"Uh, Ah, Chávez no se va"

Venezolanische Musik zwischen Tradition und Politik


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2010

27 Seiten, Note: "-"


Leseprobe


In Venezuela, in Venezuela

das waren noch Zeiten, die glücklichen Zeiten

mit Emmanuela

...

da gibt es noch Mädchen

dennoch sind die Pärchen

sich immer noch treu

...

(Willy Rosen: Venezuela, 1930)

1. Einleitung

"Lustige" venezolanische Musik habe man 1934 per Kurzwelle erfolgreich von Venezuela nach Berlin übertragen, schrieb 1938 der deutsche Rundfunkingenieur H. Neumann in einem Beitrag des Jahrbuchs Weltrundfunk (Neumann: 89). Eine eher abwertende Meinung über die Musik seines Gastlandes schimmert hier durch. Dabei war so manche Musik in jenen Jahren in Deutschland nicht weniger "lustig", wie das o.g. Beispiel von Willy Rosen aus dem Jahr 1930 zeigt. Francisco Kurt Lange, der Vater der lateinamerikanischen Musikwissenschaft, sagte hingegen 1993, dass "Venezuela in Anbetracht seiner Größe und Einwohnerzahl das musikalisch am besten entwickelte Land Lateinamerikas ist" (zit. bei Labonville: 3). Der musikalische Exportschlager El Sistema spricht dafür. Beide Kommentare sollten den Leser dazu verleiten, sich näher mit der Musik Venezuelas zu beschäftigen. Sie fasziniert durch ihre Vielfalt, trotz der Nachzüglerrolle des Landes im Bereich der Kunstmusik. Das Aufeinandertreffen der indigenen, spanisch-europäischen und afrikanischen Elemente setzte vor allem in der traditionellen Musik starke Energie und Kreativität frei. Trotzdem herrscht besonders in der Ober- und Mittelschicht vor, was die Mexikaner malinchismo nennen, also die Bevorzugung von Kulturprodukten, die aus Europa oder den USA stammen.

Die Musik spielte auch immer wieder eine wichtige Rolle in den politischen Auseinandersetzungen des Landes, sei es bei den Truppen Simon Bolívars oder heute in Hugo Chávez' Programm "Aló, Presidente". Chávez benutzt Musik - manche Musiker schreiben sogar ihm zu Ehren Lieder, während andere, so Soledad Bravo, sich ihm verweigern -, aber er fördert und schützt sie auch über eine Quote, sofern es sich um einheimische Produktionen handelt. Und während Popsänger nach US-amerikanischem Muster die Hitparaden dominieren und ein Teil der Jugend MTV Latino schaut, tanzt der andere Teil joropo oder singt mit der Band Desorden Público das Lied "Políticos Paralíticos".

Der folgende Beitrag behandelt die venezolanische Musik und Musikindustrie im 20. Jahrhundert. Ein kleiner Ausflug in die Geschichte ist jedoch für das bessere Verständnis unerlässlich.

2. Von der Conquista bis zum 19. Jahrhundert

Obwohl als eines der ersten Gebiete entdeckt, war das heutige Venezuela für die Spanier aufgrund fehlender Edelmetallvorkommen oder anderer Schätze unattraktiv. Darum fehlte dort lange ein "kulturelles" Zentrum, wie es zum Beispiel Lima als Hauptstadt des Vizekönigreichs Peru war. Das führte in der Musikgeschichte dazu, dass erst 1591 die erste Orgel Caracas erreichte und man – nachweislich - 1671 den ersten Kapellmeister an der Kathedrale Santa Ana de Coro anstellte, Padre Gonzalo Cordero, obwohl dort schon seit 1536 gesungen wurde (Milanca Guzmán: 21/ Tortolero: 5). Außerdem existierte keine indigene Hochkultur, die stark genug gewesen wäre, bedeutende kulturelle Spuren zu hinterlassen. Die Musik der damaligen Küstenbewohner ist nicht überliefert, da die Spanier sie mit ihnen ausrottete (Hernández Mirabal: 280-281).

