Erkenntnis im Bildungsprozess

Platons Bildungskonzeption im Höhlengleichnis


Magisterarbeit, 2011

52 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Unmittelbares Umfeld des Höhlengleichnisses
2.1 Das Sonnengleichnis (Pol. 507b-509b)
2.2 Das Liniengleichnis (Pol. 509c-511e)

3. Das Höhlengleichnis selbst als Gleichnis der Bildung
3.1 Phase I: Die Beschreibung der Gefangenen und deren Lage
3.2 Phase II: Die Entfesselung
3.3 Phase III: Das Hinaufsteigen zum Höhlenausgang
3.4 Phase IV: Der Anblick des Lichtes
3.4.1 Die vier Stufen der Erkenntnis und des Seins
3.4.2 Die Idee des Guten im Höhlengleichnis
3.5 Phase V: Der Abstieg und die Rückkehr in die Höhle

4. Paideia als Bildung und Erziehung
4.1 Platons Auffassung der Paideia
4.1.1 Paideia als Umlenkung der Seele
4.1.2 Die Höhle als Raum der sophistischen Paideia - Platons Kritik
4.2 Die Ausbildung des Philosophenherrschers
4.2.1 Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Harmonielehre (Pol. 522b-531c)
4.2.2 Dialektik (Pol. 531d-534c)
4.2.3 Der Ausbildungsgang der Herrscher (535a-514b)

5. Schlussteil

6. Literaturangaben

7. Anhang

1. Einleitung

Humboldt, Herbart, Pestalozzi, Rousseau, Comenius und einige weitere Persönlich- keiten könnten genannt werden, die zu ihrer Zeit in Verbindung mit pädagogischen Theorien und Konzepten standen und mit ihren Gedanken zur Bildung neue Impulse für selbige gaben, die also einen Wandel in der Geschichte der Pädagogik verur- sachten. Die Idee einer allgemeinen Bildung findet sich nicht erst in der humanis- tischen Epoche des 14. und 15. Jahrhunderts oder im Zeitalter der Entdeckungen und Erfindungen des 17. Jahrhunderts oder später, sondern bereits in der Antike bei den alten Griechen1. Würde man Erziehung als eine Form sehen, in der verbal Richt- linien der Lebensgestaltung weitergegeben und gewisse Orientierungsmuster der Kultur von Älteren an Jüngere übermittelt werden, so dürfte Bildung „so alt wie die Menschheit selbst sein“ (Böhm (2004:11)).

Das Bedürfnis nach einer Erziehung entstand, da im antiken Griechenland bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts weder eine höhere Bildung für die Allgemeinheit, noch eine pädagogische Theorie, gegenwärtig war (vgl. Ballauff (1969:46)). Neben der ‚Erziehung als Kunstfertigkeit bei den Sophisten‘ oder ‚dem rhetorischen Huma- nismus des Isokrates2 ‘ oder ‚den pädagogischen Fragen des Sokrates‘3, erreicht in der damaligen Zeit besonders Platon mit dem Bildungskonzept in seinem Hauptwerk der Politeia einen ersten Höhepunkt in der abendländischen Philosophie und Päda- gogik. Für Rousseau stellt dieser platonische Dialog, welcher etwas um 370 v. Chr. verfasst wurde, kein Buch über die Politik dar, sondern „die schönste Abhandlung über die Erziehung, die jemals geschrieben wurde.“ (Rousseau (1998:13)).

Anlehnend an die Dreiteilung des ‚Idealstaates‘ in Nähr-, Wächter- und Herr- scherstand stellt Platon für die verschiedenen Stände einzelne Erziehungskonzepte auf, wobei der Erziehung des Nährstandes, des Bauern- und Handwerkerstandes, kaum Beachtung geschenkt wird. Die Erziehung der Wächter behandelt Platon im II. bis IV. Buch seines Dialoges und die der zum Herrscher berufenen Philosophen im VI. und VII. Buch.

Ihren Höhepunkt erreicht die Erziehung der Philosophen im Höhlengleichnis, in welchem ein bildhafter Entwurf der platonischen Bildungstheorie konzipiert wird.

