Franz Kafka, Das nächste Dorf - Versuch einer Interpretation


Wissenschaftlicher Aufsatz, 2012

13 Seiten


Leseprobe


Franz Kafka, Das nächste Dorf

Versuch einer Interpretation – für Schüler und Studenten,

zusammengestellt von Gerd Berner, M. A., StD a. D.

Das nächste Dorf

Mein Großvater pflegte zu sagen: „Das Leben ist erstaunlich kurz. Jetzt in der Erinnerung drängt es sich mir so zusammen, dass ich zum Beispiel kaum begreife, wie ein junger Mensch sich entschließen kann, ins nächste Dorf zu reiten, ohne zu fürchten, dass – von unglücklichen Zufällen ganz abgesehen – schon die Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens für einen solchen Ritt bei weitem nicht hinreicht.“1,2

„Von Ende November 1916 bis April 1917 nutzt Kafka ein von Ottla angemietetes Häuschen in der Alchimistengasse auf dem Hradschin, um in Ruhe schreiben zu können. In dieser „Klosterzelle eines wirklichen Dichters“, wie Max Brod nach seinem Besuch im Tagebuch anmerkt, entsteht bis weit in den Frühling 1917 hinein ein Großteil jener Erzählungen, die Kafka 1919 unter dem Titel „Ein Landarzt“ veröffent-licht.“3

Nach dem Band „Betrachtung“ aus dem Jahr 1913 ist dies die zweite Sammlung von Prosastücken, der Band heißt „Ein Landarzt“ nach der zweiten Erzählung und „trägt auf dem Vorsatzblatt“ eine „Widmung“.4 Unter den 14 Texten unterschied-lichen Genres und verschiedener Länge, wie „Schakale und Araber“, „Ein altes Blatt“, „Elf Söhne“ u. a., von denen leider nur „Auf der Galerie“ und „Eine kaiserliche Bot-schaft“ den Weg in die Lesebücher der Oberstufe gefunden haben, ist unser Text das achte Stück nach dem „Besuch im Bergwerk“ und vor der „Kaiserlichen Botschaft“. Ich erwähne das, weil Kafka die Reihenfolge der bei dem Verlag Kurt Wolff in Druck gegebenen Erzählungen „selbst festgelegt“5 hat und weil manche Forscher glauben, aus dieser Anordnung auf die Deutung schließen zu können.

Der Landarzt-Band „ist die dritte Publikation Kafkas, die eine Widmung trägt. Während „Das Urteil“ Kafkas Verlobter Felice Bauer und „Betrachtung“ als Dank für die Verlagsvermittlung dem Freund Max Brod gewidmet sind, trägt „Ein Landarzt“ die Widmung „Meinem Vater“.6 Der Sohn weiß aber, „wie ineffizient diese Widmung ist, er schreibt ein Jahr später in einem Brief: „Nicht als ob ich dadurch den Vater versöhnen könnte, die Wurzeln dieser Feindschaft sind hier unausreißbar, aber ich hätte doch etwas getan, wäre, wenn schon nicht nach Palästina übersiedelt, doch mit dem Finger auf der Landkarte hingefahren.“6

„Das nächste Dorf“ ist nicht als Handschrift überliefert, entstanden ist der Text „ver-mutlich im Januar/ Februar 1917.“7 In früheren Inhaltsverzeichnissen für den Erzähl-band finden sich die Titel „Der Reiter“ und „Die kurze Zeit“, die entweder auf nicht fertiggestellte oder in den Band nicht aufgenommene Erzählungen hindeuten könnten. Thematisch jedoch ließen sich beide Überschriften auf „Das nächste Dorf“ beziehen.8

Schlingmann schreibt in „Literaturwissen“, die Anfang 1917 entstandene „Kürzest-geschichte“ trage „deutlich autobiographische Züge.“9

