Frühe Kindheit, Medien und Bildung

Über den Einfluss des Kinderfernsehens auf frühkindliche Bildungsprozesse


Magisterarbeit, 2010

102 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltverzeichnis

1 Einleitung

2 Frühe Kindheit und Bildung
2.1 Vorüberlegungen zum Begriff der Bildung
2.2 Frühkindliche Bildung
2.2.1 Frühkindliche Bildung als selbständiger Weltaneignungsprozess
2.2.2 Frühkindliche Bildung als Prozess in Abhängigkeit kultureller und sozialer Gegebenheiten
2.2.3 Frühkindliche Bildung als ästhetische Bildung
2.2.4 Historische Denklinie I: Jean Jacques Rousseau
2.2.5 Historische Denklinie II: Maria Montessori
2.2.6 Frühkindliche Bildungsprozesse im Kontext der klassischen Bildungstheorie
2.3 Zusammenfassung: Versuch einer Bestimmung des Begriffes frühkindlicher Bildung mit allgemeinpädagogischem Anspruch

3 Frühe Kindheit, Medien und Bildung
3.1 Medien und Bildung
3.1.1 Fernsehen als Vermittler und Nachbildner der Welt
3.1.2 Wesenszüge einer zur Industrie gewordenen Kultur und das Fernsehen als Repräsentant derselben
3.1.3 Der Einfluss des Fernsehens auf Prozesse der Urteilsbildung
3.1.4 Kritik der Kritiker – Überlegungen zu einer anderen Sicht auf das Fernsehen
3.2 Fernsehen als Unterstützung frühkindlicher Bildungsprozesse
3.2.1 Fernsehen als Handeln
3.2.2 Die pädagogische Relevanz der phänomenologischen Betrachtung des Fernsehens als Handeln
3.3 Zusammenfassung: Möglichkeiten und Grenzen der medialen Einflussnahme auf frühkindliche Bildungsprozesse

4 Frühe Kindheit und Medien in der Praxis
4.1 Die Geschichte des Kinderfernsehens in Deutschland: Ein (kritischer) Überblick
4.2 „Die Sendung mit dem Elefanten“: Rückbesinnung auf die pädagogische Phase des Kinderfernsehens
4.2.1 Besondere Merkmale der „Sendung mit dem Elefanten
4.2.2 Der „Elternticker“: Ratgeber und Handlungsaufforderung für Eltern
4.3 Das Forschungsprojekt „Frühe Kindheit, Medien und Bildung
4.3.1 Methode und Fragestellung
4.3.2 Auswertung des Leitfadeninterviews
4.3.2.1 Allgemeine Haltung zum medialen Einfluss und Fernsehkonsum von Kindern im Alltag
4.3.2.2 Beurteilung der „Sendung mit dem Elefanten
4.3.2.3 Beurteilung des „Elterntickers
4.3.2.4 Zusammenfassung

5 Fazit: Über den Einfluss des Kinderfernsehens auf frühkindliche Bildungsprozesse

6 Literaturverzeichnis

7 Anhang
7.1 Sequenzprotokoll „Sendung mit dem Elefanten“, Folge 111 mit Elternticker
7.2 Briefing des Forschungsprojekts „Frühe Kindheit, Medien und Bildung
7.3 Transkript des Leitfadeninterviews

8 Eidesstattliche Erklärung

1 Einleitung

Die Kontroverse um den Einfluss des Fernsehens und der „neuen“ Medien auf Kinder ist allgegenwärtig. In regelmäßigen Abständen, häufig in Folge von Gewaltausbrüchen von Kindern und Jugendlichen, welche in der Öffentlichkeit meist unweigerlich mit einem medialen Einfluss in Verbindung gebracht werden, wird heftig über das Für und Wider des Medienkonsums debattiert. Die Diskussion, in welcher alle beteiligten Parteien meist recht monokausal argumentieren, zirkuliert immer um die gleichen Grundfragen: Ist Fernsehen schädlich? Führt es zu einer Überreizung und seelischen Abstumpfung? Macht Fernsehen gewalttätig oder gar dumm?

Die meist ergebnislos geführten Debatten machen deutlich, dass ein breites Bedürfnis nach Antworten besteht, dass Ängste gegenüber dem Medium mit seiner inzwischen nahezu unüberschaubaren Programmvielfalt herrschen. Ängste, die auch daher rühren, dass der Medienkonsum in immer jüngeren Jahren beginnt. Schon Klein- und Kleinstkinder schauen täglich im Durchschnitt 71 Minuten fern. Hierbei scheinen die möglichen Auswirkungen des Fernsehens eine besonders große Rolle zu spielen, versuchen doch zahlreiche wissenschaftliche Studien zu belegen, dass gerade in jenen jüngsten Jahren der Kindheit auf Einflüsse der Umgebung besonders stark reagiert wird.

Des Weiteren zeigen sich in jüngster Zeit vermehrt Forderungen von Politik und Gesellschaft, immer früher mit gezielten Bildungsmaßnahmen auf die Kinder einzuwirken. Vielleicht auch mit initiiert durch den „Pisa-Schock“, macht das geflügelte Wort „Frühförderung“ die Runde in Familien, Kindergärten und Vorschulen und nicht zuletzt auch in den Medien. Gerade in Bezug auf die Medien stellt sich die Frage, ob und wie es möglich sei, auf möglichst förderliche Weise auf die kindliche Entwicklung Einfluss zu nehmen. Die lieben Kleinen sollen auch beim Fernsehen etwas „lernen“. Dieser Ansatz trägt mindestens zur Imagepflege der Fernsehmacher bei, kann aber auch durchaus ernst gemeinte Ziele verfolgen. Aber ist frühkindliche Bildung tatsächlich gleichzusetzen mit Lernen? Kann man davon ausgehen, dass durch den gezielten Einsatz des Fernsehens Kindern Wissen und Bildung vermittelt werden kann? Oder handelt es sich bei frühkindlicher Bildung nicht vielleicht um mehr als nur um reines „Kompetenztraining“?

Die vorliegende Arbeit versucht einige Antworten auf die genannten Fragen zu finden. Hierbei wird ein dezidiert allgemeinpädagogischer Anspruch verfolgt. Das Feld der Psychologie und Erkenntnisse der (Medien-) Wirkungsforschung werden, so weit möglich, gemieden. Vielmehr soll die Frage nach dem Einfluss des (Kinder-) Fernsehens auf frühkindliche Bildungsprozesse auf einer breiten, allgemeinen Basis verschiedener Theorien und Beispielen aus der Praxis erörtert werden.

Am Beginn der Überlegungen soll zunächst der Versuch stehen, den äußerst komplexen Begriff der Bildung in ihrem Zusammenhang mit früher Kindheit etwas näher einzugrenzen. Ziel dieser ersten Ein- und Abgrenzungen ist es, sich einer Bestimmung des Begriffs frühkindlicher Bildung zu nähern. Auf Grundlage einer langen historischen Denklinie soll gezeigt werden, dass frühkindliche Bildungsprozesse äußerst komplexe Strukturen aufweisen, dass sie mehr sind als ein reiner Wissenserwerb oder simpler Lernprozess. Es soll aufgezeigt werden, dass frühkindliche Bildung in erster Linie als Welt- und Selbsterfahrung durch Selbsttätigkeit verstanden werden kann und dass diese wiederum in starker Abhängigkeit zu gegenständlichen, wie auch sozialen Aspekten steht. Neben der exemplarischen Betrachtung einiger historischer Positionen und Äußerungen zum Bereich frühkindlicher Bildung und deren Zusammenhang mit Erziehung, soll auch die Idee von Selbsttätigkeit und Freiheit hinsichtlich ihrer grundlegenden Bedeutung für Bildung betrachtet werden. Dies soll anhand der klassischen Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts geschehen.

Nachdem in diesem ersten Schritt der Versuch unternommen wurde, eine Annäherung an den Begriff frühkindlicher Bildung mit allgemeinpädagogischem Anspruch zu erreichen, soll im weiteren Verlauf der Überlegungen dann das Medium Fernsehen hinsichtlich seiner möglichen Einflussnahme auf jene Bildungsprozesse untersucht werden. Auch hier sollen keine der gängigen Erklärungsmuster der Wirkungsforschung herangezogen werden, sondern es sollen exemplarisch einige theoretische Positionen diskutiert werden, um die möglichen negativen wie positiven Auswirkungen des Fernsehens aufzuzeigen. So wird zunächst das Medium als solches, als ein Vermittler von Abbildern der Wirklichkeit, untersucht werden, wobei Platon – gewissermaßen als erster Medienkritiker der Geschichte – mit seiner Dichterkritik den Beginn der kritischen Betrachtungen bildet. Weiterhin sollen anhand der populären medien- und kulturkritischen Überlegungen Adornos und Neil Postmans mögliche negative Einflüsse des Fernsehens diskutiert werden. Unter Einbeziehung einiger Positionen aus Medienpädagogik und Medientheorie werden jedoch auch denkbare positive Aspekte des Fernsehens Beachtung finden. Die zentrale Frage lautet hierbei, welche für die kindliche Lebenswelt relevanten Themen das Medium anspricht und welche Möglichkeiten es hier bieten kann.

