Das sprachliche Interaktionsverhalten während einer Bilderbuchbetrachtung

Mütter von normal entwickelten Zweijährigen und Late Talkers im Vergleich - Ergebnisse eines qualitativen Forschungsansatzes


Magisterarbeit, 2010

101 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

Darlegung des Erkenntnisinteresses

1 Theoretische Überlegungen
1.1 Spracherwerb
1.1.1 Normaler Spracherwerbsverlauf und individuelle Abweichungen
1.1.2 DerErwerbdesLexikons
1.1.3 Spracherwerbstheorien - „Nature versus Nurture“
1.1.4 Bruners interaktionistische Theorie zum Wortbedeutungserwerb
1.1.5 Die an das Kind gerichtete Sprache
1.2 Late Talker
1.2.1 Begriffsklärung
1.2.2 Das Phänomen „Late Bloomer“
1.2.3 Prävalenz und Ursachen
1.2.4 Besonderheiten im Spracherwerb
1.2.5 Diagnostische Möglichkeiten
1.2.6 SSES als mögliche Folge - und die Bedeutung einer Frühintervention
1.3 Das Bilderbuch
1.3.1 Emergent Literacy
1.3.2 Förderung sprachlicher Fähigkeiten
1.3.3 Unterschiede in der sprachlichen Mutter-Kind-Interaktion
1.3.4 Das Konzept „Dialogic Reading“

2 Zielsetzung und Methode
2.1 Untersuchungsfrage
2.2 Vorüberlegungen
2.3 Beschreibung der Stichprobe
2.3.1 Gruppe 1
2.3.2 Gruppe2
2.4 Durchführung 5o
2.4.1 Ablauf
2.4.2 Erhebungsinstrumente
2.4.3 Kodierung und Analyse der Mutter-Kind-Interaktion

3 Ergebnisse
3.1 Kindliches Sprach- und Interaktionsverhalten
3.1.1 Gruppe 1
3.1.2 Gruppe2
3.2 Mütterliches Sprach- und Interaktionsverhalten
3.2.1 Gruppe 1
3.2.2 Gruppe 2
3.2.3 Übertragung auf die Beurteilungsskala

4 Diskussion
4.1 Interpretation der Ergebnisse
4.1.1 Gruppe 1
4.1.2 Gruppe 2
4.1.3 Vergleich der beiden Gruppen
4.2 Reflexion der Untersuchungsfragen
4.3 Methodenreflexion

5 Zusammenfassung & Ausblick
Quellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis

Darlegung des Erkenntnisinteresses

„Die Mutter-Kind-Interaktion kann als ein didaktisches System aufgefaßt -werden.“

(Grimm 1999, 41)

So beschreibt Grimm (1999) den Rahmen, in dem Kinder von Beginn an ihre Muttersprache erwerben, in der Interaktion mit der Bezugsperson, welche das Gerüst für diesen kom­plexen Entwicklungsprozess bildet.

Was geschieht jedoch mit diesem „didaktischen System“, wenn es ins Wanken gerät, wenn Kinder schon früh Abweichungen von einem normalen Sprachentwick­lungsverlauf zeigen? Können sich Mütter[1] auf die geminderten Kompetenzen ihres Kindes einstellen und wie sieht diese Anpassung im konkreten Fall aus?

Dies ist nur eine von vielen Möglichkeiten, an das frühe Auftreten von Störungen des Spracherwerbs heranzugehen. Ebenso könnte man die folgende Frage formulieren:

Wodurch entstand die Störung der Sprachentwicklung und sind die Ursachen hierfür möglicherweise in diesem „didaktischen System“, also in der Kommuni­kation mit der Mutter zu suchen?

Während in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Forschungsinteresse vermehrt auf die zweite Fragestellung gerichtet wurde und ein kausaler Zusammenhang mit dem mütterlichen Sprach- und Interaktionsverhalten (SIV) vermutet wurde, hat sich der Schwerpunkt der Forschung heute in eine andere Richtung verlagert (Grimm 1999). Wissenschaftler sind sich darüber einig, dass es sich bei der Begründung einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES) um einen multidimensionalen Ursachenkomplex han­delt und die Suche nach Erklärungen somit nicht in einem einzigen Einflussbereich der Sprachentwicklung stattfinden darf.

Dennoch ist das Interesse an möglichen Besonderheiten im SIV von Müttern und ihren sprachentwicklungsverzögerten Kindern auch heute noch groß.

Die Motivation für diese Arbeit gründet auf der Faszination des Spracherwerbs an sich und der einzigartigen Rolle, die die Mutter in dieser Entwicklungsphase spielt. Dieser Prozess des Spracherwerbs, so konnten es Wissenschaftler belegen, stellt sich als sehr robustes System heraus, wodurch auftretende Störungen ohne eine bestehende Primärbeeinträch­tigung auch heute noch ein Rätsel für die Ursachenforschung darstellen. Neben biolo­gischen und weiteren Faktoren wurde auch das (sprachliche) Umfeld vielfach untersucht. Erschöpfende Begründungen für eine SSES fehlen jedoch noch.

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich deshalb mit dem SIV von Müttern normal entwickelter Kinder (N-Mütter) und versucht, dieses mit dem SIV von Müttern von Late Talkers (S-Mütter) zu vergleichen. Dabei handelt es sich jedoch weniger um die Suche nach einer Ursache für den späten Sprechbeginn, sondern vielmehr um die Analyse des Zusammenhangs und der wechselseitigen Beeinflussung von kindlichem und mütterlichem Sprachverhalten. Wie auch Grimm (1999) betont, geht es nicht darum, Schuldzuweisungen zu machen, sondern vielmehr darum, den komplexen Prozess des Spracherwerbs, ein­gebettet in die Interaktion mit der Mutter, zu analysieren und zu interpretieren, was in der Praxis von großem Nutzen sein kann.

Für die Untersuchung dieser komplexen Zusammenhangsstruktur von mütterlichem und kindlichem SIV wurde die Situation der gemeinsamen Bilderbuchbetrachtung gewählt und per Video aufgezeichnet. In einem zweiten Schritt wurde das so entstandene Sprach- material dann in Anlehnung an das Konzept „Dialogic Reading“ von Whitehurst analysiert und in Form einer strukturierten qualitativen Inhaltsanalyse aufbereitet.

Im ersten Kapitel dieser Arbeit werden theoretische Grundlagen dargestellt, die für das Verständnis des praktischen Teils notwendig sind. Angaben zur Zielsetzung und Methode finden sich anschließend im zweiten Teil. Im dritten Abschnitt werden dann die Ergebnisse der Analyse vorgestellt, bevor diese in einem abschließenden Resümee, bezogen auf die Fragestellung der vorliegenden Arbeit, diskutiert und interpretiert werden.

