Jean Jacques Rousseaus "Gesellschaftsvertrag" aus der Perspektive Condorcets


Hausarbeit (Hauptseminar), 2007

21 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Gliederung

Einleitung

1. Condorcet und die „soziale Mathematik“

2. Der Essay
2.1 Das Geschworenentheorem
2.1.1 Hintergrund: Borda und Bayes
2.1.2 Die Formel
2.1.3 Kompetenz und Mehrheitsvorsprung
2.1.4 Problematisierung des Geschworenentheorems
2.2 Die Problematik bei n-Alternativen
2.3 Die Gefahr von zyklischen Mehrheiten

3. Rousseau und Condorcet
3.1 Mehrheitsentscheidungen und die volonté générale
3.2 Theorie: Die Axiomatisierung der volonté générale
3.3 Praxis: Erläuterung missverständlicher Passagen
3.3.1 Warum sind Parteiungen gefährlich?
3.3.2 Was spricht gegen öffentliche Deliberation?
3.3.3 Was kann den Blick auf das Gemeinwohl verstellen?
3.3.4 Wann haben Abstimmungen einstimmig zu sein?
3.4 Zyklen und die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen

Schluss

Einleitung

Auf den ersten Blick haben der Marquis de Condorcet1 (1743-1794) und Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) nicht viel gemeinsam. Zwar waren sie fast Zeitgenossen, doch ihre Lebenswege, ihre Persönlichkeit und ihr Einfluss auf Um- und Nachwelt waren zu unterschiedlich, als dass ein Vergleich sich augenscheinlich anbieten würde.2 Über Rousseau weiß man viel, seine Thesen gehören zur derzeit so oft beschworenen Allgemeinbildung.3 Er setzte das Gefühl über den Verstand, sein bewegtes Leben und seine Werke wühlten auf. Seinen Zeitgenossen versetzte er einen „salutary shock“.4

Das würde über Condorcet niemand behaupten, insofern man ihn überhaupt kennt. Nur im wissenschaftlichen Wettstreit zeigte der von seinen Freunden als „schneebedeckter Vulkan“ bezeichnete Condorcet Emotionen,5 ansonsten lebte er einfach und glücklich. In seiner Tätigkeit als philosophe kann man ihn im Mainstream der französischen Aufklärung verorten, deren Thesen er zwar „pointiert“ vertrat, jedoch anderen den Vortritt lassen musste, was Einfluss und Bedeutung betrifft.6 Diese Anonymität steht in einem augenscheinlichen Widerspruch zur Bedeutung, die Charles Pott Condorcet beimißt. Seine Entdeckungen seien eine „gigantic cavern… into which fall almost our ideas about social actions“.7 Iain McLean hat für Condorcet sogar einen Platz neben Rousseau und Madison gefordert. Wie lässt sich dies begründen? Die Antwort liefert Condorcets zweite Betätigung. Neben der Philosophie war es die Wahrscheinlichkeitsrechnung, welche es Condorcet angetan hatte. Dank zwei seiner Entdeckungen - das Geschworenentheorem und die zyklischen Mehrheiten, auch bekannt als „Condorcet-Paradox“ - ist Condorcet doch noch zu dem Ruhm gelangt, welcher ihm zu Lebzeiten verwehrt blieb.

Eine ähnliche Diskrepanz zeigt sich auch bei der akademischen Rezeption von Rousseau und Condorcet. Rousseaus Oeuvre wurde extensiv erforscht, sein Gesellschaftsvertrag8 gehört zum Grundgerüst der politischen Theorie. Die Beschäftigung mit Condorcets Nachlass blieb dagegen lange Zeit überschaubar, jedoch sollte man zwischen seiner Rolle als Aufklärer und der als Wahltheoretiker differenzieren. Es ist höchstens das zehnte Kapitel aus dem Entwurf9 mit seinem unbändigem Fortschrittsoptimismus, welches noch Interesse an der aufklärerischen Seite Condorcets weckt. Anders jedoch seine zweiten Rolle, in der Condorcet 1952 wiederentdeckt wurde.10 Kenneth Arrow, der Vorreiter der Social Choice-Theorie, vollzog 1952 unbewusst Condorcets Überlegungen nach, welchem er erst in einer späteren Auflage 1963 die gebührende Anerkennung zukommen ließ. 1958 entdeckte Duncan Black den Essay wieder,11 ohne ihn jedoch in Gänze zu verstehen. In den Folgejahren wuchs die Beschäftigung mit Condorcet, als autoritativste Condorcet- Biographie dieser Zeit gilt die von Keith M. Baker aus dem Jahre 1975. H.P. Young gab der Condorcetforschung 1988 einen Schub, indem er den Essay endgültig entschlüsselte. Erst in den letzten Jahren kommt Condorcet, speziell dank der Entdeckung der Zyklen, eine immer prominentere Rolle zu.12

