Interkulturelles Lernen in internationalen Jugendbegegnungen


Diplomarbeit, 2010

85 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Internationale Jugendarbeit
2.1 Bedeutung
2.2 Ziele
2.3 Förderprogramme
2.4 Begegnungsmaßnahmen junger Menschen

3. Interkulturelles Lernen
3.1 Historische Entwicklung
3.2 Interkulturelle Pädagogik - interkulturelles Lernen
3.2.1 Interkulturelles Lernen als eine Form des sozialen Lernens
3.2.2 Interkulturelle Kompetenz als Zielbestimmung interkulturellen Lernens
3.2.3 Stufenmodelle des interkulturellen Lernens
3.3 Kulturbegriff
3.3.1 Kulturstandards
3.3.2 Kultur - internationale Begegnungen
3.4 Ethnozentrismus, Kulturrelativismus, Universalismus
3.5 Resümee

4. Jugend als Lebensphase
4.1 Begriffliche Klärung: Adoleszenz, Jugend, Pubertät
4.2 Konzept der Identität
4.3 Jugendliches Erleben
4.4 Entwicklungsaufgaben im Jugendalter
4.5 Jugend als Lebensphase - interkulturelles Lernen

5. Interkulturelles Lernen in internationalen Jugendbegegnungen
5.1 Basis interkulturellen Lernens in Jugendbegegnungen
5.2 Eigen- und Fremdbilder
5.2.1 Stereotype
5.2.2 Zur Bedeutung des Eigenen und Fremden
5.3 Vorurteile
5.3.1 Funktionen von Vorurteilen
5.3.2 Zur Differenzierung von voreingenommenen Einstellungen
5.4 Schlussfolgerungen für internationale Jugendbegegnungen

6. Interkulturelles Lernen als kommunikativer Prozess
6.1 Kommunikation und Interaktion
6.1.1 Interkulturelle Kommunikation und Interaktion
6.1.2 Probleme interkultureller Kommunikation
6.2 Zusammenfassender Überblick
6.3 Maßnahmen in der Begegnungspraxis

7. Gruppenaspekt der Begegnung
7.1 Gruppenstruktur interkulturellerLemgruppen
7.2 Themenzentrierte Interaktion als Methode der pädagogischen Gruppenarbeit
7.2.1 Dreieck der Themenzentrierten Interaktion
7.2.2 Postulate
7.2.3 Hilfsregeln der TZI - interkulturelles Lernen in Gruppen
7.3 Zusammenfassung - Relativierung der Ergebnisse

8. Anforderungsprofil an die Fachkräfte internationaler Jugendarbeit
8.1 Interkulturelle Kompetenz in der Sozialen Arbeit
8.2 Anforderungen an die Fachkräfte internationaler Jugendbegegnungen

9. Zusammenfassung

10. Ausblick - Stand der Austauschforschung

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die internationalen Jugendbegegnungen eine maßgebliche Rolle eingenommen. In der Außenpolitik handelte es sich zunächst um die Rekonstruktion internationaler Achtung sowie Anerkennung der Staatengemeinschaft, besonders in Westeuropa, um im Bündnis existieren zu können. Bildungspolitisch ist seit den 50er Jahren der Europagedanke im Kontext zur Friedenssicherung und zur Völkerverständigung von zentraler Bedeutung.1

Die aktuelle Relevanz internationaler Jugendbegegnungen spiegelt sich im Lissaboner Vertrag wider, der am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist. Nach Art. 165 Abs. 2 hat die Europäische Union die Verantwortung, den Ausbau des Jugendaustauschs zu protegieren.2 Hinter der Förderung von internationalen Jugendbegegnungen steht u. a. die Überzeugung, das interkulturelle Lernen junger Menschen zu entwickeln. Interkulturelles Lernen wird als Vorbereitung auf ein Leben in einer mehrkulturellen Gesellschaft begriffen.3 Das EU-Programm Jugend in Aktion (2007 - 2013) vergibt in Deutschland jährlich 11 Millionen Euro, womit u. a. rund 300 Jugendbegegnungen mit 12.000 Teilnehmern gefördert werden können.4 Das Deutsch-Polnische Jugendwerk verfügte im Jahr 2008 über ein Budget von 9,53 Millionen Euro. Eine Statistik zum außerschulischen Jugendaustausch vom DeutschPolnischen Jugendwerk zeigt, dass sich von 1993 bis 2008 die Zahlen der Projekte von 992 auf 1823 fast verdoppelt haben. Darunter ist ein besonders großer Anstieg nach der EU Osterweiterung zu verzeichnen.5 Das Deutsch-Französische Jugendwerk fördert jährlich II.000 Begegnungen und hat seit 1963 über 7,5 Millionen jungen Menschen die Teilnahme an einem Austauschprogramm ermöglicht.6

Aus wissenschaftlicher Sicht ist anzunehmen, dass nicht allein die gute Organisation der Begegnung Sicherheit über das Entstehen von interkulturellen Lernprozessen bietet und eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Menschen aus einer anderen Kultur bedeutet. Im Gegenteil können reine Zusammenführungen von Jugendlichen Diskriminierung verschärfen und Vorurteile aufrechterhalten oder verstärken.7

Das heißt: Nicht immer findet interkulturelles Lernen statt, auch wenn es beabsichtigt ist. Die vorliegende Diplomarbeit beschäftigt sich mit dem interkulturellen Lernen in internationalen Jugendbegegnungen. Aufgrund der hohen finanziellen Aufwendungen sowie im Kontext der wissenschaftlichen Annahmen ist es Ziel zu untersuchen, wie interkulturelles Lernen in internationalen Jugendbegegnungen ermöglicht werden kann und welche Voraussetzungen und Bedingungen dafür erforderlich sind. In diesem Zusammenhang soll aufgezeigt werden, an welchen Problemlagen interkulturelles Lernen ansetzt.