Wie auch in anderen Teilen Lateinamerikas war die Musik im Venezuela der Kolonialzeit vor allem eine Angelegenheit der Kirche. Katholische Missionare drangen bis in den hintersten Winkel des Regenwaldes vor und verbreiteten dort ihren Glauben und die religiöse Musik, die auf westlicher Harmonie beruhte. Die indigene Musik wurde verboten, was dazu führte, dass "Lateinamerikas früheste Musik die der Sieger, Echo der Hofmusik aus Madrid und Lissabon" war, so der Musikwissenschaftler Kurt Pahlen. Im 20. Jahrhundert intensivierten Evangelisten diesen bedauernswerten Prozess, so dass in einigen Indianergemeinschaften heute nur noch protestantische Hymnen gesungen werden (Seeger: 131). Von den religiösen Gesängen sprangen die Impulse über zum Volkslied oder sie, bzw. Fragmente aus ihnen, wurden sogar selbst Bestandteil der Popularkultur. Wirkliche mestizaje setzte aber erst ein als zwischen 1656 und 1670 der Mönch Diego de los Ríos in der Mission Píritu begann, Motetten und villancicos mit Texten zu komponieren, die seine aktuelle – karibische – Lebenswelt betrafen. Außerdem gründete er einen Chor mit indígenas, der die lateinischen Messen begleitete und große Bewunderung erntete (Calcaño: 35).

Der vielleicht wichtigste Beitrag zur Entwicklung einer nationalen Popularmusik stammt von den seit dem 16. Jh. importierten Sklaven. Sie legten ihre Polyrhythmen und Gesänge über die europäische Gesangs- und Spieltechnik (s.u.) (García: 559). Das geschah nur im weltlichen Bereich, denn am offiziellen Musikleben, also an der religiösen Musik, durften Schwarze und pardos (Oberbegriff für alle möglichen rassischen Mischungen) lange nicht teilhaben.[1] In der nach außen strikten Rassentrennung und den mit ihr verbundenen Regeln lag eine der Stützen der kolonialen Gesellschaft begründet. Allerdings widersprechen die realen Zahlen dieser Wunschvorstellung, klassifizierte man doch um das Jahr 1800 49% der Bevölkerung in die Kategorie "pardo" (Milanca Guzmán: 53). Aber deswegen lässt sich im gesamten 18. Jh. nur ein Musiker mit schwarzer Hautfarbe belegen, der Sklave Juan de Mata, der von seinem Herren zwischen 1739-1749 als Harfist an die Kirche von Coro vermietet worden war. Und nur wenige pardos sind als Musiker bekannt, u.a. zwei Organisten aus den 1780er Jahren (Milanca Guzmán: 67-71). Erst mit der Unabhängigkeitsbewegung änderte sich dieses Bild, viele Komponisten entstammten nun der "Kaste" der pardos.

Die Missionen und Kirchen blieben für lange Zeit die Zentren der Musik. Chorgesang wurde z.B. am Seminario de Santa Rosa (1673) in Caracas unterrichtet. Musik außerhalb der christlichen Liturgie betrachtete man als Abweg von der wahren Frömmigkeit. So ist den auch das erste, noch erhaltene musikalische Dokument Venezuelas, das einer Totenmesse für drei Stimmen ("Misa de Difuntos") von José Antonio Caro de Boesi aus dem Jahr 1779, weswegen dieses Jahr als Beginn der Kunstmusik in Venezuela angesehen wird (Tortolero: 6).

Die erste eigenständige musikalische Bewegung stellte die 1769 in Caracas gegründete Escuela de Chacao unter Leitung von Pedro Ramón Palacios y Sojo dar.[2] "Padre Sojo", ein Großonkel Simón Bolívars, war musikbegeistert und gründete 1771 nach dem Vorbild des italienischen Oratorio San Felipe de Neri zusätzlich noch ein Oratorium. Damit legte er den Grundstein der venezolanischen Musikproduktion, wenn auch die vor allem sakralen Werke noch sehr an den europäischen Vorbildern orientiert waren. Auch profane Musik wurde dort komponiert, wie ein Duo für Violinen von Juan Manuel Olivares belegt, die allerdings ebenso wenig wie die sakrale Musik von der Musik der Eingeborenen oder Sklaven beeinflusst war. Einige der wichtigsten Komponisten jener Zeit gingen aus Padre Sojos' Schule hervor, u.a. Juan José Landaeta (1780-1814), der mit "Gloria al Bravo Pueblo" die Hymne der Republik schrieb, Juan Manuel Olivares (1760-1797), und José Lino Gallardo (1773-1837), der die Melodie der heutigen venezolanischen Nationalhymne komponierte (Hernández Mirabal: 282).[3] 1808 öffnet in Caracas das erste (Opern)Theater seine Pforten und trägt zur Popularisierung der weltlichen Musik bei. García zitiert einen britischen Reisenden aus jener Zeit: "Los trabajadores son gente alegre [...] son grandes amantes de la música; van en tropel a la ópera, y después de oír una nueva pieza, generalmente pueden tocar de memoria una buena parte de ella en sus instrumentos nativos, y eso con un grado tolerable de exactitud" (562). Juan Bautista Plaza schreibt, dass die Musikproduktion zwischen 1770, nachdem "Padre Sojo" von einer Europareise zurückkehrte, und 1814 qualitativ auf Augenhöhe mit den Europäern stand, ein Zustand den man danach erst im späten 20. Jh. wieder erreichte (Plaza: 48-49).

