungen, die auf den Einzelnen einwirken.

Normen, Institutionen sind nicht bloß materielle Dinge, ihre zentrale Bestimmung liegt darin, individuelle Handlungen zu leiten. Durkheim bezeichnet sie als Tatsachen, weil sie auf die Gesellschaftsmitglieder einen sozialen Zwang ausüben, der sich objektiv beschreiben lässt.15 Die soziale Komponente der Tatsache lässt sich daran erkennen, dass ihnen individuelle Handlungsabsichten entgegenstehen können, und trotzdem befolgt werden. Die soziale Tatsache hat normativen Charakter und wirkt so auf alle Gesellschaftsmitglieder ein. Als gesellschaftliches Konstrukt bestimmt sie die Ordnungsprinzipien eines Gemeinwesens. Soziale Tatsachen sind ähnlich der wissenschaftlichen Tatsachen Erklärungstatsachen, nur dass ihr Gegenstand nicht die Beziehung von Dingen, sondern die Beziehung von Menschen erklären will. Soziale Tatsachen können daher als Unterpunkt von wissenschaftlichen Tatsachen angeführt werden.

Der Status als Tatsache läuft eine methodologische Frage vorher, die sich fragt, worin eine befriedigende Antwort der Theorie liegt. Diese methodologischen Grundüberlegungen liefern den Rahmen, innerhalb dessen eine wissenschaftliche Aussage zu einer bestimmten Tatsache erhoben wird. Die Frage lautet: Was akzeptieren wir als befriedigende Erklärung von Phänomenen? Mit Hilfe dieser Frage geraten wir ins Zentrum erkenntnistheoretischer Standpunkte.

Fasst man die unterschiedlichen Auffassungen, die im Begriff der Tatsache stecken zusammen, so lassen sich folgende Tatsachentypen anführen:

1. Tatsache als analytische Tatsache: logisch notwendiges Urteil, das dem Gegenstand nichts Neues hinzufügt
2. Tatsache als empirische Tatsache: das der Beobachtung zugängliche Etwas, das außerhalb des Beobachters liegt, dem Beobachter aber zugänglich ist
3. Tatsache als wissenschaftliche Tatsache: Empirisch nicht beobachtbare, gesetzesmäßige Zusammenhänge, die empirische Beobachtungen zueinander in Beziehung stellen
4. Tatsache als sozial-normative Tatsache: Normative Vorgaben innerhalb einer Gesellschaft, die einen Zwang auf das Verhalten Einzelner ausüben ohne dass sich diese Normvorgabe empirisch begründen lässt

Um den Begriff der Tatsache zu verstehen, muss man sein Verhältnis zum Begriff der Wahrheit erläutern. Eine Tatsache beansprucht, wahr zu sein. Denn ist die Falschheit einer Tatsache bewiesen, so ist sie keine Tatsache mehr. Daher lässt sich auch sagen: Jede Tatsache ist wahr, solange man an ihr festhält. Dabei müssen die unterschiedlichen Interpretationen von Wahrheit geklärt werden.

Der Begriff der Wahrheit ist einer jener, mit dem sich die Philosophie seit Anbeginn beschäftigt. Daher ist es kein Leichtes, ihn angemessen zu Wort kommen zu lassen. Der klassische Wahrheitsbegriff wurde in der griechischen Antike konzipiert. Dort meint Wahrheit das Seiende in angemessener Form zum Ausdruck zu bringen (griech. aletheia). Ziel einer jeden Wissenschaft ist weiter die Wahrheit, weil „sich jedes Seiende so zur Wahrheit verhält, wie es [sich] zum Sein verhält.“16 Jedes vorliegende Etwas (als konkretes Ding oder Ereignis) verhält sich zu einer Tatsache (in einem Satz zum Ausdruck gebracht) wie zur Struktur der Wirklichkeit überhaupt. Wahrheit stellt damit ein Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit her. Das in der Sprache Wahre ist das in der Wirklichkeit Vorhandene. Damit ist eine Auslegung von Wahrheit vollzogen. Seitdem haben sich Jahrhunderte hindurch die Interpretationen von Wahrheit vervielfältigt, heute existieren verschiedene Auslegungen des Wahrheitsbegriffs, der aristotelische begründet die korrespondenztheoretische Interpretation. Mehrere Einwände haben dazu geführt, den Wahrheitsbegriff abzuändern. Der Haupteinwand, der sich gegen die Korrespondenztheorie richtet, kommt aus der Richtung der Skeptiker. Sie wenden ein, dass sich grundsätzlich eine Identität von Sprache und Wirklichkeit nicht beweisen lässt. Die Korrespondenztheorie setzt diese Identität aber voraus, ohne sie beweisen zu können. Denn jede Tatsache ist in doppelter Weise vermittelt. Zum Einen erfolgt jede Beobachtung über unsere Sinnesorgane und zum Anderen wird jede Beobachtung sprachlich zum Ausdruck gebracht. Die Vermitteltheit ermöglicht uns einen Einblick in die Wirklichkeit, gleichzeitig versperrt sie uns eine unmittelbare Wahrnehmung dieser. Wir können daher nicht von unserer Wahrnehmung auf eine ontologische Struktur der Wirklichkeit schließen. Die Korrespondenztheorie geht von der prinzipiellen Zugänglichkeit der ontologischen Wirklichkeit aus. So ist auch der Begriff der Wahrheit als „der wirklichkeit gemäsz“17 im Grimmschen Wörterbuch zu verstehen. Gleichzeitig gibt uns das Handbuch des deutschen Aberglaubens einen wichtigen Hinweis, wenn es vor einer Beteuerung beim Begriff der Wahrheit warnt.18 Eine Beteuerung macht skeptisch, eine Haltung, die an dieser Stelle hilfreich ist, denn die Wahrheit bleibt ein offenes Feld mit unterschiedlichen Interpretationen, die erkenntnistheoretischen Ansätze sind der Überbau der unterschiedlichen Wahrheitsfundamente. Der erkenntnistheoretische Realismus bleibt dem Korrespondenzansatz grundsätzlich treu und geht davon aus, dass wir mit unseren Aussagen über die Welt grundsätzlich etwas über die beobachtungsunabhängige Struktur der Welt sagen können. Wissenschaftliche Theorien sind nicht Projektionen, die es uns erleichtern, die weltlichen Zusammenhänge zu erklären, sondern sind Abbilder der Welt und geben Einblick in die strukturelle Verfasstheit der Wirklichkeit überhaupt.19 Der Realismus geht daher von einer beobachtungsunabhängigen Außenwelt aus, die uns zugänglich ist.20 Der wissenschaftstheoretische Realismus behauptet nun, dass die prinzipielle Zugänglichkeit in der wissenschaftlichen Erkenntnis liegt. Die wissenschaftliche Tatsache hat ontologischen Status.

