Die Zerstörung einer Familie durch rigide Tugendvorstellungen

Zur Familienkonstellation in Gotthold Ephraim Lessings bürgerlichem Trauerspiel „Emilia Galotti“


Hausarbeit, 2011

30 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Das deutsche bürgerliche Trauerspiel
2.1 Allgemeines
2.2 Gründe für die Schwerpunktsetzung auf das Vater-Tochter-Verhältnis und die untergeordnete Rolle der Mutter

3 Die Aufklärung und die damit einhergehenden familiären Veränderungen

4 „Emilia Galotti“. Charakterisierung der Familienmitglieder
4.1 Emilia, dietugendhafte, behütete Tochter
4.2 Odoardo, dermisstrauische,autoritäre Vater
4.3 Claudia, dielebensfrohe,naiveMutter

5 Die Familienkonstellation und die Bedeutung moralischer Werte
5.1 Emilia - Odoardo
5.2 Emilia-Claudia
5.3 Odoardo - Claudia

6 Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing leistete mit seinem Drama „Emilia Galotti“ (1772) einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland. So bedeutet dessen Erscheinen für den Philosophen Kuno Fischer „die Geburt der modernen deutschen Tragödie“[1]. Zudem „wirkte [Emilia Galotti] stärker als irgendein anderes Werk auf die zeitgenössische Produktion“[2]. Aus diesem Grunde habe ich dieses heute noch bedeutende Trauerspiel ausgewählt.

Der Inhalt des Dramas geht zurück auf die antike Virginia-Sage, in der ein Vater der eigenen Tochter das Leben nimmt, damit ihre Unschuld bewahrt wird.

Aber auch die Lucretia-Legende, die davon handelt, dass eine tugendhafte Frau vergewaltigt wird und sich daraufhin selber tötet, hatte Einfluss auf die Handlung in „Emilia Galotti“.

Anders als die beiden genannten Werke ist Lessings Dramajedoch nicht politisch gestaltet, weil der Schwerpunkt beim bürgerlichen Trauerspiel auf die Familie gesetzt wird und Staatsinteressen nicht von Belangen sind.

In dieser Hausarbeit möchte ich mich eingehender mit dem Text beschäftigen und dabei untersuchen, wie die Figuren, die der Familie Galotti angehören, dargestellt werden und in welchen Verhältnissen sie zueinander stehen. Ich werde vor allem die Beziehung zwischen der Tochter Emilia und ihrem Vater Odoardo näher beleuchten. Weiterhin möchte ich ergründen, inwiefern die bürgerlichen Wertvorstellungen des 18. Jahrhunderts, maßgeblich das Ideal der Tugend, Einfluss auf die literarische Familie Galotti ausüben.

Nach einer theoretischen Einführung, in der ich skizzenhaft auf das deutsche bürgerliche Trauerspiel wie auf die familiären Veränderungen im Zuge der Aufklärung eingehe, werde ich die Familienmitglieder zunächst einzeln und anschließend in Beziehung zueinander analysieren.

2 Das deutsche bürgerliche Trauerspiel

2.1 Allgemeines

Das deutsche bürgerliche Trauerspiel entsteht Mitte des 18. Jahrhunderts durch eine Interessenverschiebung. So fordert vor allem Lessing, Theateraufführungen sollten keine heroischen Figuren zeigen, die Bewunderung beim Publikum auslösen, sondern rührend gestaltet sein, um Mitleid bei den Zuschauern zu erregen und sie sittlich zu bessern. Das ist allerdings nur möglich, wenn diese sich mit den Figuren identifizieren können, weshalb das bürgerliche Trauerspiel nicht nur zumeist gemischte Charaktere (die weder eindeutig gut noch böse sind) präsentiert, sondern im Gegensatz zum bis dahin bekannten klassischen Trauerspiel (auch bezeichnet als Tragödie) auch nicht mehr an die Ständeklausel gebunden ist, was bedeutet, dass die Protagonisten keine hochrangigen Personen bzw. Adlige sein müssen. Möglich ist dies aber schon, da der Begriff „bürgerlich“ keine bestimmte gesellschaftliche Schicht bezeichnet, sondern das Private, Häusliche, Humanitäre und vor allem auch Familiäre in den Mittelpunkt stellt. Obgleich sich das bürgerliche Trauerspiel von der Ständeklausel löst, entspricht es doch oftmals noch der Forderung Aristoteles' nach Einlösung der drei Einheiten, dadurch gegeben, dass die Handlung innerhalb eines Tages spielt, auf wenige Personen beschränkt ist und kaum Ortswechsel stattfinden. Auch Lessing hält sich bei der Konzeption „Emilia Galottis“ an diese Vorgabe.

