Lernen im Internet


Hausarbeit (Hauptseminar), 2002

40 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsübersicht

0. Einleitung

1. Geschichtliches
1.1. Ein kurzer Rückblick auf die Mediendidaktik der Nachkriegszeit
1.2. Ein kurzer Rückblick auf die Entstehung des Internets

2. Das Internet zwischen Fortschrittseuphorie und Kulturkritik

3. Das Internet im Deutschunterricht als Hilfsmittel und Unterrichtsgegenstand
3.1. Informationsrecherche
3.2. Hypertext
3.3. Netzliteratur
3.4. E-Mail, Mailinglisten, Chatforen 25
3.5. Eigene Präsentationen im Internet

4. Resümee

Anhang

Literatur- und Internetseitenverzeichnis

0. Einleitung

Die Deutsche Telekom titelte in ihrem Firmenmagazin „digits“ einen Artikel mit den Worten „Deutschland geht online“.[1] Euphorisch konstatierte sie in demselben Artikel: „Ein ganzes Land im Internet“ und: „Die Nutzerzahlen im Internet explodieren förmlich: Über zwölf Millionen Bundesbürger gehen inzwischen ins Netz“; nicht ohne Stolz ergänzt sie: „... mehr als 4,2 Millionen davon mit T-Online.“[2]

Wenngleich man die Euphorie nicht teilen muß, sprechen die Zahlen für sich. Die Datenerhebung von „Jugend, Information, (Multi)-Media“ aus dem Jahr 1998[3] zeigt, daß sich die zunehmenden Internetzugänge auch, wenn nicht sogar im besonderen, unter den Kindern und Jugendlichen bemerkbar machen. So benutzten bereits 1998 von 803 befragten Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 Jahren 71 Prozent einen PC; 18 Prozent gaben an, mit dem Internet umzugehen. Die Tendenz sei steigend.

Barth weist in ihrem Artikel darauf hin[4], daß Kinder und Jugendliche oftmals Besitzer von kompletten Medienausrüstungen sind. Computer und Internet seien zur Zeit dabei, den älteren auditiven und audiovisuellen Medien, etwa CD-Player, Kassettenrekorder, Radio, Walkman, Fernseher und Videorekorder, den Popularitätsrang abzulaufen.

Baurmann und Weingarten zeigen auf[5], daß von 607 Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren ungefähr 534 Schüler (88 %) das Einsetzen von Computern mit Netzanschluß für sehr relevant halten.

So scheint es in der Tat angemessen zu sein, den Begriff der „Kindheit“, wie es häufig getan wird[6], mit „Medienkindheit“ gleichzusetzen.

Für den Lehrer resultiert hieraus die Aufgabe, das Thema „Medien“ und das Thema „Internet“ im Unterricht zu thematisieren. Zwar behauptet Neil Postman, allein in den USA hätten schon 35 Millionen Menschen ohne Hilfe gelernt, den Computer zu benutzen; die meisten Menschen würden, ohne daß die Schulen etwas diesbezüglich lehrten, lernen, „wie man mit den digitalen Medien umgeht“[7]. Geht man aber davon aus, daß das Internet mehr erfordert, als es „benutzen“ und mit ihm „umgehen“ zu können, also mehr als technische Fertigkeiten verlangt, dann fordert das Internet mit seiner Informationsflut den Lehrer geradezu heraus. Er sieht seine Aufgabe dann darin, die Entwicklung von „Medienkompetenzen“[8] bei den Schülern anzuleiten. Wermke[9] spricht diese Aufgabe vorrangig dem Deutschunterricht zu. Dabei stellt sich dem Deutschlehrer diese Aufgabe nicht als eine Pflichtübung dar, sondern das Lernen im Internet eröffnet gerade für den Deutschunterricht interessante Perspektiven, wie in Kapitel 3 anhand einer Auswahl von Verwendungsmöglichkeiten des Internets gezeigt werden soll. Wir werden uns dabei auf den Literaturunterricht konzentrieren, aber auch Aspekte ansprechen, die den Lernbereich der Reflexion über Sprache betreffen.