1 Theoretische Überlegungen

Das erste Kapitel dieser Arbeit widmet sich theoretischen Aspekten, die bedeutend für das Verständnis und die Argumentation der vorliegenden Arbeit sind.

Einführend wird auf relevante Teilbereiche des frühen Spracherwerbs eingegangen, bevor die untersuchte Population der Late Talker vorgestellt wird. Im Rahmen eines dritten Abschnittes werden wesentliche Aspekte zusammengefasst, die sich auf das Medium des Bilderbuches beziehen. Die Vorstellung des Konzepts „Dialogic Reading“ bildet den Ab­schluss der theoretischen Überlegungen und legt die Grundlage für das Verständnis des praktischen Teils.

1.1 Spracherwerb

Im Folgenden soll ein Überblick über den normalen Spracherwerbsverlauf des Kindes gegeben werden und auf individuelle Unterschiede bei der Bewältigung dieser komplexen Aufgabe eingegangen werden. Der Erwerb der Sprache kann im Rahmen dieser Arbeit nur in groben Zügen dargestellt werden, wobei zusätzlich eine Schwerpunktsetzung stattfinden muss. Insbesondere soll näher auf die frühe lexikalische Entwicklung eingegangen werden. Besonderes Augenmerk soll außerdem auf die Rolle der Mutter und die Besonderheiten im mütterlichen Sprachverhalten in den ersten Lebensjahren gelegt werden.

1.1.1 Normaler Spracherwerbsverlauf und individuelle Abweichungen

Ein Überblick über die „normale“ Sprachentwicklung ist nötig, „denn Abweichungen und Defizite lassen sich nur vor dem Hintergrund der ungestörten Entwicklung verstehen“ (Grimm 1999, 5-6). Grimm folgend, sollen zunächst wichtige Meilensteine eines typisch verlaufenden Erstspracherwerbs und individuelle Abweichungen dargestellt werden, anschließend wird die lexikalische Entwicklung näher untersucht. Um einen möglichst umfassenden, gleichzeitig aber übersichtlichen Überblick zu geben, werden die nötigen Daten überwiegend in Form von Tabellen und Abbildungen dargestellt.

Was wird erworben?

Tabelle i gibt einen Überblick über die verschiedenen Kompetenzen, die sich das Kind beim Spracherwerb aneignen muss (in Anlehnung an Grimm 1999). Diese sind nach Grimm (1999) als eigenständige Wissenssysteme zu betrachten, für deren Erwerb unterschiedliche Entwicklungsmechanismen wirksam sind. So können Störungen auch auf einzelnen Ebenen auftreten, ohne dass die anderen Kompetenzen dadurch gemindert werden.

Tabelle 1 Komponenten der Sprache

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Meilensteine

„Wenn der Säugling auf die Welt kommt, so ist er kein unbeschriebenes Blatt.“

(Grimm 1999,19)

Untersuchungen haben ergeben, dass Föten im Gestationsalter zwischen 28-38 Wochen innerhalb von % Sekunde mit einem kräftigen Augenzwinkern auf sprachliche Reize reagierten (Birnholz & Benaccerat 1983 zitiert nach Grimm 1999). Darüber hinaus lassen Säuglinge nach der Geburt eine klare Präferenz für die mütterliche Stimme erkennen, was ebenfalls als Bestätigung der vorgeburtlichen Lernerfahrungen gewertet werden kann (Dittmann 2006, Horsch 2003). Diese und weitere Ergebnisse aus der Säuglingsforschung lassen darauf schließen, dass die Sprachentwicklung bereits vorgeburtlich im Mutterleib beginnt.

Zusätzlich bringt das Kind weitere Kompetenzen für den Spracherwerb mit, die Grimm (1999) als sogenannte „Vorausläuferfähigkeiten“ bezeichnet. Aufbauend auf diesen Kom­petenzen, durchläuft das Kind verschiedene Entwicklungsschritte in einer festgelegten Reihenfolge.

Spracherwerbsforscher gehen heute davon aus, dass bestimmte Meilensteine innerhalb einer „sensiblen“ bzw. „kritischen“ Phase erreicht werden müssen, um einen regelhaften Erstspracherwerb zu ermöglichen. Umstritten ist jedoch bislang, wann genau sich diese Zeitfenster schließen (Schlesiger 2007, S.120). Wichtige Meilensteine der produktiven phonologischen Entwicklung werden in Tabelle 2 überblicksweise dargestellt (in Anlehnung an Grimm & Weinert 2005).

Tabelle 2 Meilensteine der produktiven phonologischen Entwicklung: Von Sprachlauten zur Wortproduktion

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Aufbauend auf den früh erworbenen prosodisch-phonologischen und lexikalischen Kom­petenzen treten ab dem Alter von ca. 28 Monaten grammatikalische Entwicklungen in den Vordergrund (Grimm 1999).

Da das Hauptaugenmerk dieser Arbeit auf der frühen lexikalischen Entwicklung liegt, soll dieser knappe Überblick genügen und im Weiteren auf die individuell auftretenden Unter­schiede im Verlauf des Spracherwerbs eingegangen werden.

Individuelle Unterschiede - Spracherwerbsstrategien nach Bates et al.

Altersangaben zur sprachlichen Entwicklung eines Kindes können lediglich einen Anhalts­punkt geben und dürfen keinesfalls als Normdaten gewertet werden. Szagun (2006) zu Folge fehlen hierzu noch repräsentative Studien mit entsprechend großen Stichproben. Aus diesem Grund wird zur Darstellung individueller Unterschiede im Spracherwerb auf die bislang größte Anzahl deutschsprachiger Probanden zurück gegriffen, die im Rahmen der Normierungsstichprobe des Fragebogens zur frühkindlichen Sprachentwicklung (FRAKIS) erfasst wurde (Szagun et al. 2004). Die Kinder dieser Untersuchung waren im Alter zwi­schen 1506 und 2;06.

Szagun (2006) betont, aufbauend auf den gewonnenen Ergebnissen, die starke Variabilität in der Schnelligkeit und der Art des Erwerbs der Sprache. Die Autorin konnte zeigen, dass Kinder sehr individuelle und verschiedene Entwicklungsverläufe aufWeisen, ohne dass diese zwangsläufig pathologisch sind. Dadurch wird die Bedeutung der Begriffe „Meilenstein“ und „Zeitfenster“ stark relativiert. Der Aspekt der Schnelligkeit wird in 1.1.2 anhand des Lexikon­erwerbs näher erörtert.

Im Folgenden soll die auf Bates et al. (1988) zurückgehende Differenzierung zwischen „analytisch“ und „holistisch“ bezeichneten Spracherwerbsstrategien vorgestellt werden, um dabei wichtige Aspekte der semantisch-lexikalischen Entwicklung hervorzuheben (Bates et al. 1988 zitiert nach Szagun 2006).