Der Inhalt des Stückes lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Ein nicht näher konturiertes Ich gibt „in wörtlicher Rede“ Ausführungen seines Großvaters wieder, die der „im Alter … über sein vergangenes Leben anstellte.“10 Jedoch ist der in der „Parabel“11 sprechende Großvater nicht der echte Großvater des Ich-Erzählers, der allerdings nur als latentes Ich erscheint, verborgen im Nominativ des Possessivpro-nomens „mein“, und ansonsten ohne jegliche Konturierung bleibt. Das in dem „mein“ verborgene fiktive Ich ist natürlich nicht Franz Kafka, gleichwohl stellt Schlingmann die Genealogie Kafkas mütterlicherseits dar. Er greift dabei zurück auf die Ausfüh-rungen Klaus Wagenbachs über Kafkas „Elternhaus und Kindheit“.12 Die Mutter des Dichters, Julie, verheiratet mit dem Kaufmann Hermann Kafka, war eine geborene Löwy. Ihr Vater hieß Jakob Löwy und starb 1910 in Prag. Dessen Vater war ein Adam Porias aus Podiebrad/ Elbe. Dieser Adam ist also Julies Großvater und Franz Kafkas Urgroßvater. Franz ist der Urenkel dieses Mannes, der in der Erinnerung seiner Enkelin Julie Löwy, verh. Kafka, ein sehr gebildeter, frommer Jude gewesen ist.13

Diesem Vorfahren nun legt der Narrator die bekannte Wahrheit in den Mund: „Das Leben ist erstaunlich kurz.“ Ihr liegt der dem griechischen Arzt Hippokrates zuge-schriebene Ausspruch „vita brevis, ars longa“ zugrunde, der uns in Goethes „Faust“ zweimal begegnet: In der Szene „Nacht“ verwendet der Famulus Wagner diesen tra-dierten Aphorismus (Faust, V. 558), später, in der Szene „Studierzimmer“ weist Mephistopheles mit den Worten „Doch nur vor e i n e m ist mir bang:/ Die Zeit ist kurz, die Kunst ist lang“ (V. 1786 f.) Faust auf die Vergeblichkeit allen Strebens hin.14

Neu oder überraschend ist dieses sprichwörtliche Allgemeingut also nicht, inter-essant wird es erst dadurch, dass der Ich-Erzähler des Erzählrahmens diese Worte seinem Großvater in den Mund legt. Der Ich-Erzähler versucht gewissermaßen durch den zweiten, den großväterlichen Ich-Erzähler eine eigene Erkenntnis glaubhafter zu machen: „Ich, der Enkel, gebe heute an meine Leser/ Hörer weiter, was mein Großvater damals, als ich noch jung war, zu sagen pflegte und was ich erst jetzt zu begreifen beginne, da auch ich diese Erfahrung mache.“15

Von den 14 im Landarzt-Band enthaltenen Texten sind einige bei den Interpreten besonders beliebt und werden auch, wie „Auf der Galerie“ im schulischen Unterricht behandelt, andere haben weniger Aufmerksamkeit gefunden (z. B. „Besuch im Berg-werk“, „Elf Söhne“ oder „Ein Brudermord“), ausgesprochene „Forschungslücken bestehen in Bezug auf die sehr kurze Erzählung „Das nächste Dorf“ und „Ein Traum“.16 Die drei von mir benutzten Handbücher von Binder, Engel/ Auerochs und Jagow/ Jahraus erwähnen den Text nur am Rande. Die einzige, mir vorliegende Interpretation hat Carsten Schlingmann vorgelegt.17

Hartmut Binder hat die Raum- und Figurenkonstellation untersucht und sagt dazu: „Als Bildsymbol erscheint der unüberwindliche, dann wieder märchenhaft sich verkür-zende Raum im „Nächsten Dorf“, in der „Kaiserlichen Botschaft“, im „Landarzt“ und der „Alltäglichen Verwirrung“.18 An anderer Stelle schreibt er: „Die Rede des Großvaters erfolgt innerhalb der Familie, aber sie ist frei von ödipalem Zwang; sie stellt zwar den Versuch, mit der außerfamilialen Nachbarschaft in Berührung zu kommen, in Frage, aber sie tut es nicht mit der Autorität des Vaters, der dem Sohn das Urteil spricht.“19 (Diesen Gedankenanstoß Binders habe ich in meiner Untersuchung nicht weiter verfolgt.)

