Die Kehrtwende in der Atompolitik der Regierung Merkel – Erklärungsansätze in der Presse


Bachelorarbeit, 2012

46 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Hypothese
1.2 Untersuchungsmaterial
1.3 Vorgehensweise

2 Prüfung der Hypothese
2.1 Financial Times Deutschland
2.2 Frankfurter Allgemeine Zeitung
2.3 Die tageszeitung
2.4 Die Welt
2.5 Die Zeit
2.6 International Herald Tribune
2.7 Zwischenbilanz

3 Andere Erklärungen für den Atomausstieg
3.1 Notwendigkeit einer politischen Reaktion
3.2 Gesellschaftlicher Druck
3.3 Historischer Hintergrund
3.4 Die Laufzeitverlängerung als politischer Fehler
3.5 Parteiinterne Entwicklungen
3.6 Sicherheit
3.7 Institutionelle Möglichkeit I: Konzept- und Inhaltslosigkeit der Regierung Merkel
3.8 Institutionelle Möglichkeit II: Keine supranational verbindlichen Regelungen
3.9 Andere Erklärungen

4 Zusammenfassende Analyse
4.1 ÖkonomischeErklärung
4.2 Normative Erklärung
4.3 Historische Erklärung
4.4 Soziologische Erklärung
4.5 Politikwissenschaftliche Erklärungen
4.6 Institutionelle Erklärungen

5 Fazit

Literatur

Anhang,

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Darstellung der Hypothese

Abbildung 2: Ergänzung der Hypothese durch die Ergebnisse aus Kapitel

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Verteilung der Leitartikel zum Thema Atomausstieg

Tabelle 2: Untersuchungsgesamtheit

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Als Mitte des Jahres 2000 der Ausstieg aus der Kernenergie in Folge des rot-grünen Energiedialogs[1] debattiert wurde, sagte Angela Merkel im Bundestag: “Ich brauche nicht zu betonen, dass ich immer anderer Meinung war und die friedliche Nutzung der Kernenergie für vertretbar halte.“[2] Etwa ein Jahr später beantragte die CDU-Fraktion von dem geplanten Atomausstieg abzusehen: „Der beab­sichtigte Ausstieg aus der Kernenergie ist ein historischer Fehler. Er ist volkswirtschaftlich schäd­lich, sicherheitstechnisch nicht begründet und gefährdet die Erreichung des Klimaschutzzieles.“[3] Klaus Lippold (CDU) warnte kurze Zeit später: “Wir werden das, was Sie als dauerhaften Kern­energieausstieg bezeichnen, wieder rückgängig machen.“[4] Während der großen Koalition 2005 bis 2009 war eine Rücknahme aufgrund der Regierungsbeteiligung der SPD nicht möglich. Die Union machte aber auch während dieser Legislaturperiode regelmäßig ihre positive Haltung zur Atomkraft deutlich, so beispielsweise Angela Merkel auf dem Bundesparteitag 2006: „Ich werde es immer für unsinnig halten, technisch sichere Kraftwerke, die kein C02 emittieren, abzuschalten. Sie werden sehen: Eines Tages werden auch die Sozialdemokraten das einsehen.“[5] Nach der Bundestagswahl 2009 konnten die Christdemokraten zusammen mit der FDP die Regierung stellen. Im Koalitions­vertrag vereinbarten die beteiligten Parteien, gemeinsam mit den Energiekonzernen so schnell wie möglich eine Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke umzusetzen.[6] Im Herbst 2010 war es schließlich soweit: Die Koalitionsparteien stellten ihr Energiekonzept vor, welches den rot-grünen Atomausstieg aufkündigte und die Laufzeiten für Kernkraftwerke um durchschnittlich 12 Jahre ver­längerte.[7]

Nur wenige Monate später, am 11. März 2011, ereignete sich in Japan ein schweres Erdbeben in dessen Folge eine Flutwelle Teile des Landes verwüstete. Besondere Aufmerksamkeit erhielt die Katastrophe wegen der Zerstörungen an dem Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. Wochenlang war es aufgrund fehlender Informationen von Seiten der Betreiber unklar, ob es zu einer Kernschmelze kommen würde.[8]

