Einst und Jetzt - Zur Konstruktion von Vergangenheit in Heines Reise von München nach Genua


Hausarbeit (Hauptseminar), 2011

23 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Kategorien von Vergangenheit in der Reise von Mùnchen nach Genua
2.1 Historisch-kulturelle Vergangenheit
2.1.1 Orte und Zeugnisse: der Steintext
2.1.2 Völker und Menschen: die Menschenruine
2.2 Mythisch-mythologische Vergangenheit
2.3 Persönliche Vergangenheit

3. Die Konstruktion von Vergangenheit am Beispiel der Ankunft in Trient (Kap. XIV)

4. Resümee und Fazit

I. Quellen- und Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Die Auseinandersetzung mit Vergangenheit ist ein wesentlicher Bestandteil der italienischen Reisewerke des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Reisenden sahen sich in Italien mit zahlreichen Überresten der römischen Antike und Kunstwerken späterer Epochen konfrontiert. Oftmals war die Besichtigung dieser (Kunst-)Zeugnisse leitendes Motiv der Italienreise im Sinne einer klassizistischen Bildungserfahrung, einer einfachen Bildungsreise oder der Vergegenwärtigung von Ruinenromantik.

In dieser Seminararbeit wird die spezifische Weise untersucht mit der Heine in der Reise von Mùnchen nach Genua Vergangenheit in Italien erfährt und konstruiert.1 Schon der erste Befund ergibt ein dynamisches und lebhafteres Bild von Vergangenheit als der oben skizzierte Rahmen traditioneller Reisewerke vorgibt: Historie spiegelt sich genauso im Steintext von völkerwanderungs- zeitlichen Trümmern als auch im Gesicht der Obstfrau in Trient, in dem sich die Spuren aller Zivilisationen Italiens finden. Dazu treten Geistererscheinungen historischer Persönlichkeiten, die vor dem Zapfenstreich und Betglocken einer christlich-österreichischen Realität fliehen und eine verlebendigte Reiterstatue von Cangrande, der sich dem Erzähler als Fremdenführer durch Verona anbietet. Diese im weitesten Sinne einer historischen oder kulturhistorischen Betrachtung des Landes zuzuordnenden Momente der Reise bilden aber nur eine Dimension der Konstruktion von Vergangenheit in der Reise von Mùnchen nach Genua. Sie sind verwoben mit mythisch-mythologischen Motiven, die ihrem Wesen nach auf eine zeitlich nicht klar bestimmbare Vorvergangenheit verweisen und als dritte Komponente, die persönliche Vergangenheit des Erzählers, besonders virulent in der Erscheinung der tote Maria, der stetigen Begleiterin der Reise.

Die komplexe Anlage von sich überlagernden Bildern der Vergangenheit entspricht nicht mehr dem einfachen Muster von Sehen und Beschreiben traditioneller Reiseliteratur. Vielmehr bilden auch die Aspekte der Vergangenheit in sich „harmonisch verschlungenen Fäden“, die die Kompositionstechnik der Reisebilder insgesamt auszeichnet — als feingliederiges Geflecht sprunghaft wirkender Gedankenverbindungen, als Medium von Fremd- wie Eigenreferenzen, als eine bisweilen die Grenzen von Zeit, Raum, Wirklichkeit und Traum nivellierenden Erzählung.2

Im ersten Teil der Seminararbeit werden die einzelnen Fäden voneinander gelöst und kategorial voneinander geschieden untersucht (2). Mit den vorgeschlagenen Kategorien, der historisch-kulturellen (2.1), der mythisch- mythologischen (2.2) und der persönlichen Vergangenheit (2.3) soll ein möglichst umfassendes Bild aller Stränge in die Untersuchung eingehen, die Vergangenheit im Text konstituieren und diese anhand von Textbelegen entwickelt werden. Die historisch-kulturelle Kategorie ist weiter unterteilt in die beiden im Text maßgeblichen Ausdrucksformen bzw. Träger von Geschichte: Orte und Zeugnisse (2.1.1) und Menschen und Völker (2.1.2).

