Verhaltensökonomik als Grundlage für eine effektivere Entwicklungszusammenarbeit


Bachelorarbeit, 2012

40 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

1. Einführung undAufbau

2. Theoretische Grundlagen des individuellen Entscheidungsverhalten
2.1. Das neoklassische Verständnis: Entscheidung als Ergebnis
2.1.1. Erwartungsnutzentheorie
2.1.2. Kritik an der Erwartungsnutzentheorie
2.2. Das verhaltensökonomische Verständnis: Entscheidung als Prozess
2.2.1. Prospect Theory
2.2.1.1. Referenzabhängigkeit
2.2.1.2. Verlustaversion
2.2.1.3. Abnehmende Grenzsensitivität
2.2.1.4. Hypothetische Wertfunktion
2.2.2. Mentale Buchführung
2.2.2.1. Topische Kontoführung
2.2.2.2. Kontextabhängigkeit und Besitztumseffekt
2.3. Intertemporale Entscheidungsprobleme
2.3.1. Gegenwartsverzerrte Präferenzen
2.3.2. Lösungsmöglichkeiten bei dynamisch inkonsistentem Verhalten

3. Potential der Verhaltensökonomik für die Entwicklungszusammenar- beit
3.1. Bildung
3.1.1. Hintergrund und Motivation
3.1.2. Problemanalyse aus neoklassischer und verhaltensökonomischer Perspekti- ve
3.1.3. Konditionierte Sozialtransfers
3.1.4. Subtraktive konditionierte Sozialtransfers
3.2. Agrikultur
3.2.1. Hintergrund und Motivation
3.2.2. Preissubventionen
3.2.3. SAFI (Savings and Fertilizer Initiative)
3.2.4. Gutscheinsysteme

4. Fazit und Schlussbemerkungen

Literaturverzeichnis

Zusammenfassung

Das Paradigma eines rationalen, nutzenmaximierenden Entscheidungsträgers stellt bis heute die Grundlage einer Vielzahl von Politikempfehlungen dar. Das Forschungsfeld der Verhaltensökonomik stellt diese Annahme eines homo oeconomicus in Frage und stellt ihr alternative, empirisch fundierte Modelle gegenüber. Ausgehend von diesen Erkenntnissen lassen sich zahlreiche Implikationen für die (Neu-)Gestaltung (existierender) Politikmaßnahmen ziehen. Diese Arbeit argumentiert, dass es für eine effektive Entwicklungszusammenarbeit unabdingbar ist, diese Ansätze in ihre Politikgestaltung zu integrieren. Potentielle Anwendungen im Bereich Bildung und Landwirtschaft werden illustriert.

1. Einführung und Aufbau

„Das Leben ist die Summe all deiner Entscheidungen“, stellte bereits Albert Camus fest. Doch während sich für das betroffene Individuum daraus die Frage ergibt, welche Entschei- dungen zu treffen sind, ist für die Politikgestaltung allen voran die Frage von Bedeutung, wie Menschen ihre Entscheidungen treffen. Denn die Antworten darauf bestimmen unsere Gesell- schaftsordnung, Institutionen und Politikgestaltung (Buchanan und O’Connell 2006).

Die (neo-)klassischen Theorien1 greifen zur Beantwortung dieser Frage auf ihr Men- schenbild eines homo oeconomicus zurück. Dieser ist rein egozentrisch, nutzenmaximierend und wird „jede Entscheidung vollständig abwiegen, perfekt berechnen und problemlos durch- führen“ (Mullainathan 2005, S. 47).2 Diese Annahme eines „rationalen“ Entscheidungsträgers hat das wirtschaftliche Denken des gesamten 20. Jahrhunderts geprägt und stellt die Grundla- ge vieler heutiger Politikmaßnahmen dar (Jackson 2005; Prendergrast, Foley et al. 2008).