Folgende These bildet den konkreten Ausgangspunkt der Überlegungen:

Zum Initiieren interkultureller Lernprozesse in internationalen Jugendbegegnungen bedarf es bestimmter Voraussetzungen und Bedingungen.

Dabei illustriert jede Arbeit zum interkulturellen Lernen eine Herausforderung, da der Begriff in einem breiten Zusammenhang mit weitreichenden Zielbestimmungen verwendet wird. Die vorliegende Ausarbeitung beschäftigt sich mit dem sozialpädagogischen Arbeitsfeld des Lernens im außerschulischen Bereich, wobei das interkulturelle Lernen als eine Form des sozialen Lernens definiert wird. Ferner soll die Zielbestimmung interkulturellen Lernens in der Begegnung eingegrenzt werden und aus den erarbeiteten Bedingungen die pädagogischen Aufgaben resultieren.

Folgende Subfragestellungen sind demnach Gegenstand der Arbeit:

1. Ist der Erwerb interkultureller Kompetenz als Zielbestimmung interkultureller Lernprozesse sowie als Forderung der internationalen Jugendarbeit innerhalb einer Jugendbegegnung zu relativieren?

Ausgehend von der begrifflichen Annäherung sowie durch die Erarbeitung von Voraussetzungen zum interkulturellen Lernen werden zudem die Themen der Vorurteile und Stereotypen erörtert. Darüber hinaus ist die interkulturelle Interaktion und Kommunikation als Bedingung für interkulturelles Lernen Inhalt der Arbeit. Es wird auf die Merkmale der Zielgruppe der Begegnung eingegangen und ein Kontext zum interkulturellen Lernen gebildet. Abschließend werden die bestehenden Anforderungen an das Fachpersonal internationaler Jugendarbeit diskutiert.

In Kapitel 7 werden die ermittelten Problemlagen interkulturellen Lernens mit der Themenzentrierten Interaktion (TZI) in Verbindung gebracht. Ziel der Gegenüberstellung und somit dieser Arbeit ist es, eine Möglichkeit zur methodischen Umsetzung interkulturellen Lernens in mehrkulturellen Gruppen zu bieten.

Die Ausarbeitungen sind dahingehend gegliedert, dass im Anschluss an die theoretischen Darstellungen die pädagogischen Aufgaben beleuchtet werden. Die Begriffe Austausch und Begegnung werden synonym verwendet, da auch die einschlägige Literatur keine Differenzierung vornimmt.

2. Internationale Jugendarbeit

Internationale Jugendarbeit ist ein Teilbereich der Jugendhilfe. Theoretisch und praktisch bezieht sie sich vor allem auf Jugendarbeit nach § 11 Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG). Als bedeutender Sozialisationsbereich und als Ort für informelle Lern- und Bildungsprozesse entwickelte sich die internationale Jugendarbeit zu einem jugendpolitisch und -pädagogisch relevanten Praxisfeld.8 Es umfasst die Freiwilligenarbeit, den (sozialpädagogischen) Fachkräfteaustausch und die jugendpolitische Zusammenarbeit sowie den Gruppenaustausch und die Begegnung im In- und Ausland aller Nationalitäten. Somit richten sich die Maßnahmen an Einzelpersonen und Gruppen. Der Gruppenaustausch bzw. die Begegnung stellen dabei den Hauptanteil der internationalen Jugendarbeit dar.9 Aus „pädagogischpraktischer Perspektive“10 wird internationale Jugendarbeit als ein Lemfeld verstanden, welches die Möglichkeit zur direkten Kommunikation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen verschiedener Nationalitäten als zentrale Aufgabe definiert.11

2.1 Bedeutung

Internationale Jugendarbeit wird als Schwerpunkt der Jugendarbeit beschrieben. Aktuelle Entwicklungen und soziale Probleme können nicht allein auf nationaler Ebene begriffen bzw. gelöst werden, es bedarf einer internationalen Orientierung.12 Besondere Herausforderungen ergeben sich im Kon]text der Europäischen Union, der multilateralen Kooperationen, der Veränderungen in Mittel- und Osteuropa sowie der Zusammenarbeit für Entwicklung und Frieden.13 Die Forderungen nach interkulturellem Lernen, Toleranz gegenüber ausländischen Mitbürgern und dem Kampf gegen Rassismus stehen in Verbindung mit den Zielen der deutschen Einwanderungsgesellschaft, aber auch - wie beschrieben, die interkulturellen, internationalen und interreligiösen Dialoge auf internationaler Ebene sind Gründe für die politisch hohe Bedeutung des Praxisfeldes.14

Vor diesem Hintergrund beschreibt der Kinder- und Jugendplan 2009 Folgendes:

„Internationale Jugendarbeit soll jungen Menschen helfen, andere Kulturen und Gesellschaftsordnungen sowie internationale Zusammenhänge kennenzulemen, sich mit ihnen auseinander zu setzen [sic!] und die eigene Situation besser zu erkennen, sowie ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern Verständnis und Toleranz entgegenzubringen.“15

Ferner soll jungen Menschen bewusst werden, dass sie für die Friedenssicherung, für mehr Freiheit und soziale Gerechtigkeit in der Welt mitverantwortlich sind. Die Jugendlichen zu motivieren, am Wachstum der Europäischen Union unter Einbeziehung von Mittel- und Osteuropa mitzuwirken und Möglichkeiten zum solidarischen Handeln zu zeigen, sind weitere Bestandteile des Kinder- und Jugendhilfeplans.16

2.2 Ziele

Zunächst sollen Jugendliche die Jugendarbeit mitbestimmen und mitgestalten können, mit dem Ziel, dass sie soziales Engagement entwickeln, gesellschaftliche Verantwortung übernehmen und zur Selbstbestimmung befähigt werden.17 Thimmel und Friesenhahn definieren drei Zielperspektiven wobei zwischen:

„1.jugendpädagogischen,
2. institutionell-zivilgesellschaftlichen und
3. politischen (Außen- und Weltpolitik) Leitzielen zu unterscheiden“18 ist.