Dem voraus geht ein knapper Rückblick auf die Geschichte der Mediendidaktik, der sich beim Orten des eigenen Standpunkts als sinnvoll erweist – insbesondere angesichts der bei diesem Thema häufig anzutreffenden „Zukunftsgewandtheit“, wie es Kübler formuliert[10] –, ebenso eine kurze Rückschau auf das Medium, um das es in dieser Arbeit geht, auf die Entwicklung des Internets.

Angesichts der bei der Beschäftigung mit dem Thema „Lernen im Internet“ häufig anzutreffenden strikten Ablehnung des Mediums einerseits und unbedingten Befürwortung andererseits folgt dann eine mehr allgemeindidaktische Reflexion des Mediums. Die zahlreichen Bezugnahmen in der zum Interneteinsatz eingesehenen Sekundärliteratur auf konstruktivistisch geprägte Ansätze[11] lassen es sinnvoll erscheinen, diese Perspektive vorzustellen und zu zeigen, wie sie sich eignet, den Interneteinsatz didaktisch zu untermauern und das Internet als Chance erscheinen zu lassen, zugleich aber auch davor bewahrt, daß sein Einsatz zum Selbstzweck degeneriert.

Wir verwenden bewußt des öfteren Literatur aus dem Internet, um den für den Deutschunterricht in der Hausarbeit vorgeschlagenen Interneteinsatz gleichzeitig zu erproben, und auch, um zu zeigen, wie stark sich die Diskussion über das Lernen im Internet im Medium selbst abspielt, d. h. als Beleg für ein gewisses Maß an Selbstreflexivität des Mediums. Zu diesem Zweck haben wir auch in der Anlage zwei Texte beigefügt, die uns während der Arbeit an dem Thema per Ketten-E-Mail von Jugendlichen erreichten und ein Indiz dafür sind, daß auch Jugendliche ihren Internetgebrauch reflektieren. Gerade der erste beigefügte Text eignet sich zudem, Internetnutzer für eine zweckdienliche Verwendung des Mediums zu sensibilisieren.

1. Geschichtliches

1.1. Ein kurzer Rückblick auf die Mediendidaktik der Nachkriegszeit

Schon in den ersten Jahren nach dem zweiten Weltkrieg war das Buch nicht mehr das einzige Medium im Deutschunterricht. Zuerst wurden die Hörspiele von Günter Eich, Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Marie Luise Kaschnitz und Ingeborg Bachmann in den Deutschunterricht aufgenommen. Anfangs wurden allerdings die Texte der Hörspiele im Unterricht gelesen, da es noch nicht überall Tonbandgeräte gab, so daß das Hörspiel als eigene Gattung noch nicht sonderlich ins Gewicht fiel.[12]

In den 70er Jahren habe es, so Paefgen[13], schon Ansätze einer Medienpädagogik gegeben. Die Schüler hätten zu einem kritischen Umgang mit den neuen Medien Rundfunk, Fernsehen und Film erzogen und dazu gebracht werden sollen, sich mit der Realität und ihrer Darstellung in den Medien auseinanderzusetzen. Ziel dieser auf Kritikfähigkeit ausgerichteten Didaktik war es, die Schüler dahin zu lenken, das Medium Buch zu bevorzugen. Diese Zeit wurde bestimmt durch das „Mißtrauen gegenüber dem Bild“[14]. Roland Barthes und Gunter Otto waren aber Protagonisten dafür, daß das Bild als gleichwertig zum Text angesehen wurde.