Den Abschluss der theoretischen Überlegungen bildet schließlich eine phänomenologische Betrachtung des Fernsehens als leibliches Handeln. Hierdurch soll die Schwierigkeit, eine allgemeingültige Antwort auf die Frage nach dem Einfluss des Fernsehens auf frühkindliche Bildungsprozesse zu geben, aufgezeigt werden. Denn betrachtet man die Nutzung des Fernsehens als leibliches Handeln des Individuums, so wird ersichtlich, dass es sich hierbei um einen hochgradig subjektiven Vorgang handelt, dessen mögliche Konsequenzen nicht ohne Weiteres bestimmbar sind.

Das letzte Drittel der vorliegenden Arbeit schließlich soll sich der Praxis widmen und anhand eines Beispiels aus dem (kindlichen) Fernsehalltag aufzeigen, welche Bemühungen es seitens der Fernsehmacher gibt, kindgerechte Sendungen, welche den Anspruch verfolgen positiv auf frühkindliche Bildungsprozesse einzuwirken, zu produzieren. Neben einem kurzen Überblick über die Geschichte des deutschen Kinderfernsehens, soll exemplarisch die für 3 bis 6 jährige Kinder konzipierte „Sendung mit dem Elefanten“ näher betrachtet werden. Diese Sendung bildet auch den Fokus für das 2009 am Institut I der Humanwissenschaftlichen Fakultät an der Universität zu Köln initiierte Forschungsprojekt zum Thema „Frühe Kindheit, Medien und Bildung“, in dessen Verlauf im August 2009 ein Leitfadeninterview mit einer Gruppe von Eltern geführt wurde. Die Auswertung und Ergebnisse dieses qualitativen Forschungsversuches bilden den Abschluss des praktischen Teils dieser Arbeit, bevor am Ende nochmals die Frage nach dem Einfluss des Kinderfernsehens auf frühkindliche Bildungsprozesse – nun eventuell mit einem etwas erweiterten Horizont – aufgeworfen wird.

2 Frühe Kindheit und Bildung

2.1 Vorüberlegungen zum Begriff der Bildung

Kaum ein Begriff wird heutzutage so häufig verwendet und ist gleichzeitig so schwer zu erfassen wie der Begriff der Bildung. Das Wort „Bildung“ ist quasi in aller Munde, bestimmt zahlreiche Diskurse. Doch obwohl gerade im öffentlichen Diskurs, meist ausgehend von (Bildungs-) Politikern, so einmütig von Bildung (und ihrer Notwendigkeit) gesprochen wird, scheint es keinen gemeinsamen Konsens zu geben, was unter dem Bildungsbegriff verstanden werden soll. So vielfältig er gebraucht wird, so vielfältig sind auch die (Be-) Deutungen, die Politik, Wissenschaft, Medien, Öffentlichkeit, ja jedes einzelne Individuum ihm zukommen lassen. Wie aber kann über Bildung gesprochen werden, wenn keine gemeinsame Vorverständigung über den Gegenstand der Diskussion besteht?

Aus diesem Grund erscheint es angemessen, zunächst den Begriff von und das Verständnis über Bildung, welche die Basis der vorliegenden Überlegungen bilden, etwas näher einzugrenzen. Die hierbei vorgenommenen Ein- und Abgrenzungen stellen freilich nur einen Ausschnitt des Bedeutungshorizontes dar. Auf diese Weise kann jedoch ein gemeinsames Vorverständnis geschaffen werden, welches gewissermaßen als Raster für die vorliegende Arbeit betrachtet werden kann.

Einen Ansatz zur Beantwortung der Frage nach dem Begriff der Bildung bietet Schäfer, der durch einige Abgrenzungen den Versuch unternimmt, jenen Begriff – und hier vor allem in Bezug auf frühe Kindheit – näher zu definieren. So schreibt Schäfer zunächst, dass Bildung nicht von bestimmten Inhalten, die angeblich bilden sollen, abhänge, dass sie keinesfalls ein anderer Begriff für Kompetenzvermittlung sei, keinen spezifischen Förderbedarf bezeichne und auch nicht vermittelt werden könne (Vgl. Schäfer 2004, S. 30). Der Bildungsbegriff weise vielmehr darauf hin, dass man sich schlussendlich nur selbst bilden könne, Bildungsprozesse in einem Zusammenhang mit sozialen Verständigungsprozessen stünden und dass Lernen – vor allem in der frühen Kindheit – stets einen persönlichen Sinn ergeben müsse (Vgl. ebd.). Des Weiteren merkt er an, „dass in Bildungsprozessen Handeln, Empfinden, Fühlen, Denken, Werte, sozialer Austausch, subjektiver und objektiver Sinn miteinander in Einklang gebracht werden müssen“ (Ebd.) und dass durch Bildungsprozesse Selbst- und Weltbilder zu einem mehr oder weniger spannungsvollen Gesamtbild verknüpft würden (Vgl. ebd.).

Schäfers Abgrenzungen machen deutlich, dass ein grundlegendes Verständnis von Bildung nur dann erreicht werden kann, wenn diese aus zahlreichen verschiedenen Blickwinkeln betrachtet wird. Dieses hermeneutische Vorgehen kann dann in Folge zu einem erweiterten Verständnis des Begriffes beitragen. Außerdem zeigt Schäfer, vor allem durch seine Aussagen darüber, was Bildung nicht sei, dass das in Öffentlichkeit und Politik diskutierte und favorisierte Bildungsverständnis zu kurz greift. Denn, wie oben bereits ausgeführt, Bildung ist gerade nicht, wie häufig proklamiert, reine Kompetenzvermittlung, „in der Bildung geht es um keine Waren und Bildungsprozesse funktionieren nicht nach dem Modell des Warentransports“ (Ebd., S. 16). Aus der von Schäfer vertretenen Sicht „meint Bildungsprozess weder Informationsweitergabe noch Instruktion“ (Ebd., S. 21):

Ein Bildungsprozess kommt erst dann zustande, wenn jemand auch Kontexte hat, mit denen er sich wenigstens ansatzweise das Problem sinnvoll erschließen kann, welches zu erfassen wäre. Von Bildung und von Beteiligung des Kindes an seinem Bildungsprozess kann man erst dann sprechen, wenn nicht nur auf das geblickt wird, was zu lernen ist, sondern genauso auf den Lebens-, Erfahrungs-, Könnens- und Wissenskontext, den ein Kind mitbringt, um sich Inhalte zu erschließen (Ebd.).

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Bildung, auch in Bezug auf die frühe Kindheit, als äußerst komplexes Feld wahrgenommen werden muss. Vor allem ist zu berücksichtigen, „dass Kinder keine Gefäße sind, in die man etwas hineinfüllen kann“ (Ebd., S. 16) und dass Lern- und Bildungsprozesse im Kindesalter sehr viel mit subjektiven Erfahrungshorizonten der Kinder zu tun haben (Vgl. ebd., S 20) und somit stark individuell geprägt sind.

Diese erste Vorverständigung über den Begriff der Bildung soll als Basis für die weiteren Überlegungen dienen. Im Verlauf der vorliegenden Arbeit wird der Bildungsbegriff aufbauend auf diesen Vorüberlegungen in seinem Zusammenhang mit dem Lebensabschnitt der frühen Kindheit noch näher ausdifferenziert werden.

2.2 Frühkindliche Bildung

Wie bereits erwähnt, ist das Feld kindlicher Bildung von großer Komplexität, sie zeigt sich „als ein vielperspektivisches Zusammenspiel von Ereignissen der individuellen, inneren Welt sowie Prozessen der sozial geprägten und objektivierbar gemachten äußeren Welt“ (Schäfer 1995, S. 10). Dieser Komplexität kann im Rahmen meiner Arbeit selbstverständlich nicht Rechnung getragen werden. Vielmehr soll eine Auswahl der zentralen Thesen Schäfers die Grundlage bilden, auf welcher sich die Fragestellung der vorliegenden Arbeit entfalten kann.[1]

Schäfer beschreibt im Zuge seines Versuches, eine Antwort auf die Frage nach frühkindlicher Bildung zu geben, ein Bild vom Kind, dessen historischen Ursprung er in den Betrachtungen Rousseaus verortet. Die weitere historische Denklinie führt über Pestalozzi und Fröbel zu Maria Montessori, die das sich entwickelnde moderne Bild vom Kind schließlich erstmals konsequent ausgearbeitet hat, so Schäfer (Vgl. Schäfer 2004, S. 32). Diese Denklinie soll an späterer Stelle am Beispiel der pädagogischen Ideen Rousseaus und Montessoris in den weiteren Verlauf der Überlegungen mit einfließen.