Diese Bildungskonzeption im platonischen Höhlengleichnis ist das zentrale Thema der vorliegenden Arbeit. Bevor das Höhlengleichnis, als Gleichnis der Bil- dung selbst beschrieben und aus teils pädagogischer, teils philosophischer Betrach- tungsweise gedeutet werden soll, wird zuvor das Umfeld desselben beschrieben. Hier stehen das Sonnen- und Liniengleichnis im Mittelpunkt der Ausführungen, da sich die Deutung des Höhlengleichnisses, so sagt Platon selbst, dadurch ergibt, dass man es mit dem Sonnen- und Liniengleichnis, in Verbindung bringt (vgl. Pol. 517b).

Das nächste Kapitel soll das Höhlengleichnis selbst, in fünf aufeinander folgenden Phasen beschreiben. Die ersten vier Phasen beschreiben jeweils den Bildungsprozess, mittels welchem der Mensch zur Erkenntnis gelangen kann. Er wird als der Aufstieg, eine Steigerung von den Schatten über die Wahrheit bis hin zur Wirklichkeit, illus- triert. Die höchste Erkenntnis erlangt der Mensch durch die Schau der höchsten Idee, der Idee des Guten. Die vier verschiedenen Erkenntnis- bzw. Seinsstufen auf dem Weg nach ‚oben‘, sowie die Idee des Guten im Höhlengleichnis selbst, werden in zwei Unterkapiteln ausführlicher erörtert. Die fünfte Phase, die den Wiederabstieg in die Höhle behandelt ist für das platonische Bildungskonzept, unerlässlich.

Das letzte Kapitel Paideia als Bildung und Erziehung wird nach einigen allge- meinen Ausführungen zur Bildung zweigeteilt: Zentral im ersten Abschnitt ist Platons Auffassung der Paideia, die für ihn eine philosophische ist und welche er kennzeichnend als „Umlenkung“ (Pol. 518cd) bestimmt. Neben der Deskription einiger Merkmale dieser neuen Paideia, wird im Weiteren auch auf die sophistische Paideia eingegangen. Da die Sophisten am Anfang der abendländischen Pädagogik stehen, soll ihre Paideia in Grundgedanken skizziert werden. Gleichwohl wird die platonische Kritik in diesem Teilabschnitt nicht vernachlässigt werden, da sich die sophistische Paideia in der Höhle, der Welt der Meinungen und Schatten, wieder- findet. Der zweite Abschnitt in diesem Kapitel behandelt zum einen die Fächer, in denen der Philosophenherrscher ausgebildet werden soll. Dabei dienen die mathema- tischen Fächer Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Harmonielehre, der Vor- bereitung des Studiums der Dialektik, welche nach Platon die ‚Mutter‘ aller Wissenschaften ist. Zum anderen wird in diesem Teilabschnitt das zeitliche Ausbil- dungsprogramm, welches sich nach Platon im Großen und Ganzen auf das komplette Leben des Menschen erstreckt, dargelegt.

Ziel dieser Arbeit ist, besonders anhand der Beschreibung des Höhlengleichnisses und der in ihm begründeten platonischen Bildungskonzeption, Elemente zu analysieren, welche belegen, auf welche Art und Weise sich die Erkenntnis im Bildungsprozess vollzieht.

2. Unmittelbares Umfeld des Höhlengleichnisses

Das Höhlengleichnis Platons bildet den Anfang des VII. Buches seiner Politeia. Doch was geht dem Höhlengleichnis voraus, was sind zentrale Themen vor dem VII. Buch? In der Politeia entwirft Platon seinen ‚Idealstaat‘ (vgl. Pol. 367e-427c4 ), in dem er drei verschiedene Stände unterscheidet: die Handwerker und Bauern (Nähr- stand), die Wächter (Wehrstand) und die (Philosophen-)Herrscher (Regierung). Diese drei Stände in der Polis begründet er mit den drei Teilen der Seele: Begierde, Mut und Vernunft. Jeder einzelne Stand ist charakterisiert durch seine besondere Tu- gend (vgl. Pol. 428a-431b): Weisheit ist die Tugend der Herrschenden, Tapferkeit die Tugend der Wächter und Besonnenheit die Tugend der Handwerker und Bauern. Folgender Aufbau des ‚Idealstaates‘ lässt sich übersichtlich zusammengestellt dar- stellen:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Da das explizite Thema der Politeia die Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit ist5 (vgl. z.B. Pol. 331c, 354c, 367b) muss auch nach ihr, in Verbindung mit Platons ‚Idealstaat‘, gefragt werden. Die Antwort erfolgt im IV. Buch: Wenn „jeder [Stand, U.M.] das Seinige tut und sich nicht in vielerlei mischt!“ (Pol. 433d), dann „herrscht Gerechtigkeit in der Seele des Einzelnen und in der Polis als Herrschaft der Vernunft über die anderen Teile der Seele und der Polis.“ (Martens (2000:47)).