Auf der jugendpädagogischen Zielebene stehen die persönlichen Erfahrungen der Teilnehmer, die Entwicklung der Identität, die Interaktions-, Kommunikations- und Verstehensprozesse im Umgang mit Menschen aus einer anderen Nation im Vordergrund. Es soll die Auseinandersetzung mit einer als fremd empfundenen Kultur ermöglicht, die eigene Identität reflektiert und ein Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung geleistet werden. Dies steht im Kontext der Entwicklung einer interkulturellen Handlungsfähigkeit von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufgrund wirtschaftlicher Verflechtungen.19

Bestandteil der jugendpolitischen Dimension ist die europäische und außereuropäische Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen. Kommunikation und Entwicklung der zivilgesellschaftlichen Strukturen sind dabei zentral. Durch die internationale Zusammenarbeit, bei der es sich um „bi- oder transnationale Kooperationen“20 handelt, erweitern sich die Ziele auf eine zivilgesellschaftliche und transnationale Perspektive. Auf diese Weise wird der Übergang zur dritten Ebene, der Politik, fließend, denn mittels bi- und multinationaler Abkommen wird die Relevanz der außenpolitischen Dimension verdeutlicht. Durch die Einbindung in transnationale Beziehungen ist die Entwicklung der internationalen Jugendarbeit abhängig von der internationalen Politik.21

2.3 Förderprogramme

Seit Einführung des Bundesjugendplans in den 50er Jahren entwickeln sich in der Bundesrepublik Deutschland Maßnahmen, die im Wesentlichen der Kommunikation und Interaktion von Jugendlichen aus unterschiedlichen Nationalitäten dienen. Zahlreiche Förderprogramme sind entstanden. Der Kinder- und Jugendplan (KJP) ist auf Bundesebene das wichtigste Förderinstrument. Bilaterale Einrichtungen und Aktivitäten, wie das DeutschFranzösische Jugendwerk (gegründet 1963) und das Deutsch-Polnische Jugendwerk (gegründet 1993) oder die Europäischen Jugendwochen, werden durch den Kinder- und Jugendplan besonders gefördert. Als zentrales Steuerinstrument der gesamten Jugendarbeit ist er demzufolge auch Grundlage für den internationalen Jugendaustausch. Den Rahmen zu Konzeptionen und Finanzierung stellen weiterhin die Richtlinien der Bundesländer und Kommunen, die deutsche Agentur JUGEND für Europa und die Festsetzungen der Jugendwerke. Ein europäisches Jugendwerk und Jugendzentrum wurden 1972 vom Europarat eingerichtet. Sie dienen der Unterstützung internationaler Jugendaktivitäten und der Mitbestimmung der Jugendarbeit auf europäischer Ebene.22

2.4 Begegnungsmaßnahmen junger Menschen

Die Begegnung junger Menschen soll die Möglichkeit zur Mitgestaltung der beschriebenen Entwicklungen verbessern und erweitern.23 Internationale Jugendbegegnungen sind meist binational angelegt. Optimal finden die Begegnungen in einer Hin- und Rückbegegnung statt. Wichtig dabei sind die gruppenbezogene Realisierung und das Prinzip der Gegenseitigkeit. Programmschwerpunkt ist die Beschäftigung mit speziellen Themen.24 Nach den Richtlinien des Kinder- und Jugendplans des Bundes werden drei Begegnungsmaßnahmen zwischen jungen Menschen unterschieden:

„a) bilaterale Begegnungen zwischen Jugendgruppen aus Deutschland und dem Ausland,
b) Jugendgemeinschafts- und Jugendsozialdienste sowie Seminare und andere Veranstaltungen mit einem gemeinsamen Arbeitsprogramm,
c) multilaterale Jugendbegegnungen.“25

Bei der Planung und Vorbereitung internationaler Jugendbegegnungen ist dabei u. a. Folgendes zu beachten:

„a) Das Zahlenverhältnis zwischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus dem Ausland und aus der Bundesrepublik Deutschland soll bei bilateralen Programmen ausgeglichen, bei multilateralen Maßnahmen angemessen sein. Die Zahl der mitwirkenden Leiterinnen und Leiter sowie der Fachkräfte muss in einem angemessenen Verhältnis zur Gesamtteilnehmerzahl stehen.
b) Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der Bundesrepublik Deutschland dürfen nicht jünger als zwölf Jahre sein und das 27. Lebensjahr noch nicht vollendet haben; [...] das Höchstalter gilt nicht für Fachkräfte, Leiterinnen und Leiter.
c) Die Dauer der Veranstaltung soll mindestens fünf und höchstens 30 Tage (ohne Ab- und Anreisetag) betragen; [...]. Für Maßnahmen in grenznahen Regionen kann eine kürzere Dauer gelten, wenn zwischen den gleichen Partnern innerhalb eines Kalenderjahres mehrere Begegnungen von insgesamt zehn Tagen stattfinden.“26

Auffällig sind die hohen Anforderungen an die internationale Jugendarbeit. Es stellt sich die Frage, inwiefern diese Ansprüche erfüllt werden können bzw. wie Angebote zur internationalen Jugendarbeit realisierbar und evaluierbar wären. Insbesondere bei der Benennung der Friedenssicherung als Globalziel ergeben sich hinsichtlich der Realisierbarkeit und Evaluierbarkeit, ohne Konkretisierung des Begriffes, einige Bedenken.

Aus dieser Sicht scheint es notwendig, Ziele für beispielsweise eine Jugendbegegnung sinnvoll einzugrenzen und dennoch die verschiedenen Dimensionen (jugendpädagogisch, institutionell-zivilgesellschaftlich, außen- und weltpolitisch) zu verknüpfen.