2.2.1 Frühkindliche Bildung als selbständiger Weltaneignungsprozess

Ein zentraler Aspekt frühkindlicher Bildung ist die Selbsttätigkeit des Kindes, welche bereits spätestens mit der Geburt einsetzt. Das Kind kann von Anfang an als ein aktives, sich im Rahmen seiner Lebensbedingungen selbst entwickelndes Individuum betrachtet werden, welches „ein auswählendes und damit seine Welt- und Selbsterfahrung (be-) deutendes und gestaltendes Individuum“ (Ebd., S. 31) ist. Natürlich mit der Einschränkung, dass „diese (Be-) Deutungen nicht im Sinne eines begründeten Denkprozesses verstanden werden können“ (Ebd.). Allerdings bilden die verschiedenen Formen des Welt- und Selbstverständnisses, welche sich durch die Eigentätigkeit des Kindes entwickeln, die Grundlage des kindlichen Bildungsprozesses, so Schäfer (Vgl. ebd.). Dieser Prozess der Weltaneignung spiegelt die Notwendigkeit für das Kind wider, verlässliche, wiedererkennbare Muster in der Welt zu entdecken auf die es aufbauen kann – also in einem gewissen Sinne Ordnung zu schaffen, um sich so Schritt für Schritt neue Erfahrungsbereiche zu erschließen. Ein Prozess, der im Verlauf des Lebens einmalig ist, wie Schäfer schreibt:

Es sollte uns daher nicht verwundern, wenn kleine Kinder viel mehr mit Situationen zu tun haben, die unerschlossen, nicht vorgedacht sind, die es zu entdecken und zu erschließen gilt, als das im späteren Leben je wieder der Fall sein wird (Ebd.).

Frühkindliche Bildung vollzieht sich also zunächst und vor allem in einer Selbsttätigkeit des Individuums und aus der Notwendigkeit heraus, sich in einer neuen, unbekannten Umwelt zurechtzufinden, deren Regeln und Muster es zu entdecken gilt. Schäfer spricht in Bezug auf diese selbsttätige Weltaneignung auch von Symbolbildungsprozessen, welche durch die Integration subjektiver, innerer Dimensionen des Erlebens- und Erfahrungsprozesses mit den äußeren, vom Subjekt unabhängigen Ordnungen der Mit- und Umwelt entstehen (Vgl. Schäfer 1995, S. 98). Phantasieren, Spielen und Gestalten sind die unmittelbarsten Äußerungen dieser Symbolbildungsprozesse. Diese Tätigkeiten stellen Facetten eines Prozesses dar, in welchem die innere und die äußere Welt gewissermaßen verschmolzen werden und so ein für das Kind stimmiges Gesamtbild entstehen kann.[2] Eine wichtige Rolle in diesem Selbstbildungs- und Symbolbildungsprozess spielen hierbei die Möglichkeiten, welche dem Kind von außen geboten werden, die es verwendet „wie ein Bastler die Materialien in seinem Sinn verwandelt, die ihm zur Hand sind“ (Schäfer 2004, S. 31).

Hier wird ein weiterer Aspekt frühkindlicher Bildung sichtbar: Kindliche Bildungsprozesse verlaufen nicht völlig unabhängig und isoliert von der Außenwelt ab, wenngleich sie auch aus eigenem Antrieb des Kindes entstehen. Vielmehr ist frühkindliche Bildung stets in einer Abhängigkeit von äußeren, sozialen und kulturellen Gegebenheiten zu betrachten.

2.2.2 Frühkindliche Bildung als Prozess in Abhängigkeit kultureller und sozialer Gegebenheiten

Das Sammeln von Erfahrungen als elementarer Aspekt frühkindlicher Bildung kann als Verständigungsprozess zwischen Kind und (Um-) Welt verstanden werden. Hierbei findet ein ständiger Austausch und Abgleich bereits bekannter Erfahrungen mit neuen Erfahrungen statt. Diese Verständigung wiederum muss stets im Kontext des kulturellen und sozialen Umfelds des Kindes betrachtet werden, da durch dieses Umfeld und die in ihm stattfindenden Prozesse die Wahrnehmung von Welt, das Erlernen von Gesetzmäßigkeiten, das Erfahren von in diesem Umfeld gültigen Wertvorstellungen und damit die Möglichkeiten der Selbstbildung mitbestimmt werden. Bildungsprozesse müssen somit auch als Teil von sozialen Prozessen verstanden werden, so Schäfer (Vgl. ebd., S. 41). Diese sozialen Prozesse wirken bestätigend oder modifizierend auf frühkindliche Selbstbildung ein:

Die sozialen Prozesse bieten einerseits die Muster an, von welchen Selbstbildung ausgehen kann. Andererseits reagieren sie selbständig auf diese, unterstützen sie oder veranlassen sie zu subjektiven Veränderungen und Variationen (Ebd., S. 42).

Den Ereignissen, anhand derer das Kind sich selbst bildet, wird also Bedeutung gegeben, welche stets im Prozess des sozialen Austauschs und im Kontext kultureller Gegebenheiten erfahren wird. „Deshalb ist Selbstbildung immer nur als Selbstbildung innerhalb sozialer Bezüge denkbar“ (Ebd., S. 63). Die Erfahrungen, welche das Kind macht, finden also stets in seinen individuellen und gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen statt.

Durch soziales Umfeld und Kultur werden gewissermaßen die Rahmenbedingungen gestellt, innerhalb derer das Kind durch eigene Aktivität und in Beziehung zu anderen Menschen, die quasi als Partner auf seine Welt- und Selbsterfahrungen reagieren, seine sachliche Umwelt und soziale Mitwelt erforschen kann.

Dieses Forschen des Kindes findet zunächst und vor allem auf der Basis sinnlicher Erfahrungen statt. Aus diesem Grund ist ein weiterer Gesichtspunkt die Betrachtung frühkindlicher Bildung als ästhetische Bildung.

2.2.3 Frühkindliche Bildung als ästhetische Bildung

Bildungsprozesse im Kindesalter werden vornehmlich durch sinnliche Erfahrungen, also Wahrnehmungen, geprägt. Durch diese sinnlich geprägten Prozesse entstehen Muster, „die wie selbstverständlich in unsere Wahrnehmung eingebaut sind oder im Laufe der Sozialisation eingebaut werden“ (Ebd., S. 65). Schäfer nennt hier als Beispiele Figur-Grundverhältnisse oder auch Größenkonstanten etc. (Vgl. ebd.). Diese Feinanpassungen an die jeweilige Lebensumwelt durch die Bildung von Mustern finden ebenfalls aufgrund konkreter Alltagserfahrungen und emotionaler Wahrnehmungen statt, welche als erfahrene Gestalten die nach ihnen kommenden Erfahrungen prägen (Vgl. ebd.). Die ästhetische Bildung im wörtlichen Sinne, also wahrnehmende (sinnliche) Bildung, ist so als weiteres Ordnungsprinzip des kindlichen Geistes zu verstehen:

Ästhetische Bildung meint also die Ordnung der sinnlichen Erfahrung durch biologische, kulturelle und lebensgeschichtlich erworbene, vielfach bildhafte Ordnungen, die nicht unbedingt Schönheits- oder Harmonievorstellungen folgen müssen (Ebd.).

Diese ästhetischen Erfahrungen haben jedoch nicht lediglich eine ordnende Funktion, sie tragen auch dazu bei, Sinn und Bedeutung in das Erleben der Kinder zu tragen, da Sinne und Emotionen – wobei letztere „die Kinder in die Lage versetzen, die Bedeutung einzuschätzen, die Verhaltens- und Vorgehensweisen, Sozial- und Sachbezüge für sie haben“ (Ebd., S. 64) – also in einem direkten Verhältnis zueinander stehend gesehen werden können.

Schäfer betrachtet die ästhetische Bildung als zentralen Teil kindlicher Bildung, „da Kinder in ihren ersten Lebensjahren mehr als später jemals wieder aus dem lernen, was sie über ihre Sinne erfahren“ (Ebd., S. 117). Hierbei fasst er unter dem Begriff der ästhetischen Bildung „im Wesentlichen zwei Aspekte zusammen, den des Denkens in Bildern, sowie Prozesse, durch welche solche Bilder gestaltet und ausgestaltet werden“ (Ebd.). Da das Denken in Bildern und die Bildung von Begriffen aus dem Wahrgenommenen zu den grundlegendsten Fähigkeiten des Menschen zählen, bezeichnet Schäfer die ästhetische Bildung, im Sinne eines Erlernens des Denkens in Bildern auch als die elementarste Form der frühkindlichen Bildung (Vgl. ebd., S. 119). Hierbei entstehen neben einem allgemeinen Informationswert des Wahrgenommenen stets auch subjektiv-situative Bezüge. Ästhetisches Denken und die ästhetische Bildung sind entsprechend als hochgradig subjektive Prozesse zu betrachten[3].

