Rationierte Gesundheit

Eine gerechtigkeitsorientierte Betrachtung der Allokation knapper Gesundheitsgüter im deutschen Gesundheitssystem


Bachelorarbeit, 2011

85 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 Einleitung
1.1 Thema und Fragestellung
1.2 Aufbau der Arbeit
1.3 Untersuchungsmethodik und -materialien

Kapitel 2 Grundlegende Betrachtungen
2.1 Das besondere Gut Gesundheit
2.2 Rationierung
2.3 Priorisierung

Kapitel 3 Das Entstehen von Knappheit an Gesundheitsgütern
3.1 Die Systemfrage
3.2 Knappheit im öffentlichen Gesundheitssystem
3.3 Die Verschärfung der Knappheitssituation

Kapitel 4 Ethische Grundpositionen - Was ist Gerechtigkeit
4.1 Soziale Gerechtigkeit in Zusammenhang mit Egalitarismus und Liberalismus
4.2 Gerechtigkeit - utilitaristische Gesichtspunkte
4.3 Zwischenfazit

Kapitel 5 Konzeptionelle Aspekte von Rationierung und Priorisierung
5.1 Ebenen der Rationierung
5.1.1 Makroebene I
5.1.2 Makroebene II
5.1.3 Mikroebene I
5.1.4 Mikroebene II
5.2 Formen der Rationierung
5.2.1 Explizite versus implizite Rationierung
5.2.2 Harte versus weiche Rationierung
5.2.3 Direkte versus indirekte Rationierung
5.2.4 Primäre und sekundäre Rationierung
5.3 Verfahrensprinzipien
5.3.1 Transparenz
5.3.2 Partizipation
5.3.3 Beachtung rechtsstaatlicher Aspekte
5.3.4 Einheitlichkeit
5.3.5 Nachvollziehbarkeit, Begründbarkeit
5.3.6 Revisionsoffenheit
5.3.7 Valide Datenbasis

Kapitel 6 Inhaltliche Rationierungskriterien
6.1 Bedürftigkeit
6.2 Effektivität
6.3 Kosteneffektivität - Effizienz
6.4 Lebensalter
6.5 Soziale Rolle, sozialer Wert
6.6 Selbstverschulden

Kapitel 7 Fazit

Literaturverzeichnis

Verzeichnis der Internetquellen

Anhang
A. Abkürzungsverzeichnis
B. Tabellenverzeichnis

Wer soll was bekommen,

wenn nicht mehr alle alles bekommen können?

1 Einleitung

1.1 Thema und Fragestellung

„Die Mittel, das lehrt die Ökonomie, sind immer endlich und knapp“ (Welti 2010, S. 379). Dies trifft auch auf die Mittel, die im System der Gesetzlichen Krankenver- sicherung (GKV) zur Verfügung stehen, zu . Daher bringen die eröffnenden Wor- te prägnant die wesentliche Problematik eines Gesundheitssystems auf den Punkt, in welchem ein zunehmendes Missverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben die Mittel knapp und dadurch die Gestaltung bzw. Sicherstellung der Versorgung immer schwieriger werden lässt. Das deutsche Gesundheitssystem befindet sich in ebendieser Situation, was aufgrund der hohen individuellen und gesellschaftlichen Bedeutung des besonderen Gutes Gesundheit und der enormen Anzahl an potentiell Betroffenen, ein bereits aktuelles und in Zukunft noch an Dramatik gewinnendes gesundheitsökonomisches, politisches und ethisches Problem darstellt. Als Ursachen der zunehmenden Ressourcen- knappheit in der Gesundheitsversorgung werden verschiedene Aspekte auf der Einnahmen- und der Ausgabenseite im System der GKV identifiziert, welche im Folgenden noch erläutert werden. Es gilt nun also Lösungen zu entwickeln und umzusetzen, wie der Bedarf der Bevölkerung an Gesundheitsgütern1 mit den begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen gedeckt werden kann. Als mög- liche Lösungsstrategien werden in diesem Zusammenhang insbesondere die Begriffe der Priorisierung und Rationierung, neben Maßnahmen der Rationali- sierung, häufig genannt und stellen in der Tat vielversprechende, aber zugleich auch in der Kritik stehende Ansätze zur Allokation knapper Ressourcen dar. Während die Aufmerksamkeit der politischen Ebene ausschließlich auf die Sta- bilisierung bzw. Erweiterung der Einnahmeseite gerichtet ist (vgl. Zentrale Ethik- kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin und ihren Grenzgebieten bei der Bundesärztekammer (ZEKO) 2007, S. 7) und eine Notwendigkeit zur Rationierung nicht diskutiert wird, sind sich viele Experten, unter anderem Marckmann und Groß darüber einig, dass an einer expliziten Leistungsbegrenzung und Ressourcenreallokation im Gesundheitswesen kein Weg mehr vorbeiführt, nicht zuletzt, um die bereits nachweislich praktizierte, ethisch abzulehnende verdeckte Rationierung zu unterbinden (vgl. Marckmann 2007, S. 96; vgl. Groß 2009, S. 76f.). Auch Strech ist der Meinung, dass Rationalisierungsmaßnahmen allein nicht ausreichen werden, um die Finanzierungssituation im Gesundheitswesen dauerhaft zu stabilisieren (vgl. Strech 2011, S. 52).

Wenn begrenzte Gesundheitsgüter einem prinzipiell unbegrenzten Bedarf ent- gegenstehen und verteilt werden müssen stellt sich unweigerlich die Frage, wie eine solche Verteilung gestaltet werden kann, um gerechtigkeitsethischen An- forderungen zu genügen und sich auch ökonomisch und rechtlich nachvollzieh- bar rechtfertigen zu können. Insbesondere die Akzeptanz der Gesellschaft und der medizinischen Berufsgruppen, auf Basis einer intersubjektiven ethischen Legitimation, ist von großer Bedeutung, um die Gesundheitsversorgung unter den Bedingungen von Priorisierung und Rationierung dauerhaft umsetzen zu können und so das Gesundheitssystem auch in Zukunft bezahlbar zu halten. Die zentrale Fragestellung, mit der sich diese Arbeit daher beschäftigt ist, wel- che Rationierungsformen, -kriterien und grundlegenden Prinzipen für das Errei- chen einer im Folgenden noch zu definierenden Gerechtigkeit in der Gesund- heitsversorgung zur Anwendung kommen sollten. Im Fokus dieser Arbeit steht die Gerechtigkeit der Allokation im moralischen Sinne, während die auf Geset- zen basierende juristische Gerechtigkeit nur flankierend betrachtet wird. Insbe- sondere die normativen Bestimmungen der deutschen Verfassung können je- doch, aufgrund ihrer enormen Bedeutung in diesem Kontext, nicht ganz außen vor gelassen werden. Zusätzlich zu den rechtlichen, werden auch ökonomische Aspekte in diese Arbeit mit einfließen.