Das Kafka-Handbuch von Jagow/ Jahraus20 erwähnt „Das nächste Dorf“ nur sehr kurz. In dem Kapitel „Geschichtslose Zeit und ortloser Raum“21 bemerkt Els Andringa lediglich, der Großvater fürchte, „dass im Rückblick das ganze Leben zu kurz ist, um nur in das nächste Dorf zu reiten.“22 Als weitere Beispiele für diesen Zeitbegriff nennt er den Affen Rotpeter in „Bericht für eine Akademie“ und das Mäus-chen in der „Kleinen Fabel“. Er führt dazu aus: „Die Beispiele, in denen die Zeit zwar eine lange Dauer hat, aber nicht ausreicht, um das erhoffte, erwartete, manchmal so nahe Ziel zu erreichen, wären noch mühelos zu vermehren. Die messbare Zeitdauer wird annulliert, Jahrtausende oder ein ganzes Leben und Niemals fallen gleichsam zusammen und sogar die unendliche Zeit löst sich augenblicklich im Nichts auf. Ewigkeit und Augenblick berühren sich in der Aufhebung.“22

Andringa erwähnt in diesem Zusammenhang eine Untersuchung Beda Allemanns über die eigenartige Zeitstruktur Kafkas in Anknüpfung an dessen Aphorismus „Der entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist immerwährend.“23 An-dringa nennt solche „paradoxen Denkstrukturen“ wie den „immerwährenden Augen-blick, das ewige Niemals, das Nichtausreichen der Ewigkeit“22 und urteilt, diese drei Zeitangaben zeigten, dass es für Kafkas Zeitbegriff keinen linear ablaufenden Fortschritt gebe, „Anfang und Ende und Bewegung auf ein Ziel hin sind meistens abwesend. Handlungen und Bewegungen führen zu keinem Ergebnis, ein Ziel ist, wie im „Aufbruch“, oft nicht einmal vorhanden.“23 Andringa führt dieses Fehlen „einer zeitlichen Reihenfolge“23 auf die durch Martin Buber an Kafka herangetragene fernöstliche Philosophie (Tao) zurück.

Ähnlich urteilt er auch über Kafkas Räume: seine Figuren verlören häufig die „räumliche Orientierung“ und irrten „durch Gänge, an Wänden entlang, durch unbekannte Städte, in Dachböden, Archiven“, so dass „die dargestellte Welt … sowohl räumlich als auch zeitlich unlokalisierbar“ werde.24

Der Münchener Ordinarius Oliver Jahraus führt in seiner 2006 bei Reclam erschienenen Kafka-Monographie aus: „Die Unüberwindlichkeit des Raumes und die Unmöglichkeit, das eigene Leben sinnvoll zu führen, können also prinzipiell aufeinander projiziert werden. Dies lässt sich an der markanten Struktur der nur wenige Zeilen langen Erzählung „Das nächste Dorf“ erneut ablesen. Angesichts der Unzulänglichkeit eigener Möglichkeiten bzw. auf Grund der Kürze des eigenen Lebens bleibt sogar die verhältnismäßig kurze Distanz zum nächsten Dorf unüberbrückbar.“25

Ich habe mich in das von Oliver Jahraus gemeinsam mit Bettina von Jagow herausgegebene Kafka-Handbuch vertieft und auch seinen Reclamband26 über Kafka und die Literaturtheorie zu verstehen versucht; diese Reclamausgabe bietet Deutungen aus dem Blickwinkel von Hermeneutik, Strukturalismus, Rezeptions- ästhetik, Sozialgeschichte der Literatur, Psychoanalyse, Gender bzw. Queer Studies, Diskursanalyse, Systemtheorie, Intertextualität und Dekonstruktion.