Die 80er Jahre waren durch die neue Gattung der Literaturverfilmung gekennzeichnet. In dieser Zeit trat auch der Begriff „Medien“ an die Stelle des wertenden Begriffs „Massenmedien“.[15] Man war zunehmend bereit, sich mit der Kombination von Literatur und Bild anzufreunden. Ziel der Didaktik sollte es nun sein, den Film als eigene Gattung unter ästhetischen Gesichtspunkten zu betrachten. Im Unterricht sollte der Film als eigenständige Gattung analysiert werden. Blumensath und Lohr gingen als erste so weit, den Film an sich, auch ohne einen literarischen Text als Grundlage, als Unterrichtsthema zu akzeptieren. Sie verstanden den Film als „eigenständiges Kunstwerk“, dem sie zu „seinem Recht im Deutschunterricht“[16] verhelfen wollten. Hickethier verfaßte in dieser Zeit eine umfassende Schrift zur Analyse von Fernsehen und Film, in der er die Unterschiede zwischen einer Film- und einer Textanalyse herausarbeitete. Gast und Vollmers betonten besonders, daß die Schüler sich auch durch den Film literarisches Wissen aneignen könnten, er also an Literatur heranführen könne.

Das Aufkommen von Videos in den 80er Jahren wertete das Medium Film auf und ermöglichte eine wiederholte und damit genauere und analytischere Betrachtung, doch werteten viele Didaktiker das Medium Buch noch immer als das bessere Medium. Auch gegen Ende der 80er Jahre gab es noch keine einschlägigen Forschungsprojekte zu Film und Fernsehen. Es bestand zwar ein Kanon von Literaturverfilmungen, die im herkömmlichen Deutschunterricht benutzt wurden, doch noch immer betrachtete man sie mehr als Ergänzung zu literarischen Werken, um die Schüler zu motivieren, denn als eigenständige Gattung.

Neben der skizzierten Entwicklung einer Filmdidaktik wurden Forschungen zur „Text-Bild-Didaktik“[17] durchgeführt, in der Comics und Werbeplakate analysiert wurden. Das Bild sollte nach Blumensath und Lohr einerseits das Verständnis des Textes unterstützen, andererseits sollten Schüler aber auch anhand von Bildern Texte verfassen, um so in die „Bild-Lektüre“[18] eingeführt zu werden. Einige „Text-Bild-Didaktiker“ sind z. B. Ehbauer, Schober und Grünewald. Vor allem Halbey wies darauf hin, daß nicht nur der Text, sondern auch die illustrierenden Bilder selbst im Deutschunterricht thematisiert und analysiert werden müßten. In den heutigen Lesebüchern zeigt sich nach Paefgen,[19] daß sich diese Didaktik weitgehend durchgesetzt hat, da dort viele Texte mit Bildern illustriert seien.

Durch die rasante technische Entwicklung der sog. „neuen Medien“ ist die mediendidaktische Diskussion – insbesondere im Fach Deutsch – in den 90er Jahren wieder neu entfacht worden.

Man kam in der Deutschdidaktik zunehmend zu der Erkenntnis, daß man auch im Deutschunterricht die neuen Medien eingehend thematisieren müsse. Ausgehend von der Annahme, daß Schüler die neuen Medien vielfach gegenüber dem Medium Buch bevorzugten, wandten sich viele gegen eine Dominierung des Mediums Buch.

Bezüglich des Films unterschied etwa Wermke nicht länger zwischen der „lesenden Lektüre“[20] eines Romans und dem Ansehen seiner Verfilmung. Beiden Verfahren gemeinsam ist nämlich laut Wermke, daß der Inhalt zu stark in den Vordergrund gerückt werde, während die ästhetische Sprache im Film wie in der gelesenen Literatur zu kurz komme.[21]

David Bordwell betonte die filmspezifischen Merkmale; um sie bezeichnen zu können, lieferte Wolfgang Gast das notwendige Begriffsinventar.[22] Er spricht dem Film im Deutschunterricht über die Aufgabe der Textergänzung die Funktion zu, über seine genaue Analyse den Einstieg in die schulische Medienarbeit zu bahnen. Den Film stellt er zeitlich der Lektüre voran.[23] In Erwägung zieht Gast auch, aktuelle Filme aus Kino und Fernsehen zu thematisieren. Paefgen merkt zu dieser Position an[24], daß Gast den Text vernachlässige, und weist die ausgedehnte Filmanalyse einem eigens zu errichtenden Fach, der „Filmkunde“, zu.