1.2 Aufbau der Arbeit

Die Arbeit ist in sieben Kapitel gegliedert. Der analytische Teil beginnt in Kapitel zwei, in welchem zunächst eine eingehende Betrachtung wesentlicher Begriffe erfolgt, die essentiell für das Verständnis und die Bearbeitung des Themas sind. So wird zum einen das Gut Gesundheit aus verschiedenen Sichtweisen be- trachtet und der herausragende Wert dieses Guts für jeden Menschen sowie die Frage eines generellen Anspruchs auf Gesundheit für jeden Menschen un- tersucht. Zudem wird eine für diese Arbeit gültige Arbeitsdefinition des zentralen und in vielfachen Definitionsversuchen anzutreffenden Begriffs der Rationierung festgelegt. Im Anschluss wird der gleichwohl relevante Begriff der Priorisierung sowie dessen Abgrenzungen und Überschneidungen zur Rationierung erörtert. Kapitel drei widmet sich der Entstehung von Knappheit im Gesundheitswesen und zeigt damit die grundlegenden Ursachen für das Erwachsen von Gerech- tigkeitsproblemen auf. Mit dem Begriff der Gerechtigkeit an sich befasst sich Kapitel vier. Hier werden die wesentlichen ethischen Grundpositionen, als Basis von Gerechtigkeitsüberlegungen, zusammenfassend dargestellt, auf die in der Literatur bei der Entwicklung und Bewertung von Priorisierungs- und Rationie- rungskriterien zumeist Bezug genommen wird. Danach wird ein Zwischenfazit vorgenommen, welches die wesentlichen Aspekte der Gerechtigkeit und insbe- sondere die Schwierigkeit, Gerechtigkeit zu definieren und zu erreichen, zu- sammenfasst. Kapitel fünf befasst sich mit konzeptionellen Aspekten der Ratio- nierung. Es werden sowohl die verschiedenen Ebenen, als auch die verschie- denen Formen der Rationierung, hinsichtlich ihrer Aufgaben und ihrer Bedeu- tung für eine gerechte Mittelverteilung, untersucht. Darauf folgt eine detaillierte Betrachtung der Verfahrensprinzipien, die das Grundgerüst von Priorisierungs- und Rationierungsentscheidungen bilden müssen. In Kapitel sechs werden schließlich inhaltliche Kriterien ausführlich analysiert und es wird bewertet, in- wieweit sie, in Hinblick auf eine ethisch, rechtlich und gesellschaftlich konsens- fähige schwerpunktsetzende Allokation knapper Gesundheitsgüter, anwendbar sind. Kapitel sieben bildet den Schluss dieser Arbeit. Hier werden die relevan- ten Erkenntnisse in Bezug zur Ausgangsfragestellung zusammengefasst und bewertet.

1.3 Untersuchungsmethodik und -materialien

Diese Arbeit basiert auf einer ausführlichen und systematischen Literatur- recherche. Als Informationsquellen werden insbesondere Sammelwerke und Fachartikel, die sich mit den einzelnen Aspekten der Thematik befassen, her- angezogen. In Hinblick auf die Beantwortung der zentralen Fragestellung wer- den die wesentlichen Aspekte, Sichtweisen und Sachverhalte geschildert, ana- lysiert und bewertet, den Fokus dabei immer auf die Auswirkungen derselben auf Recht und Gerechtigkeit gerichtet. Von herausragender Bedeutung und unschätzbarem Wert sind hierbei Arbeiten von Georg Marckmann und Thomas Gutmann, die einen enormen Wissensschatz zum Thema der Rationierung zusammengetragen haben.

2 Grundlegende Betrachtungen

Um die Verteilungskriterien knapper Gesundheitsgüter genau analysieren zu können, bedarf es zu Anfang einer Betrachtung des theoretischen Hintergrun- des. Zunächst muss untersucht werden, was dem Gut Gesundheit seine her- ausragende Bedeutung verleiht und deshalb ein hohes Maß an Vorsicht und Bedacht erforderlich ist, um alle Beteiligten und deren Ansprüche bei der Vertei- lung knapper Gesundheitsgüter zu berücksichtigen. Ebenfalls unerlässlich ist es, die relevanten Begrifflichkeiten zu definieren bzw. die verschiedenen und vielfältigen Definitionsversuche zu erfassen und Arbeitsdefinitionen festzulegen.

2.1 Das besondere Gut Gesundheit

Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts.