Im ‚idealen Staat‘ sollen nach Platon die Philosophen herrschen. Den Nachweis liefert er mit der berühmten ‚Philosophen-Königs-These‘6, der entsprechend die Philosophen die besten Herrscher sind bzw. die Herrscher gegebenenfalls zu Philo- sophen werden müssen (vgl. Pol. 473cd). Doch wer ist für Platon Philosoph? Im VI. Buch der Politeia definiert er selbigen wie folgt: Philosophen sind die, „welche das sich immer gleich und auf dieselbe Weise Verhaltende fassen können“, Nicht-Philo- sophen sind im Umkehrschluss diejenigen, die „immer unter dem Vielen und man- nigfach sich Verhaltenden umherirren.“ (Pol. 484b). Ein ausführlicheres Bild des Philosophen7 stellt Platon anhand des Schiffsherrengleichnisses (vgl. Pol. 488a-489a) dar, in dem selbiger Platon beispielsweise vor Augen steht als gedächtnisstark (vgl. Pol. 486d1), als „ebenmäßig und anmutig“ (Pol. 486d7) und als Freund und Ver- wandter der Wahrheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit (vgl. Pol. 487a4- 5). Er ist ein Mensch, der „seine Gedanken auf das Seiende richtet“, also keine Zeit hat, „hinunterzublicken auf das Treiben der Menschen.“ (Pol. 500bc). Das Adverb ‚hinunter‘ spielt im Bezug auf das Höhlengleichnis eine bedeutende Rolle, was in Kapitelabschnitt 3.5 weiter ausgeführt werden wird.

Am Ende des VI. Buches setzt die ‚Gleichnisserie‘ in der Politeia ein, beginnend mit dem Sonnen- und gefolgt vom Liniengleichnis. Beide schließen das VI. Buch ab und bereiten das dritte, das Höhlengleichnis, vor. Die ersten beiden Gleichnisse the- matisieren vor allem das Wesen des Guten. Das Nachfolgende bildet nun eine Kurz- charakteristik beider ab.

2.1 Das Sonnengleichnis (Pol. 507b-509b)

Im Sonnengleichnis wird „ein natürlicher Vorgang […] auf die Lehre von der Unterscheidung des mundus sensibilis (die Welt der sinnlich wahrnehmbaren Dinge) und [mundus] intelligibilis (die Welt der denkbaren Dinge, der Ideen)“ (Utermöhlen (1967:34)), übertragen.

Sokrates leitet das Gleichnis mit einem Vorspiel ein, in dem er Glaukon ver- mittelt, dass der Sehsinn8 für ihn, vor allen anderen Sinnen, wie beispielsweise dem Hören, steht, da es zwischen dem Sehen und dem Gesehenen, noch eines dritten Wesens bedarf, nämlich des Lichtes (vgl. Pol. 507e-508a). Das Licht ist Bedingung dafür, dass das Auge Gegenstände sehen kann. Also ist nicht nur das Auge, sondern auch das, was vom Auge gesehen wird, vom Licht abhängig. Das Licht wiederum wird von der Sonne erzeugt (vgl. Pol. 508ab) und selbige gilt als Bild der höchsten Idee: Die Sonne ist der „Sprößling des Guten, welchen das Gute nach der Ähnlichkeit mit sich gezeugt hat“ (Pol. 508b). Das, was Sokrates im Bereich der Sonne und des Sehens geformt hat, wird nun auf den Bereich des Denkens und der Idee des Guten übertragen, denn auch die Idee des Guten fungiert als Drittes, nämlich zwischen Denken und Gedachtem. An dieser Stelle wird deutlich: So wie sich die Sonne im Bereich des Sichtbaren zum Sehen und Gesehenen verhält, so verhält sich die Idee des Guten im Bereich des Denkbaren zum Denken und Gedachten (vgl. Pol. 508bc).