Eine ganz ähnliche Diskussion ist hinsichtlich des Mediums Internet zu beobachten. So trennt die Studie zu „Schulen ans Netz“, einer 1996 gestarteten Initiative der Telekom und des Bundesbildungsministeriums, die dort unter 3.1.3.1. aufgeführte „Netzarbeit im Unterricht“[25] in Netze als Gegenstand (wörtlich „inhaltlich-curricular“) und Netze als Medium (wörtlich „methodisch“). Zu ersterem zählt sie die „Vermittlung von notwendigen Kenntnissen und Fertigkeiten im Umgang mit vernetzten Computern, Datenbanken, elektronischer Kommunikation (E-Mail, Diskussionsforen), weltweiten Multimediaanwendungen“[26], zu letzterem etwa die Nutzung des Internets für Recherchen. Während sie das eine dem Informatikunterricht zuordnet, verweist sie das andere in die jeweiligen Fächer.

Dieser Position tritt für das Fach Deutsch z. B. Kübler entgegen, indem er für den Deutschunterricht einen „Integrationsauftrag“[27] postuliert. Demnach soll der Deutschunterricht sich das Internet nicht nur nutzbar machen, sondern er hat auch die Aufgabe, das Medium zum Unterrichtsgegenstand selbst zu machen, es zu reflektieren. Das gleiche fordert die Bildungskommission Nordrhein-Westfalen in ihrer Denkschrift „Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft“ von 1995[28], wenn sie schreibt: „Schulische Medienpädagogik soll zu einer konstruktiven und zugleich kritischen Nutzung führen. Deshalb soll die Trennung zwischen der informations- und kommunikationstechnologischen Bildung – zur Nutzung der Medien als Instrument – und der Medienerziehung – als Befähigung zum kritischen Umgang mit Medieninformation und Medienbotschaft – stufenweise aufgehoben werden zugunsten einer integrierten Medienpädagogik.“[29]

In den Anwendungsbeispielen in Kapitel 3 soll versucht werden, sowohl der Medienanwendung als auch der Medienreflexion ein wenig gerecht zu werden.

1.2. Ein kurzer Rückblick auf die Entstehung des Internets

Das Wort „Internet“ ist eine Abkürzung für den englischen Begriff „International Network“. Wenn man vom „Internet“ spricht, meint man also einen weltweiten Verbund von Computern, der die einzelnen Computer und deren Programme befähigt, miteinander zu kommunizieren.

„Wir tippten also das L ein und fragten am Telefon: ,Seht ihr das L?‘ – ,Wir sehen es‘, war die Antwort. Wir tippten das O ein und fragten: ,Seht ihr das O?‘ – ,Ja, wir sehen das O!‘ Wir tippten das G ein ... und die Maschine stürzte ab.“ – So beschreibt Leonard Kleinrock den ersten Versuch, zwischen zwei Computern eine Datenübertragung durchzuführen.[30] Das geschah 1969, in dem Jahr, in dem die Internet-Technologie vom US-Verteidigungsministerium entwickelt wurde. Mehrere vom US-Verteidigungsministerium genutzte Computer wurden bald darauf durch das „Arpanet“ (Advanced Research Projects Agency Network) verbunden. Hauptverantwortlicher für diesen Zusammenschluß der Computer war Vinton Cerf, der sich dafür einsetzte, das Internet weiter auszubauen.

Noch 1969 wurde die Universität Utah mit den Universitäten in Santa Barbara und Los Angeles vernetzt. Im Jahr 1970 wurden dann fünf weitere Forschungszentren mit diesen Universitäten verbunden. 320 Computer waren im Jahr 1983 miteinander verbunden, 20.000 im Jahr 1987 und 1990 ca. 200.000. 1984 wurde das vorhandene Netzwerk und dessen Technik an private und öffentliche wissenschaftliche Agenturen weitergegeben, um die Entwicklung voranzutreiben. In den 80er Jahren wurde das sog. „NFS-Net“ (National Science Foundation Network) eingerichtet.