Die weite Verbreitung dieses Aphorismus gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass Gesundheit einen bedeutsamen Stellenwert in unser aller Leben besitzt. Gesundheit gilt als ein konditional-transzendentales Gut, d.h. sie besitzt Ermög- lichungscharakter und stellt damit die Voraussetzung für die Umsetzung indivi- dueller Lebensprojekte dar (vgl. Kersting 2002, S. 42). Beeinträchtigungen dieses Gutes können schnell existenzielle Ausmaße annehmen. Das Fehlen von Ge- sundheit als transzendentalem Gut, beispielsweise neben dem Leben, der Frei- heit und der Sicherheit, stellt eine gravierende Einschränkung für das Erlangen, das Schaffen bzw. die Nutzung oder Teilhabe an privaten und öffentlichen Gü- tern dar (vgl. Körtner 2006, S. 53). Aus diesen Merkmalen lässt sich ein objektiver und lebenslanger Bedarf nach dem Erhalt der Gesundheit ableiten und darüber hinaus, in einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive, auch ein Recht auf Ge- sundheitsversorgung und die staatliche Pflicht dafür begründen, da die Fähig- keit eines Individuums, seinen Beitrag bzw. seine Aufgabe in einer Gesellschaft zu erfüllen, mit dessen gesundheitsabhängiger Leistungsfähigkeit korreliert (vgl. Honnefelder 2007, S. 34). Die Pflicht des Staates, für eine gesundheitliche Mindest- versorgung zu sorgen, lässt sich aus Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetz- tes (GG) ableiten und wurde vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) auch in mehreren Urteilen so bestätigt (vgl. Gutmann 2006, S. 40). Nun gibt es natürlich kei- ne Möglichkeit direkt auf das Gut Gesundheit zuzugreifen oder Gesundheit zu verteilen. Gesundheit als solche ist nicht greifbar, jedoch gibt es Produkte und Dienstleistungen - die Gesundheitsgüter - die dazu beitragen (können), die individuelle Gesundheit zu erhalten bzw. wiederzuerlangen. Doch was bedeutet es, wenn ein Mensch gesund ist? Wann ist man im Besitz dieses Gutes? Es existieren vielfältige Definitionen von Gesundheit und egal welche man davon wählt, man kann letztlich nie objektiv festlegen, wann ein Mensch gesund ist und wann nicht. Zum einen ist das so, weil immer auch das subjektive Befinden und sozio-kulturelle Aspekte eine Rolle bei der Bewertung des Gesundheitszu- standes spielen. Vertritt man beispielsweise die biomedizinische Auffassung von Gesundheit, lediglich definiert als die Abwesenheit von Krankheit, so stellt sich die Gegenfrage, was ist Krankheit? Hier existieren landesindividuelle oder manchmal sogar krankenhausindividuelle Unterschiede. Was in einem Land als Krankheit gilt, dem wird in einem anderen Land möglicherweise kein Krank- heitswert zugeschrieben und sei es nur, weil für bestimmte Laborparameter abweichende Normbereiche festgelegt sind. Nach Honecker existiert definitiv kein naturwissenschaftlich exakter Krankheitsbegriff (vgl. Honecker 1995, S. 83). Auch die Definition der Weltgesundheitsorganisation (World-Health- Organization (WHO)) die besagt: “Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“ (WHO 1948, S. 1), ist diesbezüglich nicht sehr konkret. Das Positive an der Definition der WHO ist, dass sie nicht nur auf das Physische reduziert. Allerdings müsste streng genommen fast jeder als krank gelten, wenn man diese Definition zu- grunde legt (vgl. Oberender et al. 2002, S. 19). Kritisch zu bemerken ist zudem, dass diese Definition zu hohe Erwartungen erzeugt und es illusionär wäre, selbst mit einer Mittelmaximierung, einen solchen Zustand für alle zu erreichen (vgl. Wallner 2007, S. 78). Grundsätzlich scheint es gar nicht notwendig, Gesundheit genau zu definieren und ebenso wenig sollte man die absolute Gesundheit für jedermann zum Ziel der Gesundheitsversorgung erklären. So ist es im Prinzip, für die mo- ralische Begründung eines Anspruchs auf die gerechte Verteilung des Gutes Gesundheit, zielführender sich darüber klar zu werden, in welcher Weise Ge- sundheit den Menschen zugutekommt. Hier kann man sich an den von Daniels beschriebenen „normal species functioning“ (Daniels 2008, S. 29) orientieren. Da- niels versteht darunter biologische Fähigkeiten, wie z.B. den Erwerb von Wis- sen, die sprachliche Kommunikation und die soziale Interaktion (vgl. ebd.). Ähn- lich sieht das auch Kersting:

„Der Umfang der biologischen Basisfunktionalität definiert den für das Gesundheitswesen relevanten Krankheitsbegriff. (…) der ordnungsgemäße Zustand unserer biologischen Grundfunktionen und Grundfähigkeiten bestimmt die dem Ermöglichungscharakter des Gesundheitsgutes eingeschriebene Zielausrichtung.“ (Kersting 2002, S. 48).

Der Besitz dieser Fähigkeiten ist für Daniels die Grundlage der „ normal oppor- tunity range“ (Daniels 2008, S. 43), was man mit der „Summe aller normalen Le- benspläne/-chancen“ übersetzen kann. Somit kann man festhalten, dass der moralische Anspruch auf das Gut Gesundheit in einer konditional- transzendentalen Sichtweise sich durch dessen handlungsbefähigenden Cha- rakter und dessen Funktion als Basisvoraussetzung einer fairen Chancenvertei- lung legitimieren lässt. Es ist anzunehmen, dass für alle Mitglieder des solidarfi- nanzierten Gesundheitssystems im Normalfall unterstellt werden kann, dass sie ein Interesse an ihrem Leben und ihrer Fähigkeit zu autonomem Handeln, ver- mittelt über die Voraussetzungen zur Realisierung ihrer Lebenspläne, haben (vgl. Werner 2002, S. 134). Doch es gibt noch einen weiteren Ansatz, durch den sich ein Anspruch auf Gesundheit begründen lässt.

In dieser anderen Sichtweise ist Gesundheit nicht nur konditionale Grundvoraussetzung für eine individuelle Lebensplanung und -führung, stattdessen beinhaltet Gesundheit auch Aspekte, die für ein „ gutes Leben“ (Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin 2005, S. 32) an sich benötigt werden. Hierzu gehören etwa Schmerzfreiheit, Mobilität und Wohlbefinden (vgl. ebd.).

Zu berücksichtigen gilt bei dieser Sichtweise zwar die Schwierigkeit, einen für alle Menschen gleichermaßen gültigen und hinreichend detaillierten Entwurf eines guten Lebens zu definieren (vgl. Werner 2002, S. 138). Marckmann geht je- doch davon aus, „(…) dass unsere gesundheitsbezogenen Vorstellungen des guten Lebens in weiten Bereichen der medizinischen Versorgung gar nicht so weit auseinanderliegen.“ (Marckmann 2010a, S. 20).

Dieser Ansatz ist insofern bedeutend, berücksichtigt er doch insbesondere die Personen, die keine Chance mehr auf eine normal opportunity range haben oder diese niemals hatten und für die sich demnach, in einer rein konditional basierten Perspektive, kein moralischer Anspruch auf Gesundheit begründen ließe. Gemeint sind Personen mit unheilbaren Krankheiten, schweren körperli- chen und/oder geistigen Behinderungen oder Menschen kurz vor ihrem Le- bensende. Auch diesen Menschen muss somit ein moralisches Anrecht auf Ge- sundheit bzw. Gesundheitsversorgung zugestanden werden, auch wenn sich diese nur noch auf Schmerzfreiheit und Abschwächung von sonstigen Sympto- men reduziert. Betrachtet man die aufgeführten Aspekte, so kann Marckmanns Aussage nur unterstützt werden, welche lautet:

„(…) eine gerechte Verteilung knapper medizinischer Ressourcen kann […] als Grundbedingung für die Chancengleichheit [und die Erfüllung eines guten Le- bens (Anm. d. Verf.)] innerhalb der Gesellschaft angesehen werden.“ (Marck- mann 2008, S. 889).