2.2 Gründe für die Schwerpunktsetzung auf das Vater-Tochter-Verhältnis und die untergeordnete Rolle der Mutter

In der bürgerlichen Realität des 18. Jahrhunderts hat die Mutter eine wesentliche Position inne, da sie mit der Erziehung der Kinder betraut ist und zudem „für ein harmonisches und gefühlsintensives Miteinander unter den Familienmitgliedern sorgt“[3].

Betrachtet man dagegen das bürgerliche Trauerspiel, so wird deutlich, dass die Mutter für die Familienkonstellation lediglich von geringer Relevanz ist und zumeist nur über eine „Vermittler- und Zwischenposition“[4] zwischen Vater und Kindern verfügt. In vielen Trauerspielen ist nicht einmal eine Mutter vorhanden, und ist dies zu Beginn noch nicht so, ändert sich das Geschehen häufig im Verlauf dahingehend. Entweder die Mutter stirbt oder ist aus anderen Gründen abwesend. „Emilia Galotti“ bildet hier einen Sonderfall, da die Mutter Emilias fast bis zum Ende des Dramas präsent ist. Dadurch, dass die Eheleute getrennt leben und Claudia im Gegensatz zu ihrem Gatten Odoardo immerzu Einfluss auf Emilia nehmen kann, wird ihre Position zusätzlich gestärkt.

Dennoch ist augenscheinlich, dass Claudia nicht ausschließlich positiv besetzt ist, sondern als gemischter Charakter auch über negative Eigenschaften verfügt.

Der Vater ist im bürgerlichen Trauerspiel von zentraler Bedeutung für den Protagonisten, wobei es sich bei letzterem fast ausschließlich um die Tochter dessen handelt. Zwischen diesen beiden Figuren wird ein Konflikt entwickelt, durch den das Vater-Tochter-Verhältnis zwangsläufig in das Zentrum der Handlung gerät; so auch im hier behandelten Drama, in dem die Mutter nicht wesentlich am dramatischen Konflikt beteiligt wird. Zwar ist sie mitschuldig daran, dass die Lage eskaliert, trägt jedoch keine Verantwortung für Emilias rigoroses Tugendideal, das ganz an den Wertvorstellungen des Vaters ausgerichtet ist.

Eine Begründung für die Schwerpunktsetzung im bürgerlichen Trauerspiel findet sich laut Hempel darin, dass einzig der Vater - begründet durch seine autoritäre Stellung - in der Lage sei, den Kindern moralische Werte zu vermitteln, die die Handlung des Dramas wesentlich beeinflussen. Dagegen sei die Mutter vor allem dann Ansprechpartnerin, wenn das Kind über seine Gefühle sprechen oder praktische Kenntnisse erlernen wolle.[5] Aufgrund der Unterordnung der Frau, vergleichbar beinahe mit Unmündigkeit, verfüge die Mutter zudem nur über begrenzte Einflussmöglichkeiten.[6]

Was die Bevorzugung der Tochter als Protagonistin betrifft, so äußert Hassel die Vermutung, „daß die Töchter durch ihre spezifische weibliche Rolle der Sphäre der Öffentlichkeit weitgehend entzogen und auf den privaten Lebensbereich festgelegt sind“[7], womit sie geradezu prädestiniert für das bürgerliche Trauerspiel sind. Zudem „untersteht die Tochter der Verfügungsgewalt des Vaters [in ganz besonderer Weise], [da dieser] ihr nicht nur in ökonomischer und sozialer Hinsicht Schutz gewährt, sondern in der patriarchalischen Familie auch als Hüter der weiblichen Sexualität fungiert.“[8]

So lässt sich erklären, aus welchem Grund Odoardo in der Konzeption „Emilia Galottis“ von größerer Bedeutung ist als Claudia und warum seine Beziehung zu Emilia die Handlung wie auch die Katastrophe maßgeblich beeinflusst.