Die verschiedenen erkenntnistheoretischen Ansätze beginnen sich hier zu unterscheiden. Der Wahrheitsbegriff beim Realismus geht zumindest von einer partiellen Strukturgleichheit von Denken und Sein aus.21 Eine Tatsache ist in diesem Zusammenhang etwas in der Wirklichkeit Vorliegendes, das von uns auch erfassbar ist. Die klassische Gegenposition dazu markiert der Idealismus. Das, wie uns die Welt erscheint, ist in dieser Tradition vornehmlich gedanklich vorstrukturiert. Der Idealismus bestreitet die im Denken oder in der Sprache zum Ausdruck gebrachten Aussagen als strukturgleich zu dem Etwas, das in der Wirklichkeit vorliegt. Im Idealismus fällt diese strukturelle Identität auseinander. Die Formen der Dinge, die außerhalb von uns liegen, sind „bloßer Glaubensartikel“.22 Der Idealist bestreitet nicht, dass da draußen etwas ist, geht aber gleichzeitig davon aus, dass die Vorstellung vom Gedanken vorstrukturiert ist. Die Tatsache im Idealismus bezieht sich auf dasjenige Etwas, das uns in der Beobachtung vorliegt. Eine Aussage ist dann wahr, wenn diese Erscheinung in der Sprache angemessen zum Ausdruck kommt. So bestreitet er etwas wie einen ontologischen Tatsachenbegriff. Der Wahrheitsbegriff rückt weg von einem Identitätskriterium von Sprache und (ontologischer) Wirklichkeit und geht über zu einem Verhältnis zwischen Erscheinung (Beobachtungsinhalt) und Sprache. In diesem Sinne kann der Idealismus als Vorläufer moderner konstruktivistischer Theorien verstanden werden.

Kant versucht nun zwischen den beiden Positionen zu vermitteln. Er begreift seine Theorie als kopernikanische Wende in der Erkenntnistheorie, wobei er beiden entgegengesetzten Ansätzen Zugeständnisse macht.23 Erkenntnis ist sowohl als auch. Sie ist sowohl ein Vermögen des menschlichen Verstandes, das jeder empirischen Beobachtung vorherläuft als auch notwendigerweise an empirisches Material gebunden. Er bezeichnet seine Position als transzendentalen Idealismus. Die beobachterunabhängige Außenwelt existiert, ihre ontologische Struktur lässt sich jedoch nicht beweisen. Jeder Beobachtung läuft eine Disposition voraus, die Beobachtungen erst möglich macht: Es sind die Kategorien des Verstandes. Die Tatsache ist demnach etwas in der empirischen Erscheinung Vorliegendes, das durch die Tätigkeit des Verstandes zu einem Gegenstand gedacht wird und sprachlich ausgedrückt werden kann. Der sprachlich ausgedrückte Gegenstand entspricht einer empirischen Erscheinung. Wahr ist, wenn der Begriff die Erscheinung bezeichnet. Die aristotelische Wahrheit, im Sinne einer Korrespondenzbeziehung zwischen Sprache und einem Etwas, das von der Beobachtung unabhängig existiert, kann mit Kant nicht mehr aufrecht erhalten werden. Der Wahrheitswert sagt demnach nichts über das objektive Vorhandensein einer Tatsache aus, sondern nur über die empirische Erscheinung in einem Beobachter.

Die wissenschaftliche Tatsache unterscheidet sich in ihrer Interpretation, je nachdem, welche erkenntnistheoretische Position man bezieht. Die realistische Position geht von einer ontologischen Wirklichkeit wissenschaftlicher Tatsachen aus, die idealistische Position spricht von einem Verhältnis zwischen Satz (Aussage) und Erscheinung eines Gegenstandes.

Die unterschiedlichen Positionen sind nun angerissen, sie werden in weiterer Folge hilfreich sein, die Position Flecks zu verorten. Doch bevor wir zum Tatsachenbegriff von Fleck kommen, möchte ich noch auf die historische Ausgangslage seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen ein wenig genauer eingehen. Am besten lässt sich dies mit Kurt Riezlers Aufsatz Die Krise der Wirklichkeit24 tun. Der Aufsatz wurde 1929 geschrieben, zu jener Zeit als sich die Physik mit der Quantenmechanik revolutionierte. Diese erschütterten ein wissenschaftstheoretisches Fundament, das bis dahin seit Beginn der Neuzeit unumstritten war. Riezler versucht auf die wissenschaftstheoretischen Konsequenzen der neuen Tatsachen auf dem Gebiet der Physik aufmerksam zu machen. Interessant ist der Text auch, weil Ludwik Fleck in derselben Zeitschrift ein halbes Jahr später auf Riezlers Ausführungen geantwortet hat. Es gibt also historische Verknüpfungspunkte, die das Heranziehen des Textes rechtfertigen. Zusätzlich beschreibt der Text die historische Ausgangslage wissenschaftstheoretischer Debatten zur Zeit Ludwik Flecks.