Eine weitere Disziplin der Wirtschaftswissenschaften versucht hingegen zu verstehen, wie „richtige Menschen, im Gegensatz zu imaginären, idealisierten, superrationalen Men- schen“ (Bell, Raiffa et al. 1988, S. 9) Entscheidungen treffen. Die Verhaltensökonomik (behavioral economics) vereint Erkenntnisse und Methodik aus Kognitions- und Wirtschafts- wissenschaften, um das Verhalten von Menschen in konkreten Entscheidungssituationen zu verstehen und vorherzusagen. Ihre Ergebnisse aus zahlreichen experimentellen Untersuchun- gen zeigen, dass menschliche Entscheidungen nicht nur inkonsistent mit den Prognosen der Standardtheorie sind, sondern zumeist systematisch von diesen abweichen (vgl. u.a. Thaler 1980; Tversky und Kahneman 1986). Folglich wurden eine Vielzahl von Alternativen zu den klassischen Modellen vorgeschlagen, entweder durch geringfügige Modifikationen der zu- grundeliegenden Annahmen oder gar durch zum Teil unorthodoxe Modellierungen (Starmer 2000). Diese Modelle können zahlreiche Phänomene erfassen, die „anormal“ oder irrational nach neoklassischem Verständnis sind, jedoch zumeist alltägliche Verhaltensmuster darstellen (Camerer 2000a; Anderson und Stamoulis 2006).

In letzter Zeit haben Vertreter der Verhaltensökonomik ihren Fokus von der reinen Be- schreibung des Entscheidungsverhaltens auf einen vielmehr präskriptiven3 Ansatz ausgewei- tet. Ausgehend von den Erkenntnissen darüber, warum Menschen sich so entscheiden wie sie es tun, zeigen sie, wie bereits einfachste Veränderungen der „Entscheidungsumwelt“ Indivi- duen dazu bringen können, andere (bessere) Entscheidungen zu treffen (Thaler und Sunstein 2008). Verständlicherweise ziehen solche „weichen“ Einflussmöglichkeiten die Aufmerksam- keit von politischen Entscheidungsträgern auf sich. So lassen sich Barack Obama und David Cameron persönlich von Verhaltensökonomen beraten (Chakrabortty 2008), die resultieren- den Erkenntnisse finden bereits Anwendung (The Pensions Regulator 2011). Auch in Deutschland gibt es Vorstöße, dieses Wissen beispielsweise in den Verbraucherschutz zu in- tegrieren (Deutscher Bundestag 2011).

Könnten diese Instrumente nicht auch in anderen Bereichen, anderen Ländern, wert- voll(er) angewandt werden? Oder anders gesagt: Wenn verhaltensökonomische Erkenntnisse angewandt werden können, sodass Markus in Deutschland rentablere Finanzprodukte wählt (Reisch und Oehler 2008) oder Samantha in den USA beim Sparen für ihre Rente unterstützt wird (Madrian und Shea 2001), könnten dann nicht auch mit selber Methodik Sujit in Indien zu mehr Bildung oder Madaha in Kenia zu einem höheren Ernteertrag verholfen werden?

Die vorliegende Arbeit soll daher erörtern, inwiefern die Verhaltensökonomik als Grundlage für eine effektivere Entwicklungszusammenarbeit dienen kann. Hierfür werden zunächst das neoklassische (Kap. 2.1) und verhaltensökonomische Verständnis (Kap. 2.2) des Entscheidungsverhaltens gegenübergestellt. Im Anschluss werden dem Leser die zentralsten Konzepte der Verhaltensökonomik nahegebracht. Kapitel 2.2.1 beginnt mit der Prospect Theory, welche folgend durch die Theorie der mentalen Buchführung (Kap. 2.2.2) erweitert wird. Im darauffolgenden Abschnitt (2.3) wird die Analyse auf intertemporale Entscheidungs- probleme ausgeweitet, wobei der Fokus auf die verhaltensökonomische Annahme gegen- wartsverzerrter Präferenzen gelegt wurde. Der zweite Teil sieht eine Anwendung der erwor- benen Erkenntnisse auf die Entwicklungszusammenarbeit im Bereich der Bildung (Kap. 3.1) und der Landwirtschaft (Kap. 3.2). Kapitel 4 schließt mit einem Fazit.