In Deutschland war man erschüttert darüber, dass ein Atomkraftwerk in einem Industrieland wie Ja­pan dieser Katastrophe nicht Stand gehalten hatte. Die Debatte um die Nutzung der Kernenergie entfachte erneut. Die unionsgeführte Bundesregierung handelte in Folge der Katastrophe äußerst unerwartet und konträr angesichts ihrer jahrelang vertretenen positiven Haltung zur Atomenergie: Die sieben ältesten Kernkraftwerke wurden direkt vom Netz genommen, ein Moratorium setzte die gerade erst beschlossene Laufzeitverlängerung außer Kraft, die Reaktor-Sicherheitskommission überprüfte die Sicherheit der nuklearen Anlagen unter dem Einfluss von Fukushima und eine Ethik­Kommission wurde ins Leben berufen, um die Möglichkeiten einer deutschen Energieversorgung ohne Kernkraft zu diskutieren.[9] Schließlich wurde im Juli 2011 der Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg beschlossen. Das 13. Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes trat im August 2011 in Kraft und befristet die verbleibenden Laufzeiten durch bestimmte Daten. Die sieben ältesten Anla­gen bleiben weiterhin vom Netz, die anderen Anlagen werden nacheinander im Zeitraum vom 31.12.2015 bis 31.12.2022 vom Stromnetz getrennt.[10] Angela Merkel erklärte diesen Schritt in ei­nem Interview folgendermaßen: „Es ist unerlässlich, dass Politiker neue Erkenntnisse auch in neue Politik umsetzen, statt trotzdem auf den alten Positionen zu verharren. Wenn sich die Welt verän­dert, müssen wir auf diese Veränderungen reagieren.“[11]

Diese ausführliche Einleitung ist erforderlich, um die atompolitische Kehrtwende der Regierung Merkel zu verdeutlichen. Es war kein langjähriger Prozess, keine sich stetig entwickelnde Erkennt­nis oder langsam verbreitende Überzeugung, wodurch sich in der Koalition die Haltung zur Betrei­bung von Atomkraftwerken änderte. Es war ein abrupter Positionswechsel, der diejahrelang gepre­digte Notwendigkeit der Nutzung von Kernenergie einfach über Bord warf.

Diese Arbeit widmet sich der aktuellen Frage, warum die Regierung diesen „U-Turn“, von der Laufzeitverlängerung im Herbst 2010 zum Ausstieg aus der Atomenergie 2011, vollzogen hat. Im Fokus steht dabei die CDU, da die Partei sich zuvor immer deutlich und häufig für die Atomkraft ausgesprochen hatte.

In dieser Untersuchung geht es folglich nicht um die inhaltliche Diskussion der Nutzung von Kern­energie, denn solche Diskursanalysen wurden bereits regelmäßig wissenschaftlich durchgeführt.[12] Es geht vielmehr darum, die Ursachen, warum die Regierung ihre Atompolitik änderte, herauszufil­tern. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Kehrtwende beginnt derzeit erst, wes­halb bisher kaum Literatur zu dieser politischen Entwicklung vorhanden ist. Zwar wird in einer kürzlich erschienenen Ausgabe der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ das Ende des Atomzeitalters diskutiert, eine Ursachenforschung für die Kehrtwende nimmt aber keiner der Autoren vor.[13] Eigentlich kann gegenwärtig nur Sascha Adamek genannt werden, der in seinem Buch die Ursachen der deutschen Atompolitik ergründet.[14] Der investigative Journalist behandelt das Themajedoch weniger wissenschaftlich, weshalb seine Ergebnisse hier vernachlässigt werden. Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Einerseits wird eine Hypothese aufgestellt, die sich an ökono­mischen Theorien der Demokratie orientiert und das Verhalten der Regierung anhand der bevorste­henden Landtagswahlen erklärt. Andererseits wird eine offene Suche nach weiteren Erklärungen durchgeführt. Als Untersuchungsmaterial werden Zeitungsartikel benutzt.