3 Die Aufklärung und die damit einhergehenden familiären Veränderungen

,„Emilia GalottP gilt als das Drama der Aufklärung.“[9] Dies sei vor allem deshalb der Fall, weil hier zwei Gesellschaftsgruppen kontrastreich gegenübergestellt würden.[10] Zwar gehört die Familie Galotti ebenso wie der Prinz dem Adel an, doch da sie in ihrer Lebensweise und Gesinnung eher dem Bürgertum gleicht[11], kann man hier durchaus von der Konfrontation zweier gegensätzlicher Schichten sprechen.

Da die Abgrenzung zwischen Bürgertum und Adel sowie die damit einhergehende Entwicklung unterschiedlicher Werte, die von großer Bedeutung für das Verständnis von „Emilia Galotti“ ist, vor allem während der Aufklärung im 18. Jahrhundert stattfindet, werde ich im Folgenden näher darauf eingehen.

„Die Aufklärung entwarf ein neues Menschenbild, sie bereitete die Befreiung des Menschen aus der Bevormundung des Denkens durch Kirche und Staat vor und erfüllte somit eine wichtige Vorbedingung für die Herauslösung der Gesellschaft aus ihrer ständischen und religiösen Gebundenheit.“[12]

Im Zuge der Aufklärung wandelt sich auch die Bevölkerung. Für das Bürgertum, bestehend aus Bildungsbürgern, Großkaufleuten und Unternehmern, erhält das Familiäre eine gänzlich neue Qualität. Kindererziehung, Gemütlichkeit und Häuslichkeit stehen im Vordergrund.

„In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts scheint das Selbstwertgefühl einer Familie weniger von ihrer sozialen Stellung, ihrer Schicht- oder Klassenzugehörigkeit abhängig, als vielmehr von einer wohlgeordneten und angenehmen Privatsphäre. [...] Ein Vater ist in erster Linie Vater und dann erst Staatsbeamter, Kaufmann oder Gelehrter. Sein Rang als Familienoberhaupt und Erzieher zählt mehr als das höchste Amt. Das Wertgefälle verschiebt sich eindeutig zu Gunsten des Privaten.“[13]

Auch die Beziehung der Eheleute verändert sich dahingehend, dass diese nun zunehmend aus Liebe heiraten und nicht mehr aus Gründen der Zweckmäßigkeit. Eine Erklärung für diesen Wandel ist darin zu finden, dass Beruf und Privatleben nun weitestgehend voneinander getrennt sind. Während zuvor oftmals die gesamte Familie als Produktionsgemeinschaft im Hause arbeitete und die einzelnen Mitglieder vor allem als Arbeitskräfte betrachtet wurden, ist dieser Bereich in der modernen Kleinfamilie ein Ort des Rückzugs und des ausschließlich Privaten.[14]

Auf diese Weise entsteht ein neues Lebensideal, durch das sich die Menschen nachdrücklich von den Angehörigen des Adels abgrenzen können, für die das Familiäre keinen hohen Stellenwert besitzt und die aufgrund ihrer Sitten gemeinhin als unmoralisch betrachtet werden. Dadurch, dass die Etablierung des neuen Modells gelingt, bildet sich ein neues bürgerliches Selbstbewusstsein, wodurch das Bürgertum nicht nur eine größere Bedeutung erhält, sondern schließlich auch das bürgerliche Trauerspiel entsteht.

Diese neue Dramenform würdigt die Bürgerlichkeit in hohem Maße:

„Indem nun Empfindungen, Probleme und geistige sowie emotionale Fähigkeiten des Einzelnen in den Mittelpunkt von Tragödien gestellt werden, erfährt das Individuum gegenüber dem repräsentierenden Adligen und dem Herrscher eine ungeheure Aufwertung.“[15]

Einhergehend mit der Aufklärung gestaltet sich ein neues Familienbild, vor allem bezüglich der Rolle des Familienvaters. So wird besonders dessen Verhältnis zu seinen Kindern intensiver und emotionaler. Die Begründung liegt in der nun hervorgehobenen Stellung des Gefühls, bezeichnet als Empfindsamkeit, die wiederum dadurch ausgelöst wird, dass die einzelnen Familienmitglieder, vor allem die Kinder, als selbstständige Individuen leben möchten und mit dem Aufbau einer emotionalen Beziehung versucht wird, ihren Einbezug in die Familienstruktur zu sichern, damit sie der Familie erhalten bleiben.[16]