2. Theoretische Grundlagen des individuellen Entschei- dungsverhalten

Entscheidungen, die Individuen in Entwicklungsländern fällen müssen, können unter- schiedlichster Natur sein: Schicke ich meine Kinder regelmäßig zur Schule oder sollen sie auf dem Feld arbeiten? Nehme ich einen Mikrokredit auf und wofür verwende ich ihn? Investiere ich in Düngemittel oder gebe ich das Geld lieber für besseres Essen aus? Menschen sehen sich tagtäglich unzähligen Situationen gegenüber, in denen eine Wahl getroffen werden muss. Auch wenn der Entscheidungsgegenstand jeweils unterschiedlich ist, basieren diese Situatio- nen im Kern auf dem gleichen Prinzip: Es stehen mehrere Alternativen (Handlungen oder Op- tionen) mit ihren jeweiligen Konsequenzen (Naturzustände oder Auszahlungen) zur Verfü- gung, unter denen der Entscheidungsträger eine auswählen muss (Knoll 2008, S. 19). Diese Situationen werden im Folgenden unter dem Begriff eines Entscheidungsproblems zusammengefasst.4 Wie lässt sich nun voraussagen, für welche Option sich ein Individuum entscheidet? Zur Beantwortung dieser Frage lassen sich zwei verschiedene Ansätze voneinan- der abgrenzen: die normative Analyse der Neoklassik sowie die deskriptive Analyse der Verhaltensökonomik.

2.1. Das neoklassische Verständnis: Entscheidung als Ergebnis

Neoklassische Theorien modellieren das Verhalten von Entscheidungsträgern unter Rückgriff auf das Menschenbild eines homo oeoconomicus. Dieser ist rational in dem Sinne, dass er sämtliche zur Wahl stehenden Optionen in einer aufwendigen Kosten-Nutzen-Analyse gegenüberstellt und letztlich jene Entscheidung treffen wird, die seinen Gesamtnutzen maxi- miert (Mullainathan 2007). Besonders die Annahme, dass der Entscheidungsträger stets die optimale, nutzenmaximierende Wahl trifft, ist von Bedeutung, da sie schließlich eine Ausei- nandersetzung mit den zugrundeliegenden kognitiven Prozessen hinfällig macht. Menschli- ches Entscheidungsverhalten lässt sich dadurch durch ein einfaches Optimierungsproblem darstellen, die tatsächliche Entscheidung ist „ein Ergebnis [...], nicht ein Prozess (Pingle 2006, S. 340).

Dieses Verständnis ist auch Grundlage der Erwartungsnutzentheorie (expected utlity theory), welche im folgenden Unterkapitel knapp dargestellt werden soll. Es ist das am häu- figsten verwendete Modell menschlichen Verhaltens in der heutigen Ökonomik (Korobkin und Ulen 2000, S. 1062) und dient durch die Integration in ökonomische Modelle als Ent- scheidungsgrundlage für eine Vielzahl von Vorhersagen und politischen Entscheidungen (Gowdy 2007, S. 1).

2.1.1. Erwartungsnutzentheorie

Die Erwartungsnutzentheorie (ENT) hat ihren Ursprung in Bernoullis Erwartungsprin- zip (1738). Sie wurde jedoch erst in die moderne Ökonomik integriert, als diese durch von Neumann und Morgenstern (1944) formal aus einfachen Prinzipien rationaler Präferenzen (Vollständigkeit, Transitivität, Kontinuität und Unabhängigkeit) abgeleitet wurde (Starmer 2000, S. 334). Wenngleich auf den ersten Blick einfach, beinhalten diese Axiome einige starke Annahmen zu menschlichen Charakteristika und Verhalten, welche bereits in vielen Arbeiten (verhaltens-)ökonomischer Autoren kritisiert wurden (u.a. Handa 1977; Tversky und Kahneman 1986; Johnson, Hershey et al. 1993; Wu, Zhang et al. 2004). Zusätzlich soll auf zwei weitere implizite Annahmen der ENT aufmerksam gemacht werden, welche zwar im strikten Sinne keine condiciones sine quibus non der Theorie darstellen, jedoch üblicherweise fester Bestandteil sind (Kahneman und Tversky 1984; Wilkinson 2008):

- Der Nutzen definiert sich über Endzustände, beispielsweise Vermögen oder Wohlfahrt. Diese Annahme wird gemeinhin asset integration genannt.
- Der Grenznutzen ist abnehmend, was einen konkaven Verlauf der Nutzenfunktion im- pliziert.