Neben Unterschieden im Bereich der Grammatik, Pragmatik und Phonologie betonen Bates et al. (1988) vor allem Variationen in verschiedenen semantischen Aspekten. Während analytische Kinder in den ersten 50 Wörtern einen hohen Nomen-Anteil aufweisen, ver­wenden holistische Kinder häufiger soziale oder stereotype Ausdrücke. Die lexikalische Entwicklung analytischer Kinder ist außerdem geprägt von einem schnellen Vokabel­wachstum und wenig Imitation des Inputs als Lernstrategie. Holistische Kinder scheinen die Imitation hingegen stärker zum Worterwerb zu nutzen und weisen ein langsameres Wortschatzwachstum auf. Anders als analytische Kinder gebrauchen sie ihre frühen Wörter flexibler und weniger kontextgebunden.

Diese Unterschiede im Vorgehen beim Worterwerb können sich jedoch mit der Zeit relativieren und beziehen sich vor allem auf den frühen Spracherwerb (Szagun 2006). Des Weiteren geht man heute davon aus, dass diese Strategien meist kombiniert auftreten und innerhalb der Kommunikation verschiedene Funktionen einnehmen (vgl. Dittmann 2006, S. 35). Auch Bates et al. (1996) weisen darauf hin, dass hier keine strikte Einteilung von Kindern in die beiden Erwerbsstile möglich sein kann, da es sich vielmehr um eine beobachtete Tendenz zum analytischen oder eher zum holistischen Stil handelt.

Für das Verständnis der vorliegenden Arbeit ist es wichtig, sich darüber bewusst zu sein, dass der Spracherwerb kein starres System ist, das von allen Kindern in der selben Reihenfolge, Geschwindigkeit und Art und Weise durchlaufen wird. Es gibt individuell sehr verschiedene Entwicklungsverläufe, wie sich auch bei der Darstellung des Lexikon-Erwerbs zeigen wird.

1.1.2 Der Erwerb des Lexikons

Die folgende Darstellung des Wortschatzerwerbs fokussiert den Zeitraum zwischen dem ersten und dem dritten Lebensjahr des Kindes. Dabei wird besonders die Entwicklung des produktiven Wortschatzes hervorgehoben.

„Eine durchgängige Erkenntnis besagt, dass der Verlauf des Wortschatzerwerbs außer­ordentlichen individuellen Schwankungen unterliegt“ (Dittmann 2006, 45). Abbildung 1 soll diese starke Variabilität veranschaulichen und zur Orientierung für den dargestellten Ablauf der lexikalischen Entwicklung dienen. Hierbei handelt es sich um die Ergebnisse der Normierungsstichprobe des FRAKIS, die bereits in 1.1.1 aufgegriffen wurde.

Wortschatz

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1 Anstieg des Wortschatzes zwischen 1;6 und 2;6

(AM = arithmetisches Mittel, SD = Standardabweichung) (nach Szagun 2006, S. 209)

Der Beginn des Lexikonerwerbs kann bereits im ersten Lebensjahr angesiedelt werden. Hier beginnt das Kind durch Gesten, Blicke und aufmerksamkeitslenkende Vokalisierungen erste vorsprachliche Mittel der Referenz einzusetzen. Dieser Meilenstein setzt voraus, dass das Kind einen „Bezug zwischen verbalen und nichtverbalen Ausdrucksformen und Gegen­ständen, Handlungen, Konzepten oder Perzepten aus der Umwelt“ (Kauschke 1999, 131) herstellen kann. Relativ zeitnah setzt das Wortverstehen im Alter zwischen 8 und 10 Monaten ein (Kiese-Himmel 2008). Der rezeptive geht dem produktiven Worterwerb also um einige Monate voraus, was sich auch in der folgenden Entwicklung widerspiegelt (Kauschke 2000, Klann-Delius 2008).

Mit etwa neun Monaten treten die ersten sogenannten „Protowörter“ (zum Beispiel [bm] für Auto) auf, die situationsgebunden sind und eine Vorform der ersten „echten“ Wörter bilden (Kauschke 1999, Dittmann 2006). Diese werden erstmals mit ca. einem Jahr pro­ duziert und stellen das Ergebnis der sogenannten „Benenneinsicht“ dar. Darunter verstehen Autoren die Erkenntnis, dass allen Gegenständen in der kindlichen Umgebung ein Name zugewiesen werden kann (Dittmann 2006). Bekannte Phänomene dieses frühen Wort­gebrauchs sind Überdehnungen, Unterdehnungen, Überlappungen und „mismatch“ (Kauschke 1999).

Die von vielen Wissenschaftlern vertretene Hypothese der „noun bias“, also einer Nomen­präferenz im frühen Stadion des Worterwerbs wird heute nicht mehr angenommen. Kauschke (1999) konnte diese These in ihrer Studie, die sich mit der frühen lexikalischen Entwicklung deutscher Kinder beschäftigte, widerlegen. So sind es vor allem „relational words“ und „personal-social words“, die im frühen Lexikon einen dominierenden Anteil einnehmen. Die ersten Wörter sind sehr stark vom Umfeld des Kindes geprägt und erfahren im Laufe der Entwicklung eine allmähliche Dekontextualisierung (Kauschke 1999).

Nach der Bildung der ersten Wörter wächst der Wortschatz zunächst nur langsam an, bis eine Grenze von 50 Lexemen erreicht wird.

Danach setzt meist der sogenannte „Vokabelspurt“ ein, dessen Existenz jedoch bislang stark umstritten ist.

Kauschke (1999) konnte das Auf­treten eines sprunghaften An­wachsens des Vokabulars nach dem Erreichen der 50-Wörter-Grenze bestätigen und auch Grimm (1999) interpretiert diesen Schwellenwert

als Grundstein für den weiteren Spracherwerb (vgl. Abbildung 2).

Eine besonders starke Variabilität in dieser Entwicklungsphase (etwa zwischen 159 und 2;4) wird in Abbildung 1 deutlich; Ab dem Alter von 254 nimmt diese wieder ab (Szagun, 2006).

Bis zum Alter von 24 Monaten erwirbt das Kind ca. 300 Wörter. Im weiteren Sprach- erwerbsverlauf wird das Lexikon stetig erweitert, verfeinert und umstrukturiert. Mit 36 Monaten wächst das Vokabular auf ca. 500 Wörter an. Ein sechsjähriges Kind verfügt über einen produktiven Wortschatz von durchschnittlich 5.000 Wörtern (Kauschke 1999). Im Alter von 12 Jahren ist der Wortschatzerwerb dann in wesentlichen Zügen abgeschlossen (Kauschke 2008b).