Der zweite von Schäfer genannte Aspekt, die Ausgestaltung der ästhetischen Erfahrungen, bildet in einem weiteren Schritt quasi eine Form der Ver- und Bearbeitung von sinnlich gewonnenen Erfahrungen. Wie weiter oben bereits angemerkt, kommt hierbei dem Spiel, der Phantasie und dem Gestalten, als kreativen Prozessen, eine wichtige bildende Funktion zu, da dieses Ausgestalten der ästhetischen Wahrnehmungen dem Kind hilft, Eindrücke zu ordnen, zu verarbeiten und sich auf diese Art weiter zu bilden.

Die Sinnlichkeit des Menschen bildet also gewissermaßen eine Grundlage für alle weiteren Bildungsprozesse. Hierbei spielt es dann selbstverständlich auch eine Rolle, welche sinnlichen Wahrnehmungen dem Kind ermöglicht werden. Denn auch hier, bei der Auswahl der Dinge, die dem Kind von außen, beispielsweise vom Erwachsenen, zugänglich gemacht werden, kann und wird in begrenztem Maße Einfluss auf frühkindliche Bildungsprozesse genommen. Diese Einflussnahme des Erziehers auf die möglichen Erfahrungen des Kindes sowie jedoch auch dessen Eigentätigkeit stellte schon Rousseau als Merkmale seiner Erziehungsidee heraus, welche im Folgenden eingehender betrachtet werden soll.

2.2.4 Historische Denklinie I: Jean Jacques Rousseau

Das Bild eines „aktiven, sich aus eigener Initiative und mit eigenen Mitteln bildenden Kindes“ (Schäfer 2004, S. 30) ist nicht neu. Es basiert, wie bereits erwähnt, auf einer historischen Denklinie, die ihren Anfang bei den Überlegungen von Jean Jacques Rousseau nimmt.

Schon bei Rousseau bildet die Eigenaktivität des Kindes in Bezug auf Bildung ein zentrales Moment. In Emile benennt er drei Faktoren, die seiner Meinung nach maßgeblich für die Erziehung des Kindes (und damit auch für seine Bildungsprozesse) sind:

Diese Erziehung kommt uns von der Natur oder den Menschen oder den Dingen. Die innere Entwicklung unserer Fähigkeiten und unserer Organe ist die Erziehung durch die Natur. Der Gebrauch, den man uns von dieser Entwicklung zu machen lehrt, ist die Erziehung durch die Menschen, und der Gewinn unserer eigenen Erfahrung mit den Gegenständen, die uns affizieren, ist die Erziehung durch die Dinge (Rousseau 1759, S. 109).

Die drei Erzieher, welche Rousseau benennt, stehen in einem direkten Verhältnis zueinander. Während die Natur – zu verstehen als die sich von selbst entwickelnden Kräfte und Fähigkeiten des Kindes – als unbeeinflussbarer Faktor bei Rousseau den Maßstab setzt, an dem sich die beiden anderen Erzieher als beeinflussbare Größen orientieren müssen, bildet das Lernen durch eigene Erfahrungen mit den Dingen, welche das Kind umgeben, den Kern des Bildungsprozesses. Dabei ist anzumerken, dass der Begriff Dinge nicht im wörtlichen Sinne lediglich greifbare Gegenstände, wie beispielweise einen Stuhl oder Ähnliches meint, sondern in einem erweiterten Sinne auch gegebene Situationen umfassen kann, in welchen das Kind als selbständig handelnder Mensch Erfahrungen macht und so neue Erkenntnisse gewinnt. Die Dinge als Erzieher können weiterhin aus dem bereits angesprochenen Blickwinkel der Ästhetik betrachtet werden, da sie den Menschen als empfindsames Wesen, durch seine Sinne auf emotionaler Ebene ansprechen:

Wir werden empfindsam geboren, und werden von Geburt an auf verschiedenste Weise von den uns umgebenden Dingen affiziert. Sobald uns unsere Empfindungen bewußt werden, sind wir fähig, die Dinge, die sie hervorrufen, zu suchen oder zu meiden, zunächst je nachdem, ob sie uns angenehm oder unangenehm sind, dann je Harmonie oder Disharmonie, die wir zwischen uns und jenen Dingen finden und, endlich, je nachdem, wie wir über die von der Vernunft uns gegebene Idee des Glückes oder der Vollkommenheit urteilen (Ebd., S. 111).

Diese Feststellung Rousseaus macht einen weiteren Aspekt frühkindlicher Bildung sichtbar, der weiter oben in den Abgrenzungen Schäfers bereits angesprochen wurde: Die kindlichen Lernprozesse müssen stets einen persönlichen Sinn ergeben. Die ihn umgebenden Dinge müssen den jungen Menschen affizieren, also anregen, seine Neugierde wecken, damit er an und mit ihnen seine Erfahrungen erweitern kann.

Der Mensch als dritte Größe indes, nimmt bei Rousseau zunächst die Rolle eines Beschützers an, indem er das Kind vor Situationen und Gefahren, welchen es aufgrund des Standes seiner natürlichen Entwicklung noch nicht gewachsen ist, bewahrt. Des Weiteren kommt ihm die Aufgabe zu, den Rahmen zu schaffen, in welchem das Kind seine eigenen Erfahrungen machen kann und somit den Gebrauch seiner naturgegebenen Kräfte und Fähigkeiten übt. Er schafft also gewissermaßen das soziale Umfeld und nimmt in begrenztem Umfang Einfluss auf die Dinge, welche dem Erfahrungsgewinn des Kindes zur Verfügung stehen. Hierbei kann es sich um die Auswahl des Ortes, der Gegenstände oder das bewusste Schaffen spezifischer Situationen handeln, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Mensch als Erzieher hat also nur mittelbaren Einfluss auf die Bildungsprozesse des Kindes, indem er in seiner Funktion als Helfender, Einfluss auf die Rahmenbedingungen ausübt, in denen Bildung als Selbst-Bildung stattfinden kann.

Die hier knapp dargestellten Ideen Rousseaus zeigen, dass bereits in seinen Überlegungen (früh-) kindliche Bildung als ein Prozess der Selbsttätigkeit und Eigeninitiative betrachtet werden kann, in welchem durch Erfahrungen mit und in der unmittelbaren Außenwelt neue Erkenntnisse erlangt werden und so mit den vorhandenen naturgegebenen Möglichkeiten die eigenen Kräfte geübt werden. Hierbei kann das, was Schäfer als die „eigenen Mittel des sich bildenden Kindes“ bezeichnet (Vgl. Schäfer 2004, S. 30), bei Rousseau als Aspekt der Natur als Erzieher verstanden werden, welche die Möglichkeiten und Grenzen steckt, in denen (Lebens-) Erfahrung, als Form von Bildung gewonnen werden kann.

2.2.5 Historische Denklinie II: Maria Montessori

Auch im pädagogischen Konzept von Maria Montessori bildet die Eigentätigkeit des Kindes hinsichtlich seiner Bildungsprozesse ein zentrales Moment. Ähnlich wie in Rousseaus Überlegungen nimmt der Erwachsene als Erzieher in Bezug auf die Einflussnahme auf kindliche Bildungsprozesse eine vergleichsweise passive Rolle ein, indem er für einen geeigneten Rahmen sorgt, in welchem das Kind sich seinen Neigungen nach völlig frei bewegen und entfalten kann, ohne sich dabei in Gefahr zu bringen[4]. Entsprechend ist auch die Umgebung des Kindes – sowohl die materielle, als auch die soziale – ein wichtiger Faktor ihrer Überlegungen (Vgl. Montessori 1950, S. 157), da die Welt der Erwachsenen für die Entfaltung der kindlichen Seele eher als hinderlich betrachtet werden muss:

Die Umgebung des Erwachsenen ist keine Leben bringende Umwelt für das Kind, sondern eher eine Anhäufung von Hindernissen, zwischen denen das Kind Abwehrkräfte entwickelt, zu verbildenden Anpassungen genötigt wird und allerlei Suggestionseinflüssen unterliegt (Ebd., S. 155).

Dem Kind soll also ein eigener (Frei-) Raum zur Entfaltung geschaffen werden, in welchem der Erwachsene dem Kind nicht Hindernis, sondern Unterstützung ist, indem er ihm zu Eigentätigkeit und Unabhängigkeit verhilft (Vgl. ebd., S. 157).

Montessori beschreibt anhand der Beobachtungen und Erfahrungen, welche sie unter anderem in dem von ihr 1907 gegründeten Kinderhaus sammeln durfte, zahlreiche Situationen und Begebenheiten, die als Hinweise für die zu Beginn dieser Arbeit angestellten Überlegungen zu frühkindlicher Bildung gelesen werden können. Einige Regeln der Montessori-Pädagogik untermauern die zentralen Thesen, die Schäfer in seinen Überlegungen aufstellt.