Wenn ich Jahraus richtig verstanden habe, dann „sind Kafkas Texte weitgehend autoreflexiv, eine stete Selbstthematisierung ihrer eigenen Unverstehbarkeit.“27

Jahraus stellt bei fast allen von mir im Unterricht besprochenen Parabeln die Auto-reflexivitätsdiagnose. In dem grünen Reclamband offenbart er sich als Anhänger der gegenwärtig wohl modernen dekonstruktivistischen Denkschule, die „ aller Literatur stereotyp Autoreflexivität im Sinne einer Selbstthematisierung hermeneutischer Unauflösbarkeit unterstellt.“28

Der langen Rede kurzer Sinn: ich habe diese Interpretationsrichtung im Unterricht der gymnasialen Oberstufe nicht vertreten, auch wenn ich manche Anregung mit Interesse aufgenommen habe. Ansonsten habe ich mich weniger auf d e k o n - s t r u k t i v i s t i s c h e, sondern mehr auf k o n s t r u k t i v e Denkanstöße gestützt.

Ich muss gestehen, ich konnte auch mit diesem Satz Peter-André Alts in seiner Kafka-Biographie wenig anfangen: „Kafkas Gleichnis liest sich wie eine Parabel auf Einsteins Relativitätstheorie, nach der die Messung von Raum und Zeit an die externen Parameter gebunden bleibt, die man benutzt.“29

Nützlicher erschien mir dagegen Binders Hinweis: „Es war wohl die beiden Erzählungen gemeinsame Vorstellung vom ablaufenden Leben und von der ihr Ziel nie erreichenden Lebensfahrt, die Kafka bewogen hat, die „Kaiserliche Botschaft“ mit dem „Nächsten Dorf“ in Zusammenhang [i. e. im oben erwähnten Inhaltsverzeichnis zum Landarzt-Band] zu bringen.“30

Ähnlich denkt Gerhard Kurz im Nachwort zu den Erzählungen Kafkas, die er mit Michael Müller in ihren Reclamband aufgenommen hat: „Zu den wichtigsten Motiven gehören das Motiv der Lebensreise, mit den Varianten der Wanderung, des Weges, des Ausflugs und Aufbruchs, des Ritts, der Fahrt …“31 Als Beispiel für die Lebensreise nennt er u. a. „Schakale und Araber“, „Der Jäger Gracchus“, „Ein Landarzt“, „Eine alltägliche Verwirrung“, „Der Ausflug ins Gebirge“ und natürlich „Das nächste Dorf“.

Doch bevor ich auf das von den beiden Germanisten Binder und Kurz angesprochene Motiv eingehe, möchte ich noch einmal den Inhalt des Prosatextes erläutern.

Er ist in der Ich-Erzählform geschrieben, jedoch ist dieses Ich weniger ein erzählendes, sondern mehr ein die Ergebnisse seines Nachdenkens mitteilendes Ich. Da kein Handeln einer erzählenden oder erzählten Figur und keine figurenunab-hängigen Ereignisse mitgeteilt werden, also kein fiktives Geschehen und auch keine durch Figurenrede oder Erzählerbericht konturierten Orts- oder Zeitangaben, sollte man nur mit Einschränkung von einem Erzähler reden. Trotzdem lässt sich feststellen, dass sich Kafka bei den Texten des Landarzt-Bandes, abweichend von seiner früheren Werkphase, häufiger der Ich-Erzählform bedient. Juliane Blank sieht darin ein verstärktes „literarisches Selbstbewusstsein“.32 Sie schreibt, von den 14 Erzählungen des Bandes seien nur vier in der 3. Person vermittelt worden; allerdings weise die „persönlichere Erzählform“ des Ich nicht immer auf „persönlichere Inhalte“ hin, weil, wie im „Nächsten Dorf“, der Erzähler zwar in der ersten Person spreche, aber dieser einen „Berichterstatter“ gegenüberstelle. Kafka nehme also vermittels des Großvaters „durch einen Rückzug des Ich-Erzählers in sichere Distanz zum Geschehen eine bewusste Entindividualisierung“ vor. Zudem seien die Erzählungen des Landarzt-Bandes „Muster antirealistischen Erzählens.“33