Doch wie ist der Spracherwerbsprozess, speziell der Worterwerb überhaupt möglich? Wie schafft es das Kind, die nötigen Informationen aus der Umgebungssprache herauszufiltern und daraus die Wörter seiner Muttersprache zu verstehen und sich diese anzueignen? Anders als bei Erwachsenen, die mit großer Anstrengung versuchen, eine neue Sprache zu erlernen, scheint der Erstspracherwerb scheinbar mühelos abzulaufen. Wissenschaftler stehen auch heute noch vor der Frage, wie es dem Kind gelingt, die komplexe Aufgabe des Spracherwerbs zu bewältigen und welche Faktoren und Voraussetzungen hierfür notwendig sind. Im Folgenden sollen verschiedene Erklärungsmodelle für den Spracherwerb im Über­blick dargestellt werden, um anschließend, aufbauend auf den dargestellten Theorien, den Wortbedeutungserwerb näher zu erörtern.

1.1.3 Spracherwerbstheorien - „Nature versus Nurture"

Hinter der wissenschaftstheoretischen Debatte „Nature versus Nurture“ verbirgt sich vor allem die Frage, ob der Input, also die Umgebungssprache, der das Kind täglich ausgesetzt ist, für die Bewältigung des Spracherwerbs ausreichen kann oder nicht. Theorien und Ansätze in diesem Bereich bewegen sich also zwischen der Annahme einer biologischen Ausstattung („Nature“) und der Bedeutung der Umwelteinflüsse („Nurture“) für den Spracherwerb. Unumstritten ist heute, dass der Spracherwerb biologisch begründet ist, jedoch durch die Umweltsprache angeregt und gestützt wird. Diskutiert wird allerdings, „welche Rolle und welches Gewicht anlagebedingten Faktoren auf der einen Seite und dem Sprachangebot der Umwelt auf der anderen Seite zukommt“ (Kauschke, 2007, 4).

Nachdem die beiden Extrempositionen „Inside-out“ und „Outside-In“ vorgestellt wurden, soll anhand eines aktuellen Konzepts die Möglichkeit einer Integration von Aspekten beider Ansätze verdeutlicht werden. Die folgenden Ausführungen basieren vorrangig auf Kauschke (2007); abweichende Quellen sind explizit angegeben.

Inside-out (Von innen nach außen)

Bis in die 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts dominierte in Deutschland vor allem die generativ-nativistische Sichtweise, die auf der Annahme gründet, dass die Inputsprache nicht als Erklärungsmodell für den Spracherwerb dienen kann (Szagun 2006, Klann-Delius 2008). Noam Chomsky (1999), der Begründer der nativistischen Theorie, fundiert dies mit dem Argument der sogenannten „Inputarmut“. Der Linguist geht davon aus, dass die Daten aus der Umgebungssprache nicht ausreichen, um den raschen Aufbau sprachlicher Fähigkeiten gänzlich erklären zu können (Chomsky 1999 zitiert nach Kauschke 2007).

Aus dieser These bilden sich die nativistischen Ansätze, die durch eine Inside-out-Annahme versuchen, das Problem der „Inputarmut“ zu überwinden. Demnach hat das Kind von Anfang an ein Vorwissen über die Sprache, das durch die Umgebung lediglich angeregt werden muss; bei Chomsky heißt diese Prädisposition „Universalgrammatik“. Der Sprach- erwerbsprozess ist nach diesem theoretischen Ansatz also als „biologisch vorprogrammierte Entfaltung sprachlicher Fähigkeiten zu sehen“ (Kauschke 2007, 5). Dabei ist die Qualität der Inputsprache und der Interaktion mit der Bezugsperson weitgehend unbedeutend.

Für die Gültigkeit der Inside-out-Theorie spricht, dass die meisten Kinder auch unter un­günstigen Umweltbedingungen Sprache erwerben können, wie durch das Beispiel von Schiff (1979) gezeigt werden konnte. Die Autorin schloss aus ihren Untersuchungen, dass Kinder (gehörloser Eltern) nur eine relativ geringe Input-Menge (5- max. 20 Stunden) durch normal sprechende Erwachsene brauchten, um eine normale Sprachentwicklung zu durchlaufen. Voraussetzung ist jedoch, dass dieser Input an das Kind gerichtet ist, damit ein Erwerbsprozess stattfinden kann, wie Grimm (1999) veranschaulicht (Schiff 1979 zitiert nach Grimm 1999).

Des Weiteren ist der Verlauf des Erwerbs durch bestimmte Meilensteine gekennzeichnet, die von allen Kindern in derselben Reihenfolge erreicht werden.

Eine genetische Verankerung der Sprache ist heute unumstritten, jedoch wurde immer mehr von der extremen Annahme eines fast ausschließlich genetisch bedingten Sprach- erwerbs abgerückt. Derzeit wird vor allem den äußeren Faktoren vermehrt Beachtung geschenkt. Da diese Aspekte meist direkt beobachtbar sind, ist deren empirische Unter­suchung - im Gegensatz zu den inneren Voraussetzungen - unkomplizierter.

Outside-in (Von außen nach innen)

Inside-out-Modelle wurden ab den 1970er Jahren allmählich durch Theorien ergänzt, die davon ausgehen, dass der Input für den Erwerb der Sprache ausreicht und hauptsächlich in diesem Faktor Erklärungsmodelle für die komplexe Aufgabe zu suchen sind. Outside-in-Ansätze, wie die Interaktionistische Theorie, betonen die durchaus angepasste Sprache, die Kinder durch ihre Bezugspersonen erfahren. Vertreter dieser Position schluss­folgern, dass die Inputsprache und die Interaktion das Gerüst des Spracherwerbsprozesses bilden (Bruner 2002). Diese Gruppe der Ansätze setzt also einen klaren Gegenpol zu den nativistischen Hypothesen und führt seit den 1990er Jahren zu vermehrten Untersuchungen auf dem Gebiet der Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson (Szagun 2006).

Neuere Studien zeigen, dass das Sprachangebot nicht nur organisiert, sondern auch auf das jeweilige Entwicklungsniveau des Kindes abgestimmt ist. Außerdem konnten Korrelationen zwischen qualitativen und quantitativen Aspekten im Input von Müttern und den Grammatik- und Wortschatz-Leistungen ihrer Kinder nachgewiesen werden. Eine Unter­suchung von Kauschke und Klann-Delius (2007) zeigte beispielsweise eine schrittweise Annäherung der kindlichen Sprache an den Input der Mutter hinsichtlich Umfang und Ausdifferenzierung des Wortschatzes. Hieraus kann gefolgert werden, dass das vorhandene Sprachangebot, entgegen der Inside-out-Theorie, sehr wohl einen Einfluss auf den Spracherwerb hat. Weitere Ergebnisse, die diese These stützen, werden an späterer Stelle vorgestellt (s. 1.3.3).

Dass es sich bei der Orientierung am Input nicht um eine bloße Imitation des Gehörten oder eine durchgehend enge Inputgebundenheit handeln kann, zeigt Kauschke (2007) auf. Sie folgert demnach, dass das Kind eine „kreative Verarbeitungsleistung [vollzieht], die darin besteht, Informationen zu extrahieren und weiter zu verwenden“ (Kauschke 2007, S. 9).