1.1 Hypothese

Betrachtet man Parteien als rationale Akteure im Sinne ökonomischer Theorien der Demokratie, dann verfolgen sie primär das Ziel bei bevorstehenden Wahlen als Sieger hervorzugehen.[15] Um die­ses Ziel zu erreichen, orientieren sie sich bei ihren Handlungen und Entscheidungen am Median­wähler. Unter dem Begriff Median versteht man den Wert, der die Verteilung in zwei Hälften teilt. Sind die Wählerpräferenzen unimodal verteilt, fallen das Maximum der Verteilung und der Median zusammen.[16] Die Präferenz des Medianwählers ist dann diejenige, die von den meisten Wählern ge­teilt wird. Sieht sich eine Partei der Gefahr ausgesetzt, mit einem bestimmten politischen Programm vom Medianwähler abzuweichen, so wird sie das Programm derart verändern, in der sie hofft die Zustimmung der Mehrheit der Wähler wieder zu gewinnen. Das bedeutet, Parteien streben die poli­tischen Programme an, mit denen sie hoffen die meisten Wählerstimmen zu gewinnen. Diese theo­retischen Annahmen sollen nun auf die Atompolitik der Regierung Merkel bezogen werden.

Anfang März 2011 hatte das „Superwahljahr“ mit insgesamt sieben Landtagswahlen gerade erst be­gonnen. Nur etwa zwei Wochen nach dem Atomunglück in Japan sollte in Rheinland-Pfalz und im traditionell unionsregierten Baden-Württemberg gewählt werden. Die Regierung befürchtete, ange­sichts der heftigen Debatte um die Nutzung der Atomkraft, dass eine Beibehaltung der Laufzeitver­längerung Wählerstimmen kosten würde. Der Medianwähler präferierte nach Wahrnehmung der Re­gierung einen Ausstieg aus der Kernenergienutzung. Um sich der Mehrheit der Wähler wieder zu nähern wurde durch das Moratorium die Laufzeitverlängerung ausgesetzt, die Ethik-Kommission einberufen, die Reaktor-Sicherheitskommission mit einer erneuten Sicherheitsüberprüfung beauf­tragt und schließlich der Atomausstieg beschlossen. Durch diese Maßnahmen sollte - sowohl kurz­fristig für die Landtagswahlen, als auch langfristig für die Bundestagswahlen - die Nähe zum Medi­anwähler sichergestellt werden. Zusammengefasst erhält man folgende Hypothese als Erklärung für die Atompolitik der Regierung Merkel:

Die Regierung beschloss den Ausstieg aus der Kernenergie aufgrund des drohenden Ver- lusts von Wählerstimmen bei Erhaltung der Laufzeitverlängerung.

Diese Hypothese kann man folgendermaßen darstellen:

Abbildung 1: Darstellung der Hypothese

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Hypothese wird im zweiten Kapitel dieser Arbeit für den beschriebenen Fall der unionsgeführ­ten Atompolitik in der Presse überprüft.

1.2 Untersuchungsmaterial

Die Medien gelten gemeinhin als vierte Gewalt in einer Demokratie.[17] Sie erfüllen eine Informati­onsfunktion, das heißt sie erheben den Anspruch vollständig, objektiv und verständlich Informatio­nen für die Bürger bereit zu stellen.[18] Sie wirken bei der Meinungsbildung mit und üben Kontrolle und Kritik über das Regierungshandeln aus. Durch die Kritik- und Kontrollfunktion sind Journalis­ten erfahren im kritischen Beobachten des Regierungshandelns. Über das Agenda-Setting entschei­den sie zudem, ob und wann Themen an die Öffentlichkeit getragen werden.[19] Aufgrund dieser wichtigen Funktionen werden die Medien, genauer gesagt die Presse, hier als Untersuchungsmateri­al genutzt.