Die Forderung und Förderung interkulturellen Lernens in der internationalen Jugendarbeit steht in Verbindung mit den genannten Entwicklungen.27 Im Folgenden wird auf die Entstehung und Bedeutung des Begriffes eingegangen, dabei wird das interkulturelle Lernen als eine Form des sozialen Lernens näher definiert.

3. Interkulturelles Lernen

3.1 Historische Entwicklung

Der Begriff „interkulturelles Lernen“ hat sich in der Bundesrepublik historisch betrachtet aus der Ausländerpädagogik heraus entwickelt.28 In den Anfängen waren die Initiatoren der Ausländerpädagogik bestrebt, einen Ausgleich für die Sprachdefizite von Migrantenkindern in der Schule zu schaffen und wollten somit eine bessere gesellschaftliche Eingliederung ermöglichen. Eine einseitige Integration der Ausländer in die bestehenden Verhältnisse war gefordert.29 Durch einen Perspektivenwechsel und Schlagworte wie interkulturelle Erziehung wurde der Begriff Ausländerpädagogik in den 80er Jahren nach und nach mit „interkultureller Pädagogik“ und „interkulturellem Lernen“ ersetzt. Das Konzept der interkulturellen Erziehung sollte eine Antwort auf die neuen Probleme einer multikulturellen Gesellschaft sein. Der Sozialisationsprozess stelle einen andauernden interkulturellen Konflikt dar und somit richtet sich die interkulturelle Pädagogik an Ausländer und Einheimische.30 Rechtsextremistische Anschläge in den 90er Jahren sowie entstandene Probleme der Globalisierungsprozesse in den letzten Jahren lassen die Begriffe interkulturelle Pädagogik und interkulturelles Lernen immer wichtiger erscheinen.31

3.2 Interkulturelle Pädagogik - interkulturelles Lernen

Wörtlich genommen bedeutet interkulturelles Lernen, dass es sich um einen Lernprozess handelt, der zwischen Kulturen abläuft. In der Pädagogik, Soziologie, Ethnologie und Psychologie werden zum Teil sehr unterschiedliche Definitionen dargestellt, was sich daraus ergibt, dass bestimmte Handlungsfelder je nach Wissenschaft intensiver betrachtet werden. Mit der Thematik, von Herausforderungen und Strategien zur Bewältigung von Problemen die sich im Austausch von Fachkräften im internationalen Kontext und der Zusammenarbeit in internationalen Teams ergeben, beschäftigt sich die Psychologie. In der soziologischen Betrachtungsweise werden die Migrationsbewegungen, deren Auswirkungen auf gesellschaftliche Gruppen sowie die gesellschaftlichen Faktoren beleuchtet. Die Pädagogik legt dabei den Fokus auf Schule, Stadtteilarbeit sowie auf Jugendbegegnungen.32 Es sei zudem noch angemerkt, dass zwei Grundmotive interkultureller Pädagogik unterschieden werden. Einerseits kann sie begegnungsorientiert sein oder andererseits als Konfliktpädagogik begriffen werden.33 Ein gemeinsames Grundmotiv der Wissenschaften lässt sich jedoch ausfindig machen: die Gestaltung eines konstruktiven, gleichberechtigten Zusammenlebens verschiedener Kulturen im täglichen Leben.34 Interkulturelles Lernen ist zu dem sehr komplex und repräsentiert verschiedene Ausprägungen. Interkulturelles lernen wird als biografisches, global politisches und solidarisches Lernen verstanden. In den 70iger Jahren wurde das interkulturelle Lernen durch Breitenbach als spezifische Form des sozialen Lernens definiert.35

3.2.1 Interkulturelles Lernen als eine Form des sozialen Lernens

Nicklas betont, dass sich soziales Lernen auf Anreicherungsiemen bezieht. Somit besteht ein gewisses Vorverständnis zur Sache oder Situation, welches durch neue Erfahrungen ergänzt wird. Dies bezeichnet, das Lernen als konzentrische Kreise.36

Beim interkulturellen Lernen als eine Form des sozialen Lernens komme es durch das Erleben kulturellen Dissens und durch kulturelle Gegenüberstellung zu einer Analyse und Relativierung persönlicher kultureller Normen und Sozialsysteme sowie zum Abbau von kulturellen (nationalen) Vorurteilen. Die Metakommunikation über kulturelle Normen und Unterschiede sei Bedingung dafür.37 Metakommunikation kann als Kommunikation über (z. B. kulturspezifische Formen) von Kommunikation verstanden werden.38 Für Thomas Alexander erfolgt dann interkulturelles Lernen, wenn eine Person bereit ist, das charakteristische fremdkulturelle System der Orientierung bestehend aus der Wahrnehmung, des Denkens, Wertens und Handelns nachzuvollziehen (zu verstehen), in das eigene Orientierungssystem aufzunehmen und im Kontakt mit fremden Kulturen im Denken und Handeln anzuwenden. Ferner sei die Reflexion des eigenen Orientierungssystems Voraussetzung zum interkulturellen Lernen. Interkulturelles Lernen soll dazu beitragen fremde sowie eigene Kulturstandards aufzudecken.39

Im Rahmen der internationalen Jugendbegegnung stellt das Zusammenkommen und die Dauer dieser Zusammenkunft von mindestens fünf Tagen - Kinder- und Jugendhilfeplan -grundsätzlich eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme dar. Durch die Begegnung haben die Jugendlichen die Chance, sich mit dem Orientierungs-, Werte- und Handlungssystem von Menschen aus einer anderen Kultur auseinanderzusetzen. Sich mit konträren Erfahrungen zu konfrontieren, diese zu reflektieren, ist der Kern interkulturellen Lernens. Allein der Kontakt zu Mitgliedern unterschiedlicher Kulturen reicht nicht aus, um den Lernprozess in Gang zu setzen.40