Die ENT ist eine Modellierung von Entscheidungsverhalten unter Risiko, welches exemplarisch durch eine Wahl zwischen unterschiedlichen Lotterien bzw. Prospects aufge- fasst werden kann (Ebering 2005, S. 10; Wilkinson 2008, S. 86). Ein Prospect, per Konventi- on in Fettschrift (p, q, r...), wird in der Form q = (x1, p1; ...; xn, pn) dargestellt. Dabei steht xi für die möglichen Auszahlungen und pi für deren zugehörige Eintrittswahrscheinlichkeiten.5

Ausgehend von diesen Notationen - sowie W als ursprüngliches Vermögen - kann die Präferenzfunktion der Erwartungsnutzentheorie folgendermaßen modelliert werden:6

Der Erwartungsnutzen V(q) eines Prospects ergibt sich demnach aus den Nutzen der Auszahlungen, gewichtet mit der jeweiligen Eintrittswahrscheinlichkeit. Ein Entscheidungs- träger wird gemäß der ENT den Prospect mit dem höchsten Erwartungsnutzen auswählen. Die Annahme eines abnehmenden Grenznutzens, u‘(x) < 0, impliziert darüber hinaus auch die Unterstellung einer allgemeinen Risikoaversion, die besagt, dass ein Individuum eine sichere Auszahlung in der Höhe von x gegenüber einer riskanten Auszahlung mit Erwartungswert x bevorzugen wird.

Die ENT kann auch in deterministischen Entscheidungsproblemen (Entscheidungen ohne Risiko) angewandt werden. Hierbei ist eine Alternative nur mit einer Konsequenz verbunden, die Eintrittswahrscheinlichkeit nimmt den Wert 1 an. Der Nutzen der Alternative entspricht der Auszahlung der Konsequenz (Knoll 2008, S. 20)

2.1.2. Kritik an der Erwartungsnutzentheorie

Bereits kurz nach Formulierung des Modells wurde insbesondere Kritik an deren De- skriptivität des menschlichen Entscheidungsverhaltens ausgedrückt. Seit Allais (1953) erst- mals nachwies, dass tatsächliche Entscheidungen stark und systematisch von den modellierten Ergebnissen abweichen, wurden im Laufe der Jahre immer weitere „Anomalien“ entdeckt und sind weiterhin Gegenstand der Forschung (Kahneman, Knetsch et al. 1991; Thaler 1992). So hat der Ökonom Richard Thaler ihnen über mehrere Jahre eine ganze Kolumne im Journal of Economic Perspectives gewidmet. Besonders die Erkenntnis, dass diese Anomalien keine zu- fälligen Abweichungen sind, sondern vielmehr alle Annahmen der ENT systematisch verletzt werden, hat die Argumentation bekräftigt, diese Annahmen seien mehr Desiderata als Axiome reellen menschlichen Handelns (Starmer 2000). Eine Reihe von Ökonomen hat dies veran- lasst, das Entscheidungsverhalten von Individuen zu modellieren, ohne von den üblichen An- nahmen rationaler Präferenzen auszugehen, mit dem Ergebnis, dass zahlreiche Alternativtheo- rien entstanden sind. Diese werden unter dem Oberbegriff verhaltensökonomischer Modelle zusammengefasst.7

2.2. Das verhaltensökonomische Verständnis: Entscheidung als Prozess

Aus Sichtweise der verhaltensökonomischen Theorien lassen sich menschliche Entscheidungen nicht durch Annahme eines rationalen, nutzenmaximierenden homo oeconomicus abbilden. Menschen sind vielmehr begrenzt in einer Vielzahl von Dimensionen - insbesondere den kognitiven Kapazitäten.8 Mit dieser Erkenntnis sind nutzenmaximierende Entscheidungen nunmehr Ausnahme als Selbstverständlichkeit und das Verhalten kann nicht mehr durch ein einfaches Optimierungsproblem modelliert werden. Stattdessen ist es nun notwendig, die tatsächlichen kognitiven Prozesse in die Betrachtung mit einzubeziehen, um akkurate Modellierungen menschlichen Verhaltens zu gewährleisten.