Um das Material einzuschränken, werden nur Leitartikel untersucht, da sich in Leitartikeln die ge­samte Redaktion zu einem Thema positioniert und ihre Meinung kundtut.[20] Bei den Zeitungen han­delt es sich um vier überregionale Qualitätszeitungen: die Financial Times Deutschland (FTD), die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), die tageszeitung (taz) und die Welt; eine überregionale Wo­chenzeitung: die Zeit und eine internationale Zeitung: die International Herald Tribune (IHT).[21] Der Untersuchungszeitraum beginnt mit den Ereignissen in Japan (11.03.2011) und endet fast fünf Monate später (31.07.2011), da sich nach der Verabschiedung des 13. Atomgesetzes die Berichterstattung über das Thema, wegen des sinkenden Nachrichtenwerts, stark verringerte.[22] Für die FTD, die FAZ und die taz wurden kostenpflichtige, für die Welt, die Zeit und die IHT kostenfreie Online-Archive zur Materialbeschaffung benutzt. Bei der Suchfunktion wurde gefiltert nach Leitartikeln, dem Untersuchungszeitraum und den Stichworten Atomkraft, Atomenergie, Kernenergie, Laufzeitverlängerung oder Atomausstieg. Insgesamt ergeben sich daraus 59 Artikel.

Tabelle 1: Verteilung derLeitartikelzum Thema Atomausstieg[23]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Eigene Darstellung

Die Auswahl der Zeitungen erfolgte anhand von Ergebnissen verschiedener Studien zur links- rechts-Einstufung der Printmedien. Eilders, Meyn und Wilke stufen unabhängig voneinander die taz als links-liberal, die FAZ als liberal-konservativ und die Welt als rechts-konservativ ein.[24] Außer­dem bezeichnet Meyn die FTD als wirtschaftsorientiert.[25] Die Zeit wird von Wilke als taditionell linksliberal beschrieben.[26] Die IHT gehört redaktionell zur New York Times, welche sich eher an den „liberals“, also den amerikanischen Demokraten, orientiert.[27] Die IHT ermöglicht einen interna­tionalen Außenanblick auf das deutsche Regierungshandeln und stellt somit eine Art „Gegenblende“ zu den deutschen Zeitungen dar.

Ein Vergleich der verschiedenen Zeitungen untereinander wird nicht angestrebt. Vielmehr soll mit dieser Auswahl ein möglichst breites Spektrum verschiedener Weltanschauungen abgedeckt wer­den, um ein umfassendes Bild auf die Entwicklungen in der Atompolitik zu bekommen.

1.3 Vorgehensweise

Die Artikel sollen in Form einer qualitativen Inhaltsanalyse untersucht werden. „Inhaltsanalyse ist eine Methode zur Erhebung sozialer Wirklichkeit, bei der von Merkmalen eines manifesten Textes auf Merkmale eines nichtmanifesten Kontextes geschlossen wird.“[28] Die Zeitungsartikel sind die manifesten Texte, durch die Analyse des Inhalts sollen Ursachen für die Kehrtwende in der Atompo­litik herausgefunden werden. Der Kommunikator und der Rezipient werden vernachlässigt, da es in diesem Fall nicht wichtig ist, welche Absichten der Kommunikator verfolgte oder wie der Rezipient die Nachricht wahrgenommen hat.[29]

Der erste Teil der Arbeit (Kapitel 2) ist deduktiv und überprüft die aufgestellte Hypothese. Es soll festgestellt werden, inwiefern die Zeitungen die einzelnen politischen Entscheidungen mit den be­vorstehenden Wahlen erklären. Die deutschen Zeitungen werden in alphabetischer Reihenfolge nacheinander untersucht. Die IHT wird immer zuletzt betrachtet, um die internationale von der deutschen Presse abzugrenzen.

Der zweite Teil der Arbeit (Kapitel 3) geht hingegen induktiv vor und untersucht, ob in den Artikeln weitere Thesen aufgestellt werden, die das Regierungshandeln erklären. Die Hypothesenfindung gilt als „klassischer Bereich qualitativer Forschung“[30], denn die Ergebnisse lassen sich mitunter zu einer Theoriebildung ausweiten. Im Material werden alle Aussagen, die sich auf die Regierung beziehen, genau interpretiert. Alle handlungsrelevanten Faktoren sollen herausgefiltert werden. Die restlichen Aussagen, die sich mit den Möglichkeiten der Energiewende, den Ereignissen in Japan oder ähnli­chem beschäftigen, werden vernachlässigt. Nach mehrmaligem Sichten der Artikel werden die Er­klärungen unter bestimmten Überschriften gesammelt und zusammengefasst. Um Wiederholungen zu vermeiden, orientiert sich dieser Teil der Arbeit strukturell nicht an den verschiedenen Zeitungen, sondern an derjeweiligen Erklärung.