2.2 Rationierung

Die vielfältigen vorhandenen Definitionsversuche zeigen, dass selbst in wissenschaftlichen Kreisen noch keine endgültige Einigkeit über die tatsächliche Bedeutung des Begriffes der Rationierung im Gesundheitswesen erzielt werden konnte. Je nach Formulierung kann die Ausprägung derselben erheblich variieren und auch die Möglichkeit der eindeutigen inhaltlichen Abgrenzung zu verwandten Begriffen fällt mitunter schwer. Eine ganz allgemeine Definition von Rationierung lautet zunächst einmal so:

„Rationierung bedeutet die Zuteilung beschränkt verfügbarer Güter und Dienstleistungen gemäß einem definierten Zuteilungsalgorithmus. Rationierung liegt vor, wenn das Güter- und Dienstleistungsangebot nicht ausreicht, um die Nachfrage zu befriedigen (…)“ (Gabler Wirtschaftslexikon, 2011).

Hier ist primär nicht explizit davon die Rede, dass bestimmte Güter bewusst vorenthalten werden. Der Fokus dieser Definition liegt auf dem Vorgang der Zuteilung. Jedoch kommt implizit zum Ausdruck, dass auch Leistungen vorenthalten werden müssen, wenn Rationierung darüber definiert wird, dass die Nachfrage das Angebot übersteigt. Ganz ähnlich formuliert Mack, die ihre Definition zusätzlich an das Gesundheitswesen anpasst:

„Rationierung im Gesundheitswesen ist die Zuteilung bzw. die Verteilung von knappen und begrenzt vorhandenen Gesundheitsgütern ebenso wie pflegerischer oder medizinischer Maßnahmen unter der Bedingung, dass die Nachfrage größer ist als das Angebot“ (Mack 2001, S. 21).

Die ZEKO formuliert deutlich normativer und definiert Rationierung aus einer etwas anderen Perspektive als „(…) das (vorübergehende oder dauerhafte) Vorenthalten medizinisch notwendiger oder wenigstens nützlicher Leistungen aus Knappheitsgründen (…)“ (ZEKO 2007, S. 3).

Eine noch enger gefasste Definition versteht unter Rationierung „(…) das bewusste Vorenthalten von medizinisch notwendigen (Herv. durch den Verf.) Leistungen (…)“ (Fuchs 2009, S. 24).

Unter notwendig muss dabei verstanden werden, dass auf die vorenthaltenen Leistungen nicht ohne gesundheitliche Nachteile verzichtet werden kann (vgl. Gutmann und Schmidt 2002, S. 9). Mit anderen Worten sind notwendige Leistungen diese, deren Vorenthalten sich nachteilig auf die schon genannte normal oppor- tunity range sowie die Erfüllung eines guten Lebens auswirkt. Eine sehr präg- nante Definition von medizinischer Notwendigkeit wird von der ZEKO formuliert:

„ Als „notwendig“ gelten (…) medizinische Methoden, wenn die zu behandelnde Krankheit relevant ist, im natürlichen Verlauf eine schlechte Prognose hat, die Methode keine Alternative hat und - nach aktueller Evidenzlage - wirksam ist und nützt und nicht mit unangemessenen Risiken und Belastungen verbunden ist.“ (ZEKO 2007, S. 4).

Obwohl Rationierung mehrheitlich im Sinne der beiden letztgenannten Definitionen verstanden wird, wird vom Verfasser die rein deskriptive Definition von Mack präferiert und dieser Arbeit als Leitdefinition zugrunde gelegt. In dieser Sichtweise ist unter dem Vorenthalten von Leistungen eine mögliche Rationierungsmaßnahme, nicht jedoch Rationierung an sich zu verstehen.

Eine gerechtigkeitsorientierte Betrachtung der Allokation knapper Gesundheitsgüter im deutschen Gesundheitssystem Sie kann aus gerechtigkeitsethischer Sicht völlig neutral diskutiert und einer konkreten Kriterienentwicklung zugrunde gelegt werden. Lediglich die genutzten Zuteilungskriterien und deren Anwendung haben sich einer ethischen Bewer- tung zu stellen. Im Gegensatz hierzu müssen die beiden letztgenannten Defini- tionen schon primär als ethisch bedenklich angesehen werden, da sie das Vor- enthalten von indizierten medizinischen Leistungen als Norm festlegen. (vgl. Mack 2001, S. 21)

Vogel und Schumpelick teilen diese Ansicht und bezeichnen das Vorenthalten des medizinisch Notwendigen als ethisch nicht zu rechtfertigen (vgl. Schumpelick und Vogel 2007, S. 13) und auch Arnold vertritt den Standpunkt, das medizinisch Notwendige müsse „ rationierungs-immun“ (Arnold 2007, S. 238) bleiben.

2.3 Priorisierung

Abzugrenzen vom Begriff der Rationierung ist die Priorisierung. Unter Priorisierung „(…) wird die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Indikationen, Patientengruppen und Verfahren vor anderen in Form einer mehrstufigen Rangreihe verstanden.“ (Fuchs 2009, S. 21) .

Priorisierung sollte Leistungsbegrenzungen immer vorausgehen, da sie genutzt werden kann, Schwerpunkte in der Gesundheitsversorgung zu identifizieren und festzulegen, während Bereiche denen weniger Bedeutung zugemessen wird hinten angestellt - posterisiert - werden (vgl. Groß 2009, S. 90). Der Priorisie- rung liegt der logische Schluss zugrunde, dass bei einer Bedarfsunterdeckung die verfügbaren Mittel auf das Wesentliche zu konzentrieren sind, um über eine Reallokation der verfügbaren Mittel zumindest diese Leistungsbereiche abde- cken zu können und Leistungsbegrenzungen, speziell im Bereich des Lebens- notwendigen, zu vermeiden (vgl. ZEKO 2000, S. 4). Es gilt der Grundgedanke, was priorisiert ist, soll (muss) nicht rationiert werden. Je nachdem welche Ressour- cenmengen verfügbar sind, hängt mit einer Priorisierung auch das Vorenthalten von Leistungen (mit niedriger Priorität), zusammen (vgl. Fuchs 2009, S. 32). Jedoch gilt es zu differenzieren, dass nicht die Priorisierung Ursache für Leistungsbe- grenzungen darstellt. Vielmehr ist dies der systemimmanenten Mittelknappheit geschuldet. Priorisierung stellt somit lediglich eine Möglichkeit dar, mit der Knappheit umzugehen und zwar nicht dadurch diese zu vermeiden, sondern sie dahingehend zu gestalten, dass sie in moralisch unbedenklichere Bereiche ge- leitet wird. Ebenso kann Priorisierung aber auch Ausgangspunkt einer verbes- serten Versorgungsqualität und von Rationalisierungen2 sein (jeweils durch Überprüfung/Optimierung bisheriger Methoden und Prozesse) (vgl. Meyer 2009, S. 81). Wenn keine Rationierungssituation vorliegt, d.h. der Bedarf nicht die vor- handenen Mittel übersteigt, so ist grundsätzlich auch keine Priorisierung not- wendig (vgl. Staber und Rothgang 2010, S. 17), aber aus den genannte Gründen na- türlich trotzdem sinnvoll. Priorisierung ist eine Voraussetzung für Transparenz und Gerechtigkeit der Verteilung begrenzter Ressourcen, da durch die Rangrei- henbildung eine Schwerpunktsetzung nach festgelegten und für alle Personen in gleichem Maße geltenden Kriterien erfolgt. Die ethischen Überlegungen bzw. die moralischen Anforderungen, auf denen die Priorisierung basiert und denen die Priorisierung gerecht werden muss, decken sich mit denen, die auch Aus- gangspunkt jeglicher Überlegung zu Leistungsbegrenzungen sein müssen. Ra- tionierungs- und Priorisierungs- bzw. Posteriosierungskriterien überschneiden sich, wenn die gebildete Priorisierungsordnung in Leistungsbegrenzungen mündet (vgl. Schöne-Seifert und Buyx 2006, S. 216). Daher werden die Begriffe Priori- sierungs- und Rationierungskriterien in dieser Arbeit synonym verwendet. Diffe- renziert werden kann zwischen der vertikalen und horizontalen Priorisierung. Unter vertikaler Priorisierung versteht man die Bildung von Rangreihen inner- halb eines abgeschlossenen Versorgungsbereiches, während die horizontale Priorisierung die Festlegung von Wichtigkeiten über verschiedene Versor- gungsbereiche hinweg bezeichnet (vgl. ZEKO 2007, S. 3).

