"Völkermord" an den Armeniern im Osmanischen Reich?

Die Auslöschung einer ganzen Rasse oder Umsiedlung eines unzuverlässigen Volkes?


Facharbeit (Schule), 2011

25 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Situation der Armenier im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert

3. Die Deportationen

4. Wer ist schuld an den Massakern?
4.2 Rolle der Kurden
4.3 Die Gendarmerie
4.4 Tscherkessen und ähnliches „Gesindel“

5. Abdul-Hamid und die Jungtürken

6. Der armenische Standpunkt

7. Die „10 Gebote“

8. Zahl der Toten und Ursachen

9. Der türkische Standpunkt

10. Schlussbemerkung

Anhang

Anmerkungen

Quellen

1. Einleitung

Selbst nach beinahe hundert Jahren setzt sich die Debatte über den „Völkermord an den Armeniern“ unvermindert fort. Mehrere hunderttausend Männer, Frauen und Kinder wurden aus ihren Häusern vertrieben; und während ihres Marsches starb eine unzählige Menge an Hunger, Krankheiten oder wurde ermordet.

Für die Opfer macht es keinen Unterschied, ob sie aufgrund eines Plans zur Ausrottung zu Tode kamen oder infolge einer Panikreaktion. Es macht aber einen Unterschied für die historischen Aufzeichnungen und für die Zukunft der türkisch-armenischen Beziehungen.

Was die meisten Türken als Ereignis von Umsiedlung in Kriegszeiten nennt, bezeichnen die Armenier als ersten Genozid des 20. Jahrhunderts. Beide Seiten sind sich jedoch einig, dass eine große Zahl an Armeniern umkam und dass die Deportation von vielen Ausschreitungen begleitet wurde. Ebenso gibt es nicht nur seitens der Armenier und Türken verschiedene Argumentationen und Ansichten, sondern auch von deutschen, amerikanischen und britischen Konsolen, Offizieren, Botschaftern etc.

2. Situation der Armenier im Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert

Unter Sultan Mohammed II. (1451-81) genossen die Armenier eine religiöse, kulturelle und soziale Autonomie. Dies erreichen sie vor allem durch ihre Bereitwilligkeit, eine untergeordnete politische Stellung unter osmanischer Herrschaft einzunehmen. Bis zum neunzehnten Jahrhundert hatten die Armenier also keine systematische Unterdrückung erlitten

Trotz aller Eigenständigkeit blieben die „Rajahs“ (vom arabischen Wort für „Vieh“) genannten Christen im Osmanischen Reich Menschen zweiter Klasse. Sie mussten sich anders kleiden als die Moslems und durften keinerlei Zeichen des Luxus zeigen. Sie durften keine teuren Pferde halten und mussten vor Moslems absteigen, „die ihnen das Pferd oft einfach fortnahmen“, wie der rumänische Historiker Nicolae Jorga schreibt. Ihre Gebäude mussten niedriger sein als die der Rechtgläubigen, und nicht nur für den Neubau von Kirchen brauchten sie eine Genehmigung, sondern auch für deren Reparatur. Sie durften keine Moslemin heiraten, während christliche Frauen als Konkubinen moslemischer Männer sehr begehrt waren.

Sie konnten allerdings einen beachtlichen Vorteil aus der eingeschränkten Autonomie ziehen, die durch das Millet-System ermöglicht wurde. Millet hieß im Arabischen „Religion“, für die Osmanen allerdings „Nation“. Jede Religionsgemeinschaft unterstand direkt ihrem religiösen Oberhaupt, dem Patriarchen, der vom Sultan bestätigt werden musste. Er bürgte für die Erfüllung der Pflichten des Millets, in erster Linie der pünktlichen Zahlung von Steuern. Dadurch füllten die Armenier nach der Eroberung Konstantinopels jährlich etwa zwei Tonnen Gold in die Kassen des Sultans. Im Gegenzug sicherte der Sultan den Millets die freie Ausübung der Religion und die Administration der geistlichen Angelegenheiten zu, ferner eine weitgehende Autonomie im Schulwesen sowie die Rechtsprechung in persönlichen Dingen wie Eheschließung, Scheidung und Erbschaftsfragen. So lebten die christlichen Armenier mit ihren muslimischen Nachbarn in einer „freundlichen Symbiose“,1 weshalb sie auch die Bezeichnung „die loyale Gemeinschaft“ trugen.