In der Zusammenfassung (Kapitel 4) sollen die Ergebnisse analysiert und in einen Zusammenhang mit wissenschaftlichen Perspektiven gebracht werden.

2 Prüfung der Hypothese

Die anhand von Annahmen aus ökonomischen Theorien der Demokratie abgeleitete Hypothese, die Regierung hat den Ausstieg aus der Kernenergie nur beschlossen, weil sie befürchtete bei einer Er­haltung der Laufzeitverlängerung Wählerstimmen zu verlieren, wird nun in den einzelnen Zeitun­gen überprüft.

2.1 Financial TimesDeutschland

Dass sich die Bundesregierung wegen den Landtagswahlen überraschend für einen schnellen Aus­stieg aus der Kernenergie entschied wird in fünf der 13 Artikel explizit bestätigt. Dort heißt es dann beispielsweise „die Bundesregierung fürchtet die Angst ihrer Wähler vor der Atomkatastrophe“[31] oder es „ist schiere Panik, die sie treibt, angesichts des Reaktorunglücks in Japan und der für sie gefährlichen Umfragewerte. Sie agiert vor allem aus wahltaktischen Gründen.“[32] Später wird der Ausstieg auch als ein „Panik-Abschalten [...] aus Angst vor den Landtagswählern“[33] bezeichnet. Das Moratorium sei „blanker Populismus“, das im Sinne eines „Placebos“ die Atomdebatte bis zu den Landtagswahlen beruhigen soll.[34] Durch das Moratorium wäre das Geld der Steuerzahler riskiert worden, da mit Klagen der Energiekonzerne zu rechnen sei. Und dieses Risiko sei nur eingegangen worden, weil Merkel ihr Gesicht wahren wollte.[35]

Die Ethik-Kommission wird als Instrument bewertet, durch dessen Hilfe die Regierung sich dem Medianwähler nähern möchte: „Merkels Kommission hat ein klares Ziel: Sie soll dafür sorgen, dass die Regierung in der gesellschaftlichen Mehrheit ankommt, die das schnelle Ende der Atomkraft will.“[36] Teilweise wird auch das gesamte Regierungshandeln, also nicht nur in Bezug auf den Atomausstieg, als Ausrichtung an „kurzfristigen Wählerumfragen“[37] eingestuft. Angela Merkel sei „allzu sehr an demoskopischen Zahlen und deren öffentlicher Wirkung orientiert.“[38] Im Zweifel würde sich die Regierung sogar eher an den Umfragen als an den Bedürfnissen der Wirtschaft ori­entieren.[39] Die Reaktor-Sicherheitskommission wird in den untersuchten Artikeln nicht erwähnt.

Die FTD bestätigt die Hypothese und erklärt das Moratorium, die Ethik-Kommission sowie zeitwei­se das gesamte Regierungshandeln mit den bevorstehenden Landtagswahlen.

2.2 Frankfurter Allgemeine Zeitung

In drei der fünf Artikel wird die Hypothese explizit bestätigt. Für Angela Merkel und Guido Wester­welle gehe es „zuerst um den Machterhalt der schwarz-gelben Koalition, dann um die Zukunft der Energieversorgung.“[40] Eine Beibehaltung der Laufzeitverlängerung wird als „politischer Selbst­mord“[41] bezeichnet. Das Moratorium sei hilfreich, denn es „kauft Zeit bis nach den Wahlen“[42], ob­wohl die Reaktor-Sicherheitskommission das dreimonatige Abschalten der sieben ältesten Meiler aus Sicherheitsgründen nicht für notwendig eingestuft habe.[43] Als Beweis für den hohen Druck auf die Regierung durch die „Angst vor dem Wähler“ wird der enge Zeitplan aufgeführt, in dem die notwendigen Gesetze durch den Bundestag und den Bundesrat „gepaukt“ werden sollen.[44] Die Ethik-Kommission sei für das Ziel des Atomausstiegs instrumentalisiert worden, um den „politisch vorformulierten Wunsch [...] auf eine breitere argumentative Basis“ zu stellen.[45] In einem weiteren Artikel wird der Ausstieg nicht direkt mit bevorstehenden Wahlen begründet, allerdings wird Norbert Röttgen zitiert mit dem Satz „Wer nicht mitmache, werde aussterben.“[46] Im Kontext ist die Rede von dem Bericht der Reaktor-Sicherheitskommission, nach dessen Aussage Atomkraft als verantwortbar gewertet werden könne. Auf der Grundlage dieses Berichts wirft die FAZ der Regierung ideologisch orientiertes Handeln vor. Der Atomausstieg sei ein „Konsens, der pragmatisch tut, den aber ideologischer Kitt zusammenhält.“[47] Der Ausstieg verschleiere die Fakten, er sei nicht nachhaltig, sondern verantwortungslos und risikoreich.[48]