Im zweiten Teil der Arbeit sollen die herausgearbeiteten Kategorien von Vergangenheit wieder in ihrem verwobenen Zustand betrachtet werden (3), und zwar mittels einer eingehenden Untersuchung des Kapitels zur Ankunft des Erzählers in Trient (Kap. XIV).3 In diesem Kapitel finden sich zahlreiche Anklänge an die skizzierten Vergangenheitsstränge: die Spinnerin/Parze, uraltertümliche Bauwerke, die Obstfrau, die in Kürze als Menschenruine beschrieben wird und erste Erinnerungen der toten Maria. Insgesamt werden damit verschiedene Vergangenheitsbilder präfiguriert, die für die gesamte Italienreise von Bedeutung sind und es kann anhand der Kompositionstechniken untersucht werden wie sie sich gegenseitig durchdringen und in welchem Verhältnis sie zur Gegenwart des Landes gesetzt werden.

Vergangenheit ist in der Reise von Mùnchen nach Genua eine Komponente des Geschichtsbildes, welche zusammen mit den gegenwärtigen Zuständen und - ab den Betrachtungen auf dem Schlachtfeld von Marengo - der Zukunft des Landes innerhalb einer europäischen Zukunft komplementiert wird.4 Heine entspricht damit jener programmatischen Bemerkung in Tirol:

„Es [das Volk] verlangt seine Geschichte aus der Hand des Dichters und nicht aus der Hand des Historikers. Es verlangt nicht den treuen Bericht nackter Tatsachen, sondern jene Tatsachen wieder aufgelöst in die ursprüngliche Poesie, woraus sie hervorgegangen“.5

Geschichte ist aber nur eine, wenn auch wichtige, Komponente der in sich komplexen Auseinandersetzung mit Vergangenheit in den italienischen Reise- bildern, in der sich - wie in dieser Arbeit herausgearbeitet werden soll - verschiedene Kategorien von Vergangenheitsbildern überlagern und durchdringen. Vergangenheit hat dabei insgesamt jederzeit die Qualität auf unerwartete Weise in die Gegenwart hineinzuwirken, mit dem Erzähler in Interaktion zu treten und einen latenten Gegentext zu den Verhältnissen der Gegenwart darzustellen.

2. Kategorien von Vergangenheit in der Reise von Mùnchen nach Genua

2.1 Historisch-kulturelle Vergangenheit

Von der Konstruktion von historisch-kultureller Vergangenheit in früheren Reisedarstellungen unterscheidet sich Heine in den italienischen Reisebildern fundamental. Vergangenheit ist dynamischer, lebhafter, setzt Kontrapunkte zu gegenwärtigen Zuständen. Folgt man ASSMANNS Überlegungen zur Politisierung von Erinnerung,6 so muss man in Heines Werk heiße Erinnerungskultur walten sehen, in der die Erzählung die Funktion eines Motors von Entwicklung übernimmt.

Was sind die Bedingungen dieses neuartigen Zugangs zur Vergangenheit? Der Befreiungskrieg der Menschheit, der Emanzipationsgedanke konstituiert jeden Bezug Vergangenheit zu Gegenwart neu. Im klassizistischen und romantischen Vergangenheitsbild sieht Heine eine regressive Flucht vor den drängenden Fragen der Zeit. Er sucht neue poetologische Antworten. Im Gegensatz zur fundierenden Funktion von Erinnerungskultur, die die Gegenwart legitimiert oder ihr indifferent gegenübersteht, besteht die kontrapräsentische Funktion, laut ASSMANN, in der Vergegenwärtigung eines Verlustes:

„Sie geht von Defizienz-Erfahrungen der Gegenwart aus und beschwört in der Erinnerung eine Vergangenheit, die meist Züge eines Heroischen Zeitalters annimmt. Von diesen Erzählungen fällt meist ein ganz anderes Licht auf die Gegenwart: Es hebt das Fehlende, Verschwundene, Verlorene, an den Rand gedrängte hervor und macht den Bruch bewusst zwischen ‚einst und ‚jetzt . Hier wird die Gegenwart weniger fundiert als vielmehr aus den Angeln gehoben oder zumindest gegenüber einer größeren und schöneren Vergangenheit relativiert.“7

Dieser Verlust einer reicheren Vergangenheit gegenüber der zerissenen Gegenwart Italiens beschwört Heine in Hinblick auf eine europäisch-weltgeschichtliche Emanzipation gleichermaßen in Menschen wie Bauwerken.