Zudem stellt sich heraus, dass ,,[d]ie durch den Einfluß der Empfindsamkeit reduzierte Autorität des Vaters [...] Illusion“[17] ist. „Durch die Emotionalisierung der Familie wird väterliche Autorität [...] keineswegs in Frage gestellt, abgemildert oder relativiert - sie wird im Gegenteil unter sich ändernden Vorzeichen neuerlich gerechtfertigt.“[18]

Der Vater hat also nach wie vor eine unangefochtene autoritäre Hauptstellung inne, was den Forderungen der Aufklärung nach Gleichheit und Selbst­verwirklichung des Individuums eindeutig widerspricht.[19]

Als wesentliche Eigenschaften der Frau gelten hingegen „Passivität, Emotionalität, Leutseligkeit und Schüchternheit, ein[...] feine[r] Verstand und die Neigung zur Sanftmut, Freundlichkeit und zum Gehorsam“[20].

Zwar handelt es sich bei diesen Schilderungen um die Verhältnisse innerhalb des Bürgertums, doch unterzieht man diese einem Vergleich mit „Emilia Galotti“, so wird deutlich, dass die Beziehungen der Familie dort ganz ähnlich aufgebaut sind, obgleich die Galotti dem niederen Adel angehören. So trägt Familienoberhaupt Odoardo die volle Verantwortung für seine Frau Claudia sowie seine Tochter Emilia und regiert mit „Macht und Liebe“[21]. Alle wesentlichen Entscheidungen werden von ihm getroffen, so auch die, welchen Mann Emilia heiraten darf. Emilias Charakter dagegen entspricht demjenigen, der seinerzeit bei Frauen als schicklich gilt.

Die große Bedeutung der Tugend im 18. Jahrhundert, die dadurch entsteht, dass die Frau als moralisch minderwertig gegenüber dem Mann gilt, führt dazu, dass junge Frauen sich ständig selbst beobachten und kontrollieren, um dem Idealbild der Keuschheit und Reinheit, das ihnen von Kindheit an von ihrer Familie, vor allem vom patriarchalischen Vater, vermittelt wird, so weit wie nur möglich zu entsprechen, so dass die Ausbildung einer persönlichen Autonomie kaum möglich ist.

[...]


[1] Bernhardt, 2004, S. 5.

[2] Gehrke, 1996, S. 24.

[3] Hassel, 2002, S. 38.

[4] Siehe ebenda, S. 44.

[5] Vgl. Hempel, 2006, S. 28.

[6] Vgl. Vogg, 1993, S. 61.

[7] Hassel, S. 45.

[8] Siehe ebenda.

[9] Urban, 2000, S. 35.

[10] Vgl. ebenda, S. 37.

[11] Vgl. Peter, 1980, S. 42-43, S. 48.

[12] Vogg, S. 54.

[13] Siehe ebenda, S. 58.

[14] Vgl. Hassel, S. 22-23.

[15] Hellberg, 2000, S. 107.

[16] Vgl. Hempel, S. 22.

[17] Choi, 2001, S. 100.

[18] Hempel, S. 23.

[19] Vgl. Hassel, S. 25.

[20] Siehe ebenda, S. 28.

[21] Siehe ebenda, S. 26.

Ende der Leseprobe aus 30 Seiten

Details

Titel
Die Zerstörung einer Familie durch rigide Tugendvorstellungen
Untertitel
Zur Familienkonstellation in Gotthold Ephraim Lessings bürgerlichem Trauerspiel „Emilia Galotti“
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1,7
Autor
Jahr
2011
Seiten
30
Katalognummer
V191233
ISBN (eBook)
9783656159490
Dateigröße
524 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
"In einer sehr ausführlichen Arbeit gelingt der Verf. eine weitgehend stimmige und im Ganzen sehr kompetente Lösung der selbstgestellten Aufgabe [...]. [D]ie Untersuchung [stellt] einen durchaus gelungenen Versuch der Herausarbeitung eines zentralen Aspekts des Lessingschen Trauerspiels dar, wozu eine offenbar eingehende Beschäftigung mit der Thematik ebenso beitragen wie die sprachlich und gedanklich transparente Darstellung, die auch eigene Positionen zu vertreten in der Lage ist."
Schlagworte
Hausarbeit, Lessing, Literaturwissenschaft, Emilia Galotti, Familienkonstellation, bürgerliches Trauerspiel
Arbeit zitieren
Stefanie Bonk (Autor:in), 2011, Die Zerstörung einer Familie durch rigide Tugendvorstellungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191233

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