Insgesamt wird sowohl die Ethik-Kommission als auch das Moratorium mit den Wahlen begründet. Der Bericht der Reaktor-Sicherheitskommission wird häufig erwähnt, allerdings als Argument ge­gen den Atomausstieg. Der gesamte Ausstieg wird als ideologisch bezeichnet. Dies ist jedoch wi­dersprüchlich, denn einerseits wird die Alternative zum Atomausstieg als „politischer Selbstmord“ bezeichnet, andererseits wird der dann vollzogene Ausstieg, derja folglich den „politischen Selbst­mord“ verhindern soll, als ideologische Verschleierung deklariert.

2.3 Die tageszeitung

Die taz hat mit 15 Artikeln am meisten von den Ereignissen berichtet. In knapp der Hälfte der Arti­kel wird die Sichtweise auf die Regierung als rationalen Akteur, der sein Handeln an den Wählern ausrichtet, angenommen. Die „Wählermassen“ bewegten sich nach Fukushima und „zwangen Mer­kel die Kehrtwende auf.“[49] Die Ethik-Kommission sei ein wahltaktisches Instrument, das Verwir­rung stiften soll. Eigentlich seien die ethischen Fragen bezüglich der Atomkraft längst beantwortet, da die Gesellschaft schon lange gegen die Nutzung der Kernenergie sei.[50] Die Kommission habe le­diglich die Funktion des „Stimmenfang[s]“[51], geboren aus der „Erklärungsnot“ der Kanzlerin.[52] Die Ergebnisse der Kommission könne sie „an das Wahlvolk verkaufen.“[53] Und auch das Moratorium sei nur eingesetzt worden, um Zeit bis zu den Wahlen in Baden-Württemberg zu gewinnen.[54],,[U]nter dem Eindruck der Demoskopie scheinbar reumütig gewandelt“[55] vollzieht die Regierung ihren beschleunigten Ausstieg. Die Zeitung geht aber noch einen Schritt weiter und behauptet, die Kanzlerin handele populistisch. Ein ganzer Artikel mit dem Titel „Der Populismus der Mitte“ widmet sich dem Populismus der Kanzlerin und ihrer Regierung.[56] Angela Merkel wird explizit als Populistin bezeichnet, die aus der Atomkraft aussteigt, weil sie Wahlen gewinnen will. In ironischer Weise wird diskutiert, ob Populismus nicht gut sei, denn er sei an den Wählern orientiert und diese wollen nun einmal keine Atomkraft. Auch die Oppositionsparteien seien populistisch, was zur Folge habe, dass Wahlprogramme verschiedener Parteien sich immer mehr angleichen würden. Alle hätten das Ziel, die „Mitte“ zu erreichen, ganz im Sinne des Medianwählermodells. Schließlich wird kritisiert, dass in einem solchen System die Themen der Minderheiten vernachlässigt werden, weil diese Themen für die Mehrheit nicht von Interesse seien.

Das Moratorium und die Ethik-Kommission sind nach Meinung der taz nur entstanden, um Wähler­stimmen zu gewinnen. Die Reaktor-Sicherheitskommission wird nicht erwähnt. Das gesamte Regie­rungshandeln wird als populistisch und an Umfragen orientiert bezeichnet.