Die Mehrheit der verhaltensökonomischen Theorien nimmt an, dass die Entscheidungs- probleme vor deren Bewertung zunächst strukturiert und vereinfacht werden (Ranyard, Cro- zier et al. 1997, S. 12). Eine Annahme, die direkte Implikation aus der Ausweitung des Knappheitsbegriffs auf kognitive Ressourcen ist. Denn aufgrund knapper kognitiver Kapazitä- ten können Menschen nicht unbegrenzt Informationen aufnehmen und verarbeiten, sondern müssen diese zunächst selektieren (Lindenberg 1993). Die reellen komplexen Entscheidungs- probleme werden daher in reduzierte mentale Abbildungen dessen transformiert (Bertrand, Mullainathan et al. 2006, S. 9).9 Diese mentalen Repräsentationen des eigentlichen Entschei- dungsproblems werden anschließend vom Entscheidungsträger bewertet und eine Wahl wird getroffen (Klayman und Schoemaker 1993, S. 162; Soman 2004, S. 380).

Der soeben beschriebene Entscheidungsprozess kann schematisch wie folgt dargestellt werden (Abb. 1):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Entscheidungsprozess in der Verhaltensökonomik

Eigene Grafik in Anlehnung an Soman (2004, S. 380)

Dieser Entscheidungsprozess soll im Folgenden mithilfe verhaltensökonomischer Mo- delle eingehender betrachtet werden. Ausgangspunkt ist dabei die Prospect Theory von Kahn- eman und Tversky (1979), welche zweifellos als herausragend bezeichnet werden kann: So gilt diese Arbeit nicht nur als eine der am meist zitierten Werke der Wirtschaftswissenschaf- ten, sondern führte auch zur Verleihung des Nobelpreises an Daniel Kahneman (Knetsch und Tang 2006, S. 438).10 Deren Erkenntnisse ermöglicht insbesondere eine empirisch validierte Beschreibung der Bewertungsphase. Im Anschluss soll diese durch eine weitere Theorie er- gänzt werden, deren Stärke in der Modellierung mentaler Repräsentationen liegt.

2.2.1. Prospect Theory

Kahneman und Tversky stellten 1979 ihre Prospect Theory (PT) mit dem Anspruch auf, individuelle Entscheidungen auch dann erklären zu können, wenn diese der ENT widersprachen. Hierfür versucht die PT im Unterschied zu den konventionellen Modellen die mentalen Prozesse der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen (Starmer 2000, S. 349). Sie modelliert folglich Entscheidungen unter Risiko als einen zweiphasigen Prozess, bestehend aus Editierungsphase und Evaluierungsphase.

Die Editierungsphase entspricht der mentalen Repräsentation des Entscheidungsprob- lems. Die Prospects werden durch mehrere Teiloperationen transformiert und strukturiert, um somit die darauf folgende Evaluierung zu vereinfachen. So sieht beispielsweise ein Vorgang vor, Konsequenzen, die für alle Optionen gelten, auszuklammern. Von besonderer Relevanz ist darüber hinaus eine Transformation, die als Kodierung bezeichnet wird: Hierbei werden die in absoluten Größen formulierte Auszahlungen xi in relative Größen - ausgehend von einem bestimmten Referenzpunkt - umgewandelt.

Die Evaluierungsphase kann als Kern der Prospect Theory betrachtet werden. Hier wird der Agent diese mentale Repräsentation bewerten und schließlich den Prospect mit der höchsten Bewertung auswählen. Der mit V(·) bezeichnete Wert eines Prospects ergibt sich gemäß der PT als „Summe der mit ihren subjektiven Eintrittswahrscheinlichkeiten gewichteten und mittels einer [Wertfunktion] v(·) bewerteten Auszahlungen des Prospects“ (Ebering 2005, S. 13). Mathematisch formuliert wird dies als (Starmer 2000, S. 346):

Trotz ihrer strukturellen Ähnlichkeit zur Präferenzfunktion der ENT weisen die beiden Modelle grundlegende Unterschiede auf:

Die objektiven Wahrscheinlichkeiten werden durch subjektive Entscheidungsgewichte ersetzt. Dies geschieht durch die Hinzunahme einer Gewichtungsfunktion π(·) in der PT. Wahrscheinlichkeiten gehen somit nicht unmittelbar in das Kalkül der Agenten ein. In der ur- sprünglich formulierten Theorie gingen Kahneman und Tversky (1979) von einer non-linea- ren Gewichtungsfunktion aus, welche niedrige Wahrscheinlichkeiten überschätzt und modera- te sowie hohe Wahrscheinlichkeiten unterschätzt.11 Für weitere Details sei verwiesen auf die Arbeiten von Starmer (2000) und Wu, Zhang et al. (2004), sowie das Lehrbuch von Wilkinson (2008).

Die Nutzenfunktion u(·) wird ersetzt durch eine „Wertfunktion“ v(·). Wie bereits er- wähnt, ist die neoklassische Nutzenfunktion der ENT definiert über endgültige Vermögens- stände (asset integration). Die Wertfunktion der PT hingegen ist (i) definiert über Ver ä nde- rungen der Vermögensstände ausgehend von einem Referenzpunkt - und daher unterteilt in Gewinn- und Verlustbereich. Darüber hinaus weist sie (ii) Konkavität für Gewinne, Konvexi- tät für Verluste, sowie (iii) eine stärkere Steigung im Verlustbereich auf (siehe Abbildung 2) (Tversky und Kahneman 1991; Thaler 1999; Wu, Zhang et al. 2004).

[...]


1 klassische Theorie, neoklassische Theorie und Standardtheorie werden im Rahmen dieser Arbeit als Synonyme verwenden

2 so auch Gary Becker (1976, S. 14) „ All human behavior can be viewed as involving participants who maximize their utility from a stable set of preferences and accumulate an optimal amount of information and other inputs in a variety of markets. “

3 „prescriptive theories are attempts to offer advice on how people can improve their decision making and get closer to the normative ideal“ (Thaler und Benartzi 2004, S. S167)

4 vgl. auch die Definition von Tversky und Kahneman: „ A decision problem is defined by the acts or options among which one must choose, the possible outcomes or consequences of these acts, and the contingencies or conditional probabilities that relate outcomes to acts “ (1981, S. 453)

5 weiter sei angenommen dass xi, pi ≧ 0 für alle i, sowie ∑ipi = 1

6 in Anlehnung an Wilkinson (2008, S. 88). Die unübliche Darstellung mit dem ursprünglichen Vermögen W wird der Annahme der asset inegration gerecht (vgl. auch Thaler 1999, S. 186)

7 für eine Übersicht sei verwiesen auf (Starmer 2000)

8 wegbereitend waren hierbei insbesondere die Arbeiten von Herbert Simon (u.a. 1956; 1997), der den Begriff beschränkter Rationalität (bounded rationality) prägte.

9 Dies bedeutet zum einen, dass wertvolle kognitive Ressourcen gespart werden können - Schoemaker (2004, S. 278) spricht hier treffend von einer kognitiven Ökonomie - impliziert jedoch auch das Ausschließen von poten- tiell relevanten Informationen. Dies wird später in Kapitel zur mentalen Buchführung (Kap. 2.2.2) eingehender besprochen.

10 Amos Tversky verstarb vor der Vergabe des Preises (Knetsch und Tang 2006, S. 438)

11 In ihrer revidierten Form der Prospect Theory (kumulative Prospect Theory) modifizierten sie die Gewichtungsfunktion zugunsten einer rangabhängigen Funktion (Kahneman und Tversky 1992)

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Verhaltensökonomik als Grundlage für eine effektivere Entwicklungszusammenarbeit
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg
Autor
Jahr
2012
Seiten
40
Katalognummer
V189918
ISBN (eBook)
9783656152651
Dateigröße
959 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Verhaltensökonomik, Behavioral Economics, Entwicklungszusammearbeit, EZ, Agrikultur, Afrika, Bildung, Sozialtransfers, Prospect Theory, Mental Accounting, Entscheidungstheorie, Kahneman, Tversky, Thaler, Duflo
Arbeit zitieren
Marius Möhler (Autor:in), 2012, Verhaltensökonomik als Grundlage für eine effektivere Entwicklungszusammenarbeit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/189918

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