Die Sonne, darauf verweist Utermöhlen (1967:35) in seiner Interpretation hin, ist in der antiken Vorstellung der Gott Helios und „wenn man diese Tatsache berück- sichtigt“, so führt er fort, „wird man unschwer erkennen, wie sehr geeignet das ganze Bild von der Sonne zur Mitteilung und Klarlegung der Lehre von den Seinsver- hältnissen für Platon erscheinen mußte: Wie nämlich im Raume der empirischen Er- kenntnis des Menschen die Sonne eine Stellung einnimmt, die gewissermaßen schon an den Bereich des Transzendenten angrenzt, so steht die Idee des Guten, von welcher die Sonne nur ein ‚Abkömmling‘ ist, jenseits vom Sein.“.

Das heißt also, so wie die Sonne, die nicht nur Sehkraft und Sichtbarkeit verleiht, sondern auch Leben spendet, Nahrung gibt und Wachstum und Werden ermöglicht, „unerachtet sie selbst nicht Werden ist“ (Pol. 509b), so verhält es sich auch mit der Idee des Guten und dem Sein. Auch sie ist nicht nur ein Drittes zwischen Denken und Gedachtem, sondern ihr wird ebenso Sein und Wesen verliehen, obwohl das Gute selbst nicht Sein ist, denn es ragt „über das Sein an Würde und Kraft“ (Pol. 509b) hinaus.

Das Sehen, das Gesehene, das Licht und die Sonne, welche hier im Sonnengleichnis voneinander unterschieden werden und zugleich doch wieder in Verbindung stehen, werden im Kapitel 3.4.2 erneut aufgegriffen.

2.2 Das Liniengleichnis (Pol. 509c-511e)

Das Liniengleichnis knüpft unmittelbar an das Sonnengleichnis und in ihm werden unterschiedliche Gegenstandsbereiche und Erkenntnisformen einander zugeordnet. Dafür nimmt Sokrates die aus dem Sonnengleichnis gewonnenen Begriffe, den Bereich des Sichtbaren und den Bereich des Denkbaren wieder auf und bemüht sich, sie weiter zu differenzieren (vgl. Pol. 509d).

Sokrates beschreibt, dass man sich die beiden Bereiche als eine in zwei ungleiche Abschnitte geteilte Linie vorstellen soll, die sodann nach demselben Verhältnis die ungleichen Abschnitte nochmals in zwei Teile teilt (vgl. Pol. 509de). Man würde demnach eine Linie mit vier Abschnitten erhalten. Grafisch lässt sich das Liniengleichnis beispielsweise so darstellen (aus: Mittelstraß (1995:616)):

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ausschlaggebend für Platons Deutung ist „ein wachsendes erkenntnistheoretisches Maß an Klarheit […] und ein wachsendes ontologisches Maß an Wirklichkeit“ (Mittelstraß (1995:616)). Da epistemologische und ontologische Gesichtspunkte innerhalb der Linie zusammenwirken, lassen sich die einzelnen Abschnitte derselben aus diesen zwei Perspektiven betrachten.

Aus ontologischer Sicht stellt Abschnitt a Spiegelbilder und Schatten empirischer, also unwirkliche Gegenstände (Pol. 509e1-510a3), Abschnitt b sinnlich erfahrbare Gegenstände (natürliche Dinge und Artefakte) selbst (Pol. 510a6), Abschnitt c Gegenstände der Wissenschaft9 (Pol. 510b4-6) und Abschnitt d die Ideen (Pol. 510b6-9) dar. Diese vier Abschnitte repräsentieren einen stetig höheren Grad an Wirklichkeit bzw. Wahrheit (aletheia)10.

Da diesen vier Formen vier Arten von Erkenntnis entsprechen, lassen sich aus epistemologischer Perspektive die Abschnitte wie folgt zuordnen: die „Wahrschein- lichkeit“ (Pol. 511e1) zu Abschnitt a, der „Glaube“ (Pol. 511e1) zu Abschnitt b, die „Verstandesgewissheit“ (Pol. 511e) zu Abschnitt c und die „Vernunfteinsicht“ (Pol. 511d9) zu Abschnitt d.