2.4 Die Welt

Die Welt steht mit ihren 14 Artikeln an zweiter Stelle hinsichtlich der Häufigkeit der Berichterstat­tung. Ein auf Wahlen bezogenes Regierungshandeln wird in fünf Artikeln beschrieben. Die „radika­le Kehrtwende“ sei ein „Novum in der politischen Kultur“ und vollziehe sich in einer Art, für die neue Begriffe wie „Panikpolitik“ und „Atomputsch“ eingeführt werden müssten.[57] „Jetzt klingt die plötzliche Erkenntnis ein wenig danach, als wolle die Koalition sich vor der Landtagswahl in Ba­den-Württemberg noch schnell auf die richtige Seite der Geschichte schlagen.“[58] Dieses Verhalten würde aber nicht zum Ziel führen, sondern das Vertrauen der Bürger in die Regierung verringern. Die Union wirke durch die plötzliche Abkehr von ihrer Pro-Atompolitik insgesamt wie eine „ent­kernte, tote Partei“, weil sie ihre Ansichten und politischen Ideale nur kalkulieren und nicht fühlen würde.[59] Relativ milder heißt es in einem weiteren Artikel „selbst wenn bei dieser für sie ungewöhn­lich raschen Kehrtwende Wahlkampfkalkül mitschwang“, sei ihr Handeln dennoch angemessen und richtig.[60] Kurze Zeit später wirdjedoch das „Wahlkampfkalkül“ wieder in den Vordergrund gerückt: „Ein kräftiges politisches Signal soll die Wähler vergessen machen, dass die Koalitionäre noch im Herbst vergangenen Jahres voller Überzeugung in die entgegengesetzte Richtung marschiert wa- ren.“[61] Die Wähler würden dieses Handeln aber als opportunistisch bewerten und auch energie­politisch sei ein Ausstieg aus reinem Kalkül fahrlässig.[62] Auch die Welt bezeichnet schließlich die Regierung als populistisch. Vieles sei Show, um wenigstens in den Umfragen drei Werte weiterzu­kommen, und das gelte nicht nur für die Atompolitik, sondern auch für andere Politikbereiche wie beispielsweise die Abschaffung der Wehrpflicht.[63] Den Grünen solle das „Lebenselixier“ genommen werden, damit die Atomkraftdebatte nicht die nächsten Wahlen bestimmen könne. Daher handele Angela Merkel nicht aus Überzeugung, sondern taktisch.[64] Interessanterweise wird die Einberufung der Ethik-Kommission nicht kritisiert. Aber es wird bemängelt, dass die Kommission wirtschaftli­che Aspekte in ihrer Diskussion vernachlässigen würde.[65]

[...]


[1] Die rot-grüne Regierung hatte am 14.06.2000 gemeinsam mit den Energieversorgungsunternehmen eine Vereinba­rung unterzeichnet, welche unter anderem die Laufzeiten deutscher Atomkraftwerke durch Reststrommengen be­fristete. Vgl. BMU (2000).

[2] DeutscherBundestag (2000): S. 10426 B.

[3] DeutscherBundestag (2001a): S. 1.

[4] Deutscher Bundestag (2001b): S. 20712 B. Anschließend an diese Debatte wurde der rot-grüne Ausstieg in der zweiten und dritte Beratung angenommen (S. 20729 D) und der Antrag der CDU abgelehnt (S. 20730 B).

[5] Merkel (2006).

[6] Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP (2009): S. 29.

[7] BMWi & BMU (2010): S. 14f.

[8] Die japanische Regierung erklärte zwar mittlerweile, dass die Gefahr einer Kernschmelze ausgeschlossen sei und eine sogenannte Kaltabschaltung durchgeführt wurde. Kritiker verkünden jedoch, das Kraftwerk sei immer noch nicht unter Kontrolle. Vgl. Stockrahm (2011) oder Totz (2011).

[9] Bundesregierung(2011a).

[10] 13. AtGÄndG (2011).

[11] Bundesregierung(2011c).

[12] Vgl. beispielsweise van Buiren (1980) oder Radkau (1983) für Untersuchungen zum deutschen Atomkraftdiskurs. Gamson & Modigliani (1989) erforschten die amerikanische Diskussion anhand einer Mediendiskursanalyse und diagnostizierten die verschiedenen „frames“.

[13] Bundeszentrale für politische Bildung (2011).

[14] Adamek (2011).

[15] Downs ([1957] 1968): S. 11.