Die Armenier lebten in den östlichen Gebieten auf einer gebirgigen Hochebene und teilten sie mit kurdischen Volksstämmen. Viele armenische Bauern lebten in einer Art feudaler Knechtschaft unter der Herrschaft von kurdischen Stammesfürsten. Die nomadischen Kurden bekamen von den sesshaften Armeniern Winterquartiere zur Verfügung gestellt und haben einen Teil ihrer Ernte als Gegenleistung für ihren Schutz ab. Allerdings funktionierte dies nur, solange das Osmanische Reich wohlhabend und stark war.

Als das Reich zu zerfallen begann und sich die Korruption zunehmend ausweitete, konnten es sich die armenischen Bauern nicht leisten, Tribut an die kurdischen Oberherren zu zahlen, da sie immer erdrückendere Steuern an das Osmanische Reich zahlen mussten. So griffen die kurdischen Stämme die mehrheitlich wehrlosen Armenier in grausamen Überfällen an, wodurch Frauen, Kinder und Männer getötet und Vieh entwendet wurde. Die osmanischen Beamten waren unfähig und vermutlich auch nicht gewillt, die Armenier zu entschädigen, da nicht einmal die eigene Bevölkerung versorgt werden konnte. Erst im Laufe der Jahre verschlechterten sich also die türkisch-armenischen Beziehungen durch den Zerfall des Reiches.

Der im Jahr 2007 verstorbene, damals 100 jährige Augenzeuge Mehmet Ali Mehmetoglu berichtete 2004 über seine Erlebnisse mit den Russen und den Armeniern. Er lebte damals in der von Russland besetzten Stadt Bayburt im Nordosten Anatoliens. Er schildert, dass die Russen gnädig und gütig waren, die Armenier jedoch nach Abzug der russischen Truppen über die Bevölkerung hergefallen waren. Er erzählte auch, dass die Moslems und Armenier vor den Massakern friedlich als Nachbarn miteinander lebten, sich die Lage allerdings änderte, nachdem beide Seiten Rache nehmen wollten.2

3. Die Deportationen Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Armenier lebten größtenteils in den östlichen Provinzen an der russischen Grenze. Die Mehrheit lebte in den Provinzen Van, Diyarbakir und Erzurum. Durch den Krieg mit Russland sahen sich die Osmanen gezwungen, die Armenier an der Grenze Russlands zu deportieren. Die Deportationsziele waren unter anderem Syrien, Bagdad und Mosul.

Quelle: Map-of-Ottoman-Empire-in-1900-Latvian.svg. Urheber: Juris Tiltins.

Die Deportation der Armenier in das Landesinnere geschah vermutlich durch die türkische Angst vor dem unmittelbar bevorstehenden Fall des Reiches und des Gefühls von Verzweiflung und Niederlage seitens der Osmanischen Regierung. Der Vorschlag eines umfassenden Deportationsprogramms scheint vom Oberbefehlshaber der Armee, Enver Pascha, gekommen zu sein. Angesichts der andauernden revolutionären Aktivitäten rund um den Van-See unterbreitete er am 2. Mai dem Innenminister den Vorschlag, dass „diese Einwohner aus dieser Gegend entfernt werden und diese Brutstätte der Rebellion zerschlagen werden sollte“.3 Der formale Beschluss, die Deportation auf die weitere armenische Gemeinschaft auszudehnen, wurde scheinbar am 26. Mai verfasst. An diesem Tag schickte Talât Pascha eine Mitteilung an den Großwesir.

[Die Mitteilungen vom 26. Mai von Talât Pascha an den Großwesir über die Deportation der Armenier und des Oberkommandos der Türkei an das Innenministerium befinden sich im Anhang].