Emergenzmodelle

Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die dargestellten Extrempositionen einzeln nicht konsistent sind, da sie nicht alle auftretenden Phänomene erklären. Deshalb besteht heute in der Wissenschaft weitgehend Einigkeit darüber, dass die Kombination verschie­dener Aspekte aus Inside-out- und Outside-in- Ansätzen für ein überzeugendes Erklärungs­modell nötig ist.

Sogenannte Emergenzmodelle gehen davon aus, dass der Spracherwerb sowohl auf einer genetischen Verankerung, als auch auf Einflüssen der Umgebung (dem Input) beruht. Dabei handelt es sich bei der genetischen Prädisposition nicht um ein Wissens- bzw. Kompetenz - Modell im Sinne Chomskys (Universalgrammatik), sondern um ein prozess­orientiertes Konzept, das dem Kind effektive Lernmechanismen zur Verfügung stellt. „Sprache als spezialisiertes Wissenssystem ist demnach ein Entwicklungsprodukt, das aus einem Zusammenspiel von kindlichen Fähigkeiten und Umweltfaktoren hervorgeht“ (Kauschke 2007, 13). Der Input nimmt in diesen Modellen eine zentrale Funktion ein, da er alle notwendigen Daten und Informationen enthält, ohne die der Spracherwerb nicht möglich wäre.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3 Biologische Faktoren und Umweltfaktoren im Spracherwerb

Es bleibt anzumerken, dass es nicht der Anspruch dieses knappen Exkurses sein kann, die Bandbreite an Spracherwerbstheorien erschöpfend abzuhandeln. Es wurden diejenigen Blickwinkel vorgestellt, die dazu beitragen, grundlegende Aspekte in eine Gesamt­zusammenhang zu rücken.

Es sollte deutlich werden, dass nicht nur die Aufgabe des Kindes beim Spracherwerb äußerst komplex und teilweise noch unerforscht ist, sondern auch die Erklärung dieses Prozesses an sich noch unvollständig und diskussionswürdig ist.

1.1.4 Bruners interaktionistische Theorie zum Wortbedeutungserwerb

Wie die Erklärung des Spracherwerbs im Allgemeinen, so scheint auch die Frage nach dem Prozess des Wortbedeutungserwerbs noch ein teilweise offenes Forschungsfeld zu sein. So finden sich in der Literatur sehr unterschiedliche Ansätze, die im Rahmen dieser Arbeit nicht alle behandelt werden können. Aus diesem Grund wird im Folgenden ein Schwer­punkt auf die Theorie von Bruner (2002) gelegt, der durch eine interaktionistische Sichtweise versucht, den Bedeutungserwerb zu erklären. Dabei soll deutlich werden, welch entscheidende Rolle die Mutter in diesem Erwerbsprozess spielt.

Bruner gründet seine Hypothesen auf der Grundannahme, dass mit dem Spracherwerb eine Aneignung der Kultur stattfindet. Dieser Prozess wird durch die Motivation des Kindes zur Teilnahme an derselben ermöglicht und vorangetrieben. Mittels eines biologisch und kulturell fundierten Hilfssystems, das der Autor nicht näher beschreibt, erwirbt das Kind in der Interaktion mit seiner Umwelt die Sprache.

Kognitive Voraussetzungen für den Spracherwerb und somit auch für den Wortbedeu­tungserwerb sind nach Bruner die folgenden vier Aspekte (Bruner 2002, S. 17 ff.):

1) Mittel-Zweck-Bereitschaft
2) Transaktionalität (das Kind ist von Beginn an sozial und interaktiv)
3) Systematik der Handlungen des Kindes
4) Abstraktheit der „kognitiven Ausstattung“ des Kindes

Erste Schritte des Bedeutungserwerbs finden früh statt und können bereits im Suchen anhaltenden Blickkontakts verortet werden. Ende des zweiten Lebensmonats kommt die stimmliche Begleitung hinzu. Mit ca. sieben Monaten kann das Kind seine Aufmerksamkeit auf ein Objekt richten, wenn es dazu aufgefordert wird und fängt an, dem Blick des Erwachsenen zu folgen. Hierin liegt nach Bruner der Anfang des Bedeutungserwerbs, denn ,,[d]as Anfangsparadigma für all dies ist die gemeinsame Ausrichtung der Aufmerksamkeit“ (Bruner 2002, 75).

Mit dem Auftreten von Gesten ab dem sechsten Lebensmonat und dem einige Monate später folgenden Einsatz von „reinen“ Zeigegesten, steigt das Kind immer weiter in den Be­deutungserwerb ein. Es stellt Referenzen her, um zunächst vor allem die eigenen Bedürf­nisse zu befriedigen, wozu es zum Beispiel auch gehört, Gegenstände zu erlangen.

Der Erwerb von Wortbedeutungen vollzieht sich nach Bruner durch das Verhandeln zwischen Mutter und Kind innerhalb strukturierter Situationen, sogenannter „Formate“, wie zum Beispiel des gemeinsamen Spiels oder des Lesens von Bilderbüchern, welches in den Ausführungen des Autors tiefergehende Beachtung findet (Bruner 2002). Der Ent­wicklungspsychologe betont dabei, dass die Mutter ihr Kind von Anfang an als fähigen Gesprächspartner behandelt und in seiner Interaktion stets eine Kommunikationsabsicht deutet. „Ihre Interaktion scheint vom Prinzip geleitet zu sein, daß kein Sprecher völlig unwissend sei“ und sie ist bereit, über die Bedeutung von Wörtern zu verhandeln, was teil­weise mehrere Monate dauern kann (Bruner, 2002, S. 73).

So entwickeln sich nicht nur die Kompetenzen des Kindes weiter; auch die Mutter passt ihr Sprachangebot sukzessive an die Fähigkeiten des Kindes an und baut auf den bereits erwor­benen Kompetenzen auf (Bruner 2002).

„Wir dürfen -wohl schließen, daß die Meisterung des Bedeutens durch das Kind ebenso sehr von der Bewältigung der Gesprächsregeln abhängt, wie von der individuellen Fähigkeit, Wahrnehmungen mit Lauten und mit inneren kognitiven Repräsentationen der Weltzu verknüpfen.“ (Bruner 2002, S. 75)

Diese Theorie ist offensichtlich von speziellen und teilweise philosophischen Überlegungen geprägt. Jedoch wurde dieses Konzept von Bruner bewusst gewählt, da hier eine besonders intensive Auseinandersetzung mit dem interaktiven Charakter des Spracherwerbs statt­finden kann, um den es in dieser Arbeit gehen soll. Eine überaus wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die sprachliche Umwelt des Kindes und somit die Mutter. Denn wie soeben dargestellt, kann ohne Input kein Spracherwerb stattfinden. Im Folgenden soll die besondere Beschaffenheit der Umgebungssprache des Kindes behandelt werden.