1989 war das Jahr, im dem das „WWW“ (World Wide Web) vom europäischen Kernforschungszentrum „Cern“ entwickelt wurde. Dadurch wurde es möglich, Hypermedia-Präsentationen zu schaffen und darauf zurückzugreifen. Die Möglichkeit, Verknüpfungen zu Texten anderer Computer zu erstellen, schuf bereits das Potential eines umfassenden Informationsangebots. Hinweise auf weitere Dokumente oder Bilder ließen sich bereits zu diesem Zeitpunkt durch die „Hypertext Markup Language“ (HTML) in einen Text einbauen. Mit Hilfe eines sog. „WWW-Browsers“ konnten nun Bilder, Texte und Töne oder andere Arten von Informationen in Gestalt einer Seite zusammengeführt werden und vom WWW-Computerserver jederzeit abgerufen und dargestellt werden.

Ein weiteres markantes Jahr in der schnell fortschreitenden Entwicklung des Internets ist das Jahr 1993, denn seit dieser Zeit nahm das Internet vermehrt auch Einzug in private Haushalte; die Benutzung war durch das WWW enorm vereinfacht worden.

2. Das Internet zwischen Fortschrittseuphorie und Kulturkritik

Das Thema „Lernen im Internet“ wird flankiert von der Technik ganz und gar frönenden Positionen auf der einen und von Positionen, die der Technik skeptisch gegenüber stehen, auf der anderen Seite.

Vertreter der ersten Position ist z. B. Bill Gates, der in seinem Buch „Der Weg nach vorn. Die Zukunft der Informationsgesellschaft“ bekundet, daß er sich „in der Anfangsphase einer Kommunikationsrevolution“[31] zu befinden glaubt. Seine Hybris steigert sich zu den Worten: „Ihr Arbeitsplatz und Ihre Vorstellung von ,Bildung‘ werden sich so verändern, daß sie nicht mehr wiederzuerkennen sind. ... Alles wird praktisch anders ablaufen.“[32] Die jetzige Gestalt des Internets vermittele nur „eine schwache Ahnung dessen, was da noch kommen wird“, „es wird wunderbare Anwendungen der verschiedensten Art im Internet geben“.[33] Während Gates zunächst noch von der „Mission der Firma Microsoft spricht“, d. h. suggeriert, der Menschheit dienen zu wollen, spricht er später bereits von der „Notwendigkeit, Trends zu setzen“.[34] Bei seiner Schilderung der besseren Zukunft bekundet Gates unbewußt, was Kritiker von „Schulen ans Netz“ einwenden, und er sagt: „Benutzer, die im Büro oder in der Schule über Anschlüsse mit relativ großer Bandbreite verfügen, hätten sie auch gerne zu Hause. Diese Nachfrage ermutigt Telefon- und Kabelgesellschaften, in private Mittelbandzugänge zum Internet zu investieren.“[35] Ferner sagt er: „Alle Investitionen werden reichlich Früchte tragen“[36], und konstatiert, daß „einige Firmen ... sich bereits davon überzeugen [konnten], daß ihre Investitionen ins Bildungssystem nicht wirkungslos geblieben sind, selbst bei Schülern, die unter schwierigsten Bedingungen heranwachsen“[37] ; der kritische Leser möchte ergänzen: „... selbst bei Schülern, die zu Anfang gar keine Markenbindung zeigen wollten.“ Gates profiliert sich hier also weniger als Bildungspolitiker, sondern vielmehr als jemand, der Nachfrage- und Konjunkturpolitik betreibt. Zwar gilt sicher, daß es „sinnvoll und zukunftsträchtig [ist], Computer und das Internet für Schulen nutzbar zu machen“[38], aber Bill Gates sagt selbst: „Wenn Sie sich mit den Argumenten auseinandersetzen, die ich in diesem Kapitel [„Bildung – die beste Investition“; Anm. v. uns] vorbringe, dürfen Sie meinen Blickwinkel nicht aus den Augen verlieren.“[39] Bill Gates meint es anders, aber der kritische Leser wird Gates „Blickwinkel“, seine handfesten wirtschaftlichen Interessen, bei der weiteren Lektüre berücksichtigen. So wird er sich Gates Forderung, die Bildungsausgaben um drei Prozent zu erhöhen, damit Schulen mit der technischen Entwicklung Schritt halten könnten, und seiner Abwertung von Wandtafel und Overheadprojektor[40] nicht ohne weiteres anschließen. Jovial versichert Gates den Lehrern, die fürchten, durch seine Computer überflüssig zu werden: „Das wird nicht geschehen“[41], glaubt aber, daß „der schrankenlose Zugang zum Breitbandnetz ... jedes Kind dazu ermuntern [wird], das Beste aus seinen Talenten zu machen“[42]. Er versichert, daß „viele Lehrer mehr Zufriedenheit in ihrem Beruf finden werden“[43].