Die Mitglieder der Escuela de Chacao waren fast alle Anhänger der Unabhängigkeitsidee und engagierten sich für diese. So schloss sich Juan José Landaeta 1810 den Revolutionären an, kam in Haft, wurde von Bolívar befreit und schließlich 1814 von José Tomás Boves hingerichtet. Die Musik stellte während des Reifungsprozesses der Nation einen wichtigen Bestandteil der patriotischen Bewegung dar (García: 557). In den Salons der Oberschicht sang und verbreitete man patriotische Lieder mit antispanischem Inhalt und bestärkte so den Befreiungsgedanken. So vertonte z.B. José María Gómez Texte von José Silverio González zu heroischen Themen und Figuren: Vaterland, Bolívar, Sucre etc. Sein "Dulce Patria" war zu jener Zeit sehr populär (García: 561). Die Befreiungsheere besaßen fast alle eine Kapelle, die die Soldaten für die Schlacht anheizte – so spielte die Kapelle der voltígeros in der Schlacht von Ayacucho einen fröhlichen bambuco – oder, nach getaner Arbeit, für sie zum Tanz aufspielte. Berühmtheit erlangte die Kapelle des Bataillons "Veterano", die in der Schlacht von Maturín zur republikanischen Seite überwechselte und danach triumphierend an der Spitze der Patrioten in Cumaná einzog (Calcaño: 213-214). Viele Musiker kämpften und starben für die Idee der Unabhängigkeit und hinterließen eine gravierende Lücke im Musikleben. Die musikalische Produktion tendierte in den Jahren des Unabhängigkeitskrieges gegen Null. Mit der 8. Sinfonie von Francisco Juan Meserón erwachte 1822 das Musikleben erneut. Erstaunlicherweise hatte auch die 1. Republik Angst vor der unkontrollierten öffentlichen Aufführung von Musik und erließ im Mai 1811 ein Verbot derselben. Konzerte zu Ehren der neuen Republik oder zum Empfang des "Befreiers" waren jedoch erlaubt (Calzavara: 64-65; 70).

Die Unabhängigkeit von Spanien brachte im Bereich der Kunst radikale Veränderungen mit sich. Die ehemaligen Kolonien öffneten sich verstärkt anderen europäischen Kulturen, im Bereich der Musik zum Beispiel der italienischen Oper oder der (deutschen) Romantik und ihrer Vorläufer wie Haydn und Mozart. 1818 eröffnete José Lino Gallardo in Caracas eine Musikschule, deren Spuren sich in der Geschichte verlieren. Ein Jahr später gründete sich eine Sociedad Filarmónica, mit dem Ziel, öffentliche Konzerte zu präsentieren. Sie bestand bis 1820 (Calzavara: 75-78), wurde 1831 erneut zum Leben erweckt und unterhielt 1834 sogar ein Orchester, das Francisco Juan Meserón leitete. Es kam zu weiteren Versuchen, Musikschulen zu gründen (u.a. 1834), die aber alle nicht lange existierten. Die romantische Strömung gewann musikalisch die Oberhand, u.a. weil seit 1830 das Land sozial, politisch und kulturell ins Chaos abrutschte (Tortolero: 9). Öffentliche Konzerte waren selten, der Rückzug ins Private favorisierte die Produktion von Salonmusik für Klavier und Stimme. Erst die Eröffnung von großen Theatern (1830 und 1854), die einen Bedarf nach professionellen Komponisten und Musikern generierten und gleichzeitig Musiker und Publikum mit den neuesten Produktionen aus aller Welt in Kontakt brachten, beschleunigte die musikalische Entwicklung. 1844 veröffentlichte José María Osorio die erste musikdidaktische Schrift des Landes, "Elementos para el canto llano y figurado". Die Ausbildung der neuen Komponisten- und Musikergenerationen übernahm ab 1850 vor allem die Academia Nacional de Bellas Artes. So komponierten Venezolaner 1873 zum ersten Mal eine Oper, "Virginia" von José Angel Montero, und 1892 eine Klaviersonate, von Redescal Uzcategui (Tortolero: 8).