In dieser Arbeit werde ich mich auf einen zugegebenermaßen kleinen Forschungsbereich beschränken, nämlich die Betrachtung des 1785 erschienenen Essays in Bezugnahme auf den Gesellschaftsvertrag von Rousseau, inbesondere als Präzisierung der volonté générale. Grofman und Feld haben hier 1988 als erste einige Parallelen gezogen. Young hat kurz darauf mathematisch gezeigt, wie das Geschworenentheorem zur Berechnung des Gemeinwillen herangezogen werden kann. McLean hat 1994 einen anderen interessanten Anknüpfungspunkt gefunden. Er behauptet, dass das Condorcet-Paradox Rousseaus politische Theorie, die auf den normativen Gehalt von Mehrheitsentscheidungen angewiesen ist, in ihren Grundfesten erschüttert.13

Um diese Behauptung nachvollziehen zu können, werde ich zuerst Grundsätzliches zu Condorcets durchaus nicht selbstverständlicher Verbindung von Stochastik und Politik, der „sozialen Mathematik“, feststellen. Es folgt eine Betrachtung seiner Wahltheorie en detail. Dies ist insofern nötig, als daraufhin konkret Parallelen zum Gesellschaftsvertrag aufgezeigt werden. Diese beschränken sich nicht auf die Frage nach der Erschütterung von Rousseaus Theorie durch das Paradoxon, sondern es finden sich vielfältige Interpretationsmöglichkeiten. Am Ende steht ein hoffentlich ausgewogenes Urteil.

1. Condorcet und die „soziale Mathematik“

In seiner Tätigkeit als Mathematiker beschäftigte sich Condorcet bis 1776 mit Integralrechnungen, erst dann wandte er sich seiner baldigen Paradedisziplin zu, der Stochastik.14 Die Verknüpfung seiner mathematischen Kenntnisse mit einer Theorie der besseren Entscheidungsfindung hatte durchaus praktische Gründe: Die Ablehnung der parlaments. Diese waren „bodies of lawyers […] with the power to ‘register‘, and hence to delay the registration of new legislation”.15 Die Entscheidungen dieser lokalen Gerichte waren willkürlich und standen somit auf juristisch wackeligen Füßen, wo doch gerade bei Gerichtsurteilen der korrekten Wahrheitsfindung eine entscheidende Bedeutung zukommen sollte. Diesen Mißstand wollte Condorcet mit Hilfe stochastisch korrekter Theoreme beheben, wobei er sich nicht auf die Jurisdiktion beschränkte, sondern auch politische Wahlen analog als Entscheidungsfindungen mit verschiedenen Alternativen und einem „korrekten“ Resultat betrachtete.16 Diese Übertragung wird in Condorcets eigener Bezeichnung der „sozialen Mathematik“ deutlich.17

Die Bedeutung, die Condorcet ihr zudachte, kann man gut am Entwurf nachvollziehen. Dessen Fortschrittsoptimismus wirkt angesichts der widrigen Begleitumstände seiner Entstehung sonderlich. Doch er ist im Lichte der Mathematik als „Universalinstrument“ zu verstehen,18 die nicht nur als Schlüssel zum Verständnis aller anderen Naturwissenschaften dient, sondern auch als Katalysator einer moralisch vollkommeneren Gesellschaft wirkt. Als platonischer Realist glaubte Condorcet an objektive moralische Wahrheiten.19 Die Menschen würden objektiv richtig handeln, wenn sie nur aufgeklärt genug sind, um eine korrekte Abwägung zu treffen.20 Dies wird verständlicher, wenn man wie Condorcet den Essay und das Geschworenentheorem vor Augen hat.