Die entgegengesetzte Position ist die der Kultur- und Zivilisationskritiker, die bis heute mit Faust sagen: „Stünd’ ich, Natur, vor dir allein, / Da wär’s der Mühe wert, ein Mensch zu sein.“[44] Der Mensch ist demnach durch die Kultur korrumpiert, das Übel ist also in ihr zu suchen, v. a. in den neuen Medien, nicht aber im Menschen selbst.[45] Postman etwa hält in seinem Buch „Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie“ Huxleys „Schöne neue Welt“ in den neuen Medien für realisiert.[46] Während nach Postman der Buchdruck einen „ernsthaften, rationalen öffentlichen Austausch hervorbrachte“[47], drohen wir angesichts der neuen Medien, die seiner Auffassung nach mit Telegraphie und Fotographie ihren verhängnisvollen Anfang nahmen[48], „von Minute zu Minute dümmer [zu] werden“[49].

Angesichts der anhand von Gates vorgestellten Gefahr einer unkritischen Medienbegeisterung einerseits und der Gefahr der recht pauschalen Technikverneinung, wie sie sich bei Postman zeigt, andererseits erscheint es sinnvoll, einen Rahmen für den Interneteinsatz zu finden, der die Chancen, aber auch die Grenzen dieses Mediums sichtbar werden läßt. Es wird hierzu im folgenden der konstruktivistische Ansatz näher betrachtet.[50]

Um eine der Kernaussagen des Konstruktivismus vorzustellen, aus dessen Sichtweise sich der Interneteinsatz im Unterricht, wie gezeigt werden soll, dazu eignet, Lernprozesse, auch solche im Deutschunterricht, günstig zu beeinflussen, zunächst folgende Anekdote; sie wird von Piaget, einem der Wegbereiter des Konstruktivismus[51], berichtet:[52]

[...]


[1] „Deutschland geht online“, Digits 5, 1/2000, S. 16-19.

[2] Ebd., S. 16.

[3] Vgl. Sabine Feierabend, Walter Klinger, „Jugendliche Medienwelten. Basisdaten aus der Untersuchung JIM 98 – Jugend, Information, (Multi)-Media“, S. 141, Abb. 2, u. S. 155, in: Horst Dichanz (Hrsg.), Handbuch Medien: Medienforschung. Konzepte, Themen, Ergebnisse (Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1998), S. 140-170.

[4] Vgl. Susanne Barth, „Medien im Schulalltag“, S. 11, Praxis Deutsch 26/153, 1999, S. 11-19.

[5] Vgl. Jürgen Baurmann, Rüdiger Weingarten, „Internet und Deutschunterricht“, S.17, Praxis Deutsch 26/158, 1999, S. 17-26.

[6] Z. B. von Malte Dahrendorf, „Entwicklungstendenzen der Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland Ende der 90er Jahre“, S. 187, in: Michael Kämper (Hrsg.), Das Literatursystem der Gegenwart und die Gegenwart der Schule (Baltmannsweiler: Hohengehren, 1997), S. 184-195.

[7] Neil Postman, „Das Internet taugt nicht für die Hausaufgaben“ (Interview von Susanne Gaschke und Jean Uwe Heuser), Die Zeit 43, 18.10.96, S. 46.