Eine zentrale Figur beim Übergang ins 20. Jahrhundert war der Pianist Salvador Llamozas (1864-1940), der nicht nur unzählige Musikstücke hinterließ, sondern nach rund 60jähriger Tätigkeit als Lehrer an der wichtigsten Musikschule des Landes fast alle wichtigen venezolanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts unterrichtete (García: 564-565). Die Spannungen zwischen Staat und Kirche[4] führten in der zweiten Hälfte des 19. Jhs. zu einer sinkenden Produktion sakraler Musik, im Gegenzug entwickelte sich die Salonmusik weiter. Zu dieser Zeit verwandelt sich der nach der Unabhängigkeit ins Land gekommene und sehr beliebte Walzer. Ihn veränderten die venezolanischen Komponisten in rhythmischer Hinsicht so stark, dass er zu einer eigenen, nationalen Ausdrucksform mutierte. Damit nicht genug, verlor er allmählich seinen Volksmusikcharakter und zog in die Konzertsäle ein. Komponisten wie Sebastián Díaz Peña ("Maricela") oder Teresa Carreño (1853-1917) schrieben berühmte Walzer (Rugeles: 11). Letztere gehört zu den interessantesten Figuren der venezolanischen Musikgeschichte, auch aus deutscher Sicht, lebte sie doch von 1891 bis 1895 in Coswig bei Dresden und von 1895 bis 1916 in Berlin. Schon im Kindesalter förderte ihr Vater ihr musikalisches Talent und vertraute ihre Ausbildung ab dem Alter von acht Jahren dem berühmten US-Pianisten Louis Moreau Gottschalk an. Das Wunderkind spielt 1863 für Präsident Abraham Lincoln und begeistert drei Jahre später in Paris Franz Liszt. Als Pianistin bezeichnete man Carreño als die "wahre Erbin" Clara Schumanns, aber auch ihre Rolle als Komponistin sollte nicht unterschätzt werden. In ihren Werken finden sich "schwierige Doppelgriffpassagen, schnelle Oktavengänge, gefährliche Sprünge und Triller" (Bauer/ Oehler: 7), aber ebenso Ruhe und Besonnenheit. Rhythmen wie die habanera oder den Walzer nutzte sie besonders gerne, ihr "Petite valse" entwickelte sich zu einem "Hit" .

In dieser Zeit nahm die venezolanische Volksmusik mehr und mehr ihre heutige Gestalt an. Venezolaner entwickelten aus lokalen Materialien erste eigene Instrumente, wie die in den Llanos beliebte bandola (aus der arabischen Laute) oder die arpa tuyera (Harfe). Und das nicht nur aus Erfindergeist, sondern auch geboren aus der Not, wegen des Preises oder der langen Lieferzeiten (importiert aus Spanien) keine Instrumente kaufen zu können (García: 559). So erfand man wahrscheinlich auch den cuatro, eine kleine, meist viersaitige Gitarre, die von der europäischen Gitarre abstammt und heute das Nationalinstrument Venezuelas ist. Mit der Zeit entwickelten die Instrumentenbauer das Handwerk zur Kunst und "verwandelten das Holz in Musik" (Fundación Bigott: 163) so wie im 20. Jh. Ramon Figueroa aus Cumaná oder Antonio Navarro aus Carora. In neuerer Zeit hat der Instrumentenbauer Luis Ruiz sogar einen cuatro aus Fiberglas entwickelt.