1.1.5 Die an das Kind gerichtete Sprache

Wie viel Input braucht das Kind und wie muss dieser beschaffen sein, um einen störungs­freien Spracherwerb zu ermöglichen? Auf diese Frage gibt es keine klare Antwort, jedoch ist eines gewiss: Die Sprache muss an das Kind gerichtet sein, da dieses nur diejenigen Infor­mationen verarbeitet, die es im interaktiven Austausch für relevant erachtet. So reicht die reine Beschallung durch den Fernseher beispielsweise nicht aus, um die Muttersprache zu erlernen (Erwin-Tripp 1971 zitiert nach Grimm 1999).

„In der und über die Kommunikation mit derMutter kommt das Kind zur Sprache.“

(Grimm 1999, S. 40)

Die Mutter setzt im Spracherwerb ihres Kindes eine intuitive Didaktik ein, indem sie einer­seits Kommunikationsabsichten des Kindes deutet und andererseits Situationen schafft, in denen das Erlernen der Sprache ermöglicht wird. Dieses unbewusste Gespür für die Bedürfnisse des Kindes zeigt sich von Geburt an - beispielsweise im Unterscheiden von Hunger- und Kontaktschreien durch die Mutter im Säuglingsalter (Grimm 1999). Dabei passt sie sich sukzessive dem Entwicklungsstand des Kindes an und stimmt das Niveau ihrer Äußerungen und Anregungen darauf ab. Grimm (1999) gliedert den Lehr-Lern- Prozess des Kindes in drei Phasen, in denen sich der Sprachstil der Mutter entsprechend dem Kompetenzniveau des Kindes sukzessive verändert (s. Tabelle 3).

Tabelle 3 Drei Phasen des Lehr-Lern-Prozesses

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Szagun (2006) warnt davor, diese Merkmale der an das Kind gerichteten Sprache (KGS) als instinktive und ausschließlich mütterliche Fähigkeit zu charakterisieren. Die Autorin argu­mentiert mit den Ergebnissen diverser Studien: so „produziert in europäischen und nordamerikanischen Kulturen fast jede oder jeder eine spezifisch modifizierte Sprache, wenn diese an kleine Kinder gerichtet ist“ (Szagun 2006, S. 171). Ebenso konnte Snow (1972) zeigen, dass die KGS mit denselben Merkmalen, auch von nicht-Müttern produziert wird, wenn diese sich mit einem Zweijährigen unterhalten. Folglich ist die Vermutung, dass KGS speziell von der Mutter oder generell von Personen, mit denen das Kind kommuniziert, eingesetzt wird also fragwürdig.

Unumstritten ist jedoch, dass das Kind in den ersten Lebensjahren ein spezifisches Sprachangebot durch seine Bezugspersonen erhält, das durch eine einfache, redundante Sprache mit vielen Fragen und Imperativen, wenig Vergangenheitsformen und Nebensätzen oder koordinierten Hauptsätzen charakterisiert werden kann. Außerdem wird in der Kom­munikation mit bis zu 3 Jahre alten Kindern eine höhere Tonlage und übertriebene Intona­tionsmuster eingesetzt (Snow 1972 zitiert nach Szagun 2006). Durch die KGS werden Sprachlehr-Situationen für das Kind strukturiert und dessen Aufmerksamkeit auf relevante Aspekte gelenkt (Szagun 2006).

Es bleibt festzuhalten, dass dieses spezielle Sprachangebot das Gerüst für den Spracherwerb bildet. Ob und in welchen sprachlichen Bereichen die KGS eine Wirkung auf den Sprach­erwerb des Kindes hat, konnte durch Studien noch nicht vollständig beantwortet werden. Eine besondere Bedeutung wird nach Szagun (2006) Erweiterungen beigemessen. Diese haben einer Studie von Farrar (1990) zufolge zu verschiedenen Entwicklungsstadien unter­schiedliche Wirkungen auf grammatische Strukturen des Kindes (Farrar 1990 zitiert nach Szagun 2006).

Auch in der vorliegenden Arbeit soll der Frage nach den Unterschieden im Sprachverhalten von Müttern mit ihren zweijährigen Kindern nachgegangen werden. Dabei findet ein Ver­gleich zwischen normal entwickelten Kindern und späten Sprechern, den sogenannten „Late Talkers“ statt. Dieser Population widmet sich der folgende Abschnitt.

1.2 LateTalker

Nachfolgend soll der Begriff des „Late Talkers“ umrissen werden, um eine Verständnis­grundlage für diese Arbeit zu schaffen. Im Anschluss an eine kritische Bedeutungsklärung wird das Phänomen des „Late Bloomer“ erörtert. Dabei soll vor allem die Heterogenität der Gruppe der Late Talkers hervorgehoben und mögliche Entwicklungsverläufe aufgezeigt werden. Darauf folgend werden mögliche Ursachen für einen späten Sprechbeginn diskutiert. Des Weiteren werden Besonderheiten im Spracherwerb von Late Talkers beschrieben und diagnostische Möglichkeiten vorgestellt. Zuletzt wird das Risiko einer spezifischen Sprachentwicklungsstörung (SSES) erörtert und mögliche Folgen im psycho­sozialen und sprachlich-kognitiven Bereich beschrieben. Da der Fokus in dieser Arbeit vor allem auf den Aspekt des Late Talkers gerichtet ist, wird der Begriff der SSES nur in groben Zügen umrissen. Der Abschnitt 2.2.6 soll verdeutlichen, welche Folgen dieses Störungsbild für das Leben der Betroffenen haben kann, um auf die Notwendigkeit einer Früh­intervention hinzuweisen.

1.2.1 Begriffsklärung

Der Begriff Late Talker stammt aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum und wurde in der deutschsprachigen Fachliteratur fast ausnahmslos übernommen. Als Synonyme findet man vereinzelt die Begriffe des späten Sprechers, späten, oder langsamen Wortlerners (Grimm 1999, 34).

„Nach der wissenschaftlichen Definition sprechen Late-Talker-Kinder mit 24 Monaten weniger als 50 Worte oder noch keine Zweiwortkombinationen, ohne dass dies auf Primärbeeinträchtigungen wie Hör-, Seh-, Körper- und geistige Behinderungen, manifeste neurologische Auffälligkeiten, tiefergreifende Entwicklungsstörungen oder soziale Deprivation zurückzuführen ist.“ (Grohnfeldt 2007,181)

Die Begriffsverwendungen in der deutschsprachigen Literatur decken sich weitestgehend mit dieser Definition, jedoch finden sich bei genauerer Betrachtung feine Abweichungen. So legt Sachse (2007) die diagnostischen Maßstäbe folgendermaßen fest: „Spricht ein zwei­jähriges Kind weniger als 50 Wörter und bildet es keine bzw. sehr wenige Zweiwortsätze, liegt eine sprachliche Verzögerung vor und es wird als Late Talker bezeichnet.“ (Sachse 2007,11)

Anders als in der Definition von Grohnfeldt (2007) müssen hier also zwei Kriterien (das nicht-Erreichen der 50-Wörter-Grenze und das Ausbleiben oder die zu geringe Verwendung von Zweiwortsätzen) zutreffen, um von einem Late Talker sprechen zu können.