[8] Hans-Dieter Kübler, „An der Schwelle zur Informationsgesellschaft: Wie ratlos ist die Didaktik? Und verliert der Deutschunterricht seinen Integrationsanspruch?“, S. 116, in: Bodo Lecke (Hrsg.), Literatur und Medien in Studium und Deutschunterricht (Frankfurt a. M u. a.: Europäischer Verlag der Wissenschaften, 1999), S. 113-149, weist darauf hin, wie schillernd der Begriff „Medienkompetenz“ ist. Wir verwenden ihn hier wie im folgenden angelehnt an die Bedeutung, die ihm Baacke beimißt, wonach „Medienkompetenz“ Medienkritik, Medienkunde, Mediennutzung und Mediengestaltung ist (vgl. Dieter Baacke, „Im Datennetz. Medienkompetenz (nicht nur) für Kinder und Jugendliche eine Herausforderung“ <http://lbs.bw.schule.de/online-forum> (25.03.02), S. 9; ursprünglich erschienen in: Ins Netz gegangen. Internet und Mutimedia in der außerschulischen Pädagogik, hrsg. von der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur (Bielefeld: 1999).

[9] Vgl. Jutta Wermke, Integrierte Medienerziehung im Fachunterricht. Schwerpunkt: Deutsch (München: KoPäd, 1997) , S. 136 u. 140.

[10] Hans-Dieter Kübler, Mediale Kommunikation (Tübingen: Niemeyer, 2000), S. 2.

[11] Vgl. z. B. Paul Klimsa, „Kognitions- und lernpsychologische Voraussetzungen der Nutzung von Medien“, in: Horst Dichanz (Hrsg.), Handbuch Medien: Medienforschung. Konzepte, Themen, Ergebnisse (Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1998), S. 73-100, Baurmann, Weingarten 1999, S. 18, Matthias Berghoff, „Hypermedia als weitere Chance für den Deutschunterricht? Skizze eines interaktiven Assoziations- und Interpretationsraums im Internet zu Ernst Jandls ,wien: heldenplatz‘“, S. 184, in: Ulrich Schmitz (Hrsg.), Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie. Neue Medien im Deutschunterricht, Bd. 55 (Oldenburg: 1997), S. 172-185, Volkmar Petermann, „,Give it up!‘ (Gibs auf!). Vorschläge für ein Selbstlernmodul zu einer von Peter Kuper illustrierten gleichnamigen Geschichte von Franz Kafka. Sekundarstufe II“, S. 29, Deutschunterricht 5/2001, S. 29-33, Winfried Ulrich, „Multimedia und kommunikative Kompetenz (III)“, S. 466, Deutschunterricht 5/1999, S. 461-469.

[12] Vgl. Gerhard Haas, „Das Hörspiel – die vergessene Gattung?“, S. 13, Praxis Deutsch 18/109, 1991, S. 13-19.

[13] Vgl. Elisabeth K. Paefgen, Einführung in die Literaturdidaktik (Stuttgart: Metzler, 1999), S. 136-147.

[14] Ebd., S. 138.

[15] Vgl. ebd.

[16] Heinz Blumensath, Stephan Lohr, „Verfilmte Literatur – literarischer Film“, S. 10, Praxis Deutsch 10/57, 1983, S. 10-19.

[17] Paefgen 1999, S. 141.

[18] Ebd., S. 142.

[19] Vgl. ebd.

[20] Ebd., S. 144.

[21] Vgl. ebd., S. 145.

[22] Vgl. Wolfgang Gast, Film und Literatur. Analysen, Materialien, Unterrichtsvorschläge. Grundbuch. Einführung in Begriffe und Methoden der Filmanalyse (Frankfurt a. M.: 1993), S. 16-44.

[23] Vgl. Wolfgang Gast, „Filmanalyse“, S. 20, Praxis Deutsch 23/140, 1996, S. 14-25.

[24] Vgl. Paefgen 1999, S. 146 f.

[25] Studie zitiert nach Reinhold Hedtke (Hrsg.), Vom Buch zum Internet und zurück. Medien- und Informationskompetenz im Unterricht (Darmstadt: Winklers, 1997), S. 142-149.