3. Musik im 20. Jahrhundert und heute

3.1 Kunstmusik

Das 20. Jahrhundert begann aus musikalischer Sicht schlecht für Venezuela. Es gab keine dauerhaft bestehenden Orchester und keine gut ausgebildeten Musiker. Zwar war mit steigender Erdölförderung durch ausländische, vor allem US-amerikanische Firmen und ihre Mitarbeiter der materielle Wohlstand gestiegen und somit die Nachfrage nach kulturellen Angeboten, aber die Ober- und Mittelschicht orientierte sich an der Kultur und Musik aus Europa und den USA[5], so dass eher ausländische Orchester eingeladen, als nationale gefördert wurden und Foxtrott, Tango und Rumba die Tanzsäle dominierten. Und die verschiedenen Präsidenten, besonders Juan Vicente Gómez, modernisierten zwar Wirtschaft, Infrastruktur und Institutionen, legten aber kaum Wert auf eine moderne Kultur oder Musik, so dass für viele Intellektuelle das 20. Jh. kulturell erst 1936, mit dem Amtsantritt von Eleazar López Contreras, beginnt. (Hernández Mirabal: 289).

Ein italienischer Geistlicher, Monseñor Ricardo Bartoloni, gab 1921 mit der Aufführung von vier sakralen Werken den erneuten Anschub zur Bildung einer Musikszene: für das Oratorium "La Resurrección de Lázaro" benötigte man 60 Instrumentalisten und 60 Sänger, die gefunden und zusammengeführt werden mussten. Der daran beteiligte Vicente Martucci formte 1922 daraus dann das erste dauerhafte Orchester in Caracas. Bartoloni verhalf außerdem dem Komponisten Juan Bautista Plaza zu seiner Karriere, der 1931 innerhalb der Escuela de Música y Declamación einen Lehrstuhl für Musikgeschichte ins Leben rief (Tortolero: 10).

Juan Bautista Plaza, der 1923 frische Ideen von einem dreijährigen Europa-Aufenthalt mitbrachte, erhielt sofort das Amt des Kapellmeisters in Caracas. Gemeinsam mit José Antonio Calcaño und Vicente Emilio Sojo begann er mit der Erneuerung der venezolanischen Musik. Sie komponierten, bildeten Musiker aus, organisierten Konzerte, hielten Vorträge über die europäische Kunstmusik und verfassten unzählige Zeitungsartikel zu musikalischen Themen, um das Publikum zu sensibilisieren (Labonville: 8). Der unermüdliche Sojo entwickelt sich zur zentralen Figur des Musiklebens im 20. Jahrhundert. 1936 ernennt man ihn zum Rektor der Escuela de Música y Declamación, wo er bis 1964 die nachfolgenden Komponisten- und Musikergenerationen prägt. Er begründet die sogenannte Escuela de Santa Capilla[6], die starke nationale Tendenzen in die venezolanische Musik einbringt und sie auf ein internationales Niveau hebt (Tortolero: 11). Sojo sammelte und veröffentlichte auch heimische Folklore und brachte so die nationale Musikwissenschaft einen entscheidenden Schritt vorwärts. Er rief 1930 mit anderen Musikern das Orquesta Sinfónica de Venezuela ins Leben und begründete mit dem Orfeón Lamas (1928) auch das nationale Chorwesen, das sich sogar auf private Institutionen ausdehnte. Zum Beispiel unterhalten viele Banken heute einen Chor. In der Escuela richtete man nicht nur den Blick auf die nationale populäre Musik, sondern begann auch, sie niederzuschreiben und in die "ernste" Musik zu integrieren. Die Aufführungen dieser "nationalistischen" Werke waren ein so großer Publikumserfolg, dass selbst der kulturell desinteressierte Präsident Gómez ihre Wirkung erkannte und die Komponisten sporadisch förderte (Labonville: 10). Das waren die Anfänge der sogenannten venezolaneidad in der Kunstmusik, die in den 40er und 50er Jahren zur Erschaffung unzähliger Werke in der Sprache der "Nationalistischen Schule" führte. 1954, während der "X. Interamerikanischen Konferenz" und des "1. Festivals der Lateinamerikanischen Musik" in Caracas, erreichte die Bewegung mit verschiedenen Aufführungen von Juan Bautista Plaza, Vicente Emilio Sojo u.a. ihren Höhepunkt (Fundación Vicente Emilio Sojo: 27). Das Meisterstück dieser Fusion lieferte ein Schüler Sojos, Antonio Estévez, mit seiner "Cantata Criolla" (1954) ab, in der ein coplas -Sänger auf den Teufel trifft und sich ein dichterisches Duell entspinnt. Ein weiterer Schüler, Antonio Lauro, integrierte populäre Formen wie den joropo in seine Walzer und klassischen Gitarrenkonzerte (Hernández Mirabal: 290-291). Mit der Verlagerung der religiösen Musik von den vortragenden Kirchenmusikern auf die teilnehmenden Besucher durch den Beschluss des 2. Vatikanischen Konzils von 1962 verlor diese an Anziehungskraft für Komponisten. Sakrale Musik wird in Venezuela heute kaum noch komponiert, seltene Ausnahmen stellen Auftragswerke für offizielle Gelegenheiten dar, wie z.B. die "Misa de los Trópicos" (1995) von Juan Carlos Nuñez zur Seligsprechung der María von San José (Tortolero: 12-13).