Am 30. Mai stimmte das Kabinett den fünfzehn Bestimmungen zur Umsetzung des Deportationsgesetzes zu. Die Transporte wurden von örtlichen Verwaltungsbeamten arrangiert. Die Armenier, die deportiert werden sollten, hatten das Recht, bewegliche Besitzgüter und Tiere mitzunehmen. Außerdem hatten die Verwaltungsbeamten die Pflicht, das Leben und den Besitz der Armenier zu schützen und während der Reise für Nahrung zu sorgen. Artikel 4 der insgesamt fünfzehn Bestimmungen besagte z.B.: „ Es wird vor allem darauf geachtet werden, dass die Dörfer an Orten angesiedelt werden, die den allgemeinen gesundheitlichen Erfordernissen gerecht werden und sich für Landwirtschaft und Baumaßnahmen eignen.“ Weitere Artikel der Verordnung befassten sich mit der Aufteilung und Vergabe von Land, der Finanzierung der Umsiedlung sowie Werkzeug und Instrumenten, mit der Regelung von Verpflegung und Unterkünften etc.³

Türkische und pro-türkische westliche Autoren wie z.B. Stanford Shaw und EzelKural Shaw haben diese Anordnungen als Beweis der wohlwollenden Absichten der Osmanischen Regierung zitiert. Weder im Erlass vom 30. Mai noch in anderen derartigen Anweisungen „findet sich eine Erwähnung von Massakern oder Genozid“, schreibt SalahiSonyel; „im Gegenteil, in jeder einzelnen werden strikte Anweisungen gegeben, dass die Armenier an ihre Bestimmungsorte gebracht werden sollten und sie dort ihre neuen Heime errichten durften.“4

Wir wissen zwar, dass die Verfügung vom 30. Mai dem Deportationsgesetz einen Hauch Fairness gaben, aber kaum eine dieser Regeln wurde umgesetzt. Der tatsächliche Ablauf der Deportationen und Umsiedlungen hatte kaum Ähnlichkeiten mit der Vorgehensweise, die im Gesetz skizziert wurde. Es gab keine Bahn, die die Kranken, Frauen und Kinder von der russischen Grenze ins Landesinnere bringen konnte, so dass die Deportierten in den Konvois, die endlich die Bagdad-Eisenbahnlinie erreichten, schon größtenteils durch Hunger, Seuchen oder Ermordungen, starben. Durch die schwache osmanische Bürokratie ist es leicht zu verstehen, dass die enorme Aufgabe der Umsiedelung von mehreren hunderttausend Menschen in kürzester Zeit und mittels eines völlig unzureichenden Transportsystems die Fähigkeit jeder Abteilung der türkischen Regierung bei Weitem überstieg.

Es gab zudem kein zentrales Kommando, das die gesamte Verantwortung für die Deportationen trug. Ebenfalls gibt es keine Aufzeichnungen, die darauf hindeuten, dass das Militär, das Innenministerium und örtliche Beamte ihre Bemühungen koordinierten, die schrecklichen Bedingungen, unter denen die Deportierten litten, zu verbessern.

4. Wer ist schuld an den Massakern?

Wer genau für die Massentötungen verantwortlich ist, kann bis heute nicht genau beantwortet werden. Jedoch wissen wir, dass alle bekannten Massaker in den östlichen Gebieten verübt wurden, die von den Kurden bewohnt wurden, aber auch in den Umsiedlungsgebieten (wie z.B. Ras-ul-Ain oder Der-el-Zor), in der Tscherkessen lebten. Augenzeugen aus jener Zeit nennen als Mörder Kurden, Tscherkessen, Straßenräuber, Freischärler und Gendarmen, die die Konvois begleiteten.