Mit der Aussage „Das Leben ist erstaunlich kurz“ legt der Narrator seinem Großvater einen von keinem bestrittenen Erfahrungssatz in den Mund. In einem mehrgradigen Satzgefüge (mit Konsekutiv- und Inhaltssatz und satzwertigen Infinitiven) teilt der Großvater dann in der Ich-Form seine überraschende Erkenntnis mit. Er hat sein Leben gelebt und blickt auf die vergangenen Jahre zurück. Dabei bleibe in seiner Erinnerung sogar von der „Zeit des gewöhnlichen, glücklich ablaufenden Lebens“ so wenig übrig, dass diese kurze Zeitspanne „bei weitem nicht“ für einen Ritt ins nächste Dorf hinreiche.

Dieser Gedankengang des Großvaters mutet zunächst paradox an, weil er den Er-wartungen des jungen Reiters zuwiderläuft. Der Widerspruch lässt sich aber erklären, wenn man den Konsekutivsatz „dass ich zum Beispiel kaum begreife“ untersucht. Der Großvater und der junge Reiter sehen das Leben und damit ihren Lebensweg offensichtlich aus entgegengesetzten Blickwinkeln.

Der junge Reiter rechnet „mit einem festen, sich in die Zukunft erstreckenden und ihm zur Verfügung stehenden Zeitraum“34 und vergleicht die für den Ritt ins nächste Dorf benötigte Zeit mit der wohl noch vor ihm liegenden langen Lebenszeit, so dass er, auch wenn er einmal „von unglücklichen Zufällen“ aufgehalten werde, sich jeden Tag von neuem und unbesorgt das Ziel setzen könne, „ins nächste Dorf zu reiten.“

Der Großvater kann diese Entschlossenheit des Reiters „kaum“ begreifen, und das heißt, er hat versucht, sie zu verstehen, er hat sich bemüht, sich in die Person des Reiters und dessen Handlungsweise hineinzuversetzen, und kann daher ein klein wenig, vielleicht aus eigener Erfahrung, das unbekümmerte Handeln nachvollziehen. Da der Großvater aufgrund seines bereits zurückgelegten Lebensweges und seiner Altersweisheit „frei von Ambitionen wie der [ist], ins nächste Dorf zu reiten oder gar Größeres unternehmen zu wollen“35, ist für ihn die Unbekümmertheit der Leute unbegreiflich, „die sich so selbstverständlich wie bei einem Ritt von einem Dorf zum nächsten durch das Leben bewegen in der Meinung, sie kämen auf diese entschlossene Weise stets an den Ort ihrer Bestimmung.“35

Die paradoxen Züge des Prosatextes erklären sich also aus dem unterschiedlichen Verständnis, das der Reiter kurzsichtig und der Großvater langfristig und in einem größeren Zusammenhang von Weg und Ziel haben:

Der junge Reiter versteht unter Ziel ganz konkret (und irdisch) „das nächste Dorf“, in das er nach einem kurzen Ritt gelangen kann. Der Großvater meint aber mit Weg nicht die dafür benötigte Wegstrecke, sondern den Lebensweg, die Lebensreise, deren Ziel nicht im Irdischen liegt. Dem Narrator erscheint „der Weg als räumlich-zeitlicher Vorgang […] hier als Umweg, ja als Irrweg, der das Erreichen des Ziels hinauszögert oder gar verhindert.“36