3 Das Entstehen von Knappheit an Gesundheitsgütern

Zum Verständnis der Thematik ist es wichtig zu verstehen, wie Knappheitsbedingungen und damit Gerechtigkeitsprobleme im solidarisch finanzierten System der GKV überhaupt entstehen können und woraus sich demzufolge die Notwendigkeit von Leistungsbegrenzungen überhaupt ergibt. Diese Fragestellung wird im Folgenden genauer erörtert.

3.1 Die Systemfrage

Auf der Suche nach Lösungen für knappheitsbedingte Gerechtigkeitsprobleme im System der GKV gilt es sich zunächst der Entstehung von Knappheit auf der Systemebene anzunähern. Das GKV-System ist ein solidarisch finanziertes, staatlich stark reguliertes System und unterscheidet sich damit erheblich von einer reinen Marktsituation. Der Markt ist der Ort wo Angebot und Nachfrage aufeinandertreffen und unter Bildung des Marktpreises einen Ausgleich finden. Über diesen Marktmechanismus könnte, ebenso wie für andere Güter, eine effi- ziente Allokation von Gesundheitsgütern erzielt werden. Das Angebot entsprä- che der Nachfrage und dem Preis käme die Funktion des ausschlaggebenden Rationierungskriteriums zu. Niemand wäre in der Pflicht moralisch vertretbare Verteilungsregeln zu entwickeln, da im Grund genommen keine Verteilung ei- nes fixen Ressourcenbestandes stattfindet, sondern nur wechselseitig vorteil- hafte Tauschaktionen vorgenommen werden, die an sich keiner moralischen Rechtfertigung bedürfen (vgl. Gutmann und Schmidt 2002, S. 12f.). Somit erscheint der freie Markt prima facie als die ideale Form für die Verteilung von Ressourcen. Es ergibt sich jedoch, selbst bei einem funktionierenden Marktmechanismus, zum einen bereits ein erhebliches Gerechtigkeitsproblem dadurch, dass die in- dividuelle Zahlungsfähigkeit Grundlage der Verteilung ist (vgl. Marckmann 2007, S. 98). Hinzu kommt, dass Gesundheitsgüter einige Merkmale aufweisen, die ei- nem funktionierenden Marktmechanismus entgegenstehen. So kann man zu- nächst nicht von vorhandener Markttransparenz und Konsumentensouveränität ausgehen, die einer effizienten Marktfunktion unter anderem zugrunde liegen müsste. Die Qualität des Angebotes ist für den Patienten kaum überprüfbar, es existieren erhebliche Informationsdefizite zwischen Anbieter und Nachfrager. Zudem müssen Leistungen oftmals unfreiwillig, aus Notlagen heraus, in An- spruch genommen werden, was rationale Entscheidungen gravierend erschwert (vgl. Marckmann 2007, S. 98). Weitere, den Marktmechanismus behindernde Fakto- ren, liegen in den Kollektivgut3 - und meritorischen4 Eigenschaften von Gesund- heitsgütern. So kann man für Gesundheitsgüter zumindest teilweise von einer Nichtausschließbarkeit sprechen, da sich das Recht auf gesundheitliche Min- destversorgung, wie bereits erwähnt, aus dem Grundgesetz ableiten lässt. Die Tatsache, dass man Individuen trotz fehlender Zahlungsbereitschaft bzw. - fähigkeit, also von Rechts wegen nicht komplett von der Versorgung ausschlie- ßen kann (obwohl dies technisch natürlich möglich wäre), führt zum totalen Marktversagen (vgl. Wildmann 2010, S. 41), denn wie sollte man den übrigen Markt- teilnehmern klar machen, dass diejenigen, die nicht für Leistungen bezahlen können oder wollen, trotzdem in den Genuss einer gleichwertigen Versorgung kommen.

Aus dieser Problematik entwickelt sich das sogenannte Trittbrettfahrerphänomen. Dieser Begriff steht dafür, dass bei der Unmöglichkeit des Ausschlusses vom Konsum sogar ein Anreiz gesetzt wird, trotz vorhandener Zahlungsfähigkeit den Konsum nicht zu bezahlen (vgl. Wildmann 2010, S. 43).

Dass Gesundheitsgüter Eigenschaften meritorischer Güter aufweisen und damit (ohne staatliche Regulierung) teilweise geringer nachgefragt werden, als dies aus gesamtgesellschaftlicher Sicht sinnvoll wäre, liegt zum einen daran, dass der Bedarf an Gesundheitsversorgung in der Regel erst dann erkannt wird, wenn tatsächlich der Krankheitsfall eintritt. Dies führt vor allem bei risikoaffinen Individuen dazu, dass nur unzureichende Vorsorgemaßnahmen für den Krank- heitsfall getroffen werden (z.B. fehlender privater Versicherungsschutz, fehlen- de Finanzreserven für den Konsum von Gesundheitsgütern im Ernstfall) bzw. Maßnahmen der Krankheitsprävention, aufgrund von fehlendem Risikobe- wusstsein, gar nicht nachgefragt werden. Eine effiziente bzw. gesellschaftlich erwünschte Allokation stellt sich hier also offensichtlich nicht über den Markt- mechanismus ein. Von staatlicher Seite besteht jedoch ein berechtigtes Inte- resse an einem guten Gesundheitszustand der Bevölkerung, da ein solcher, neben einem geringeren Ressourcenaufwand, verschiedene positive externe Effekte mit sich bringt, wie z.B. eine Steigerung der Arbeitsproduktivität (→ hö- heres Bruttoinlandsprodukt (BIP)) und damit eine Erhöhung des gesamten Hu- mankapitals (vgl. Greiner und Schulenburg 2007, S. 112). Auch aus dieser Perspektive wird somit ein Manko der rein marktwirtschaftlichen Verteilung von Gesund- heitsgütern deutlich.