Interkulturelles Lernen als spezifische Form des sozialen Lernens orientiert sich an den Zielstellungen des sozialen Lernens generell. Folgende Absichten werden benannt - wobei der interkulturelle Kontext gleich mitgedacht ist: Empathiefähigkeit bezogen auf die Situation von Minderheitenangehörigen, die Entwicklung von Toleranz gegenüber kultureller Abweichungen, Solidarität im interkulturellen Kontext die Überwindung ethnozentrischer Sichtweisen sowie Konflikt- und Kooperationsfähigkeit. Der Abbau von Vorurteilen ist intendiert.41

Ausschlaggebend für interkulturelles Lernen als soziales Lernen ist die Annahme, dass soziale Kompetenzen in interkulturellen Situationen zum Tragen kommen oder das organisierte Bildungsmaßnahmen z. B. interkulturelle Jugendbegegnungen zum Abbau von Vorurteilen beitragen.42

Folglich ist zum Einleiten interkultureller Lernprozesse das eigene und fremde Orientierungssystem zu erkennen und zu reflektieren. Durch Erfahrungen kultureller Unterschiede und Vergleiche sowie mit Hilfe von Metakommunikation soll der Abbau von Vorurteilen erreicht werden. Ferner wird die Überwindung ethnozentrischer Einstellungen postuliert. Es wurde deutlich, dass die Forderung internationaler Jugendarbeit nach solidarischem Handeln einen Kontext zur Überwindung ethnozentrischer Sichtweisen bildet. Im Folgenden wird auf den Begriff der interkulturellen Kompetenz eingegangen. Der Verfasserin der vorliegenden Arbeit scheint der Aspekt dahingehend relevant, als dass interkulturelle Kompetenz in der Literatur als Ergebnis interkultureller Lernprozesse charakterisiert wird.43 Des Weiteren hat die internationale Jugendarbeit aufgrund wirtschaftlicher Verflechtungen diese Forderung in ihren Zielen aufgenommen.

3.2.2 Interkulturelle Kompetenz als Zielbestimmung interkulturellen Lernens

Interkulturelle Kompetenz wurde bereits als Schlüsselqualifikation moderner und weltweit orientierter Gesellschaften benannt. Zudem lässt sich interkulturelle Kompetenz hinsichtlich der verschiedenen Dimensionen aufschlüsseln, die im Abschnitt „Internationale Jugendarbeit“ erläutert wurden. Mit Blick auf die Teilnehmer einer internationalen Jugendbegegnung steht der Kompetenzbegriff mit den individuellen Erfahrungen in Kombination mit der Identitätsbildung, sowie der Interaktions-, Kommunikations- und Verstehensprozesse im Umgang mit fremden Kulturen in Verbindung.44

Nach Grosch und Leenen ist interkulturelle Kompetenz die Fähigkeit, mit Angehörigen anderer Kulturen dauerhaft, effektiv und gefühlvoll handeln zu können, was durch interkulturelles Lernen initiiert werden soll.45 Für Kiechl ist beispielsweise eine Person bereits dann interkulturell kompetent, wenn die Konzepte der Wahrnehmung, des Denkens und Handelns bei der Zusammenarbeit mit Menschen aus fremden Kulturen erfasst und begriffen wurden.46

Nach dieser Darstellung, fehlt der handlungsbezogene Aspekt interkultureller Kompetenz. Festzuhalten bleibt, dass interkulturelle Kompetenz eindeutig auf der Ergebnisebene des interkulturellen Lernprozesses zu verorten ist, was im folgendem Schema verdeutlicht wird.47

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Schema zur Verortung zentraler Begriffe des interkulturellen Lernens

Die Abbildung greift einen vereinfachten Erklärungsvorschlag auf. Interkulturelles Lernen bildet demnach den zentralen Prozess. Ausgangspunkt sind Situationen interkultureller Begegnungen oder interkultureller Bildung die durch interkulturelle Lernprozesse zur interkulturellen Kompetenz führen sollen.48

Folglich sind nicht nur formelle, sondern auch informelle Kontakte mit fremdkulturellen Personen berücksichtigt. Dies impliziert, dass Menschen neben organisierter Bildung lernen.49

Interkulturelle Kompetenz als Ergebnis des interkulturellen Lernprozesses bildet den Ausgangspunkt für die Betrachtung des Stufenmodells, welches folgend präsentiert und anschließend als Zielbestimmung internationaler Jugendarbeit innerhalb der Begegnung relativiert wird.

3.2.3 Stufenmodelle des interkulturellen Lernens

Gerhard Winter beschrieb in den 80er Jahren ein Stufenprozess des interkulturellen Lernens. Demzufolge könne der Erwerb interkultureller Kompetenz nie als vollendet bezeichnet werden. Interkulturelle Kompetenz beginne beim interkulturellen Lernen, gemäß eines allgemeinen Kulturlemens.

Winter nimmt an, dass durch vielfältige interkulturelle Kommunikation in unterschiedlichen Ländern allgemeine Normen, Strategien und Techniken erlernt werden können, welche notwendig erscheinen, um sich in der fremden Kultur orientieren und anpassen zu können. Das schnelle Abrufen und Anwenden von speziellem Kulturwissen und allgemein geltender Handlungsweisen, ist für ihn das optimale Endresultat interkultureller Kommunikation. Lernen bedeute aber das konstante Erarbeiten von Regeln, Strategien und Techniken wie sie zur Aneignung über Kulturstandards und Handlungsweisen benötigt werden.50 Die Teilnahme an einem Jugendaustausch gestatte gemäß Winter nicht das Erreichen eines generalisierten Kulturlernens. Wichtige kulturelle Standards könnten im Kontext fremdkulturellen Verhaltens erkannt werden, hätten jedoch keine Wirkungen auf das Handeln einer Person. Fehlende Kompetenzen wie Perspektivenübernahme sowie die Reflexion eigenkultureller Standards seien dafür verantwortlich.51

Für Thomas Alexander stehen am Schluss eines konstanten interkulturellen Lernprozesses das know-how über die fremden Kulturstandards und ihre „[...] handlungssteuemden Wirkungen sowie die Fähigkeit, Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils- und Attributierungsprozesse in Verbindung fremdkultureller Orientierungsprozesse zu vollziehen.“52