Schlingmann schreibt in der alten Auflage (1968) seiner Deutung, die verfrem-denden Paradoxien seien mit einem „parabolischen Sinn“ verbunden, es werde „ahnbar, dass man sein Ziel eigentlich gar nicht mit Hilfe eines in der Zeit verlaufenden Weges erreichen kann.“ Der aufgelöste Zeitbegriff verweise „auf etwas Außerzeitliches.“37 Auch in dem Reclambändchen „Literaturwissen“ erwähnt er die „Dimension des Außerzeitlichen“, spricht aber auch von einer „religiös-philo-sophischen Spekulation“36, von Kafka „am 18. November 1917 in „Das dritte Oktavheft“ eingetragen.“38 Der Aphorismus lautet:

„Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke. Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.“39

Man kann das nachlesen in dem von Max Brod so überschriebenen Kapitel „Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“.39

Mit dem wahren Weg bin ich dann wieder bei den von Binder und Kurz verwendeten Begriffen der Lebensfahrt und Lebensreise, hinter denen das uralte Wege-Motiv steckt.

Ich bin geneigt, den Wander-Weg als Topos40 zu begreifen. Unter einem Topos versteht man seit Ernst Robert Curtius41 feste Denkfiguren, vorgeprägte Bildformeln, Vorstellungsbilder, „Denk- und Ausdrucksschemata, die oft schon seit der Antike als kultureller Gemeinbesitz tradiert und dabei immer wieder abgewandelt werden.“42 Ohne auf die Abgrenzung zu Stoff und Thema oder auf die Differenzierung in Rand-, Neben-, Leit- oder blinde Motive43 einzugehen, könnte ich auch von einem Motiv sprechen. Ein Motiv ist die „kleinste bedeutungsvolle Einheit eines literarischen Textes.“44 Elisabeth Frenzel hat das Motiv als „kombinationsfähige[n] Bestandteil eines Stoffes“ bezeichnet, der nicht an Namen oder Ereignisse und nicht an eine literarische Gattung gebunden ist. 45

[...]


1 Franz Kafka, Gesammelte Werke, hg. v. Max Brod, Fischer: Frankfurt/ M. 1950-1974, hier in: Erzählungen, o. J. (1952), S. 128

und 2) Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hg. v. Paul Raabe, Fischer: Frankfurt/ M. 1970, S. 138

3 Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Manfred Engel und Bernd Auerochs, Metzler: Stuttgart und Weimar 2010, S. 20 (im Folgenden: KHb.)

4 KHb., S. 218

5 Kafka-Handbuch in zwei Bänden, hg. v. Hartmut Binder, Bd. 2: Das Werk und seine Wirkung, Kröner: Stuttgart 1979, S. 212 (im Folgenden: Binder)

6 KHb., S. 219

7 Binder, S. 321

8 KHb., S. 222

9 Literaturwissen für Schule und Studium: Carsten Schlingmann, Franz Kafka, Reclam: Stuttgart 1995, S. 119

10 Albrecht Weber/ Carsten Schlingmann/ Gert Kleinschmidt, Interpretationen zu Franz Kafka. Das Urteil, Die Verwandlung, Ein Landarzt, Kleine Prosastücke, Olden-bourg: München 31972, S. 128 f. (im Folgenden: Schlingmann)

11 Literaturwissen, S. 119

12 Klaus Wagenbach, Franz Kafka in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlt: Reinbek bei Hamburg 1964, S. 11-25

13 Wagenbach, S. 13

14 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust, hg. v. Erich Trunz, Beck: München 91972, S. 25 und S. 29

15 Literaturwissen, S. 120

16 KHb., S.223

17 Schlingmann, S. 128-131 und: Literaturwissen, S. 119-122

18 Binder, S. 75 f.

19 Binder, S. 321

20 Kafka-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Bettina von Jagow und Oliver Jahraus, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2008 (im Folgenden: Jagow/ Jahraus)