3.2 Knappheit im öffentlichen Gesundheitssystem

Durch die hier nur in Kürze angerissenen Aspekte wird deutlich, dass die Ge- sundheitsversorgung über einen unregulierten Markt gravierende Probleme mit sich bringt und daher, insbesondere bezogen auf die Gerechtigkeit der Vertei- lung, nicht die Idealform der Allokation von Gesundheitsleistungen darstellt. Kersting nennt die Entscheidung zwischen freiem Markt und öffentlichem Soli- darsystem daher treffend das „ erste Gerechtigkeitsproblem“ (Kersting 2002, S. 60) der Gesundheitsversorgung . Ein staatlich reguliertes und solidarisch finanzier- tes Gesundheitssystem bietet dem gegenüber deutliche Vorteile und löst einige der Probleme, die der freie Markt mit sich bringt. So ist die solidarische Finan- zierung eine der Grundlagen für die Chancengleichheit im System. Niemandem sollen aufgrund mangelnder Zahlungsfähigkeit gesundheitliche Nachteile ent- stehen. Ebenso sorgt die gesetzliche Pflicht zur Krankenversicherung dafür, dass Gesundheitsleistungen in ausreichendem Maße in Anspruch genommen werden (können) und die rechtsstaatliche Forderung nach einer gesundheitli- chen Mindestversorgung für alle Bürger erfüllt ist. Ist jedoch die Entscheidung für ein öffentliches Gesundheitssystem getroffen, entsteht zwangsläufig eine Rationierungsproblematik im oben definierten Sinne, da in jedem öffentlichen System die finanziellen Ressourcen limitiert sind. Die Entscheidung für ein öf- fentliches Solidarsystem begründet damit nach Kersting das „ zweite Gerechtig- keitsproblem“ (Kersting 2002, S. 60). Die Mittel für die Gesundheitsversorgung wer- den dadurch begrenzt, dass die Beitragssätze für die Pflichtversicherten nicht beliebig steigerbar sind und staatliche Zuschüsse zur Finanzierung in Konkur- renz zu anderen staatlichen Aufgaben, wie z.B. Bildung, Umweltschutz, innere Sicherheit, etc., stehen (vgl. Fuchs 2009, S. 19). Dem gegenüber steht eine struktu- rell prinzipiell unersättliche monetäre Nachfrage des Gesundheitssystems (vgl. Kamm 2006, S. 12; vgl. Gutmann und Schmidt 2002, S. 10), deren Befriedigung in einem Versorgungsmaximalis münden würde, der zum einen, angesichts des abneh- menden medizinischen Grenznutzens von maximierter Gesundheitsversorgung (vgl. Rauprich 2006, S. 59), medizinisch nicht sinnvoll wäre und zum anderen auch als ungerecht bezeichnet werden kann. Denn von einer Schwerpunktlegung der staatlichen Finanzressourcen auf das Gesundheitswesen würden zum einen nur bestimmte Bevölkerungsgruppen, insbesondere, aufgrund der hohen Krankheitslast, die älteren Personen profitieren, während durch die Verknap- pung in anderen Bereichen, beispielsweise dem Bildungssektor, eine zusätzli- che Benachteiligung für junge Menschen entstünde (vgl. Gutmann und Schmidt 2002, S. 16f.). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Knappheit dem Staat durch die allen Lebensbereichen immanente Begrenztheit von Res- sourcen vorgegeben ist. Es bestehen lediglich die Möglichkeit und die Aufgabe, das Ausmaß der Knappheit für die unterschiedlichen Sektoren zu definieren. Knappheit ist somit nichts Neues. Bisher konnte Knappheit jedoch immer kom- pensiert und Zustände der Unterversorgung konnten vermieden werden. Durch verschiedene Faktoren droht diese Phase der Kompensation jedoch zu kippen und deshalb rückt das Thema der Rationierung zunehmend in den Fokus der gesundheitsökonomischen Betrachtung. Welche Faktoren für die drohende fi- nanzielle Dekompensation der Gesundheitsversorgung verantwortlich sind, soll im Folgenden Abschnitt erläutert werden.

3.3 Die Verschärfung der Knappheitssituation

Der zunehmenden Finanzierungsproblematik der Gesundheitsversorgung lie- gen sowohl Faktoren der Einnahmen-, als auch der Ausgabenseite zugrunde. Jedoch scheinen die Schwerpunkte, entgegen weitverbreiteter Meinung, in ers- ter Linie auf der Einnahmenseite und nicht, wie vielfach als Kostenexplosion postuliert, auf der Ausgabenseite zu liegen. Dies ist an dem seit Jahren relativ konstanten Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP abzulesen. Dieser ist seit dem Jahr 1991 lediglich von 9,9% auf 10,7% angestiegen (vgl. Simon 2010, S. 123). Als bedeutendster Einflussfaktor der Finanzierungsproblematik lässt sich die ablaufende demografische Entwicklung identifizieren. Immer weniger jungen Erwerbstätigen, die Beiträge in die gesetzlichen Krankenkassen einzahlen und ein günstiges Verhältnis von Beitragszahlungen und Inanspruchnahme von Leistungen aufweisen, stehen immer mehr ältere Mitbürger gegenüber, deren Inanspruchnahme an medizinischen Leistungen mit zunehmendem Lebensalter und zunehmender Lebenserwartung ansteigt. Hinzu kommt, dass die Ausgaben durch immer fortschrittlichere medizinische Verfahren und Produkte ansteigen, wobei typischerweise viele Innovationen kostensteigernd statt -senkend sind und zudem oftmals speziell den (vielen) älteren Patienten und den ohnehin für das System schon teuren Chronikern zugutekommen. (vgl. ZEKO 2007, S. 2)