2.2 Die Krise der Wirklichkeit

“ Der Glaube an eine eherne Ordnung der Natur nach unver ä nderlichen, das All durchwaltenden Gesetzen, war die größte geistige Tatsache der letzten Jahrhunderte. ” 25

Der wissenschaftliche Realismus fühlte sich vor allem durch den wissenschaftlichen Fortschritt der letzten Jahrhunderte bestätigt. Im Verlauf der Zeit setzten sich wissenschaftliche Theorien gegenüber anderen durch, so dass diesen auch ein höherer Wahrheitsgehalt unterstellt wurde. Die Geschichte der Wissenschaft kann so gesehen als Fortschritt bezeichnet werden, ein Weg der sich unaufhörlich der Wahrheit asymptotisch nähert. Die Dynamik, vor allem in den Naturwissenschaften, führt unweigerlich zu dieser wissenschaftsoptimistischen Einschätzung. Diese Grundannahme trägt einem scheinbaren kontinuierlichen Fortschritt in der Beschreibung der Welt Rechnung, wonach das Wissen über die Welt immer mehr wurde. Die Wirklichkeit wird von Tag zu Tag ein Stück mehr erschlossen. Letzte Wahrheit, die Wahrheit, ist dann erreicht, wenn alle potentiell möglichen Beobachtungen als Tatsachen ausgedrückt auf einen Begründungszusammenhang zurückgeführt werden können. Das ist das letzte Ziel der Wissenschaft, gegen ihre Erfüllung schien in dieser historischen Phase nichts zu sprechen. Man steht hier in einer realistischen Tradition, genauer kann man diesen Ausführungen einen starken Realismus unterstellen, weil nicht nur von einer partiellen Teilhabe an der Wirklichkeit die Rede ist, sondern von der Erschließbarkeit der Wirklichkeit als Ganzes überhaupt. Dabei referieren wissenschaftliche Tatsachen auf etwas in der Wirklichkeit Vorliegendes, das durch diese Tatsache auch angemessen repräsentiert wird. Die Angemessenheit zeigt sich in der praktischen Anwendbarkeit der Theorie und somit in einer technologischen Verwertbarkeit.

Das überzeugte Festhalten an einem letzten Ordnungsprinzip, auf das wir zusteuern, erfährt auf Grund der letzten wissenschaftlichen Ergebnisse in der Physik einen Dämpfer. Mit dem Aufsatz von Kurt Riezler liegt ein Zeugnis dieser tiefen Erschütterung des wissenschaftstheoretischen Weltbildes vor. Dieses alte Weltbild baut auf der Vorstellung unterschiedlicher Wirklichkeiten auf. Die unmittelbarste, die Welt der Sinne macht eine, die erste Wirklichkeit aus:

Unsere äußeren und inneren Wahrnehmungen bilden einen bunt schillernden Strom wechselnder Empfindungen, dessen helle und dunkle aufglitzernden und schon wieder unfaßbar [sic!] enteilenden Wassertropfen auf eine wunderbare Weise in einer Einheit zusammenhängen, die wir nach Belieben Ich, Bewußtsein [sic!] oder sonstwie benennen mögen. Die Einheit dieses schillernden Stroms ist die erste Wirklichkeit.26

Diese erste und unmittelbarste Wirklichkeit ist die Welt der sinnlichen Wahrnehmung. Jene Wirklichkeit, die die Vielheit der Einzeldinge umfasst und sich in einen Strom sich ändernder Wahrnehmungen bettet, macht den Beginn der Erfahrung eines jeden Einzelnen Ichs, eines jeden einzelnen Beobachters. Es ist die Welt der reinen Anschauung, des gegenwärtig Seins in der Welt, der Welt voller sich ändernder Eindrücke. Als Welt der Erscheinungen kann sie auch als Welt der Phänomenologie bezeichnet werden.27

Von ihr ausgehend formt sich eine zweite Wirklichkeit, die Welt des Erkennens. Hier beginnt der Verstand sich mit einzuschalten, indem er versucht die unzähligen Sinnesdaten zu strukturieren. In dieser Wirklichkeit versucht man nun den Zusammenhängen der Erscheinungen auf die Spur zu kommen, Regeln und gesetzesmäßige Beziehungen werden aufgestellt, in der Hoffnung, die volatile, unstrukturierte erste Wirklichkeit auf einem Fundament prinzipieller Gesetzeszusammenhänge zu gründen. Seit Anbeginn der Menschheit hat es diese Versuche gegeben, ausgehend von einer mystisch-magischen Erklärung bis hin zur heutigen wissenschaftlich-rationalen Erklärungswelt.28 Im Verlauf der Geschichte wurden die Entwürfe der zweiten Wirklichkeit stetig weiterentwickelt. Allen Bemühungen war folgendes gemeinsam: Die Suche des Unwandelbaren, „an Stelle des wechselnden Wassergeglitzers das Bett des Stromes, die Macht, den Sinn und das Gesetz, das ihn bewegt: die Invarianten der Welt.“29

Die zweite Welt ist die Welt der Invarianten. Mit Hilfe des Verstandes werden Modelle entworfen, die das Auftauchen und Verschwinden von Sinneseindrücken erklären sollen. Sie hat die Aufgabe, kausale Zusammenhänge zu erklären, es ist die Welt der Gesetze, eben die Welt der Wissenschaft.

Der Anspruch der zweiten Wirklichkeit ist klar: Sie sollen die Welt so erklären, wie sie tatsächlich ist. Die Modelle haben zum Ziel, die eine wahrhaft absolute Wirklichkeit unverzerrt abzubilden. Die zweite Wirklichkeit hat ihre Aufgabe erfüllt, wenn sie vollends in der dritten Wirklichkeit aufgeht. In einer dritten, absoluten Wirklichkeit, die die Welt an sich beschreibt. Es ist die Welt, wie sie sich gibt, ohne von Wahrnehmungen verzerrt zu sein. Damit sind jene Prinzipien gemeint, die nicht der Welt vom Verstand aufgedichtet worden sind, sondern die der Welt intrinsisch mitgegeben sind - eine Welt, wie sie sich darstellt, auch wenn keiner sie beobachtet. Die Drei-Welten-Theorie beschreibt die wissenschaftliche Weltauffassung, die bis dahin zu einer nicht weiter hinterfragungswürdigen Selbstverständlichkeit herangewachsen war.