2. Der Essay

Der 1785 veröffentlichte Essay hat vielen Schwierigkeiten bereitet, weil er in sich inkonsistent ist, er besteht eigentlich aus zwei Theorien. Die erste, das Geschworenentheorem, ist probabilistisch, sie nimmt den Hauptteil von Condorcets Ausführungen ein. Nach einem Bruch schwenkt er jedoch zur Sozialwahl, der seine letztliche Präferenz zukommt, und entdeckt dabei die Mehrheitszyklen.21

2.1 Das Geschworenentheorem

Die erste dieser beiden Theorien ist das Geschworenentheorem, wie es Duncan Black 1958 wiederentdeckt hat. Ich werde im Folgenden zuerst den Hintergrund seiner Entstehung beleuchten, dann die Formel selbst sowie die entscheidenden Variablen erklären.

2.1.1 Hintergrund: Borda und Bayes

Der Anlass zum Verfassen des Essays lieferte ein Zeitgenosse Condorcets, der Marquis de Borda.22 Dieser veröffentlichte 1784 eine Abhandlung, in der er das traditionelle Mehrheitswahlrecht kritisierte:

There is a widespread feeling, […], that in a ballot vote, the plurality of votes always shows the will of the voters. That is, that the candidate who obtains this plurality is necessarily preferred by the voters to his opponents. But I shall demonstrate that this feeling, while correct when the election is between just two candidates, can lead to error in all other cases.23

Diese Unzulänglichkeit zeigt er an folgendem Beispiel: Angenommen zwischen den 3 Alternativen A, B und C wird durch 21 Wähler abgestimmt. A kann 8 Erststimmen verbuchen, B 7 und C 6. Nach Mehrheitswahlrecht hat A gewonnen. Falls man nicht nur die Erststimmen, sondern die komplette Präferenz betrachtet, kann es sein, dass die letzten beiden Wählergruppen 7-mal BCA und 6-mal CBA präferieren, also insgesamt 13 Wähler B und C gegenüber A vorgezogen haben. Diese Information geht bei einer einfachen Mehrheitswahl verloren. Um diesen Mißstand zu beheben, entwirft Borda das nach ihm benannte Wahlverfahren. Der Essay ist als Gegenvorschlag Condorcets zu verstehen.24 Er teilt zwar Bordas Bedenken, für ihn ist der korrekte Sieger jedoch der Kandidat, der sich in paarweisen Vergleichen mit allen Konkurrenten durchgesetzt hat.25

Der Titel des Essays mag verwirren. Condorcet will einen demokratischen Mißstand beheben, warum widmet er den Essay den décisions? Das liegt an der bereits angedeuteten Reduktion von Wahlsituationen, seien sie politisch oder juristisch, auf die richtige Entscheidung zugunsten einer „korrekten“ Alternative.26 Dabei greift Condorcet auf den Satz von Bayes zur Errechnung umgekehrter Wahrscheinlichkeiten zurück.27 Dieser ermöglicht es „die vermutete Wahrscheinlichkeit eines nicht direkt beobachtbaren Zustands mit Hilfe bekannter Wahrscheinlichkeiten“ zu errechnen.28 Auf die Wahlsituation gemünzt dient er zu Berechnung der Wahrscheinlichkeit einer „korrekten“ Wahlentscheidung, wenn man die Einzelwahrscheinlichkeit der Wähler kennt, sich korrekt zu entscheiden.

2.1.2 Die Formel

Diese Formel ist als „Geschworenentheorem“ bekannt. Die Wahrscheinlichkeit einer korrekten Entscheidung P errechnet sich demnach folgendermaßen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Erläuterung:

- v ist die verité, also die Wahrscheinlichkeit einer richtigen Entscheidung eines Wählers. Nachfolgend werde ich v als „Kompetenz“ bezeichnen.
- e ist der erreur, also die Wahrscheinlichkeit einer falschen Entscheidung
- h ist die Anzahl der Stimmen für die Mehrheitsentscheidung
- k ist die Anzahl der Stimmen für die Minderheitsentscheidung
- h-k ist also der Vorsprung der Mehrheitsentscheidung

In Worten lässt sich das Geschworenentheorem dergestalt ausdrücken:

If each member of a jury is more likely to be right than wrong, then the majority of the jury, too, is more likely to be right than wrong; and the probability that the right outcome is supported by a majority of the jury is a (swiftly) increasing function of the size of the jury, converging to 1 as the size of the jury tends to infinity.29

[...]