Einer der Grundsätze der von Montessori entwickelten Pädagogik ist der der freien Wahl. Sie beschreibt in diesem Zusammenhang Beobachtungen, die zeigen, dass die von ihr betreuten Kinder selbst eine Wahl bezüglich der Gegenstände treffen, mit denen sie sich beschäftigen:

Die Kinder legten verschiedene Wünsche an den Tag und wählten dementsprechend ihre Beschäftigungen. […] Aus dieser freien Wahl haben sich allerlei Beobachtungen über die Tendenzen und seelischen Bedürfnisse der Kinder ergeben. Eines der interessantesten Ergebnisse bestand darin, dass die Kinder sich nicht für das ganze von mir vorbereitete Material interessierten, sondern nur für einzelne Stücke daraus. […] Mit der Zeit begriff ich dann, dass alles in der Umwelt des Kindes nicht nur Ordnung, sondern ein bestimmtes Maß haben muss, und dass Interesse und Konzentration in dem Grade wachsen, wie Verwirrendes und Überflüssiges ausgeschieden wird (Ebd., S. 170).

Aus diesen Beobachtungen lassen sich Rückschlüsse auf mehrere von Schäfer genannte Eigenschaften frühkindlicher Bildung ziehen. Zum einen kann aus den Darstellungen von Montessori geschlossen werden, dass das Kind als frei wählendes und handelndes Subjekt betrachtet werden kann, welches sich die Gegenstände seiner Bildung im Rahmen seiner inneren und den von außen gegebenen Möglichkeiten selbst wählt. Zum anderen liefern die Beobachtungen hinsichtlich der freien Wahl der Gegenstände einen weiteren Beleg für Schäfers These, dass Lernen in der frühen Kindheit stets einen persönlichen Sinn ergeben muss. Was verwirrend oder überflüssig ist, wie Montessori schreibt, weckt kein Interesse im Kind, da es für seinen Bildungsprozess (noch) keinen persönlichen Sinn ergibt.

Das Ziel der kindlichen Bildungsprozesse schließlich ist, so Montessori, nichts weniger als die aus eigener Initiative und mit eigener Arbeit erreichte Bildung des Kindes zum Menschen (Vgl. Montessori 1949, S. 14):

Das Kind ist der Erzeuger des Menschen. Die gesamten Möglichkeiten des Erwachsenen hängen davon ab, inwieweit das Kind diese ihm anvertraute geheime Aufgabe erfüllen konnte. Dem Kind kommt die Stellung eines wirklichen Schaffenden vor allem deshalb zu, weil es sein Ziel, die Bildung des Menschen, nicht durch bloßes Ruhen und Nachdenken erreicht. Nein, seine Arbeit ist Aktivität, ist fortgesetztes Schöpfertum (Montessori 1950, S. 269f.).

Dieses geistige Schöpfertum, von welchem Montessori spricht, ist wiederum in einem Zusammenspiel mit der Umwelt des Kindes zu sehen, da die Eindrücke, welche das Kind in seiner äußeren Umgebung sammelt, und der Umgang mit den in ihr vorhandenen Dingen nicht nur auf das Kind einwirken, sondern sich im kindlichen Geist inkarnieren, von ihm absorbiert werden und ihn so mit formen, so Montessori (Vgl. Montessori 1949, S. 23). Dieser Prozess läuft zunächst unbewusst ab und markiert den Beginn des Weges zur Entstehung des Bewusstseins des Kindes (Vgl. ebd., S. 24):

Durch diese Erfahrungen in der Umgebung überprüft es in Form des Spiels die Dinge und Eindrücke, die sein unbewußter Geist zuvor absorbiert hat. Durch die Arbeit wird es bewußt und baut den Menschen auf (Ebd.).

Hier wird ein weiterer Aspekt, den Schäfer in seinen Thesen anspricht, deutlich: der Einfluss des soziokulturellen Umfelds auf frühkindliche Bildungsprozesse. Da die Umgebung nicht lediglich als das materielle Umfeld verstanden werden kann, sondern auch Kultur und Gesellschaft mit einbezogen werden müssen, bilden diese gewissermaßen ein Spielfeld für das Kind und seine Bildungsprozesse.

Die Überlegungen Montessoris zusammenfassend, kann gesagt werden, dass kindliche Bildungsprozesse als Selbsttätigkeit des Kindes in Abhängigkeit von äußeren Einflüssen betrachtet werden können. Das immanente Ziel kindlicher Bildung ist es, einen Akt der Vervollkommnung, der Menschwerdung zu vollziehen. Dieser schöpferische Akt vollzieht sich durch selbsttätiges Handeln des Kindes, wobei die es umgebenden Dinge quasi als Arbeitsmaterial erfahren und erforscht werden und sich auf diese Weise ein Weltaneignungsprozess vollzieht, der die Grundlage für alle weiteren, späteren Bildungsprozesse bildet.

Handelt es sich bei frühkindlicher Bildung also um eine Bildung zum Menschen, in welcher auf elementare Weise durch Erfahrungen mit und in der (Um-) Welt Kräfte geweckt und geübt werden, so kann man frühkindliche Bildungsprozesse auch im Kontext der klassischen Bildungstheorie betrachten. Dieser Versuch soll in einem nächsten Schritt unternommen werden.

2.2.6 Frühkindliche Bildungsprozesse im Kontext der klassischen Bildungstheorie

In den bisher angestellten Überlegungen zum Wesen frühkindlicher Bildung lassen sich zahlreiche Anknüpfungspunkte zur Bildungstheorie Humboldts ausmachen. Betrachtet man die Bildungsprozesse des Kindes als Wechselspiel zwischen dem handelnden Subjekt und der es umgebenden Welt, so findet man hier den Kern Humboldts‘ Theorie der Bildung des Menschen wieder. Humboldt geht von der Annahme aus, dass der Mensch ein inneres Streben besitzt, die in ihm schlummernden Kräfte[5] selbsttätig zu stärken:

Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will. Da jedoch die bloße Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die bloße Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt außer sich. Daher entspringt sein Streben, den Kreis seiner Erkenntniß und seiner Wirksamkeit zu erweitern, und ohne daß er sich selbst deutlich dessen bewußt ist, liegt es ihm nicht eigentlich an dem, was er von jener erwirbt, oder vermöge dieser hervorbringt, sondern nur an seiner inneren Verbesserung und Veredelung, oder wenigstens an der Befriedigung der inneren Unruhe, die ihn verzehrt (Humboldt 1793/94, S. 24).

Betrachtet man diese Annahme im Zusammenhang mit den bisher angestellten Überlegungen zu frühkindlicher Bildung, so wird deutlich, dass sich der Wunsch – oder auch die Notwendigkeit – nach Stärkung der eigenen Kräfte, nach Erweiterung der Erkenntnis durch Erfahrungen mit und in der Außenwelt, gerade im Kindesalter ganz unmittelbar zeigt. Die innere Unruhe des Menschen, von der Humboldt schreibt, zeigt sich in der schier unerschöpflichen Neugierde des Kindes, die Dinge in seiner Umwelt zu entdecken und zu erforschen, Ordnungen in der Welt zu finden und zu schaffen, um schließlich das eigene Ich in einen sinnvollen Zusammenhang mit der Außenwelt zu bringen. Diese gesammelten Erkenntnisse und deren Erweiterung führen wiederum zu einer Steigerung der inneren Kräfte, zu ihrer Verbesserung und Veredelung, wie Humboldt es bezeichnet (Vgl. ebd.).

Die das Subjekt umgebende Welt kann mit Humboldt als Voraussetzung für Bildungsprozesse betrachtet werden, „weil beides sein Denken und sein Handeln nicht anders, als nur vermöge eines Dritten […], dessen eigentlich unterscheidendes Merkmal es ist […], Welt zu seyn“ (Ebd., S. 25), möglich ist. Daraus entspringt das Streben des Menschen – und auch dieses zeigt sich am kindlichen Verhalten ganz unmittelbar – „soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden“ (Ebd.). Ziel dieses Strebens, oder die letzte Aufgabe unseres Daseins, so Humboldt (Vgl. ebd.), ist es, „dem Begriff der Menschheit in unserer Person […], einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“ (Ebd.). Diese große Aufgabe der Bildung zum Menschen, in dem sich sowohl das eigene Ich in der Menschheit, als auch vice versa die Menschheit im eigenen Ich widerspiegelt, kann nach den bisherigen Überlegungen durchaus als in der Kindheit beginnend betrachtet werden[6], auch wenn die Bildungsprozesse in jenem Lebensabschnitt noch größtenteils unbewusst ablaufen. Eine Annäherung an dieses von Humboldt formulierte Humanitätsideal und damit ein Weg zur Lösung dieser Aufgabe von Bildung kann nur durch „die Verknüpfung des Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung“ (Ebd.) erreicht werden. Diese Wechselwirkung indes entspringt wiederum einem natürlichen Drang des Menschen:

So dringt ihn doch seine Natur beständig von sich aus zu den Gegenständen außer ihm überzugehen, und hier kommt es nun darauf an […], dass von allem, was er außer sich vornimmt, immer das erhellende Licht und die wohltätige Wärme in sein inneres zurückstrale. Zu dieser Absicht aber muß er die Masse der Gegenstände sich selbst näher bringen, diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlicher machen. In ihm ist durchgängige Wechselwirkung, beide muß er also auch auf die Natur übertragen; in ihm sind mehrere Fähigkeiten, bald als Begriff des Verstandes, bald als Bild der Einbildungskraft, bald als Anschauung der Sinne vor seine Betrachtung zu führen. Mit allen diesen, wie mit ebensoviel verschiedenen Werkzeugen, muß er die Natur aufzufassen versuchen, nicht sowohl um sie von allen Seiten kennen zu lernen, als vielmehr um durch diese Mannigfaltigkeit der Ansichten die eigene inwohnende Kraft zu stärken, von der sie nur anders und anders gestaltete Wirkungen sind. Was also der Mensch nothwendig braucht, ist bloß ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbstthätigkeit möglich mache. (Ebd., S. 26)

Diese Wechselwirkung durch Übung, durch Anwendung und Modifizierung der Fähigkeiten und Werkzeuge zeigt sich abermals schon in der frühen Kindheit, im Streben des Kindes nach elementaren Erkenntnissen und Erfahrungen, die umgebende Welt und das Selbst betreffend. Außerdem kann man an der von Humboldt verdeutlichten Notwendigkeit des Nicht-Menschen[7], also der (Um-) Welt (Vgl. ebd., S. 25) und eben jener Wechselwirkung zwischen Subjekt und Welt den Einfluss verorten, welchen sowohl die Dinge an sich, als auch das soziokulturelle Umfeld auf frühkindliche Bildungsprozesse ausüben. Denn – und dieser Umstand ist der kindlichen Entwicklung, also den vorhandenen Kräften, geschuldet – das Kind erlebt seine Umwelt auf eine viel direktere und unmittelbarere Weise, als es der Erwachsene tut, da Ordnungsmuster erst im Verlauf der Kindheit als Ergebnisse kindlicher Bildungs- und Entwicklungsprozesse entstehen und auch die Fähigkeit zur Abstraktion sich erst zu einem späteren Zeitpunkt der Kindheit entwickelt[8].

Versucht man also Humboldts Theorie der Bildung des Menschen im Zusammenhang mit dem Lebensabschnitt der frühen Kindheit und der in dieser Zeit stattfindenden Entwicklungs- und Bildungsprozesse zu betrachten, so lässt sich erkennen, dass eine allgemeine Menschenbildung im Sinne Humboldts ihren Anfang möglicherweise schon in der frühen Kindheit nimmt[9] und man so durchaus auch im Kontext kindlicher Bildungsprozesse von Bildung im klassischen Sinne sprechen kann. Diese findet zwar zu großen Teilen unbewusst auf einer präreflexiven und sehr elementaren Ebene statt, sie ist aber dennoch im allgemeinen Sinne als Bildung des und zum Menschen durch Übung, Erkenntnisgewinn und Erkenntniserweiterung im Zuge des Austauschs zwischen Subjekt und Welt zu verstehen.

2.3 Zusammenfassung: Versuch einer Bestimmung des Begriffes frühkindlicher Bildung mit allgemeinpädagogischem Anspruch

Die vorangegangenen Überlegungen haben verdeutlicht, dass es sich bei frühkindlicher Bildung um ein Phänomen von großer Komplexität handelt, in welchem zahlreiche Aspekte aus den Bereichen der Erziehung, des sozialen und kulturellen Umfelds, der Psychologie und der körperlichen und geistigen Entwicklung des Kindes eine Rolle spielen. Gerade der letztere Bereich – die Entwicklung des Kindes in biologischer Hinsicht – wurde in der vorliegenden Arbeit bisher nicht näher betrachtet. Dies bedarf einer kurzen Begründung:

Schäfer bezieht in seine Definition frühkindlicher Bildung explizit auch Erkenntnisse aus den Neurowissenschaften mit ein, welche sich mit der Hirnentwicklung von Säuglingen und Kleinkindern beschäftigen. Hierbei neigt er dazu, auch diese körperlichen Prozesse als Bildungsprozesse zu bezeichnen. Obgleich die Hirnforschung zweifellos wichtige Erkenntnisse über die geistige Entwicklung des Menschen zu erbringen vermag, sehe ich es dennoch als problematisch an, biologische Entwicklungsprozesse als Bildungsprozesse zu betrachten. Hier sollte eine gewisse Trennschärfe beibehalten werden. Vielmehr ist die kindliche Entwicklung auf zweierlei Weise mit Bildungsprozessen verwoben. Einmal bildet der Stand der geistigen und körperlichen Entwicklung im Sinne der klassischen Bildungstheorie die natürlich vorhandenen Kräfte und bestimmt so die Möglichkeiten von Bildungsprozessen mit. Auf der anderen Seite wirken die durchlaufenen Bildungsprozesse wieder zurück auf diese Kräfte, stärken sie und beeinflussen so ihrerseits in gewissem Maße Entwicklungsprozesse. Somit erscheint es geeigneter, Entwicklungsprozesse, genauso wie auch das soziokulturelle Umfeld, die Gegenstände, die dem Kind zur Verfügung stehen etc., als Teile kindlicher Bildungsprozesse zu betrachten, anstatt sie als eigenständige Bildungsprozesse zu bezeichnen.

Versucht man, die bisher genannten Aspekte frühkindlicher Bildung auf einer allgemeinen Ebene zusammenzufassen, so kann man sagen, dass Bildungsprozesse im Kindesalter zunächst als Selbstbildungsprozesse in einem doppelten Sinne verstanden werden können. Einmal im Sinne von Bildung durch sich selbst, womit der Erkenntnis, dass frühkindliche Bildungsprozesse sich in erster Linie als selbsttätiges Handeln des Kindes – also als Eigenaktivität des Individuums in Bezug auf seine Umwelt – äußern, Rechnung getragen wird. Des Weiteren kann der Begriff der Selbstbildung auch im Sinne von Bildung des Selbst gelesen werden. Die anthropologische Grundannahme der prinzipiellen Freiheit des Menschen vorausgesetzt, strebt der junge Mensch, noch unfertig hinsichtlich seiner Entwicklung durch Erfahrungen in der Mit- und Umwelt nach Bildung und Vervollkommnung seines Selbst. Das, was Montessori als geistiges Schöpfertum bezeichnet (Vgl. Montessori 1950, S. 269), kann als ein solcher Akt der Bildung des Selbst verstanden werden. Diese Selbstbildung ist jedoch, wie unter anderem anhand von Humboldts Bildungstheorie erläutert wurde, nur in Verbindung mit der Welt möglich, ein Selbst-Verständnis kann nur mit Hilfe von Kontexten mit der Welt außerhalb des Subjektes erreicht werden. Das kindliche Subjekt tritt so beginnend mit seiner Geburt in eine Wechselwirkung mit seiner Umwelt ein. Indem das Kind forschend lernt und in der Welt mit Dingen, in Situationen, mit anderen Menschen etc. Muster entdeckt, Ordnungen erkennt und schafft, kurz, Erfahrungen sammelt, bildet es sich selbst, wenn auch unbewusst, auf individuelle Weise zum Menschen. Hierbei ist das Kind jedoch stets in einer starken Abhängigkeit vom soziokulturellen Umfeld zu sehen. Denn die Tatsache, dass der Mensch als nicht festgestelltes, als unfertiges Wesen zur Welt kommt, impliziert nicht nur seine Freiheit und grundsätzliche Offenheit hinsichtlich seiner Selbstwerdung, sondern auch seine Hilfs- und Erziehungsbedürftigkeit. Hier schließlich zeigt sich der Aspekt der Abhängigkeit des Kindes von seinem sozialen, kulturellen und materiellen Umfeld, da dieses einerseits (überlebens-) notwendig ist, andererseits aber auch limitierend auf das Moment der Freiheit wirkt, indem durch dieses Umfeld Einfluss auf die Erfahrungsmöglichkeiten des Kindes und damit auf seine Bildungsprozesse genommen wird. Dieser Aspekt der Einflussnahme auf die Erfahrungsmöglichkeiten wurde an den Beispielen der pädagogischen Ideen von Rousseau und Montessori verdeutlicht.