1961 führte eine Pianistin in Mérida das auf Zwölftonmusik basierende Werk "Casualismos" von Rházes Hernández López auf. Damit beginnt in Venezuela eine neue Phase in der Kunstmusik, in der der Nationalismus nach und nach verschwindet und die vanguardia Einzug hält, mit neuen Kompositionstechniken und der Elektroakustik (Fundación Vicente Emilio Sojo: 31). Die Geschichte der elektroakustischen Musik in Venezuela beginnt mit einem grandiosen Misserfolg: 1965 beauftragte das Nationale Kulturinstitut den Chilenen José Vicente Asuar, aufgrund seiner großen Erfahrung, ein Studio in Caracas aufzubauen: sogar einen Ampex 4-Spur-Recorder hatte man dort. Aber die einheimischen Komponisten zeigten bis auf wenige Ausnahmen kein Interesse am Estudio de Fonología Musical. "Alfredo del Mónaco komponierte dort 1967/68 die ersten elektroakustischen Werke in Venezuela, 'Cromofonías' und 'Estudio Electrónico'", weiß der venezolanische Komponist Sef Alberz.[7] Die Musikwissenschaftlerin Isabel Aretz aus Argentinien war die zweite, die - nach ihrem Umzug nach Caracas - das Studio nutzte. 1968 schloss das Studio seine Pforten. Der griechische Komponist Yannis Ioannidis ließ sich im gleichen Jahr in Caracas nieder und scharte eine Gruppe von jungen Studenten um sich, aus der u.a. die Komponisten Emilio Mendoza, Alfredo Rugeles und Alfredo Marcano Adrianza hervorgingen, die alle zeitweise in Deutschland studiert und sich sowohl der Neuen als auch der elektroakustischen Musik verschrieben hatten. Ein zweites Studio hielt sich von 1972-1977, hatte aber ebenfalls keine nachhaltige Wirkung auf die elektroakustische Musikproduktion im Land. Erst als 1978 ein weiterer Ausländer, der Argentinier Eduardo Kusnir, ins Land geholt wurde, tat sich etwas: 1984 gründete er die Sociedad Venezolana de Música Electroacústica (SVME) und 1992 das Musikforschungszentrum CEDIAM. Eine neue Generation von Komponisten wuchs heran. Dazu zählen Julio d’Escriván, Alonso Toro oder Gustavo Matamoros. Bereits 1975 hatten Ioannidis, del Mónaco u.a. die Sociedad Venezolana de Música Contemporánea (SVMC) ins Leben gerufen, die sich seither um die Förderung junger Komponisten kümmert, CDs produziert und ein Archiv sowie eine Datenbank im Internet unterhält, da die staatlichen Institutionen für zeitgenössische Musik wenig tun. Private Förderer und Universitäten müssen in die Bresche springen. Seit den 1990er Jahren kam es vermehrt zu einer interessanten Vermischung von zeitgenössischer Musik mit traditionellen venezolanischen Klängen. So verwendete Adina Izarra den merengue aus Caracas in einigen Werken, während Paul Desenne die quitiplás, ein afrovenezolanisches Schlaginstrument, erklingen ließ und Roberto Cedeño einen joropo für ein Klarinetten-Quartett komponierte (Rugeles: 14-15). 1999 führte Vinicio Ludovic sein Konzert für cuatro und Orchester auf.