Bindet man die drei Welten an die unterschiedlichen Varianten des Tatsachenbegriffs, so lassen sich folgende Zuweisungen durchführen:

- Die erste Wirklichkeit bei Riezler ist die Welt der empirischen Tatsachen
- Die zweite Wirklichkeit bei Riezler entspricht den wissenschaftlichen Tatsachen
- Die dritte Wirklichkeit entspricht der absoluten Tatsache

Die wissenschaftliche Auffassung dieser Zeit ging davon aus, dass dem Beobachter die absolute Wirklichkeit prinzipiell offen steht. Wissenschaftlicher Fortschritt bezeichnet immer eine Annäherung an die ontologische Wirklichkeit (absolute Wirklichkeit). Wahrheit ist die angemessene Repräsentation der absoluten Wirklichkeit in der Form von wissenschaftlichen Gesetzen. Das Denken (in Form wissenschaftlicher Gesetze) korrespondiert mit dem Sein (als absolute Wirklichkeit). Damit ist die wissenschaftliche Grundvorstellung der letzten Jahrhunderte aufgestellt und sie entwickelte sich auf Grund ihrer Erfolge zur Selbstverständlichkeit. „Was wunder, daß der forschende Menschengeist in der entdeckten Ordnung die Gewähr sah, daß sein Glaube begründet, seine Hoffnung berechtigt, seine Liebe des Lohnes sicher sei.“30 Die Erfolge blieben nicht aus, so dass es keinen Grund gab das Weltbild in Frage zu stellen.

Es lässt sich folgendes zusammenfassen:

- Es existiert eine absolute Wirklichkeit als ein in sich notwendig geschlossener Wirkungszusammenhang
- Alle speziellen Gesetze lassen sich auf ein letztes, allgemeines Gesetz zurückführen („die Weltformel“)

- Der geschlossene Wirkungszusammenhang ist mit den Mitteln der Erkenntnis erschließbar
- Die unterschiedlichen Erkenntnisvorgänge in den verschiedenen Disziplinen konvergieren in ihren Erkenntnissen und verhalten sich kongruent

Auf physikalischer Quantenebene gerät eine unbestrittene prädispositonale Tatsache in Verdacht, nicht allgemein zu gelten. Gemeint ist das Prinzip der Kausalität. Wenn das Prinzip der Kausalität in diesem Bereich nicht mehr gelten sollte, so stellt sich die Frage, wie diese Erkenntnis mit dem wissenschaftstheoretischen Weltbild vereinbar ist. Damit steht der in sich geschlossene Wirkungszusammenhang in Frage. Die Vorstellung der dritten Wirklichkeit bekommt Risse.

Setzt man die unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen und ihre Ergebnisse in ein Verhältnis, so treten Widersprüchlichkeiten auf, die sich nicht restlos auflösen lassen. Eine Disziplin lässt sich nicht mehr auf eine andere restlos zurückführen, und auch ein synthetisches System, das sich aus beiden speist ist ohne Inkongruenzen nicht denkbar. Diese Irritationen führten zu Auseinandersetzungen zwischen den Disziplinen, wobei die Einen den Anderen ihre intellektuelle Redlichkeit absprechen.31 Aber selbst innerhalb einer Wissenschaftsdisziplin entwickelten sich eigene, unvereinbare Wirklichkeiten. Es entstand ein Nebeneinander von verschiedenen Wirklichkeiten, das naive Weltbild, das von nur einem möglichen Ordnungsgefüge ausging, musste aufgegeben werden, und damit auch der naive Realismus der Drei-Wirklichkeiten-Theorie, der sich bis dahin bewährt hatte.

Die weltanschaulichen Konsequenzen drückt Riezler wie folgt aus: „Der Glaube an eine eherne Ordnung der Natur nach unveränderlichen, das All durchwaltenden Gesetzen, war die größte geistige Tatsache der letzten Jahrhunderte.“32

Es ist interessant, dass Riezler den Begriff der Tatsache in diesem Zusammenhang verwendet. Denn damit bezeichnet er eine Weltanschauung, die auf plausiblen Vermutungen aufbaut. Aber diese Tatsache kann nicht mit einer empirischen Tatsache, als etwas in der Wahrnehmung Vorliegendes, das auf etwas außerhalb von uns Liegendes verweist, verglichen werden. Welchen Tatsachenbegriff nimmt Riezler hier zur Hand? Es kann in diesem Zusammenhang auch nicht von einer wissenschaftlichen Tatsache gesprochen werden, denn sie läuft dieser ja vorher. Ebenso wenig passt die dritte Art der Tatsache, die weiter oben ausgearbeitet wurde, nämlich die logische Tatsache. Denn aus welchem Gegenstand soll eine logische Schlussfolgerung gezogen werden, die eine nach ewigen Gesetzen laufende Welt notwendig macht? Daher möchte ich an dieser Stelle eine vierte Kategorie der Tatsache einführen, die der prädispositionale Tatsache, die dieser Verwendung des Begriffs der Tatsache Rechnung tragen soll. Riezler verwendet den Begriff hier im Zusammenhang mit einer Grundannahme, die vorausgesetzt wird aber nicht weiter begründet werden kann. Die Konsequenzen, die Riezler daraus zieht sind nicht minder folgenschwer und läuten einen Umschwung bei erkenntnistheoretischen Ansätzen ein, der bei einem Wiedererstarken idealistischer Theorien endet. Diese Entwicklung ist bei Riezler schon angelegt:

Das erstaunliche Faktum, daß es uns gelingt, eine relativ beharrliche Ordnung zu formen, rechtfertigt noch keineswegs die Behauptung, daß die Ordnung, die wir formen, die absolute und schlechthin von uns unabhängige sei.33