Schölten beschreibt in Anlehnung an Osgood und Nicklas den interkulturellen Lernprozess in folgenden drei Stufen:

Stufe A: die hier als „interkulturelle Naivität“ bezeichnet wird, auf ihr werden die eigenen Normen unbewusst auf die Anderen übertragen. Es besteht die Annahme, dass die Fremden sich entsprechend der Erwartungen einer Person verhalten werden. Das Bewusstsein über kulturelle Differenzen sei nach Schölten vorhanden, könne aber nicht beschrieben werden. Stufe B: Durch das Auftreten von Missverständnissen, welche sich zwangsläufig aus der Verschiedenheit der Normen ergeben und im Gegensatz zu den Erwartungen stehen, könne es zu einem Kulturschock kommen. Die Existenz der fremden Normen werde erkannt, nicht aber die Realität der eigenen.

Stufe C: beinhaltet das Erkennen der eigenen Normen als relativ. Darüber hinaus ist das objektive Betrachten der eigenen und anderen Standpunkte Bestandteil der Stufe C. Endresultat dieses Stufenmodells ist es, Lösungen zu finden, die ein gemeinsames Handeln gewährleisten.53

Ob das Erreichen der Stufe C als interkulturelle Kompetenz bezeichnet werden kann, bleibt hier offen - da nicht ersichtlich wird, wie Schölten interkulturelle Kompetenz definiert. Dennoch beschreibt auch er die Handlungsfähigkeit als Ergebnis des interkulturellen Lernprozesses. Akzentuiert wird diese in Bezug auf ein kollektives Handeln.

Nieke besteht ebenfalls auf eine sich entwickelnde Zunahme der Erkenntnisse im interkulturellen Lernprozess. Sie ergeben sich aus in den fünf folgenden Schritten:

„1. Offenheit, Kontaktbereitschaft, Bemühen um Verständnis, Emstnehmen, Anerkennung des bzw. der anderen,
2. Erkennung von Stereotypisierungstendenzen, Reflexion eigener Vorurteile, Aufmerksamkeit für rassistische Strukturen,
3. Einsicht in die Kulturgebundenheit menschlichen Verhaltens generell, Dezentrierung, Eingeständnis eigenen Befremdens, Umgang mit Angst,
4. Fähigkeit interkulturellen Verstehens und Kommunizierens im Bewusstsein um Machtasymmetrien.
5. Befähigungzum Dialog.“54

Holzbrecher weist darauf hin, dass vier Grundthemen des interkulturellen Lernens bei der Sichtung der Literatur immer wieder auffallen:

1. das Verstehen und der Umgang mit dem Fremden
2. Anerkennen des Anderen/Identität
3. der objektive Umgang mit der Differenz
4. Verständigung über die nationale Grenzen hinaus sowie internationale Verantwortung

Unabhängig davon, ob es sich um schulische oder außerschulische Konzepte handelt, können diese vier Themen auch als Kern der Lern- und Lehrziele verstanden werden.55 Lemniveaustufen sind bisher nicht empirisch überprüft worden. Eine stufenweise Erklärung des interkulturellen Lernens ist dennoch plausibel, da viele Begegnungen daran scheitern, dass Ziele zu hoch gesteckt werden.56

Verdeutlicht werden sollte, dass sich interkulturelles Lernen auf einen Prozess bezieht, d. h. auf einen Verlauf, eine Entwicklung. Denkbar wäre, dass wie nach Thomas, am Ende des interkulturellen Lernprozesses Kenntnisse über kulturelle Normen sowie daraus resultierenden Handlungsmuster gebildet wurden sowie die Fähigkeit, fremde Kulturen wahrzunehmen, darüber nachzudenken, sie zu beurteilen und eigenes sowie fremdes Verhalten zu erklären. Dieser Ausgangspunkt könnte mit der Theorie von Winter in Verbindung gebracht werden.

Demnach kann nur eine dauerhafte Erarbeitung von Kulturstandards und Handlungsmustern sowie ein schnelles Abrufen von allgemein geltenden Handlungsweisen als interkulturelle Kompetenz verstanden werden. Dieser Prozess ist nie abgeschlossen.

Im Rahmen dieser Arbeit wird aufgrund der Forderung nach einer dauerhaften Erarbeitung von Kulturwissen und Handlungsweisen davon ausgegangen, dass ein interkultureller Lernprozess (der zur Kompetenz führen soll) innerhalb einer Jugendbegegnung nicht als vollendet betrachtet werden kann. Folglich ist diese Forderung der internationalen Jugendarbeit zu relativieren.

Das Initiieren der ermittelten Aspekte (Abbau von Vorurteilen, das Erkennen und die Reflexion des eigenen und fremden Orientierungssystems sowie die Überwindung ethnozentrischer Sichtweisen) interkulturellen Lernens sind demnach vordergründig. Nachstehend erfolgt eine Positionierung dahingehend, was in der vorliegenden Ausarbeitung unter Kultur verstanden wird und welcher Zusammenhang zum interkulturellen Lernen besteht.

3.3 Kulturbegriff

Begriffsgeschichtlich ist auf die Gegensätzlichkeit von cultura und natura zu verweisen. Cultura, aus dem Lateinischen hergeleitet, bedeutet bebauen, pflegen und bezieht sich auf das vom Menschen Bearbeitete. Im Gegensatz dazu steht natura, die von den Menschen unberührte Natur. Nach dieser Definition ist alles das Kultur, was je vom Menschen geschaffen und bearbeitet wurde.57

Die interkulturelle Pädagogik bezieht sich nicht auf eine abstrakte, vom sozialen Kontext losgelöste Kulturbestimmung. In Anlehnung an die Ethnologie steht vielmehr die Alltagskultur im Vordergrund der Betrachtung.