21 Jagow/ Jahraus, S. 331-333

22 Jagow/ Jahraus, S. 331

23 KKAN, S. 34, rezitiert nach: Jagow/ Jahraus, S. 331 f.

24 Jagow/ Jahraus, S. 333

25 Oliver Jahraus, Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate, Reclam: Stuttgart 2006, S. 359

26 Kafkas „Urteil“ und die Literaturtheorie. Zehn Modellanalysen, hg. v. Oliver Jahraus und Stefan Neuhaus, Reclam: Stuttgart 2002 (RUB 17636)

27 KHb., S. 415

28 KHb., S. 416

29 Peter-André Alt, Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie, Beck: München 22008, S. 515

30 Binder, S. 213

31 Franz Kafka. Erzählungen, hg. v. Michael Müller, Nachw. v. Gerhard Kurz, Reclam: Stuttgart 1995, S. 359

32 KHb., S. 220

33 KHb., S. 221

34 Schlingmann, S. 129

35 Schlingmann, S. 130

36 Literaturwissen, S. 122

37 Schlingmann, S. 130

38 Literaturwissen, S. 121

39 Franz Kafka, Gesammelte Werke, hg. v. Max Brod, Fischer: Frankfurt/ M. 1950- 1974, hier in: Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass, o. J. (1953), S. 30-40; der Aphorismus steht auf S. 32 und 61

40 Gero von Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur, Kröner: Stuttgart 61979, S. 843 f.

41 Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Fran>1993

42 Christoph Hönig, Die Lebensfahrt auf dem Meer der Welt. Ein zweitausend-jähriger Topos, Gastvortrag: 153. Veranstaltung der Humboldt-Gesellschaft am 06.09.2003 (http://www.humboldtgesellschaft/druck.php?name=topos)

43 Wilpert, S. 525 f.

44 Metzler-Lexikon Literatur, begr. v. Günther und Irmgard Schweikle, hg. v. Dieter Burdorf/ Christoph Fasbender/ Burkhard Moennighoff, Metzler: Stuttgart und Weimar 32007, S. 514

45 Elisabeth Frenzel, Vom Inhalt der Literatur. Stoff – Motiv – Thema, Freiburg 1980 und: E.F., Motive der Weltliteratur, [1976], Stuttgart 51999

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Franz Kafka, Das nächste Dorf - Versuch einer Interpretation
Autor
Jahr
2012
Seiten
13
Katalognummer
V188932
ISBN (eBook)
9783656128038
ISBN (Buch)
9783656128427
Dateigröße
431 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
erprobtes und bewährtes Material für die gymnasiale Oberstufe, auch geeignet zur Vorbereitung auf das Abitur im Fach Deutsch
Schlagworte
Kafka, Franz, Das nächste dorf, Parabel, Denkbild, Interpretation, Abitur, Abiturvorbereitung, Textanalyse, Gerd Berner, Oberstufe, Gymnasium, eine Kürzestgeschichte mit autobiographischen Zügen, der Großvater kann allenfalls Kafkas Urgroßvater sein, Kafkas Zeitbegriff ist nicht linear ablaufend, die dargestellte Welt ist räumlich und zeitlich unlokalisierbar, Prof Jahraus stellt die Autoreflexivitätsdiagnose, Ich-Erzählform, aber kein Handeln einer erzählenden oder erzählten Figur und auch keine figurenunabhängigen Ereignisse, paradoxe Züge des Prosatextes, Professores Binder und Kurz sehen das Wege-Motiv, Wege-Topos oder Wege-Metapher, im Barock die navigatio vitae, Lebensweg oder -fahrt per navigationem wird zur Daseinsmetapher des Menschen, die "Hafenfrage" nach Benn, Thema ist die Figur des Scheiternden, keine Neusemantisierung des Erzählten, Thema Kafka Interpretationen
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Gerd Berner (Autor:in), 2012, Franz Kafka, Das nächste Dorf - Versuch einer Interpretation, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188932

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