[16] Dehling & Schubert (2011): S. 58.

[17] Schmidt (2005): S. 50ff.

[18] Gutting (1992): 13f.

[19] Meyn (2004): S.18ff.

[20] Noelle-Neumann et al. (1994): S. 108. Da sich in der Regel alle Mitarbeiter der Zeitung inhaltlich dem Leitartikel anschließen, wird im Folgenden beim Zitieren des Untersuchungsmaterials die jeweilige Zeitung genannt und nicht der Autor, wie sonst üblich. Einerseits geben manche Zeitungen keinen Autor bei Leitartikeln an (gerade weil der Leitartikel die Meinung der gesamten Redaktion darstellt und nicht die eines einzelnen Journalisten), anderer­seits können Leser der Arbeit dann besser die Zitate denjeweiligen Zeitungen zuordnen.

[21] Da im ausgewählten Zeitraum nur ein Leitartikel in der International Herald Tribune erschien, wurden hier auch

Kommentare in die Analyse miteinbezogen.

[22] ZurNachrichtenwerttheorie vgl. Staab (1990): S. 40ff.

[23] Eine genaue Auflistung der einzelnen Artikel befindet sich im Anhang unter Tabelle 2: Untersuchungsgesamtheit.

[24] Eilders (2004): S. 145; Meyn (2004): S. 95f.; Wilke (1998): S. 158.

[25] Meyn (2004): S. 96.

[26] Wilke (1998): S.158.

[27] Rasmussen Reports (2007) oder Puglisi (2011).

[28] Mertens (1995): S. 15.

[29] Mertens (1995): S. 119.

[30] Mayring (2010): S. 22.

[31] FTD (15.03.2011): S. 1.

[32] FTD (23.03.2011): S. 1.

[33] FTD (05.04.2011): S. 1.

[34] FTD (15.03.2011): S. 1.

[35] FTD (01.04.2011): S. 1.

[36] FTD (23.03.2011): S. 1.

[37] FTD (06.05.2011): S. 1.

[38] FTD (06.05.2011): S. 1.

[39] FTD (31.05.2011): S. 1.

[40] FAZ (15.03.2011): S. 11

[41] FAZ (31.05.2011): S. 1.

[42] FAZ (31.05.2011): S. 1.

[43] FAZ (19.05.2011): S. 11.

[44] FAZ (19.05.2011): S. 11.

[45] FAZ (19.05.2011): S. 11.

[46] FAZ (07.06.2011): S. 1.

[47] FAZ (07.06.2011): S. 1.

[48] FAZ (07.06.2011): S. 1.

[49] taz (31.05.2011): S. 1.

[50] taz (23.03.2011): S. 1.

[51] taz (10.06.2011): S. 1.

[52] taz (12.05.2011): S. 1.

[53] taz (12.05.2011): S. 1.

[54] taz (15.03.2011): S. 1.

[55] taz (26.05.2011): S. 1.

[56] taz (21.ОЗ.2011): S. 1.

[57] WamS (05.06.2011): S. 15.

[58] Die Welt(17.03.2011): S. 7.

[59] Die Welt(n.06.20n): S. 3.

[60] Die Welt(28.03.2011):S.3.

[61] Die Welt(30.05.2011): S. 3.

[62] Die Welt(30.05.201l):S.3.

[63] Die Welt (08.06.2011): S. 3.

[64] WamS (05.06.2011): S. 15.

[65] Die Welt(16.05.2011): S. 3.

Ende der Leseprobe aus 46 Seiten

Details

Titel
Die Kehrtwende in der Atompolitik der Regierung Merkel – Erklärungsansätze in der Presse
Hochschule
Christian-Albrechts-Universität Kiel  (Institut für Sozialwissenschaften)
Note
1,7
Autor
Jahr
2012
Seiten
46
Katalognummer
V188694
ISBN (eBook)
9783656124597
ISBN (Buch)
9783656124917
Dateigröße
642 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
kehrtwende, atompolitik, regierung, merkel, erklärungsansätze, presse
Arbeit zitieren
Anna-Katharina Dhungel (Autor:in), 2012, Die Kehrtwende in der Atompolitik der Regierung Merkel – Erklärungsansätze in der Presse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188694

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