Beide Definitionen beschränken sich auf lexikalische und syntaktische Merkmale der Sprache, vor allem auf die expressiven Sprachfähigkeiten des Kindes. In der Fachliteratur wird jedoch diskutiert, ob bei der Diagnostik auch der rezeptive Wortschatz bzw. das Sprachverständnis des Kindes stärker berücksichtigt werden sollte (s. 2.2.5).

Auch in der internationalen wissenschaftlichen Literatur finden sich uneinheitliche Ver­wendungen und Auslegungen des Begriffs „Late Talker“. Desmarais et al. (2008) verdeut­lichten, dass die Definition des Begriffs in den Studien sehr unterschiedlich ausfällt und somit auch die Gruppe der untersuchten Kinder höchst heterogen ist. Es besteht ein grundlegender Konsens darüber, was unter dem Begriff „Late Talker“ zu verstehen ist: “a vocabulary delay in the absence of a known underlying pathology, such as a neurological, sensory, or cognitive deficit“ (Desmarais 2008, 362).

Jedoch zeigen sich erhebliche Unterschiede in der diagnostischen Vorgehensweise und der Interpretation der Definition. Diese Erkenntnis darf auch bei der Deutung und dem Ver­gleich von Studien aus diesem Bereich nicht vernachlässigt werden:

“..., it is important to signal that the differences found in the definitions of late-talking toddlers and in the criteria for inclusion impact upon the conclusions that can be drawn from thestudies.” (Desmarais 2008, 362)

1.2.2 Das Phänomen „Late Bloomer"

Late Talkers können ihren sprachlichen Entwicklungsrückstand bis zum Alter von 36 Monaten aufholen und werden dann retrospektiv als Late Bloomer, sprachliche Spätstarter oder Spätzünder bezeichnet (Kiese-Himmel 2008, Sachse 2007, Schulz 2007). Die angegebene Aufholrate schwankt zwischen den verschiedenen Studien sehr, was auf eine starke Methodenabhängigkeit zurückgeführt werden kann (Kauschke 2008a). Rescorla et al. (2000) konnten beispielsweise zeigen, dass die Messung der mittleren Äußerungslänge (MLU) auf eine höhere Aufholrate schließen lässt als eine Analyse grammatischer Fertig­keiten. Aus diesem Grund ist es schwierig, eine genaue Angabe zur Anzahl der sprachlichen Aufholer zu machen.

Grimm (2005) kommt in ihren Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass ca. 50% der zuvor als Risiko-Kinder eingestuften Zweijährigen bis zum dritten Lebensjahr ihre Wortschatzver­zögerung überwinden können. Bislang konnte noch nicht eindeutig geklärt werden, welche Einflüsse zu einem möglichen Aufholen beitragen. Es gibt jedoch Faktoren, deren Auftreten als besonders ungünstig für den weiteren Verlauf gewertet wird (Sachse 2007).

Diese sog. Late Bloomer-Hypothese wird heute jedoch von der Fachliteratur in Frage gestellt. Neueren Erkenntnissen zufolge weisen auch die augenscheinlichen Aufholer im Vergleich zu normal entwickelten Kindern in ihrem weiteren sprachlichen Werdegang noch deutliche Defizite auf (Penner 2002). Studien belegen, dass der Outcome - also die sprach­lichen Leistungen - ehemaliger Late Talkers zwar zu einem Großteil durchschnittliche Werte erreicht. Jedoch liegen diese in einigen Teilbereichen der Sprache weiterhin unter den Leistungen von Kindern mit einer normalen Sprachentwicklung (z.B. Rescorla 2009, Rice 2008). Ein sprachlicher Rückstand im Alter von zwei Jahren stellt also ein großes Risiko für den weiteren Spracherwerb dar.

Doch wo liegen die Ursachen eines späten Sprechbeginns und einer verzögerten Sprach­entwicklung und welche Kinder sind gefährdet? Im Folgenden soll dieser elementaren Frage nachgegangen werden, um eine Grundlage für die weitere Argumentation und die Begrün­dung der Fragestellung dieser Arbeit zu schaffen.

1.2.3 Prävalenz und Ursachen

Prävalenz

Grimm (1999) beschreibt die Sprache als „in besonderem Maße für Entwicklungsstörungen anfällig“, kein anderer Bereich der kognitiven Entwicklung sei häufiger gestört als der sprachliche (Grimm 1999, 57). So können 14-19% der Zweijährigen als Risikokinder eingestuft werden. Des Weiteren ergab eine Untersuchung der Autorin, dass ca. 6-8% der Vorschulkinder von einer persistierenden Sprachentwicklungsstörung betroffen sind (Grimm 2005).

Jungen und jüngere Geschwister sind stärker gefährdet als Mädchen und Erstgeborene (Sachse 2007; Desmarais 2008).

Doch wie kommt es überhaupt zu dieser Sprachentwicklungsverzögerung? Der folgende Abschnitt diskutiert mögliche Risikofaktoren für den frühen Spracherwerb.

Ursachen

Die Ursachen für die Entstehung einer Sprachentwicklungsverzögerung im Alter von 2 Jahren konnten bisher noch nicht vollständig aufgeklärt werden. Es gibt allerdings Aspekte, die als Risikofaktoren gewertet werden können.

Der folgende Exkurs stützt sich auch auf die Literatur, die sich mit der spezifischen Sprach­entwicklungsstörung befasst. Die dokumentierten Entwicklungsverläufe von Late Talkers führen zu der Schlussfolgerung, dass beiden Störungsbildern dieselben Ursachen zugrunde liegen (s. 1.2.6).

„Die Ursachen für die spezifische Sprachentwicklungsstörung wurden und werden insbesondere in drei Bereichen gesucht: im äußeren Bereich der Umweltsprache, im inneren Bereich der Kognition und Informationsverarbeitung sowie im biologischen Bereich“ (Grimm 1999,122).

Die vorliegende Arbeit behandelt das sprachliche Interaktionsverhalten zwischen Mutter und Kind, welches zum äußeren Bereich der Einflussgrößen gezählt werden kann. Aus diesem Grund sollen im Folgenden vor allem Risikofaktoren im (sprachlichen) Umfeld des Kindes dargestellt werden. Um einen umfassenden Überblick zu schaffen, werden jedoch auch Ansätze und Hypothesen des inneren und biologischen Bereichs knapp vorgestellt.