Die durch die oben genannte Wechselwirkung zwischen Subjekt und Welt in Gang gesetzten Bildungsprozesse wiederum tragen in zweiter Konsequenz schließlich nicht nur zur Entstehung eines Selbst-Verständnisses bei, sondern auch zur Bildung eines Welt-Verständnisses. Frühkindliche Bildungsprozesse führen somit als selbsttätige Weltaneignung des Kindes zur Entstehung von Selbst- und Weltbildern, welche durch das Kind zu individuell stimmigen Gesamtbildern verknüpft werden, wie Schäfer schreibt (Vgl. Schäfer 2004, S. 30).

Die Welt, in und mit welcher das Kind seine Bildungsprozesse durchläuft, ist in der heutigen Zeit und in unserem Kulturkreis geprägt von einer medialen Omnipräsenz. Das Fernsehen und die neuen Medien haben längst auch das Kinderzimmer eingenommen und repräsentieren einen nicht unerheblichen Teil der kindlichen Erfahrungswelt. Somit werden die Medien, hier vor allem das Fernsehen als Leitmedium, zu einem ernstzunehmenden Faktor, was ihren Einfluss auf frühkindliche Bildungsprozesse angeht. Das oft kontrovers diskutierte Verhältnis von Medien und früher Kindheit soll im folgenden, zweiten Teil dieser Arbeit näher betrachtet werden.

3 Frühe Kindheit, Medien und Bildung

3.1 Medien und Bildung

Das Medium Fernsehen hat sich seit seinem Aufkommen zu einem integralen Bestandteil des täglichen Lebens entwickelt. „Fernsehen ist Alltag“ (Mehling 2007, S. 19), wie Gabriele Mehling treffend schreibt. Dies gilt auch schon für die frühe Kindheit, wie einige Zahlen aus der Fernsehforschung zeigen: So lag in Deutschland die durchschnittliche tägliche Sehdauer von Kindern im Alter von 3-13 Jahren im Jahr 2008 bei 86 Minuten, Kinder im Alter zwischen 3 und 5 Jahren sahen immerhin schon 71 Minuten täglich fern (Quelle: AGF/GFK Fernsehforschung, 2008). Die tägliche Reichweite des Fernsehens betrug im Durchschnitt 56%. Das bedeutet, dass etwas über die Hälfte aller Kinder in Deutschland das Medium Fernsehen täglich nutzen (Ebd.). Angesichts dieser Zahlen und auf Grundlage der im ersten Teil dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse über frühkindliche Bildungsprozesse – hier vor allem ihre Abhängigkeit von und Empfänglichkeit für äußere Einflüsse – wird erkennbar, dass eine mögliche Einwirkung des Fernsehens auf frühkindliche Bildungsprozesse nicht unbeachtet bleiben kann. Diese Einwirkungen sollen im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit näher betrachtet werden. Hierbei wird auf Positionen und Äußerungen der Medienwirkungsforschung, so weit möglich, verzichtet, da diese zwar oftmals vordergründig leicht verständliche und plausible Erklärungsmuster liefern, sich jedoch ob ihrer Reduktion auf simple Ursache-Wirkungs-Prinzipien bei näherer Prüfung häufig als wissenschaftlich eher fragwürdig erweisen[10]. Vielmehr soll in einem ersten Schritt das Fernsehen in seiner Funktion als Medium im wörtlichen Sinne, also als Vermittler, untersucht werden. Das Fernsehen als Vermittler von Weltbildern und als Repräsentant einer eigenen, „sich rasch entwickelnden Medienkultur […], die die lebensweltlichen Horizonte unserer Kinder nachhaltig prägt“ (Erlinger 1997, S. 10) soll hierbei aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet und hinsichtlich seines Einflusses und einer möglichen bildenden Funktion befragt werden.

In einem weiteren Schritt wird die Betrachtung des Gegenstandes auf eine Ebene verlagert, welche losgelöst von der Ebene der medial vermittelten Inhalte ist. Hier soll der Akt des Fernsehens aus einer phänomenologischen Sicht als Handeln untersucht werden, wodurch eventuell ein Perspektivwechsel ermöglicht wird. Durch diesen Wechsel, weg von der Frage, was das Fernsehen mit dem Menschen macht, hin zur Frage, was der Mensch mit dem Medium tut, soll die Idee von frühkindlicher Bildung als individuellem Handeln in Wechselwirkung zwischen Subjekt und (medialer) Welt erneut in den Fokus gerückt werden.

3.1.1 Fernsehen als Vermittler und Nachbildner der Welt

Betrachtet man das Fernsehen aus einer kommunikationstheoretischen Perspektive, so kann man zunächst ganz grundsätzlich feststellen, dass durch das Medium Botschaften vermittelt werden. Mit Hilfe dieser Botschaften oder Informationen, bestehend aus Bildern und Tönen, wird durch das Medium und seine technische Beschaffenheit eine Anwesenheit von etwas Abwesendem geschaffen, ohne dass diese Abwesenheit jedoch aufgehoben werden kann. Das Medium erzeugt somit eine Repräsentation des Abwesenden. Die Welt indes, welche durch das Medium repräsentiert wird, ist eine vermittelte Welt. Die Inhalte, die das Fernsehen vermittelt, sind somit also zwar sinnlich erfahrbar, jedoch handelt es sich gewissermaßen um Erfahrungen aus zweiter Hand, da durch das Medium lediglich Abbilder der Welt präsentiert werden.

Legt man dieser Überlegung Platons Dichterkritik in der Politeia zugrunde, so wird ersichtlich, dass das Fernsehen, analog zum Dichter in Platons Dialog, im Bereich der Nachbildner gesehen werden kann. Ausgehend von der Idee des Bildungsganges als bestmögliche Annäherung an Wahrheit, an die Wirklichkeit, die Welt der Ideen und Begriffe, verortet Platon den Nachbildner indes auf der untersten Stufe, also am weitesten entfernt von der Wahrheit. Dies wird an einem Beispiel verdeutlicht:

Gott aber, ob er nun nicht wollte oder ob eine Notwendigkeit für ihn da war, nicht mehr als ein Bettgestell in der Natur zu machen, so machte er auch nur eins allein, jenes selbst, was das Bettgestell ist. […] Dieses nun wissend, denke ich, hat Gott, weil er wahrhaft der Verfertiger des wahrhaft seienden Bettgestells sein wollte und nicht eines einzelnen Bettgestells, noch auch ein Tischler, es als eines dem Wesen nach gebildet. […] Sollen wir diesen also den Wesensbildner hiervon nennen oder ungefähr so? […] Und wie den Tischler? Nicht den Werkbildner des Bettgestells? – Ja. – Nennen wir auch wohl den Maler Werkbildner oder Verfertiger desselben? – Keineswegs. […] Ich denke, entgegnete er, am schicklichsten nennen wir ihn Nachbildner dessen, wovon jene Werkbildner sind. – Sei es! sprach ich. Des dritten Erzeugnisses Vorsteher von dem Wesen ab nennst du also Nachbildner. […] Dieses also wird auch der Tragödiendichter sein, wenn er doch Nachbildner ist, ein dritter vor dem Könige und dessen wahrem Wesen, und so auch alle andern Nachbildner. (Platon 1994 (370 v. Chr.), S. 508f)

Nach Einführung der dreiteiligen Abstufung von Idee (Wesensbildner), Ding (Werkbildner) und Bild (Nachbildner), wird in einem weiteren Schritt nochmals die Entfernung des (Ab-) Bildes von dem wahrhaft Seienden (welches im Übrigen in einer Sphäre außerhalb der ästhetisch wahrnehmbaren Welt liegt) hervorgehoben, indem verdeutlicht wird, dass es sich bei den Erzeugnissen des Nachbildners lediglich um Abbilder der Erscheinung eines Dinges handelt, also um eine Interpretation des vom Werkbildner geschaffenen Gegenstandes:

Über den Nachbildner also sind wir eins; sage mir aber vom Maler noch dieses. Dünkt er dich darauf auszugehen, von jeglichem jenes eine selbst in der Natur nachzubilden oder die Werke der zweiten Bildner? – Die der Werkbildner, sagte er. – Und wie sie sind, oder wie sie erscheinen? Denn auch dieses unterscheide mir noch. […] Auf welches von beiden geht die Malerei bei jedem? Das Seiende nachzubilden, wie es sich verhält, oder das Erscheinende, wie es erscheint, als eine Nachbildnerei der Erscheinung oder der Wahrheit? – Der Erscheinung, sagte er. – Gar also so weit von der Wahrheit ist die Nachbildnerei; und deshalb, wie es scheint, macht sie auch alles, weil sie von jeglichem nur ein Weniges trifft und das im Schattenspiel (Ebd., S. 509).