2.1.1 Orte und Zeugnisse: der Steintext

Der „barbarische“ Münchener Dom „der sich noch immer, in stiefelknechtlicher Gestalt, über die ganze Stadt erhebt und die Schatten und Gespenster des Mittelalters in seinem Schoße verbirgt“, die Stadt Trient, „alt und gebrochen“ inmitten von „blühend grünen Bergen, die, wie ewig junge Götter, auf das morsche Menschenwerk herabsehen“, die Häuser in Trient mit ihren „verblichenen Freskos,“ zerbröckelnden Heiligenbildern“ und „alterschwachen Pfeilern“: stets regen die Bauwerke und Steine den Erzähler der Reise von Mùnchen nach Genua zu kulturhistorischen Betrachtungen und Reflexionen an. Sie sind steinerne Zeugnisse, die die Spuren vergangener Tage und Epochen in sich bergen und repräsentieren.8

Die benutzten Charakterisierungen - alt, morsch, verfallen, ewig jung - sind allerdings derart generalisierend, dass hier keine konkreten bauwerkshistorischen Ausführungen zu erwarten sind, sie zielen vielmehr auf das Spannungsverhältnis von Gegenwart und Vergangenheit unter den leitmotivischen Themen Verfall (Tod) und Renaissance (Wiedergeburt).

Während in Deutschland und Tirol noch ein analytischer Zugang zur kulturhistorischen Vergangenheit, vermittelt durch den Steintext der Bauwerke, überwiegt und „mehrere Flaschen Poesie“ nötig sind, damit der Erzähler in Berlin etwas anderes sieht als „tote Häuser und Berliner“, ändert sich die Tonlage in Italien schlagartig und intensiviert sich im Laufe der Reise. Während Trient noch als „dämmernd und ahndungsvoll, wie Märchenschauer“ erlebt wird, erfasst ihn in Verona ein „mächtiger Fiebertraum voll heißer Farben [...], gespenstischer Trompetenklänge und fernen Waffengeräuschs“.9 Die Völkerwanderungszeit findet der Erzähler buchstäblich in den Stein des „Weichbild[es] Verona“ gehauen, als er durch die Stadt „wandelt“ und feststellt:

„[...] es will uns bedünken, als sei die Stadt eine große Völkerherberge, und gleich wie man in Wirtshäusern seinen Namen auf Wand und Fenster zu schreiben pflegt, so habe dort jedes Volk die Spuren seiner Anwesenheit zurückgelassen, freilich oft nicht in der leserlichsten Schrift, da mancher deutsche Stamm noch nicht schreiben konnte und sich damit behelfen mußte, zum Andenken etwas zu zertrümmern, welches auch hinreichend war, da diese Trümmer noch deutlicher sprechen als zierliche Buchstaben.“10

Das Gleichnis historisch-kultureller Vergangenheit als Spuren im Stein, die als Text gelesen werden können, wird im Zusammenhang mit den Vesuvstädten Herkulaneum und Pompeji konkretisiert. Die Städte werden als „Palimpsesten der Natur“ bezeichnet, „wo jetzt wieder der alte Steintext ausgegraben wird“ (Kap. XXIV).11 Vergangenheit erscheint in diesen Vergleichen als Summe von Er- eignissen und Einflüssen, die die vorausgehende Äußerungen im Medium nicht auslöschen, sondern überlagern und höchstens unleserlich machen.

Heine, bzw. dessen literarisches Ich, fungiert in der Erzählung als empfindsamer Interpret, der die kodierten Botschaften häufig dennoch entziffern kann, darüber hinaus tritt zu der analytischen Interpretation des Steintextes in Italien zunehmend eine unmittelbarere, mystische Verbindung:

„Da war manch verwitterter Palast [...], der mich so stier ansah, als wollte er mir ein altes Geheimnis anvertrauen und er scheuete sich nur vor dem Gewühl der zudringlichen Tagesmenschen, und bäte mich, zur Nachtzeit wieder zu kommen.12

In diesem Fall vernimmt der Erzähler, trotz der Störungen des Tages in Verona, „hie und da [...] das Geflüster gebrochener Bildsäulen“ und alter Türme, in der Abenddämmerung beginnen die Mauern des Amphitheaters zu sprechen (Kap. XXIV) und im nächtlichen Mondlicht die Reiterfigur des Congrande I. (Kap. XXV) als auch das „steinerne Volk“ des Mailänder Doms:

„[...] dann kommen all die weißen Steinmenschen aus ihrer wimmelnden Höhe herabgestiegen, und gehen mit einem über die Piazza und flüstern einem alte Geschichten ins Ohr, putzig heilige, ganz geheime Geschichten [...]“.13

In den ins Ohr geflüsterten Geheimnissen offenbart sich - wie bereits bei der Opera Buffa (Kap. XIX) - eine esoterische Lesart des Steintextes, die der „exoterischen Schildwache“ der Österreicher genauso verborgen bleiben muss, wie den mit dem Guide bewaffneten Bildungsreisenden.14

Das wiederkehrende Motiv einer lebendigen, interagierenden Vergangenheit lässt keine Reduzierung auf eine klassizistische Ästhetikerfahrung zu, da beständig die gesellschaftspolitische Dimension - der Geist der Zeit - in der Ruine mitschwingt, als Kommentar gegenwärtiger Verhältnisse oder drohendes Potential einer nur ruhenden Realität:

„»Die alte Roma ist ja jetzt tot«, beschwichtigte ich die zagende Seele, »und du hast die Freude, ihre schöne Leiche ganz ohne Gefahr zu betrachten«. Aber dann stieg wieder das Falstaffsche Bedenken in mir auf: wenn sie aber doch nicht ganz tot wäre, und sich nur verstellt hätte, und sie stände plötzlich wieder auf - es wäre entsetzlich!“15

Die Evokation der Idee Roms mit allen gesellschaftspolitischen Implikationen - Christenverfolgung, Sklaverei, Tyrannis und Militarismus - steht in deutlichem Kontrast zur ästhetischen Wahrnehmung Goethes am gleichen Ort.16

[...]


1 HEINE, Reisebilder, hrsg. von Joseph A. KRUSE, Frankfurt a. M., Insel, 1980 (nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert).

2 Vgl. WERNER (1998), S. 27-49.

3 HEINE, Reisebilder III, S. 267-270.

4 HÖHN (1998), S. 84-102.

5 HEINE, Reisebilder III, S. 251-252.

6 ASSMANN (2007), S. 45-85.

7 ASSMANN (2007), S. 79.

8 Dom: HEINE, Reisebilder III, S. 237-239; Trient HEINE, Reisebilder III, S. 267-268.

9 HEINE, Reisebilder III, S. 287.

10 HEINE, Reisebilder III, S. 288.

11 Der „alte Steintext“ ist hier doppelter Gegentext: Erstens, gegen den überlagernden Naturtext der Lava und zweitens, als irritierender Kontrapunkt zur Größe Roms, die ihre Entsprechung im Steintext der kolossalen Bauwerken der res publica Roms erfährt. Vgl. hierzu FITZON (2004), S. 231-247.

12 HEINE, Reisebilder III, S. 287.

13 HEINE, Reisebilder III, S. 303.

14 Vgl. die Missinterpretation (misreading) der englischen Reisenden in der Innsbrucker Hofkirche, HEINE Reisebilder III, S. 255.

15 HEINE, Reisebilder III, S. 291.

16 Vgl. GOETHE, Italienische Reise, S. 40-41 (= Verona, den 16. September).

Ende der Leseprobe aus 23 Seiten

Details

Titel
Einst und Jetzt - Zur Konstruktion von Vergangenheit in Heines Reise von München nach Genua
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für neuere deutsche und europäische Literatur)
Veranstaltung
Europäische Literatur der Neuzeit - Europäer in Italien
Note
1,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
23
Katalognummer
V191026
ISBN (eBook)
9783656155447
Dateigröße
472 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Heinrich, Heine, Reiseliteratur, Italien, Goethe, Vergangenheit, Verona, Literatur, Konstruktion, Quellenanalyse, Bildung, Bildungsreise, Klassizismus, Romantik, Reisebilder, Komposition, Textanalyse, Geschichtsbild, Ironie, Mythisch, Mythologie, Gegenwartsdiagnose, Zeitkritik, Genua, München, Reise, Reisewerk, Deutscher Autor
Arbeit zitieren
Anika Kosfeld (Autor:in), 2011, Einst und Jetzt - Zur Konstruktion von Vergangenheit in Heines Reise von München nach Genua, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/191026

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