Darin steckt implizit die Frage: Was ist, wenn der strukturierende Verstand kein Pendant in der Wirklichkeit kennt und alle Ordnung eine vom Verstand aufoktroyierte sei? Damit geht es wieder zurück zu den Idealisten, die von der schöpferischen Kraft der Ideen (des Verstandes) als Formprinzip der sinnlichen Stoffe (empirische Tatsachen) überzeugt waren. Die Indifferenz von denkender und ontologischer Struktur wird aufgehoben. „Was wir fassen, ist ein Spiegelbild; der Spiegel ist unser Verstand. Wir wissen nicht, inwieweit dieser Spiegel getreu und inwieweit er ungetreu ist.“34 Wenn man die Externalität von empirischen Tatsachen anerkennt, so kann der Grund für Gesetzesmäßigkeiten nicht bloß in unserem Verstand liegen, denn die Gesetzesmäßigkeit muss sich in der empirischen Beobachtung bewähren. Auf diesem Befund aufbauend, ist man davon ausgegangen, dass es etwas wie eine letzte Gesetzesmäßigkeit gibt, wo alle Einzelgesetze zusammenlaufen. Dass diese Schlussfolgerung mehr Wunsch als Notwendigkeit war, zeigt sich an diesem Punkt umso stärker. Daher müssen folgende prädispositionalen Tatsachen in Frage gestellt werden:

- Die absolute Wirklichkeit ist ein in sich begründeter Wirkungszusammenhang
- Die absolute Wirklichkeit ist uns restlos erschließbar

Seitdem die Geschlossenheit des physikalischen Weltbildes nicht mehr haltbar ist und Lücken aufweist, kann anderen Disziplinen mit ihren Modellen ihr Eigenrecht nicht abgesprochen werden. Die Totalität des physikalischen Weltbildes wurde durch die Quantenphysik selbst in Frage gestellt. „Die physikalische Wirklichkeit ist nicht die absolute.“35 Und doch hält Riezler an einer Behauptung der dritten, absoluten Wirklichkeit fest. Sie ist als Grenzbestimmung zu denken, die jedoch den anderen beiden Welten vorherläuft. Hier wird die Nähe zu Kants transzendentalem Idealismus sichtbar, denn die absolute Wirklichkeit kann in das kantische Ding-an-sich übersetzt werden. Gegen Ende des Textes plädiert Riezler für einen methodischen Pluralismus, der den verschiedenen Aspekten der einen absoluten Wirklichkeit gerecht werden soll, ohne jedoch den Anspruch erheben zu können, diese ganz einzusehen. „Wie diese drei [Wirklichkeiten] zusammenhängen mögen - ist mir zu wissen verwehrt, zu vermuten freigestellt.“36 Riezler sieht große Umwälzungen in der Erkenntnistheorie. Das alte, statische, seit der griechischen Antike bestehende Weltbild der Erkenntnis beginnt sich langsam aufzulösen:

Ein neues Weltbild wird möglich. Dieses neue Weltbild ist dynamisch, nicht statisch. Die Welt ist nicht fertig, sondern unfertig. Ihre Ordnung ist keine seiende, sondern eine werdende. Ihr Gleichnis ist nicht die vermeintliche Harmonie des Sternenhimmels und seiner ewigen Gesetze, sondern die Menschengeschichte, die ruhelose, in der sich nichts gleich bleibt - es sei denn der Sinn, die Mühe und das Schicksal.37

2.3 Ludwik Flecks Erkenntnistheorie

„ Man vergi ß t die simple Wahrheit, da ß unsere Kenntnisse viel mehr aus dem Erlernten als aus dem Erkannten bestehen. “ 38

Flecks Aufsatz in Die Naturwissenschaften ist eine Antwort auf Riezlers Ausführungen in derselben Zeitschrift ein halbes Jahr zuvor.39 Darin verzichtet Fleck auf einleitende Worte und benennt gleich anfangs eine zentrale Lücke bei Riezlers Text, die er als symptomatische Lücke der bisherigen Erkenntnistheorie benennt und die auch Riezler übersah: Wissenschaftliche Erkenntnis ist zum größten Teil kulturell vermittelt. Der gegenwärtige Wissensstand wird zunächst gelehrt und nicht beobachtet. Damit stellt Fleck ohne große Umwege ein zentrales Element seiner Erkenntnistheorie vor, dem in der bisherigen Debatte kaum Beachtung geschenkt wurde. Kenntnisse sind primär eine soziale Angelegenheit. Mit dieser Behauptung beginnt Fleck in seinem „Antwortschreiben“ auf Riezlers Ausführungen. Er lässt logische und systematische Überlegungen beiseite und konzentriert sich auf schwer fassbare soziale Phänomene. Doch dem nicht genug, gibt er den historischen Verhältnissen ein Mitbestimmungsrecht bei der Entstehung von wissenschaftlichen Tatsachen. „Leider haben wir die Eigenheit, alte, gewohnte Gedankengänge als besonders evident zu betrachten, so daß dieselben keines Beweises bedürfen und ihn nicht einmal zulassen.“40

Die prädispositionalen Tatsachen entspringen aus der Macht der Gewohnheit, die ihre Gültigkeit bloß durch ihr Etabliert-Sein begründen. Das Hauptaugenmerk seiner erkenntnistheoretischen Ausführungen liegt dabei bei diesen Anfangsbedingungen, die den Pfad der Erkenntnis vorgeben.