Die Erwähnung des Schattenspiels kann als Rekurs auf das Höhlengleichnis gelesen werden. Analog zu diesem kann die durch das Fernsehen vermittelte Welt als das Spiel der Schatten gesehen werden, welches die in der Höhle gefangen gehaltenen Menschen betrachten und – in Unkenntnis der wahren Natur der Dinge – für das wahrhaft Seiende halten (Vgl. ebd., S. 420ff). Das Vorgaukeln von Realität durch die Präsentation von Abbildern spiegelt außerdem die bereits genannte, grundlegende Eigenschaft des Mediums wieder, Abwesendes – im Falle des Höhlengleichnisses wäre dies die Welt außerhalb der Höhle – augenscheinlich anwesend zu machen, ohne dessen Abwesenheit tatsächlich aufzuheben. Das Fernsehen simuliert gewissermaßen die Realität und deren Anwesenheit. Das so erzeugte Abbild wiederum wird jedoch zusätzlich durch das Medium als Nachbildner gefiltert und von seinen Erzeugern interpretiert und somit hinsichtlich seines Wahrheitsgehaltes einer weiteren Reduktion unterworfen.

In der Betrachtung des Fernsehens als Nachbildner treten somit mehrere Faktoren in Erscheinung, die auf einen potenziell problematischen Einfluss des Mediums auf frühkindliche Bildungsprozesse hinweisen. Die durch das Medium Fernsehen vermittelte Welt ist im Sinne eines Nachbildes immer als eine Interpretation der Welt zu verstehen und so hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes schwierig einzuordnen. Des Weiteren sind auch die Möglichkeiten der Erfahrungen, welche elementar für die frühe Kindheit und die zu jener Zeit zu durchlaufenden Bildungsprozesse sind, eingeschränkt, da es sich nicht mehr um unmittelbare Erfahrungen in der umgebenden Welt[11] handelt, sondern jene über medial vermittelte und gefilterte Abbilder der Welt gemacht werden[12]. Dieser Aspekt wird umso problematischer, wenn die Interpretationen und Filterungen von ökonomischen Interessen geleitet und bestimmt werden. Dann nämlich, wenn das Medium zum Repräsentanten einer Kultur mit Warencharakter wird.

3.1.2 Wesenszüge einer zur Industrie gewordenen Kultur und das Fernsehen als Repräsentant derselben

Bevor auf das Fernsehen als Repräsentant der Kulturindustrie im Speziellen eingegangen wird, sollen zunächst in aller Kürze einige der Prinzipien dargestellt werden, welche Kultur als Industrie, ihre Produkte und ihre Konsumenten charakterisieren.

Der von Adorno und Horkheimer geprägte Begriff der Kulturindustrie beschreibt die Entstehung und die Verbreitung einer Massenkultur, welche sich im Zuge aufklärerischer Tendenzen aus einem vormals nur Wenigen vorbehaltenen Bereich von Kunst und Kultur entwickelt hat. Das Prekäre an dieser Entwicklung ist, dass sie, geleitet von ökonomischen Interessen, industrielle Formen annimmt und entsprechend ihre „Produkte“ möglichst weit zu verbreiten und gut zu verkaufen sucht. Das vormals schwer zu erschließende, nicht leicht zugängliche und oft auch unbequeme, weil zur selbständigen Reflexion auffordernde Moment von Kunst, weicht einer massentauglichen, sinnentleerten, aber gut verkäuflichen Serienproduktion von Kultur gütern. Hierdurch wird das Wesen von Kunst und Kultur, das – analog zu Bildung – in ihrer prinzipiellen Zweckfreiheit zu sehen ist, verändert. Kultur als Massenkultur wird zum Geschäft, ihr Zweck besteht in Gewinnerzielung und -maximierung für die Produzenten, welche sie industriell und standardisiert herstellen. Diese Ökonomisierung der Kultur wird dabei mit unverhohlener Offenheit vorangetrieben, das Geschäft wird zur Ideologie:

[...]


[1] Für einen umfassenderen Einblick in das facettenreiche Feld der frühkindlichen Bildung seien die Werke Gerd. E Schäfers empfohlen, siehe Literaturverzeichnis am Ende der vorliegenden Arbeit.

[2] Schäfer verwendet den Symbolbegriff einerseits im Sinne der klassischen Psychoanalyse Freuds, andererseits bezieht er die Überlegungen Piagets zur Symbolbildung mit ein. Da die vorliegende Arbeit ihren Schwerpunkt nicht im Bereich der Psychologie und Entwicklungsforschung hat, sei an dieser Stelle zur Vertiefung auf Schäfer 1995, S. 113-124 hingewiesen. Der hier vorgenommene, wenn auch stark verkürzte, Hinweis auf Symbolbildungen durch Phantasie, Spiel und Gestaltung ist dem Umstand geschuldet, dass es sich dabei um elementare Prozesse der frühkindlichen Bildung handelt, welche auch und gerade in Bezug auf das Medium Fernsehen eine nicht unerhebliche Rolle spielen.

[3] Vgl. hierzu auch Kant, „Kritik der Urteilskraft“ (1790).

[4] Die Kriterien und Regeln der Montessori-Pädagogik hinsichtlich des Schaffens einer kindgerechten Umwelt umfassen beispielsweise geeignetes Mobiliar und spezielle Lernmaterialien und Spielzeug, welches den Kindern zur freien Verfügung gestellt wird.

[5] Unter dem Begriff Kräfte werden in diesem Zusammenhang sowohl geistige, als auch körperliche Kräfte verstanden, wobei unser Interesse hier vornehmlich den Kräften geistiger Natur gelten soll.

[6] An dieser Stelle sei auch nochmals auf das Kapitel verwiesen, welches die Pädagogik Maria Montessoris behandelt. Hier insbesondere die Aussage Montessoris, dass das Ziel frühkindlicher Tätigkeit in der Bildung zum Menschen (sic!) bestehe.

[7] Der Begriff Nicht-Mensch ist hierbei im Sinne von Nicht-Selbst oder Nicht-Ich zu verstehen, also als Faktor, welcher außerhalb des eigenen Selbst liegt, hier jedoch durchaus auch menschlicher Natur im Sinne eines anderen Menschen sein kann.

[8] Hierzu sei auf das von Piaget entworfene Stufenmodell zur kindlichen Entwicklung hingewiesen.

[9] Man kann vielleicht sogar behaupten, dass Bildung im Sinne der klassischen Bildungstheorie in der Zeit der Kindheit eine besonders starke Ausprägung findet, da der innere Drang nach Erkenntnissen und deren Erweiterung, das Streben nach Bildung und Steigerung der Kräfte in ihren individuellen Facetten hier augenscheinlich viel deutlicher zum Vorschein kommt, als es im späteren Verlauf des Lebens der Fall ist. Da diese Behauptung jedoch als spekulativ betrachtet werden kann, ist sie lediglich als Anmerkung zu den obigen Betrachtungen zu verstehen.

[10] An dieser Stelle sei Herr Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer stellvertretend für eine Reihe schillernder Persönlichkeiten genannt, welche z. T. äußerst medienwirksam und stets in den Medien präsent, sich einzig und allein auf neurowissenschaftliche Experimente stützend, vor schädlichen Auswirkungen der Medien warnen. Die auf dieser Basis immer wieder neu entfachte, meist ins Nichts führende Debatte über Nutzen oder Gefahr des Medienkonsums soll in der vorliegenden Arbeit nicht geführt werden, weshalb die Erkenntnisse und Hypothesen der Wirkungsforschung auch, so weit möglich, nicht in die Betrachtungen mit einbezogen werden.

[11] Diese ist nach Platon zwar noch immer entfernt von dem wirklich Seienden, aber immerhin auf einer höheren Stufe des Bildungsganges zu verorten, als die Welt der Nachbilder.

[12] Im Sammeln von Erfahrungen mithilfe medialer Abbilder lässt sich ein weiteres Problem verorten, wenn zusätzlich auch die Tatsache, dass das Fernsehen augenscheinlich nicht alle Sinne anspricht, sondern sich lediglich auf das Sehen und Hören beschränkt, berücksichtigt wird. Gerade in der frühen Kindheit werden sinnliche Erfahrungen häufig auch haptisch gesammelt. Das Berühren von Gegenständen und das Erfahren von Form, Festigkeit, Geruch und Geschmack beispielsweise, sind Vorgänge, deren Relevanz für frühkindliche Bildungsprozesse sicherlich nicht zu verachten ist.

Ende der Leseprobe aus 102 Seiten

Details

Titel
Frühe Kindheit, Medien und Bildung
Untertitel
Über den Einfluss des Kinderfernsehens auf frühkindliche Bildungsprozesse
Hochschule
Universität zu Köln  (Humanwissenschaftliche Fakultät, Institut I für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne)
Note
1,0
Autor
Jahr
2010
Seiten
102
Katalognummer
V188325
ISBN (eBook)
9783656120179
ISBN (Buch)
9783656119647
Dateigröße
1248 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Frühkindliche Bildung, Medien, Fernsehen, Kinderfernsehen, die Sendung mit dem Elefanten, Medienpädagogik, Bildung, Bildungstheorie, Medienkritik, Medienerziehung
Arbeit zitieren
Christian Honeck (Autor:in), 2010, Frühe Kindheit, Medien und Bildung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188325

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