Dabei wird Kultur als heterogen, nicht geschlossen sowie prozesshaft und dynamisch beschrieben.58 Kultur kann als ein „historisches Produkt“ menschlichen Handelns definiert werden. Dabei ist das kulturelle System insofern dynamisch, als es von gesellschaftlichen Prozessen beeinflusst wird, aber auch kulturelle Systeme gesellschaftliche Prozesse beeinflussen können.59

Lösche betont ferner, dass Kultur, aus sich heraus dauernde Anpassungs- und auch Veränderungsbereitschaft verlangt.60

Ist der Fokus auf die Verbesserung der Kooperation zwischen Menschen aus verschiedenen Kulturen gelegt, dann ist eine Definition ausgehend von der Austauschforschung (Untersuchungen der Bedingungen, Prozessverlauf und Wirkungen internationaler Austauschprogramme)61 - um die Problemlagen interkulturellen Lernens zu begreifen -sinnvoll. Demzufolge wird Kultur als ein Orientierungssystem verstanden. Ein System zur Orientierung wird aus Symbolen (Sprache, Gestik, Kleidung) geformt und in eine Gesellschaft, Organisation oder Gruppe überliefert. Dieses Orientierungssystem bestehend aus Symbolen, mit denen sich Menschen ausdrücken und ihre Erfahrungen benennen, haben Einfluss auf die Wahrnehmung, auf das Denken, Werten und Handeln aller Angehörigen einer Gesellschaft, Organisation oder Gruppe. Ferner wird somit die Zugehörigkeit zur Gesellschaft usw. bestimmt. Die Kultur als Orientierungssystem ermöglicht den Mitgliedern eine Umweltbewältigung und schafft Handlungsmöglichkeiten.62

3.3.1 Kulturstandards

Kulturstandards bestimmen das jeweilige kultureigene Orientierungssystem. Unter Kulturstandards wird das gesamte Wahmehmen, Denken, Werten und Handeln zusammengefasst, welches von der Majorität einer Gesellschaft, Organisation oder Gruppe als normal, nicht auffällig, angesehen wird. Kulturstandards reglementieren beispielsweise Essgewohnheiten, Erziehungsregeln, aber auch das politische System oder religiöse Bräuche.63

Diese Regeln sind dabei keine individuellen Innovationen, sondern generell verbindliche Verhaltensregeln für die Personen, die in der jeweiligen Kultur aufgewachsen sind und sich dieser zugehörig fühlen.64

Ein Beispiel aus der Praxis soll das Orientierungssystem und die Kulturstandards verdeutlichen - und zugleich die Gegensätzlichkeiten kultureller Standards darstellen.

In Deutschland wäre es nicht auffällig, wenn das weibliche Geschlecht im Sommer mit kurzer Hose, T-Shirt usw. gekleidet auf die Straße geht. Die kulturelle Norm (Standard) stellt hierbei die Orientierung dar und beeinflusst das Handeln. Infolgedessen wird sich die Mehrheit der deutschen Frauen im Sommer leicht bekleiden. Dieses Verhalten wäre angepasst, ein Teil der deutschen Gesellschaft. Eine türkische Frau hingegen würde sich an türkischen kulturellen Standards orientieren und nicht leicht bekleidet auf der Straße zu sehen sein. Innerhalb ihres türkischen Umfeldes wäre sie, mit einer Kleiderwahl bis zu den Knöcheln bedeckt, unauffällig. Eine Kollision verschiedener Kulturstandards würde dann auftreten, wenn sich die deutsche Frau innerhalb des türkischen Umfeldes nach deutschen Standards verhielte.

Eigene Kulturstandards stehen somit im Gegensatz zu fremden. Dies erschwert die Verständigung zwischen den Kulturen und kann als Bedrohung eigener Kulturstandards wahrgenommen werden.65 Aufgrund der Orientierungsfunktion von Kulturstandards werden Verhaltensweisen einer Person dann zur Ablehnung und Verurteilung durch die soziale Umwelt führen, wenn sie sich nicht innerhalb eines akzeptierten Toleranzbereiches befinden.66 Desch fügt hinzu, dass kulturelle Vielfalt durch die Existenz von Subkulturen bereits innerhalb eines Landes zu verzeichnen ist.67 Nach Thomas existieren vermutlich innerhalb einer Nation aber ähnlichere Vorstellungen über gewisse Standards als zwischen Mitgliedern verschiedener Länder.68

3.3.2 Kultur - internationale Begegnungen

Der Mensch, der innerhalb einer bestimmten Kultur lebt, ist von dieser geprägt. Im Rahmen der Primärsozialisation wird die Kultur verinnerlicht. Das prozesshafte Erlernen der Kultur, welches die Eingliederung in die Gesellschaft ermöglicht, wird Enkulturation genannt.69

Wirklich bewusst werden die Unterschiede internalisierter Regeln erst durch die Begegnung mit dem fremden.70 Interkulturelle Begegnungen stellen eine Überschneidungssituation mit verschiedenen kulturellen Standards dar, die erst mal zu Missverständnissen führen können. Können die Irrtümer aus den eigenen kulturspezifischen Konzepten heraus nicht erklärt werden, wird die Ursache für den Zwiespalt dem Anderen angelastet. Der Fremde wird abgelehnt und verurteilt.71

Das impliziert, dass Kulturstandards in der Begegnung bewusst und verständlich gemacht werden müssen, sodass sie die Interpretation als „Bedrohung“ verlieren und es nicht zur Ablehnung und Verurteilung kommt.72

Ausgehend vom Kulturbegriff sollte die Begegnungspraxis vor allem das Alltägliche einbeziehen. Zudem gehören Menschen häufig mehreren Kulturen gleichzeitig an: „Ich bin eine Frau aus Polen“ (Frauenkultur und Nationalkultur). „Ich bin Student und Musiker.“ „Ich bin Sohn und Freund.“ Die Mehrdimensionalität ist Kennzeichen für kulturelle Überschneidungen. Die verschiedenen Ebenen der Kultur sollen in der Begegnung mit einbezogen und der Begriff weit gefasst werden. Auf der einen Seite leben wir z. B. in nationalen Kulturen, auf der anderen Seite aber ebenfalls in verschiedenen Umwelten, die unsere Verhaltensweisen spezialisieren wie beispielsweise die Rolle als Student oder Musiker.73

Abschließend zu den bisherigen Darstellungen werden die Begriffe Ethnozentrismus, Kulturrelativismus und Universalismus erläutert.