Dieses Zusammenspiel von Überalterung der Gesellschaft und unaufhaltsamen medizinischen Fortschritt stellt das umlagefinanzierte GKV-System vor erhebli- che Schwierigkeiten. Krämer spricht von der großen „ Fortschrittsfalle“ (Krämer 2006, S. 40) , denn je mehr die moderne Medizin erreicht, desto „kränker“ werden die Menschen und zwar in dem Sinne, dass viele der modernen Therapien zwar eine „Aufenthaltsverlängerung“ (ebd.) ermöglichen, letztlich den Krankheitsver- lauf aber mit zunehmender Dauer immer weiter verschlimmern und die Kosten massiv ansteigen lassen. Hinzu kommt, dass das GKV-System durch eine ge- wisse Irrationalität gekennzeichnet ist, da es zum einen ein Leistungsniveau im Sinne einer Überversorgung zur Verfügung stellt, welches der Einzelne vermut- lich nicht zu bezahlen bereit wäre (vgl. Huster 2006, S. 123) und keinerlei Anreize zum rationalen Umgang mit den gegebenen Ressourcen setzt. Da dem Leis- tungsabruf keine direkte Gegenleistung gegenübersteht, ist eine Übernachfrage im Sinne eines Moral Hazard 5 -Verhaltens vorprogrammiert (vgl. Kliemt 2006, S. 96).

4 Ethische Grundpositionen - Was ist Gerechtigkeit

Der folgende Abschnitt soll in kompakter Form die wesentlichen gerechtigkeits- theoretischen Grundlagen und Lösungsansätze erörtern, die der ethischen Rechtfertigung von Rationierung und Priorisierung bzw. deren Kriterien zugrun- de liegen.

4.1 Soziale Gerechtigkeit in Zusammenhang mit Egalitarismus und Liberalismus

Gesundheit - dass konnte bereits dargestellt werden, ist ein besonderes Gut. Die Verteilung der Güter, mit denen Gesundheit geschaffen bzw. erhalten wer- den kann, muss gerecht erfolgen, darüber besteht unzweifelhaft gesellschaftli- cher Konsens und in einem Sozialstaat auch die moralische Verpflichtung. Doch was bedeutet Gerechtigkeit in diesem Kontext? Ganz allgemein kann man von Gerechtigkeit sprechen, wenn die Menschen einander so behandeln, dass es im Rahmen der jeweils vorherrschenden Umstände für alle Beteiligten ak- zeptabel ist (vgl. Koller 1995, S. 53f.). Die Verteilung knapper Gesundheitsgüter be- trifft die gesamtgesellschaftliche Ebene und ist damit dem Bereich der sozialen Gerechtigkeit zuzuordnen. Koller schlägt vor, „(…) unter sozialer Gerechtigkeit die Gesamtheit aller jener Forderungen der Gerechtigkeit zu definieren, die sich auf die institutionelle Ordnung einer ganzen Gesellschaft, d.h. auf deren Re- geln, Institutionen und Verhältnisse, beziehen.“ (Koller 1995, S. 54). Die grundle- gendsten dieser Forderungen, über die gemeinhin gesellschaftliche Einigkeit besteht, sind die Forderungen nach formaler und materialer Gerechtigkeit. In der Forderung nach formaler Gerechtigkeit wird die Gleichheit als zentrales Element der Gerechtigkeit erfasst. Gleiches ist demnach gleich zu behandeln.

(vgl. Koller 1995, S. 54f.)

Dies kann als Basis des gerechten zwischenmenschlichen Verhaltens bezeich- net werden, wobei der Inhalt des Handelns noch nicht spezifiziert wird. Es gilt lediglich der Grundsatz, unter gleichen Bedingungen die gleichen Regeln an- zuwenden. Die Regeln des Handelns selbst finden sich in dem Begriff der mate- rialen Gerechtigkeit wieder. Im Gegensatz zum Postulat der formalen Gerech- tigkeit lassen sich keine materialen Gerechtigkeitsprinzipien finden, die allge- mein und auf jede Situation sozialer Interaktion anwendbar sind. Daher unter- scheidet Koller vier Grundformen der sozialen Gerechtigkeit. An der hierarchi- schen Spitze dieser vier Formen steht die Verteilungsgerechtigkeit. Sie kann als die bedeutendste Ausprägung der sozialen Gerechtigkeit bezeichnet werden, da sie, aufgrund ihrer Funktion alle Individuen mit einem gerechten Anfangsbe- stand an Rechten und Gütern auszustatten, Voraussetzung für alle anderen Formen der sozialen Interaktion darstellt. (vgl. Koller 1994, S. 86)

Das Grundprinzip der Verteilungsgerechtigkeit verlangt, dass eine ungleiche Verteilung gemeinschaftlicher Güter und Lasten einer allgemein akzeptierten Begründung bedarf. Das Prinzip fußt auf der Vorstellung der natürlichen Gleichheit, welche besagt, dass alle Menschen von Natur aus die gleichen Rechte und Pflichten besitzen. Allgemeine Akzeptanz von Gründen, welche eine Ungleichbehandlung rechtfertigen, kann angenommen werden, wenn die Folgen der ungleichen Behandlung im Interesse aller Beteiligten liegen (z.B. die Deckung dringlichster Bedürfnisse Einzelner). (vgl. Koller 1995, S. 58)

Die der Verteilungsgerechtigkeit unterliegenden Güter grenzt Koller mit zwei Kriterien ein. Demnach sind diese sozialen Güter nicht-dominierbar, d.h. ihre Verteilung steht nicht in Konflikt mit der Verteilung höhergestellter sozialer Gü- ter, und nicht-substituierbar, was bedeutet, dass ihre Verteilung nicht durch die Verteilung anderer sozialer Güter ersetzt werden kann (vgl. Koller 1994, S. 95). Ge- sundheit wird von Koller nicht explizit als soziales Gut aufgeführt, obwohl sie anhand der genannten Kriterien durchaus einbezogen werden könnte. Den All- gemeinen Rechten, die Koller als ersten Punkt in seiner Liste sozialer Güter aufführt, muss nach Ansicht des Verfassers auch das Gut Gesundheit bzw. das Menschenrecht auf Gesundheit zugerechnet werden. Kollers „Güterliste“ deckt sich weitestgehend mit den von Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit for- mulierten „ social primary goods“ (Rawls 1999, S. 54) : Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen und Vermögen, wobei auch Rawls Gesundheit nicht ausdrücklich als soziales Grundgut aufführt. Ebenso sind Kollers Gerechtigkeitspostulate vergleichbar mit Rawls‘ Gerechtigkeitsgrundsätzen, die zum einen Gleichheit im Sinne eines Anrecht auf gleiche Grundfreiheiten fordern und zum anderen die Möglichkeit des Abweichens von der Gleichheit erlauben, wenn begründet er- wartet werden kann, dass dies zum Vorteil der am wenigsten Begünstigten der Gesellschaft führt (vgl. Rawls 1999, S. 53; 72). Basierend auf Rawls entwickelte Da- niels seine Theorie einer gerechten Verteilung von Gesundheitsgütern.