Innere, biologische und -weitere Ursachen

Die Erforschung der Ursachen im inneren Bereich befasst sich vor allem mit Defiziten der Kognition und Informationsverarbeitung. Diese werden insbesondere durch Auffälligkeiten im auditiven Gedächtnis, in einer langsameren Verarbeitung von Informationen, dem Ein­satz von einzelheitlichen Strategien im Spracherwerb und durch ein Prosodiedefizit bei SSES-Kindern nachweisbar (Grimm 1999).

Über das Bestehen eines Zusammenhangs zwischen einer SSES und der Intelligenz des Kin­des befindet sich die Fachliteratur in einer regen Diskussion. Unterschiedliche Studien ergaben, dass eine SSES meist auch mit geminderten kognitiven Fähigkeiten einhergeht (Weismer et al. 1994, McArthur et al. 2000). Zwar wird in der Literatur bei den diagnosti­schen Kriterien meist von einer ,,nonverbale[n] Testintelligenz im Normalbereich“ (Grimm 1999,102) gesprochen; jedoch bleibt umstritten, ob diese strikte Trennung von Sprache und Intelligenz überhaupt möglich und sinnvoll ist. Einige Studien kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder mit einer SSES geminderte Intelligenzwerte aufweisen (u.a. McArthur et al. 2000).

Grimm spricht hinsichtlich der Ursachenfrage von der ,,biologische[n] Wurzel“ (Grimm 1999, 122) der spezifischen Sprachentwicklungsstörung, über die in der Fachliteratur heute größtenteils Einigkeit besteht. Wie auch bei anderen sprachlichen Behinderungen darf der familiäre Hintergrund nicht vernachlässigt werden. „Ein genetischer Anteil an der Aus­bildung einer spezifischen Störung der Sprachentwicklung gilt heute als belegt“ (Sachse 2007, 14). Locke begründet dieses genetische Defizit durch eine verlangsamte Hirnreifung, die dazu führt, dass bestimmte Zeitfenster zu spät erreicht werden und der Spracherwerbs- prozess dadurch nachhaltig gestört wird (Locke 1994). „Diese Besonderheit interpretiert Locke - im Gegensatz zu anderen - nicht als Ursache der Störung sondern als Konsequenz der Tatsache, dass ausgeprägte lexikalische Verzögerungen die rechte Hemisphäre veranlassen, stärker in der linguistischen Verarbeitung mitzuwirken als sie es normalerweise täte, wobei sie Strukturen ins Spiel bringt, die hierfür nicht optimal geeignet sind“ (Dannenbauer 2001b, 109). In diesem Zusammenhang werden auch „untypische Symmetrien“ im Gehirn von SSES-Kindern in Erwägung gezogen, die als mögliche Ursache oder Konsequenz einer SSES interpretiert werden (Gauger et al. 1997 zitiert nach Dannenbauer 2001b).

Neben dem inneren und biologischen Aspekt werden in der Ursachen-Forschung noch weitere Komponenten diskutiert.

Die Frage, ob eine Mittelohrentzündung und die dadurch auftretenden Einschränkungen im auditiven Bereich als Risikofaktor für eine Sprachentwicklungsverzögerung gewertet werden muss, konnte durch empirische Studien bisher weder bestätigt noch ausgeschlossen werden (Desmarais 2008; Sachse 2007).

Ebenfalls kontrovers diskutiert wird die Hypothese, dass die Geschwisterfolge einen mögli­chen Risikofaktor darstellt. In diesem Zusammenhang wird ein Unterschied in der Qualität und Quantität des mütterlichen Inputs in Erwägung gezogen. Marschik et al. (2007) fanden in ihrer Stichprobe bei den Erstgeborenen signifikant höhere Wortschatz-Kompetenzen im zweiten Lebensjahr und vor dem Schuleintritt als bei den Nicht-Erstgeborenen. Außerdem konnte in derselben Studie ein signifikanter Zusammenhang zwischen einem niedrigen Apgar-Wert (nach 5 min), der postnatalen Behandlung auf einer Intensivstation und der Wortschatzentwicklung im Alter von 18 Monaten bestätigt werden. Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass Komplikationen in der frühkindlichen Entwicklung einen Einfluss auf die lexikalische Entwicklung haben.

Außere Ursachen

Diese Arbeit widmet sich vor allem den äußeren Einflussfaktoren, vorrangig den sprach­lichen Bedingungen, unter denen ein Kind aufwächst. Hierzu werden im Folgenden bemerkenswerte Forschungsergebnisse dargestellt, die zeigen sollen, wie entscheidend das Umfeld eines Kindes für seinen Spracherwerb ist.

So belegen wissenschaftliche Studien, dass ein niedriger Bildungsabschluss oder ein niedriger sozio-ökonomischer Status der Eltern die Gefahr einer sprachlichen Entwick­lungsverzögerung erhöhen. Die Autoren begründen dies mit dem daraus resultierenden qualitativen und quantitativen Unterschied im Input, den das Kind durch seine Eltern erhält (Desmarais 2008, Marschik et al. 2007).

Nach Papousek (2006) kann Stress, den die Eltern im Umgang mit ihrem Kind empfinden, das Interaktionsverhalten negativ beeinflussen und somit die sprachliche Förderung unbewusst behindern. Einen entscheidenden Faktor stellt für die Autorin in diesem Zu­sammenhang der Bindungsaufbau und eine intersubjektive emotionale Bezogenheit zwi­schen Mutter und Kind dar. Diese können durch eine frühe Trennung, Krisen, De­pressionen und andere negative Einflüsse gestört werden und wirken sich unmittelbar auf die sprachliche Interaktion aus. Das Resultat liegt in einer suboptimalen Passung zwischen frühkindlichen Bedürfnissen und vorhandenen Ressourcen (Papousek 2006).

[...]


[1] Wenn im Folgenden von der „Mutter“ die Rede ist, bezieht sich dies verallgemeinernd auf die engste Bezugs­person des Kindes und soll zur Erleichterung der Lesbarkeit der Arbeit beitragen.

Ende der Leseprobe aus 101 Seiten

Details

Titel
Das sprachliche Interaktionsverhalten während einer Bilderbuchbetrachtung
Untertitel
Mütter von normal entwickelten Zweijährigen und Late Talkers im Vergleich - Ergebnisse eines qualitativen Forschungsansatzes
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik)
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
101
Katalognummer
V191079
ISBN (eBook)
9783656157298
Dateigröße
1176 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
interaktionsverhalten, bilderbuchbetrachtung, mütter, zweijährigen, late, talkers, vergleich, ergebnisse, forschungsansatzes
Arbeit zitieren
Elisabeth Pilzweger (Autor:in), 2010, Das sprachliche Interaktionsverhalten während einer Bilderbuchbetrachtung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191079

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