Folgt man der Linienskizze Mittelstraß‘ (a.a.O. S. 7), so machen Abschnitt a und b zusammen die den Sinnen zugängliche Welt, die Erscheinungswelt aus. Der Er- scheinungswelt als solcher entspricht die Meinung (doxa). Die Abschnitte c und d machen zusammen die Welt aus, die dem Denken zugänglich ist. Die Erkenntnis, die die gesamte Welt betrifft wird schließlich als Wissen (episteme) bezeichnet.

Im VII. Buch der Politeia setzt Sokrates diese Bereiche erweiternd mit dem Verweis auf Sein und Schein ins Verhältnis und sagt: „Meinung hat es mit dem Werden zu tun, Erkenntnis mit dem Sein; und wie sich Sein und Werden verhält, so Erkenntnis zur Meinung, und wie Erkenntnis zur Meinung, so Wissenschaft zum Glauben und Verständnis zur Wahrscheinlichkeit.“ (Pol. 534a1-4). Auf die vier Stufen der Erkenntnis wird in Kapitel 3.4.1 erneut näher eingegangen.

Ferber verweist in seinem Werk darauf, was Sokrates mit ‚ungleiche Abschnitte‘ meinen könnte und warum es sinnvoll wäre, die Linie vertikal und nicht horizontal darzustellen: Ersteres könnte ausdrücken, „daß ein Teil für ihn [Platon, U.M.] größere Bedeutung hat als der andere [und] da für den Platon der mittleren Dialoge das Denkbare ein größeres ontisch-axisches Gewicht besitzt als das Sichtbare, dürfen wir annehmen, daß der längere Teil das Denkbare, der kürzere Teil das Sichtbare darstellen soll.“ (Ferber (1984:80)). Zu Zweitem gibt Sokrates selbst den Hinweis, wenn er von dem „obersten“ (Pol. 511d) berichtet.

3. Das Höhlengleichnis selbst als Gleichnis der Bildung

Das Höhlengleichnis wurde sehr oft interpretiert, obwohl, wie beispielsweise Maslankowski (2005:13) anmerkt, Platons eigene Auslegung des Gleichnisses gleich anschließend folgt (vgl. Pol. 517b-518b). Für die Gesamtargumentation der Politeia hat das Höhlengleichnis mitunter die Aufgabe, das philosophische Bildungsziel, welches sich in der Idee des Guten zeigt (vgl. Pol. 519cd), darzustellen, die Erforder- nis des Wiederabstiegs in die Höhle, d.h. zu den nichtphilosophischen Menschen, zu legitimieren und das Wesen der Bildung (vgl. Pol. 518d), zuerst in Form eines Gleichnisses, danach in philosophischer Auslegung zu illustrieren. Es wird ange- kündigt als eine Schilderung der Paideia und Apaideusia11 12: „[…] vergleiche dir unsere Natur13 [U.M.] in Bezug auf Bildung und Unbildung folgendem Zustande […].“ (Pol. 514a). Benner rezitiert dies in seinem Aufsatz, wenn er den Menschen als „ein lernendes Wesen, das der Erziehung von Natur aus bedarf“ bezeichnet und weiter ausführt, dass „seine Natur und seine Bildungsgänge dadurch bestimmt [sind], dass Unbildung der Bildung vorausgeht, Bildung aber immer schon angefangen hat.“ (Benner (2011:93)).

Blum spricht in seinem Werk Höhlengleichnisse von einer „Dreistufigkeit im Höhlengleichnis“ (Blum (2004:51)). Diese Dreistufigkeit beruht auf einem Weg, der von den Phänomenen im Inneren der Höhle empor zu dem Aufstieg und den Ge- schehnissen im Freien außerhalb der Höhle und von da erneut zurück in die Höhle bis zum Schluss, nämlich dem Tod des Sehers, führt. Diese drei Stufen untergliedern sich jeweils noch in zwei Schritte. In einer Tabelle könnte man dies wie folgt darstellen14:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der vorliegenden Arbeit lehnt sich die Schilderung und Deutung der einzelnen Schritte des Höhlengleichnisses allerdings nicht an Blum an, sondern wird in fünf aufeinanderfolgende Phasen beschrieben, wobei die ersten vier Phasen, die vier Wahrheitsgegenstände15 repräsentieren. Zuerst sehen die Höhlenbewohner nur die Schatten an der Wand, nach der Entfesselung dann die Schatten innerhalb der Höhle, infolge der Befreiung aus der Höhle die Schatten außerhalb und zuletzt nehmen sie die wirklichen Gegenstände wahr. Die fünfte Phase behandelt den Wiederabstieg in die Höhle, welcher für die platonische Paideia unumgänglich ist.