Die osmanische Regierung hatte in der anatolischen Provinz niemals für absolute Sicherheit sorgen können, da die Bedingungen auf den Straßen in den östlichen Gebieten besonders schlecht waren, wo die Kurden den Ruf hatten, leidenschaftliche Räuber und Banditen zu sein. Ein englischer Reisender, der 1913 durch diese Gegenden reiste, notierte, dass „Straßenraub auch innerhalb der Mauern von größeren Städten straffrei stattfand“.5

4.1 Rolle der Kurden und der Deserteure

Nach Ausbruch des ersten Weltkrieges mussten auch die wenigen anwesenden Soldaten an die Front und der unzureichende Schutz, der zuvor durch die Anwesenheit der Truppen gegeben war, endete. Deshalb konnten kurdische Banden relativ ungestraft agieren. Die Sicherheit der Straßen litt auch von zehntausenden Deserteuren (fahnenflüchtige Soldaten). Die Zahl der Deserteure im Jahr 1916 wird auf fünfzigtausend geschätzt. „Sie streiften am Land umher, ernährten sich von dem, was sie fanden und wurden zu Räuberbanden“.6 Es ist wahrscheinlich, dass viele Angriffe auf armenische Konvois von Deserteuren der türkischen Armee verübt wurden. Die Kurden hatten die Armenier immer als ihre natürliche Beute betrachtet; die armenischen Deportationen stellten oft eine willkommene Gelegenheit dar, Beute zu machen und Frauen zu verschleppen. Sie verursachten vermutlich den größten Verlust an Menschenleben, indem sie das Geld der Armenier stahlen und sie auch töteten; angesichts der wenigen Nahrung, die den Deportierten zur Verfügung gestellt wurde, mussten die Vertriebenen verhungern, da sie kein Geld mehr hatten, um Nahrungsmittel zu kaufen.7

In einigen Quellen wird die Kavallerie der freiwilligen Kurdenstämme als „Stammesmiliz“ oder nur „Miliz“ bezeichnet.8 Viele der Massaker in Diarbekir (heute Diyarbakır) sollen von dieser Miliz verübt worden sein, die speziell zu diesem Zweck in die Stadt gebracht wurde.9 Die dänische Missionarin in Harput, Maria Jacobsen, schildert in ihrem Tagebuch die Ankunft von vierhundert kurdischen „Freiwilligen“ in der Stadt. Diese Männer, so schrieb sie am 16. März 1916, „sahen aus und benahmen sich wie wilde Tiere. Ihr größtes Vergnügen und Grund zur Freude ist es, wenn es ein Massaker gibt, und es sind diese Kurden, die dazu benutzt wurden, unsere zahlreichen Freunde zu töten.“10

[...]


1 Ronald GrigorSuny, Looking toward Ararat: Armenia in Modern History, S. 101

2 zu sehen auf www.dailymotion.com /Bayburt‘taErmeniZulmü.

3 Orel und Yuca, The TalâtPascha Telegrams, S. 116.

4 Premierministerium der Türkei, Documents on Ottoman Armenians, S. 170-171

5 Walter Guiness Moyne, Impressions of Armenia, S. 7.

6 Zürcher, “Between Death and Desertion”, S. 246.

7 McCarthy, Death and Exile, S. 195.

8 Martin van Bruinessen, Agha, Shaikh and State: The Social and Political Structure of Kurdistan, S. 189.

9 Ahmad, Kurdistan duringthe First World War, S. 157; Hamit Bozarslan, “Historie des relationskurdo-arméniennes”, in Kurdistan und Europa: Einblicke in die Kurdische Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts, Hrsg. Hans-Lukas Kieser, S. 165.

10 Jacobsen, Diariesof a DanishMissionary, S. 136.

Ende der Leseprobe aus 25 Seiten

Details

Titel
"Völkermord" an den Armeniern im Osmanischen Reich?
Untertitel
Die Auslöschung einer ganzen Rasse oder Umsiedlung eines unzuverlässigen Volkes?
Note
1,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
25
Katalognummer
V190258
ISBN (eBook)
9783656162988
ISBN (Buch)
9783656163688
Dateigröße
1061 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Note: 1-
Schlagworte
völkermord, armeniern, osmanischen, reich, auslöschung, rasse, umsiedlung, volkes
Arbeit zitieren
Samet Döger (Autor:in), 2011, "Völkermord" an den Armeniern im Osmanischen Reich?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/190258

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