Wie bereits erwähnt, sieht Daniels Gesundheit als Voraussetzung einer fairen Chancenverteilung an und verbindet die Rawlsschen Gerechtigkeitsprinzipien mit der Gesundheitsversorgung dadurch, dass die social primary goods nach Rawls Determinanten der Gesundheit sind. Gerechtigkeit in der Gesundheits- versorgung kann also nur erreicht werden, wenn alle beeinflussbaren ihr zu- grundeliegenden Faktoren gemäß Rawls‘ Gerechtigkeitsprinzipen verteilt wur- den. (vgl. Rid 2010, S. 156f.)

Es lässt sich festhalten, dass sowohl Koller, als auch Rawls und Daniels, eine egalitaristische Grundeinstellung vertretend, die Gleichheit als zentralen Aspekt einer gerechten Verteilung betrachten. Ebenso kommt zum Tragen, dass durch die postulierte Möglichkeit einer Abweichung von der Gleichheit, bei Vorliegen allgemein akzeptierter Gründe bzw. bei erwartetem Vorteil für die am meisten Benachteiligten, eine besondere Berücksichtigung der Schwachen und Hilflosen - der Bedürftigsten - erlaubt bzw. sogar verlangt wird. Ähnliches gilt für eine faire Chancenverteilung, die insbesondere Daniels einfordert. So muss den Schwächsten (bzw. den Kränkesten) einer Gesellschaft besondere Fürsorge bzw. ein überproportionales Maß an Hilfe zukommen, um auch für sie die Voraussetzungen für ein gutes Leben zu schaffen. Gerade dieser letzte Aspekt wird im Weiteren noch eine gewichtige Rolle spielen, wenn es um die Bewertung konkreter Rationierungs- bzw. Priorisierungskriterien geht. In liberalistischer Sichtweise kann von Verteilungsgerechtigkeit gesprochen werden, wenn Verteilungsentscheidungen, in diesem Sinne auch Rationie- rungsentscheidungen, unter Beachtung des moralischen Rechts auf Selbstbe- stimmung von jedem Einzelnen selbst, ohne externe Übervorteilung, Zwänge, Manipulationen oder sonstiges Unrecht getroffen werden (vgl. Wallner 2002, S. 37). Das bedeutet, könnte jeder über die Durchführung seiner Behandlung oder aber deren Unterlassung selbst bestimmen, wäre Rationierung frei von einem ethi- schen Dilemma. Dies wird aber im realen Leben nicht immer möglich sein, ins- besondere angesichts der häufigen Notwendigkeit unverzüglicher therapeuti- scher Entscheidungsfassung und eines patientenseitigen Informationsdefizits sowie angesichts der Tatsache, dass es wohl kaum genug Menschen gäbe, die zugunsten anderer auf eine Behandlung verzichten würden, um so das Ge- sundheitssystem finanziell dauerhaft zu stabilisieren (vgl. Kopetsch 2001, S. 98f.). Ein dennoch gerechter Lösungsweg für diese Problematik kann mittels eines kontraktualistischen Ansatzes darin gefunden werden, dass Rationierung auf vertraglichen Regeln beruht, auf die sich alle Gesellschaftsmitglieder einigen können (vgl. Wallner 2002, S. 34). Die Ermittlung dieser Regeln stellt, aufgrund von Wertepluralität und unterschiedlichen Vorstellungen des Guten und Erstre- benswerten in der Gesundheitsversorgung, unzweifelhaft die größte Schwierig- keit im Kontext der Rationierung von Gesundheitsleistungen dar. Diese kann jedoch, durch die Orientierung an „anthropologischen Konstanten“ (Marckmann 2010a, S. 20), d.h. grundlegenden menschlicher Wertvorstellungen, bewältigt wer- den. Ohne auf spätere Ausführungen vorgreifen zu wollen wird hier bereits er- sichtlich, dass eine solche Vorstellung von Gerechtigkeit einen öffentlichen Wil- lensbildungs- und Entscheidungsfindungsprozess voraussetzt.

[...]


1 Die Begriffe Gesundheitsgüter und Gesundheitsleistungen werden in dieser Arbeit synonym verwendet und bezeichnen die Gesamtheit aller Sach- und Dienstleistungen der Gesundheitsversorgung.

2 Unter Rationalisierung versteht man, in Abgrenzung zu Rationierung und Priorisierung, das Ausschöp- fen von Wirtschaftlichkeits- und Effizienzreserven, ohne dabei die Leistungsvergabe einschränken zu müssen. Es gilt generell der Grundsatz Rationalisierung vor Rationierung (vgl. Wodarg 2009, S. 109).

3 Kollektivgüter sind, in Abgrenzung zu Individualgütern, insbesondere durch die Nichtanwendbarkeit des Ausschlussprinzips und den nicht rivalisierenden Konsum charakterisiert (vgl. Wildmann 2010, S. 39).

4 Meritorische Güter (für die Allgemeinheit verdienstvolle Güter) sind durch einen anwendbaren Konsumausschluss sowie rivalisierenden Konsum gekennzeichnet. Nachfrage und Angebot liegen jedoch unter dem gesamtgesellschaftlich erwünschten Ausmaß (vgl. Wildmann 2010, S. 44).

5 Moral Hazard = Ein bei Bestehen einer Versicherung auftretendes Phänomen welches dazu führt, dass der Versicherte versucht für den bereits bezahlten Versicherungsbeitrag ein möglichst hohes Maß an Leistung zu erhalten oder er, aufgrund des Versicherungsschutzes, keinen Anreiz zu gesundheitsför- derndem bzw. -erhaltendem Verhalten entwickelt (vgl. Oberender et al. 2002, S. 222f.).

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Rationierte Gesundheit
Untertitel
Eine gerechtigkeitsorientierte Betrachtung der Allokation knapper Gesundheitsgüter im deutschen Gesundheitssystem
Hochschule
APOLLON Hochschule der Gesundheitswirtschaft in Bremen
Note
2,3
Autor
Jahr
2011
Seiten
85
Katalognummer
V188245
ISBN (eBook)
9783656120292
ISBN (Buch)
9783656119975
Dateigröße
1026 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
rationierte, gesundheit, eine, betrachtung, allokation, gesundheitsgüter, gesundheitssystem
Arbeit zitieren
Dominik Fischer (Autor:in), 2011, Rationierte Gesundheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188245

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