Begabte Musiker finden sich auch im kammermusikalischen Bereich, so der Gitarrist Rubén Riera, der solo zeitgenössische Kompositionen seiner Landsleute vertont oder sich mit der Camerata Renacentista de Caracas historischen Werken widmet, oder der Komponist und Gitarrist Alfonso Montes, der mit seiner Frau, der Sängerin Irina Kirchner, als Duo Montez-Kirchner arbeitet. Er bekleidete verschiedene politische Ämter, z.B. als Kulturattaché der venezolanischen Botschaften in London und Bonn oder als Generaldirektor für internationale Angelegenheiten des Nationalrates für Kultur. Wegen seiner Kritik an Präsident Chávez musste er Ende des Jahres 2000 emigrieren und lebt jetzt in Stuttgart. Weltberühmt ist die Pianistin Gabriela Montero, die als eine der wenigen Konzertpianistinnen weltweit die Fähigkeit besitzt, spontan über vorgesungene Melodien aus dem Publikum improvisieren zu können. "Ich habe schon als Kind improvisiert, das war für mich völlig normal. Dann hat eine Lehrerin es mir verboten und erst vor sieben, acht Jahren habe ich wieder damit angefangen, nachdem Martha Argerich mich dazu ermutigt hatte." Ihr Konzert-Debüt gab Montero als Achtjährige mit dem Venezolanischen Jugendorchester unter der Leitung von José Antonio Abreu und erhielt bald ein Stipendium der Regierung, um in den USA zu studieren. Auch als Weltstar tritt sie noch zwei- bis dreimal jährlich mit dem Jugendorchester auf. Ihr Stil erinnert an den funkensprühenden Rhythmus von Teresa Carreño: "Wenn ich die Klassiker interpretiere kommt der Rhythmus nicht zum Vorschein, ich habe ja auch in Europa und den USA studiert. Aber wenn ich improvisiere habe ich natürlich den tumbao, es gefällt mir, ihn dann rauszulassen.[8]

Gabriela Montero und andere "Stars" der Kunstmusik erlebt die Öffentlichkeit vor allem während der großen Festivals wie dem "Festival Latinoamericano de Música", das seit 1991 von Alfredo Rugeles geleitet wird, dem Festival "A Tempo" oder dem Sängerfestival "América Cantat", das eindrucksvoll die jahrzehntelange Chorarbeit des Movimiento Coral unter Beweis stellt.

3.1.1 El Sistema - Ein venezolanischer Exportschlager

Der 1939 geborene Dirigent, Komponist, Volkswirt, Jurist und Politiker José Antonio Abreu ist der Gründer des staatlichen venezolanischen Kinder- und Jugendorchestersystems, das heute von einer Stiftung, der Fundación del Estado para el Sistema Nacional de Orquestas Juveniles e Infantiles, kurz FESNOJIV, betrieben wird.[9] Das erste Orchester rief er 1975 mit elf Kindern in einem Slum in Caracas ins Leben, einerseits, weil es ihn ärgerte, dass in Venezuela nur zwei Sinfonieorchester existierten, in Caracas und Maracaibo, deren Musiker zu über 80 Prozent Ausländer waren, andererseits um die Kinder zu retten. Valdemar Rodríguez, Klarinettist und Vizedirektor der FESNOJIV, beschreibt die Anfänge: „Es gab nahezu keine Möglichkeit für einen Venezolaner in einem Orchester zu spielen. Die wenigen Musikschulen und Konservatorien waren nicht in der Lage, gute Musiker hervorzubringen. Abreu glaubte, dass das Erlernen eines Instrumentes leichter sei, wenn man es direkt spielt, eben in einem Orchester. Nicht isoliert im Zimmer einer Musikschule, wo jeder für sich alleine spielt. So lernt man vielleicht auch, aber ohne Spaß, denn man macht keine Musik. Mit elf Jugendlichen hat er angefangen, am zweiten Tag waren es 15 usw. und am Ende der Woche 70.“ Abreu selbst beschreibt die Philosophie des Projektes so: „Es bestand eine Notwendigkeit zu zeigen, das die Musik nicht nur eine schöne Kunst ist, sondern auch zur ästhetischen Formung des Menschen beitragen kann und auch eine soziale Funktion hat. Darum wollte ich ein System der Musikerziehung entwickeln, das bald seine Effizienz unter Beweis stellte und gleichzeitig einer großen Zahl von Jugendlichen ermöglichte, schnell ein hohes musikalisches Niveau zu erreichen.“[10] Bald begann die venezolanische Regierung das Projekt zu unterstützen. Es entstanden bis heute rund 180 Musikzentren (nucleos) und selbst in den abgelegensten Gebieten des Landes existieren Orchester und Chöre, die zusammen rund 275.000 Kindern (2008) ermöglichen ein Instrument zu erlernen. Abreus Erfahrungen in der Politik – u.a. war er von 1994-1999 Kulturminister in der Regierung von Carlos Andrés Pérez – halfen dabei sehr. Die Förderung überstand alle politischen Wechsel und betrug im Jahr 2006 rund 29 Millionen US-Dollar aus dem Topf des Gesundheits- und Sozialministeriums.