3.4 Ethnozentrismus, Kulturrelativismus, Universalismus

Die kulturellen Normen, Werte und Verhaltensweisen einer Person sind so verinnerlicht, dass sie für diese selbstverständlich und universal erscheinen. Dabei wird das Eigene unbewusst in den Mittelpunkt gestellt und als das Überlegene sowie Bessere angesehen. Die fremden Kulturen werden nur aus einem Blickwinkel, dem eigenen, betrachtet und bewertet. Dieser Vorgang wird Ethnozentrismus genannt und ist in der interkulturellen Begegnung maßgebend. Ohne Reflexion der eigen Kultur nimmt eine Person an, dass die Welt so ist, wie sie gesehen wird. Die Selbstverständlichkeiten sind von zentraler Bedeutung, da sie als Entlastungsfunktion dienen.

[...]


1 THOMAS; CHANG; ABT 2007.

2 JUGEND für Europa 2009a.

3 JUGEND für Europa 2009b.

4 JUGEND für Europa 2009c, KLÜNTER 2007.

5 DEUTSCH-POLNISCHES JUGENDWERK 2009.

6 THfMMEL; 1LG 2008.

7 MESTER 1998.

8 THIMMEL 2008.

9 THIMMEL; ILG 2008, THIMMEL 2008.

10 FRIESENHAHN; THIMMEL 2001, S. 9.

11 FRIESENHANHN; THIMMEL 2001, THIMMEL 2001.

12 FRIESENHAHN 2001.

13 BMFSFJ 2009.

14 THIMMEL; FRIESENHAHN2003.

15 BMFSFJ 2009, S. 789.

16 BMFSFJ 2009.

17 FRIESENHAHN 2001.

18 THIMMEL; FRIESENHAHN2003, S. 17.

19 THIMMEL 2008, THIMMEL; FRIESENHAHN 2003.

20 THIMMEL; FRIESENHAHN 2003, S. 19.

21 THIMMEL; FRIESENHAHN 2003, THIMMEL 2008.

22 FRIESENHAHN 2001, IJAB 2007, JUGEND für Europa 2009b.

23 BMFSFJ 2009.

24 THOMAS; ABT; CHANG 2006.

25 BMFSFJ 2009. S.791.

26 BMFSFJ 2009. S.791.

27 KERN; KIMMIG 2007.

28 DESCH 2001.

29 HOLZBRECHER 2004.

30 VAHSEN; TAN 2002.

31 HOLZBRECHER 2004.

32 FRIESENHAHN 2001.

33 AUERNHEIMER 1998.

34 FRIESENHAHN 2001.

35 FREISE 2007.

36 NICKLAS 1998.

37 DESCH 2001.

38 DESCH 2001.

39 PODSIADLOWSKI 2004.

40 HANDRICH 1996.

41 AUERNHEIMER2003.

42 AUERNHEIMER2003.

43 THIMMEL; FRIESENHAHN2003.

44 THIMMEL; FRIESENHAHN 2003, siehe dazu Kapitel 2.2 Ziele.

45 GROSCH; LEENEN 1998.

46 AUERNHEIMER 2002.

47 GROSCH; LEENEN 1998.

48 GROSCH; LEENEN 1998.

49 STENGEL 2008.

50 THIMMEL; FRIESENHAHN2003.

51 CHANG; ELERT 2003.

52 THIMMEL; FRIESENHAHN 2003, S. 22.

53 SCHÖLTEN 2003.

54 Zitiert nach AUERNHEIMER 2003, S. 126.

55 HOLZBRECHER 2004.

56 AUERNHEIMER 2003.

57 FREISE 2007.

58 AUERNHEIMER 2003. Die Autorin dieser Arbeit nimmt an, dass Winter in seiner Definition zur interkulturellen Kompetenz im Kapitel 3.2.3 ebenfalls von einem dynamischen Kulturverständnis ausgeht und infolgedessen konstantes Erarbeiten von Regeln, Strategien und Techniken zur Aneignung von Kulturstandards und Handlungsweisen fordert. Dies wäre eine Begründung, dass das Erreichen interkultureller Kompetenz ein Prozess ist, der nie endet.

59 OTTEN; TREUHEIT 1994.

60 LÖSCHE 2005.

61 CHANG 2006.

62 LÖSCHE 2005.

63 LÖSCHE 2005.

64 THOMAS 2003.

65 LÖSCHE 2005.

66 THOMAS 2003.

67 DESCH 2001.

68 THOMAS; CHANG; ABT 2007.

69 DESCH 2001.

70 AUERNHEIMER 2003, LÖSCHE 2005.

71 LÖSCHE 2005.

72 LÖSCHE 2005.

73 FREISE 2007.

Ende der Leseprobe aus 85 Seiten

Details

Titel
Interkulturelles Lernen in internationalen Jugendbegegnungen
Hochschule
Fachhochschule Lausitz
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
85
Katalognummer
V188200
ISBN (eBook)
9783656118916
ISBN (Buch)
9783656516590
Dateigröße
822 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Interkulturelles Lernen, Internationale Jugendarbeit, Stereotype und Vorurteile, TZI, Kultur, Sozial Arbeit, Sozialpädagogik, Jugendarbeit
Arbeit zitieren
Antje Richter (Autor:in), 2010, Interkulturelles Lernen in internationalen Jugendbegegnungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188200

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