Jede Erkenntnistheorie, die diesen Aspekt nicht berücksichtigt, verzichtet darauf, die Startbedingungen epistemologischer Arbeit näher zu untersuchen. Es ist nicht bloß eine Sache historisch Interessierter. Denn das Ergebnis wissenschaftlicher Arbeit ist abhängig von diesen Startbedingungen, die in dieser Arbeit als prädispositionalen Tatsachen bezeichnet werden. Dabei wird deutlich, dass Fleck soziale Bedingungen als elementaren Bestandteil in die Erkenntnistheorie mit aufnimmt. Mit aller Deutlichkeit wird das Bild des isolierten Forschers/Beobachters verworfen, der empirische Tatsachen über seine Sinne unverfälscht wahrnimmt und darauf aufbauend ein Erklärungsmodell zimmert, das die Beziehungen der empirischen Tatsachen untereinander aufschlüsselt. Der isolierte Beobachter ist schlichtweg nicht zu denken, denn jede Forschungstätigkeit beginnt innerhalb eines sozialen Gemeinwesens. Darüber hinaus ist jede Forschungstätigkeit eine kollektive Angelegenheit, die damit beginnt, Überlegungen sprachlich auszuformulieren. „Wo und wann wir immer anfassen, überall sind wir mittendrin, und nie bei dem Beginn des Erkennens.“41 Die bisherigen Erkenntnistheoretiker setzten bisher entweder den Verstand oder die Wahrnehmung absolut. So sehen die Empiristen im Verstand nichts anderes als die Summe bisheriger Beobachtungen und sprachen ihm ein eigenständiges Prinzip ab. Die Idealisten sehen es genau umgekehrt: Jede Beobachtung ist Schöpfung eines Geistes, der im sinnlichen Material seine Idee materialisiert. Diese Ansätze lassen sich auch mit Hilfe der Drei-Welten-Theorie von Riezler darstellen. Die Empiristen versuchen die beiden anderen Welten als Nachfolgeprodukt der ersten Welt zu interpretieren, die Idealisten sehen die zweite Welt aus Ausgangspunkt aller Erkenntnis. Für Fleck ist die Trennung von Welt 1 und Welt 2 nicht haltbar:

Wenn man das Problem der Entstehung der Erkenntnis auf traditionelle Weise als individuelle Angelegenheit eines symbolischen ´Menschen´ lösen wollte, so müßte [sic!] man den Satz: nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu -, auch in seiner Umkehrung: nihil est in sensu, quod non fuerit in intellectu gelten lassen.42

Die Einteilung in zwei Welten suggeriert eine unabhängige Vorgehensweise von Wahrnehmung und Verstandestätigkeit. Flecks Zitat will auf die Unfruchtbarkeit dieser Konzeption hinweisen. Denn die kategoriale Trennung missachtet einen entscheidenden Umstand, nämlich die Interdependenzen von Verstandestätigkeit und Wahrnehmung. Übersetzt in die Sprache der Tatsachen spricht Fleck von wechselseitigen Einflüssen zwischen abstrakten und empirischen Tatsachen. Die Konsequenzen seiner von sozialen Einflüssen durchdrungenen Konzeption führen weg von substantiellen Bestimmungen. Der Mensch als Repräsentant aller Menschen will die substantiellen Eigenschaften, die dem Menschen zukommen, beschreiben. In der Erkenntnistheorie werden darunter oft Verstand und Wahrnehmung als solche substantiellen Attribute des Menschseins überhaupt verstanden. Die Folge ist eine ahistorische Betrachtungsweise der beiden Begriffe. Die Tätigkeit des Verstandes sowie der Wahrnehmung sind konstante Größen. Diese intuitiv sehr verständliche Behauptung wirft Fleck ein für alle Mal über Bord. Auch Verstand und Wahrnehmung/Beobachtung sind Teil der Menschheitsgeschichte. Aus den statischen Begriffskonzeptionen werden dynamische: Verstand und Wahrnehmung sind werdende Phänomene:

Denn Erkennen ist weder passive Kontemplation, noch Erwerb einzig möglicher im fertig Gegebenen. Es ist ein tätiges, lebendiges Beziehungseingehen, ein Umformen und Umgeformtwerden [sic!], kurz ein Schaffen.43

Weder der Verstand, noch die Beobachtung sind Fixpunkte im Erkenntnisvorgang. Verstand und Beobachtung bedingen einander, sind aufeinander angewiesen. Die Prozessualität führt zu einer Dynamisierung der Grundbegriffe. Verstand und Beobachtung sind ständig im Begriff sich zu verändern, Bestimmungen tragen daher immer das vorläufige, zeitliche mit sich. Jede Bestimmung von Verstand oder Beobachtung ist eine Zustandsbeschreibung, eine Momentaufnahme. Die Erkenntnis ist nicht teilbar in Verstand und Beobachtung. Jedes Subjekt kann nur als Verhältnis zum Sozialen gedacht werden, und das Soziale ebenso nur als Verhältnis zu den daran beteiligten Subjekten. Für ihn existieren keine Letztursachen oder Prinzipien, Erkenntnis ist im ontologischen Sinne als Relation zu begreifen. Damit umgeht er die Frage der Ursache und behauptet, es „wäre einfach töricht, zu fragen, was hier ‚Ursache‘ und was ‚Wirkung‘ ist.“44

Der Erkenntnisprozess verliert seine Fixierung auf vereinzelte Subjekte und erweitert seine Betrachtungsweise auf eine Gruppe von Subjekten, die miteinander in Beziehung stehen. Um diese Beziehung leben zu können braucht es ein Medium, das einen Austausch der Subjekte möglich macht - die Sprache. Für Fleck ist die Sprache das Soziale. Alles, was in einer Gemeinschaft passiert, ist sprachlich vermittelt. Damit bekommt für Fleck die Sprache und mit ihr die Semantik eine entscheidende Rolle im Erkenntnisprozess.

Ein erstes zentrales Merkmal der Fleckschen Erkenntnistheorie findet man in der Sprachgemeinschaft, in der sich die Erkenntnis abspielt. Fleck verwendet dafür den Begriff des Denkkollektivs. Dieses Kollektiv ist nur mit Mitgliedern zu denken, mit Einzelnen, die am Denkkollektiv teilhaben. Aus diesem sozialen Beziehungseingehen entwickelt sich ein spezifischer Erkenntnisapparat, der allen Mitgliedern gemeinsam ist. Diesen sich herauskristallisierenden Erkenntnisapparat im einzelnen Individuum bezeichnet Fleck als Denkstil.