So entwickelte sich das Projekt, das als ein kulturelles bzw. musikalisches begonnen hatte, zu einem sozialen Phänomen, an dem jedes Kind teilhaben kann, sogar Orchester für Behinderte gründete man. Aufgenommen werden Kinder ab zwei Jahren, und nach dem Prinzip "todo el mundo es pardo, ese es el color de Venezuela!" existiert überhaupt keine Diskriminierung. Das Besondere an Abreus pädagogischem Ansatz ist, dass selbst die Kleinsten sofort in ein Orchester kommen und gemeinsam mit anderen das Musizieren erlernen. Es wird von ihnen verlangt, aufeinander zu hören und voneinander zu lernen. Sie erfahren den Gemeinschaftsgeist, in dem der Erfolg geteilt wird, aber auch nur zusammen möglich ist. Die Kinder sollen Verantwortungsgefühl entwickeln und sich als Teil eines sozialen Ganzen fühlen. Darum bekommen sie ihre Instrumente geschenkt, für manche das Kostbarste, was sie je besessen haben. Die Beschäftigung mit Musik und die Arbeit in einem Orchester vermitteln den Jugendlichen Werte wie Pünktlichkeit und Disziplin. Wie sehr es diese Idee vermochte, Kinder aus notleidenden Familien von der Straße zu holen und ihnen Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu machen, zeigt eindruckvoll der im Jahr 2008 produzierte Kinofilm "El Sistema – Über die Macht der Musik in einer Welt von Armut und Gewalt".[11] In Stadtvierteln mit Musikzentren sinkt die Kriminalitätsrate spürbar.

[...]


[1] Und auch die lateinamerikanische Musikforschung ignorierte ihre Rolle in der "klassischen" Musik lange Zeit, wie Milanca Guzmán belegt (49-50).

[2] Dabei handelte es sich nicht um eine Schule mit Gebäude, Klassen und Lehrern, sondern um eine Gruppe von Komponisten und Musikern, die sich häufig auf einer Hacienda des Padre Sojo im Chacao trafen (Tortolero: 6).

[3] Die Urheberschaft der Nationalhymne ist umstritten, auch Landaeta wird als Komponist genannt.

[4] Präsident Antonio Guzmán Blanco trennte Kirche und Staat (Zeuske: 130).

[5] Auch lateinamerikanische Musikstile wie der Tango fanden ihren Weg nach Caracas erst über diesen "Umweg" (Labonville: 6).

[6] Die Schule lag neben der Santa Capilla und heißt heute Escuela José Angel Lamas.

[7] Interview per mail, 2005.

[8] Interview, April 2009, Köln.

[9] Für sein Lebenswerk wurde Abreu mehrfach geehrt. 1998 ernannte ihn die UNESCO zum "Botschafter des Friedens". 2001 erhielt er den Alternativen Nobelpreis und vier Jahre später den Bundesverdienstorden, 2008 den Príncipe de Asturias -Preis . Im März 2009 wurden ihm der Frankfurter Musikpreis sowie der "Blue Planet Award 2008" der Stiftung Ethik und Ökonomie (Ethecon) verliehen.

[10] Interviews, September 2002, Köln.

[11] Ein Film von Paul Smaczny und Maria Stodtmeier. Neben verschiedenen TV-Dokumentationen existiert noch ein weiterer, sehenswerter Film über die Jugendorchester von Enrique Sanchez-Lansch.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
"Uh, Ah, Chávez no se va"
Untertitel
Venezolanische Musik zwischen Tradition und Politik
Note
"-"
Autor
Jahr
2010
Seiten
27
Katalognummer
V190173
ISBN (eBook)
9783656152644
Dateigröße
880 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Musik;, Venezuela, Lateinamerika, Chavez, Kulturpolitik, Musikindustrie, Ausbildung, Geschichte, Folklore, Rockmusik
Arbeit zitieren
Torsten Eßer (Autor:in), 2010, "Uh, Ah, Chávez no se va", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/190173

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