[26] Ebd., S. 142.

[27] Kübler 1999, S. 130.

[28] Denkschrift zitiert nach Hedtke 1997, S. 138-141.

[29] Ebd., S. 140.

[30] Zitiert nach Manfred Faßler, „Mediale Zukünfte. Auf der Schwelle zu einer neuen Epoche“ <http://lbs.bw.schule.de/online-forum> (25.03.02), S. 3; ursprünglich erschienen in: Medien praktisch 24/93, 2000.

[31] Bill Gates, Der Weg nach vorn. Die Zukunft der Informationsgesellschaft (München: Wilhelm Heyne, 52000), S. 15.

[32] Ebd., S. 28.

[33] Ebd., S. 33 u. 149.

[34] Ebd., S. 25 u. 68.

[35] Ebd., S. 185.

[36] Ebd., S. 327.

[37] Ebd., S. 323.

[38] Ebd., S. 290.

[39] Ebd.

[40] Vgl. ebd., S. 291 f.

[41] Ebd., S. 299.

[42] Ebd., S. 307.

[43] Ebd., S. 321.

[44] Zitiert nach Mathias Bertram (Hrsg.), Digitale Bibliothek, Bd. 1, Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka. Studienbibliothek (upgrade) (Berlin: 2000), S. 50404.

[45] Letzteres entspricht dem biblischen Menschenbild (vgl. z. B. Mt 15, 16-20), schon deshalb erscheint uns die gegenteilige kulturkritische Position suspekt.

[46] Vgl. Neil Postman, Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie (Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch, 142002), S. 7, 102, 189-198.

[47] Ebd., S. 59.

[48] Vgl. ebd., S. 98.

[49] Ebd., S. 36.

[50] Wir werden uns dazu der psychologischen Primärliteratur direkt und recht ausführlich zuwenden, denn die Aussagen der Konstruktivisten scheinen von Medienapologetikern gern instrumentalisiert zu werden. So beruft sich auch Gates auf Befunde der Psychologie (vgl. Gates 2000, S. 302). Hier sollen nur die didaktischen Impulse für das Selbstlernen aufgegriffen werden. Den Konstruktivismus, der auch die Innenwelt, die Seele, als Konstrukt beschreibt, lehnen wir entschieden ab, ebenso den Erkenntnisrelativismus, wie er aus dem Konstruktivismus abgeleitet wird, etwa bei Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln menschlichen Erkennens (Bern u. a.: 1987), S. 263. Dort wird jegliche Gewißheit unter Verdacht gestellt. Der Christ hat es aber mit Offenbarung und Gewißheiten zu tun. Gerade der Absolutheitsanspruch, daß es nur einen einzigen Heilsweg, den Glauben an den stellvertretenden Kreuzestod Jesu, gibt, läßt ihn den anderen ernst nehmen, und dessen Seele ist ihm der Mission wert. Toleranz zeigt sich allerdings im friedlichen Umgang miteinander.

[51] Gemeint ist ein psychologischer, nicht ein (sprach)philosophischer Konstruktivismusbegriff. In der O-Ton-Sequenz unter „ Child Psychologist Jean Piaget . He found the secrets of human learning and knowledge hidden behind the cute and seemingly illogical notions of children<http://www.time.com/time/time100/scientist/profile/piaget.html> (25.03.02) bezeichnet sich Piaget selbst als Konstruktivist: „Je suis constructiviste …“

[52] Martin Stingelin, „Begreifen heißt erfinden. Ethnologie der Kindheit: Vor hundert Jahren wurde der Psychologe Jean Piaget geboren“, FAZ 184, 09.08.96, S. 29.

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Lernen im Internet
Hochschule
Bergische Universität Wuppertal
Note
1,0
Autor
Jahr
2002
Seiten
40
Katalognummer
V18856
ISBN (eBook)
9783638231145
ISBN (Buch)
9783638645911
Dateigröße
653 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
Lernen, Internet
Arbeit zitieren
Marcel Haldenwang (Autor:in), 2002, Lernen im Internet, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18856

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