Gehen wir zurück zur Typisierung der Tatsachen (siehe Kapitel 2), so erkennt man die bedingungslose Abhängigkeit zwischen empirischen und abstrakten Tatsachen. Das in der Beobachtung als empirische Tatsache Vorgestellte manifestiert sich innerhalb von abstrakten Tatsachen. Das, was beim Beobachtungsvorgang als Gestalt wahrgenommen wird, hängt von der vom Kollektiv geprägten Verstandestätigkeit ab. Alles Gesehene ist immer schon gedanklich durchdrungen. So etwas wie ein Rohmaterial, das irgendwo in uns vorliegt bevor es vom Verstand bearbeitet wird und zu einem Gegenstand zusammengefügt wird, gibt es nicht. Die Vorstellung der Ungleichzeitigkeit der Tätigkeiten von Verstand und Beobachtung wird abgelöst von der Vorstellung der Gleichzeitigkeit. Die Gleichzeitigkeit ergibt sich notwendig aus der streng relationalen Definition der beiden Begriffe. Man darf sich auch keine Latenzzeit bei der Vermittlung zwischen den beiden konstruierten Sphären denken, denn das würde ja eine ontologische Trennung der beiden Sphären bedingen zwischen denen vermittelt wird. Nein, Fleck ist hier in strenger Hinsicht als Monist, besser noch Holist, zu verstehen. Er steht reduktionistischen Strömungen gegenüber45, und hat auch mit streng analytischen Vorgehensweisen seine Probleme, wenn diese die Relationsbeziehungen außer Acht lassen. Tatsachen sind eine Relation von Individuum, Sozialem und Beobachtetem. Neben den klassischen Kategorien Subjekt und Objekt kommt eine dritte hinzu, die Kategorie des Kollektivs. In Fleckschen Termini spricht man von Denkstil, Gestaltsehen und Denkkollektiv. Damit sind die drei Felder eröffnet, die in weiterer Folge genauer behandelt werden. Über ihre wechselseitige Abhängigkeit soll durch die isolierte Beschreibung nicht hinweggetäuscht werden. Die Zergliederung hat vor allem heuristischen Wert.

2.3.1 Der Denkstil

„ Eine Art abergl ä ubischer [Gedanke] verhindert, das Allerintimste menschlicher Pers ö nlichkeit, das Denken, auch einem Kollektiv zuzusprechen. “ 46

Mit Denkstil bezeichnet Fleck die Disposition eines Einzelnen, mit der dieser der Welt gegenübertritt. Träger des Denkstils ist also ein Individuum. Immanuel Kant, der mit seiner Kritik der reinen Vernunft einen Meilenstein in der Erkenntnistheorie gesetzt hat, setzt die Struktur des Verstandes a priori und begründet darauf seine Verstandeskategorien. Es sind Kategorien schlechthin, die im Menschen, in jedem vernunftbegabtem Wesen angelegt sind. Kant vollzieht die berühmte kopernikanische Wende der Erkenntnistheorie und behauptet, die Beobachtung richtet sich nach bestimmten Begriffen des Verstandes und wies damit ausdrücklich auf die durch den Verstand vermittelte und womöglich verzerrte Wahrnehmung der Welt hin, ohne dass er die Beobachtungen als reines Konstrukt des Verstandes brandmarken will.47 Er spielt auf jenes Wechselverhältnis von Verstand und Beobachtung hin, auf das es auch bei Fleck ankommt: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“48 In diesem Verhältnis sind sich Kant und Fleck noch einig. Kant spürt in weiterer Folge nun sogenannte Kategorien des Verstandes auf, jene Dispositive, die die Tätigkeit des Verstandes bestimmen. Diese Verstandeskategorien sind vor jeder Erfahrung, sie machen Erfahrung erst möglich. Daher sind sie a priori, und machen Denken und Erkenntnis erst möglich.49 Um an empirische Erkenntnisse zu gelangen, braucht es zusätzlich noch die Vorbedingung der raumzeitlichen Ausdehnung (Anschauungsformen bei Kant). Erst dann ist sinnliche Wahrnehmung möglich.

Von den a priori Bedingungen ist Fleck nun so weit weg wie nur irgendwie möglich, denn er negiert jede apriorische Bestimmung, sieht diese Annahme sogar als widerlegt, indem er von Wilhelm Jerusalem folgendes zitiert:

Kants fester Glaube an eine zeitlose, ganz unveränderliche logische Struktur unserer Vernunft [unseres Denkens], ein Glaube, der seither zum Gemeingut aller Aprioriker geworden ist und auch von den neuesten Vertretern dieser Denkrichtung mit großer Energie festgehalten wird, ist durch die Ergebnisse der modernen Völkerkunde nicht nur nicht bestätigt, sondern geradezu als irrig erwiesen worden.50

Für Kant ist die Vernunft das Vermögen, die Struktur des Denkens ausfindig zu machen. Sie ist somit ein selbstreflexives Moment, das dadurch, dass sie sich selbst zum Gegenstand macht, ihre eigenen Prinzipien erkennt.

[...]


2 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt 2001, §123.

3 Fleck Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einf ü hrung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektik, Frankfurt/Main 1980.

4 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main1967.

5 Am Beispiel der Wassermannreaktion, mit der er in der experimentellen Forschung zu tun hatte, zeichnet er seine Theorie nach.

6 Wittgenstein Ludwig, Logisch-philosophische Abhandlung, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt/Main 1998, 1.

7 Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einf ü hrung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt/Main 1980, 1.

8 Ritter Joachim/Gründer Karlfried, Historisches W ö rterbuch der Philosophie, Basel 1998, 643.

9 Ritter Joachim/Gründer Karlfried, Historisches W ö rterbuch der Philosophie, Basel 1998, 910.

10 Ritter Joachim/Gründer Karlfried, Historisches W ö rterbuch der Philosophie, Basel 1998, 910ff.

11 Vgl. Ritter Joachim/Gründer Karlfried, Historisches W ö rterbuch der Philosophie, Basel 1998, 911.

12 Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV) B 59ff.