1 Mit vollem Namen Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet, einfachheitshalber nur „Condorcet“.

2 Zum Vergleich der Persönlichkeiten Rousseaus und Condorcets: McLean 1994, Preface, S. VII.

3 Zimmerling 2003, S. 1. Dieser Aufsatz ist zwar unveröffentlicht, kann jedoch hier eingesehen werden: http://www.politik.uni-mainz.de/cms/Dateien/rzcondor.pdf . Diesem verdanke ich auch die Idee zu einer solchen Gegenüberstellung von Rousseau und Condorcet in Leben und Werk.

4 McLean 1994, S. 73.

5 „Le volcan couvert de neige”, ebd., S. 9.

6 Ebd., S. 3.

7 Ebd., S. VIII.

8 Du contract social ou principes du droit politique, nachfolgend nur „Gesellschaftsvertrag“ und in den Fußnoten „CS“ für „contract social“. Ich zitiere stets aus der Reclam-Ausgabe, die französische OnlineAusgabe dient nur einer Stelle zum sprachlichen Beleg durch den Originaltext.

9 Esquisse d'un tableau historique des progrès de l'esprit humain, kurz „Entwurf“.

10 McLean 1994, S. VII.

11 Essai sur l'application de l'analyse à la probabilité des décisions rendues à la pluralité des voix, nachfolgend nur „Essay“.

12 Für einen Überblick über die Literatur zu Rousseau siehe Ottmann 2006, S. 503-509. Zur (spärlichen) Literatur zu Rousseau und Condorcet: Grofman/Feld 1988, S. 567. Mitunter haben andere Forscher als die von mir genannten Condorcet auch früher erforscht, ihre Werke haben jedoch keine vergleichbare Wirkung entfaltet.

13 McLean 1994, S. 73. Gestoßen bin ich auf diese Aussage bei Zimmerling 2003, S. 1.

14 McLean 1994, S. 10.

15 Ebd., S. 5.

16 Ebd., S. 13.

17 Tableau général de la science qui a pour objet l’application du calcul aux sciences politiques et morales („Tableu”), in: McLean 1994, S. 93.

18 Entwurf, 299. Vgl. weiter zur Rolle der Wahrscheinlichkeitsrechnung im Entwurf S. 319f.

19 McLean 1994, S. 32.

20 Ebd., S. 34.

21 List/Goodin 2001, S. 288.

22 McLean 1994, S. 34.

23 Borda, Mémoire sur les élections au scrutin, in: McLean 1994, S. 114.

24 Zum Rechenverfahren von Borda vgl. ebd. S. 115-119. Der Disput zwischen Anhängern von Condorcet und Borda hält bis heute an. Für einen Einblick in diese Thematik siehe Mathias Risse: Why the Count de Borda cannot beat the Marquis de Condorcet, 2004.

25 Der sogenannte „Condorcet-Sieger“.

26 McLean 1994, S. 35.

27 Ich verzichte an dieser Stelle auf eine mathematische Darlegung, eine Erläuterung findet sich in der online zugänglichen Stanford Encyclopedia of Philosophy unter http://plato.stanford.edu/entries/bayes- theorem/ .

28 Zimmerling 2003, S. 1. Etwas weniger abstrakt kann man den Satz von Bayes auf einen Krankheitsfall anwenden. Man hat ein beobachtetes Ergebnis, also Krankheitssymptome, und man hat verschiedene Ursachen, also mögliche Krankheiten. Wenn man deren Einzelwahrscheinlichkeiten kennt, lässt sich mathematisch eine Diagnose anstellen.

29 List/Goodin 2001, S. 283. Ähnlich Grofman/Feld 1988, S. 569f.

Ende der Leseprobe aus 21 Seiten

Details

Titel
Jean Jacques Rousseaus "Gesellschaftsvertrag" aus der Perspektive Condorcets
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Übung Politische Theorie
Note
1,3
Autor
Jahr
2007
Seiten
21
Katalognummer
V188999
ISBN (eBook)
9783656129158
ISBN (Buch)
9783656130154
Dateigröße
670 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rousseau, Condorcet, Gesellschaftsvertrag, Geschworenentheorem, Contrat social, volonte generale, allgemeinwillen
Arbeit zitieren
Niklas Manhart (Autor:in), 2007, Jean Jacques Rousseaus "Gesellschaftsvertrag" aus der Perspektive Condorcets, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188999

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