13 Am klassischen Beispiel, der Kreis ist rund, zeigt sich, dass dem Kreis als Gegenstand das Runde als Eigenschaft notwendigerweise mitgegeben ist. Dieser Satz ist daher eine bloße Erläuterung, Kant bezeichnet solche Arten von Urteilen als tautologische Urteile.

14 Wittgenstein sieht solche notwendigen Wahrheiten nicht als Tatsache, weil sie nichts aussagen und daher inhaltsleer sind. Vgl. Mittelstraß, Jürgen, Enzyklop ä die Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart/Weimar 1995, 209.

15 Vgl. Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, herausgegeben von René König, Berlin : Luchterhand 1965, 105 : „Wenn ich meine Pflichten als Bruder, Gatte oder Bürger erfülle, oder wenn ich übernommene Verbindlichkeiten einlöse, so gehorche ich damit Pflichten, die außerhalb meiner Person und der Sphäre meines Willens im Recht und in der Sitte begründet sind.“

16 Aristoteles, Metaphysik, II , 993a30.

17 Grimm Jacob/Grimm Wilhelm: Deutsches W ö rterbuch, Leipzig 1922, 689.

18 Hoffmann-Krayer E. (Hg.): Handw ö rterbuch des deutschen Aberglaubens, Berlin 1938/1941, 48.

19 Der wissenschaftliche Realismus dieser Art geht implizit von der ontologischen Wirklichkeit von Universalien aus, zumindest bei naturgesetzlichen Zusammenhängen, und bekennt sich somit zum Realismus im Universalienstreit.

20 Es hat sich eine Vielzahl realistischer Positionen herausgebildet, auf die in weiterer Folge nicht eingegangen wird. Jeder Position ist jedoch die Annahme einer beobachtungsunabhängigen Wirklichkeit gemeinsam.

21 Die Begriffspaare Denken/Sein und Sprache/Wirklichkeit werden an dieser Stelle und in weiterer Folge synonym verwendet.

22 Fichte Johann Gottlieb Fichte: Die Bestimmung des Menschen, AAI/6, 246.

23 Kant, KrV, B XV-XVIII.

24 Riezler Kurt, „Die Krise der Wirklichkeit“, in: Die Naturwissenschaften Heft 37/38, 1928.

25 Riezler, „Die Krise der Wirklichkeit“, 708.

26 Riezler, „Die Krise der Wirklichkeit“, 705.

27 Daran knüpft die Phänomenlogie Husserls an, die sich mit den unmittelbar gegebenen Erscheinungen und deren formalen Beschreibung beschäftigt.

28 Vgl. Eberhard Kurt, Einf ü hrung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie. Geschichte und Praxis der konkurrierenden Erkenntnisewge, Stuttgart/Berlin/Köln 1999: Dort werden die unterschiedlichen Wirklichkeiten im Verlauf der Geschichte als verschiedene Erkenntniswege vorgestellt.

29 Riezler, „Die Krise der Wirklichkeit“, 705.

30 Riezler, Kurt: „Die Krise der Wirklichkeit“. In: Die Naturwissenschaften Heft 37/38, 1928, 706.

31 Als Beispiel kann die Debatte zwischen Vertretern des Physikalismus und Vitalismus angeführt werden, bei der die Vitalisten das Lebendige als etwas qualitativ Verschiedenes vom Unlebendigen bezeichnen, im Gegensatz zu den Physikalisten.

32 Riezler, „Die Krise der Wirklichkeit“, 708.

33 Riezler, „Die Krise der Wirklichkeit“, 708.

34 Riezler, „Die Krise der Wirklichkeit“, 709.

35 Ebd., 711.

36 Ebd., 711.

37 Ebd., 712.

38 Fleck Ludwik, Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufs ä tze, Frankfurt/Main 1983, 46.

39 Im Artikel wird in einer Fußnote explizit auf den Aufsatz von Riezler verwiesen. Diese Fußnote wurde im Sammelband Erfahrung und Tatsache nicht mit hineingenommen, sodass an dieser Stelle auf das Archiv der Zeitschrift Die Naturwissenschaften Heft 23, 1929, 425 verwiesen werden muss.

40 Fleck, Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufs ä tze, 46.

41 Fleck, Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufs ä tze, 47.

42 Fleck, Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufs ä tze, 47. Übersetzt heißt es in etwa: Nichts kommt zum Verstand, wenn es nicht zuvor in den Sinnen war. Die Umkehrung lautet folgendermaßen: Nichts ist in den Sinnen, was nicht zuvor im Verstand war.

43 Fleck, Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufs ä tze, 47. Kursive Form im Original.

44 Fleck, Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufs ä tze, 49.

45 Sowohl Empiristen als auch Idealisten können als Reduktionisten verstanden werden, weil beide das Eine zum Prinzip erklären, aus dem sich das Andere ableiten lässt.

46 Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 119.

47 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV) B 30f.

48 Kant, Kritik der reinen Vernunft (KrV) B 75.

49 Die Kategorien bei Kant: Qualität, Quantität, Relation

50 Wilhelm Jerusalem, Die soziologische Bedingtheit des Denkens und der Denkformen. Zitiert aus Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 64.

Ende der Leseprobe aus 111 Seiten

Details

Titel
Ludwik Flecks Erkenntnistheorie und der Begriff des Wirtschaftswachstums
Untertitel
Auf der Suche nach dem Denkstil der neoklassischen Ökonomie
Hochschule
Universität Wien
Autor
Jahr
2012
Seiten
111
Katalognummer
V191450
ISBN (eBook)
9783656163213
ISBN (Buch)
9783656164180
Dateigröße
1211 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
ludwik, flecks, erkenntnistheorie, begriff, wirtschaftswachstums, suche, denkstil, ökonomie
Arbeit zitieren
Markus Karner (Autor:in), 2012, Ludwik Flecks Erkenntnistheorie und der Begriff des Wirtschaftswachstums, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191450

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