3.1 Phase I: Die Beschreibung der Gefangenen und deren Lage

Sokrates beschreibt im Folgenden bildlich die Lage der Gefangenen und das Umfeld, in welchem sie eingebettet sind: Menschen leben seit ihrer Kindheit in einer „unterir- dischen, höhlenartigen Wohnung“ (Pol. 514a) mit einem gegen das Licht geöffneten, lang nach oben gestreckten Aufgang. Ihre Körperhaltung ist starr, da sie an Hals und Schenkeln gefesselt sind, sodass sie weder den Kopf wenden, noch den Körper be- wegen können. So starr wie diese Körperhaltung starren sie geradeaus.

Hinter ihnen brennt ein Feuer. Zwischen den gefesselten Höhlenbewohnern und dem Feuer befindet sich eine niedrige Mauer. Menschen tragen hinter und längs dieser Mauer allerlei Gegenstände und Kunstwerke vorbei, welche über die Mauer hinaus- ragen. Dabei reden einige, andere schweigen. Die Gefesselten sehen einerseits die Schatten der vorübergetragenen Gegenstände an der ihnen gegenüberliegenden Höhlenseite und anderseits werfen auch die Höhlenmenschen selbst Schatten16. Sie halten diese Schattenwelt - da sie ja ihren Kopf nicht wenden können und noch nie etwas anderes als diese Schatten gesehen haben - für die ganze Wirklichkeit17. Auch beziehen sie das Echo der vorübergehenden sprechenden Menschen, die sie hören, auf die Schattenbilder (vgl. Pol. 514a-515c).

Das Feuer als einzige Lichtquelle in der dunklen Höhle wird von den Bewohnern durch ihre ‚Eingeschränktheit‘ kaum wahrgenommen. Würde man die Intensität der Wahrnehmung des Lichtes dem Bildungsgrad des Menschen parallel setzen und be- haupten, je mehr Licht die Menschen haben, desto gebildeter sind sie18 und je weniger Licht sie haben, desto ungebildeter sind sie, dann würde das Leben in einer Höhle implizieren, dass ein Mangel an Bildung vorliegt. Durch den schwachen Schein des Feuers sind die Höhlenbewohner der Unbildung sehr nah, sie haben keine deutliche Sicht und können auch somit keine klare Erkenntnis besitzen (vgl. Kauder (2001:51)).

Der lang nach oben gestreckte Weg zum Höhleneingang bzw. -ausgang einerseits, sowie die starre Körper- und Kopfhaltung andererseits, könnten die Distanz der Ge- fangenen zur Bildung symbolisieren. Sie kennen durch ihre Unbeweglichkeit nur die eine Perspektive, den Blick in eine Richtung, auf die ihnen gegenüberliegende Höhlenwand. Sie sehen von sich selbst nur ihre Schatten und die Schatten der vor- übergetragenen Gegenstände, welche auf die Wand projiziert werden. Sie sind nicht in der Lage, dass sie Umgebende wie beispielsweise ihre Mitgefangenen direkt anzu- schauen.

Die Bewohner sind sich selbst darüber im Unklaren, dass das, was sie sehen, kein Licht, sondern nur ein Abbild19 desselben ist. Nach Kauder drückt dies aus, dass sie, eingeschränkt durch ihre mangelnde Bildung, nur an einem äußerst schwachen Schein eines Feuers, das den höhleninternen Ursprung des Sehens und der Sichtbar- keit wiederspiegelt, Teil haben (vgl. Kauder (2001:51)). Das Feuer seinerseits ist wiederum eine Spiegelung des Sonnenlichtes. Platon selbst weist in seiner Inter- pretation darauf hin, dass dem Feuer in der Höhle, also im Gefängnis des Sichtbaren die Sonne, im Raum der Erkenntnis entspricht (Pol. 517b)20. Bezüglich der Bildung, könnte man mit Kauder zusammenfassen, dass „die Höhlenbewohner - im wört- lichen wie im übertragenen Sinn - weder klare Sicht noch klaren Einsicht [haben]“. (Kauder (2001:52)).

Man könnte sagen, dass die Gefangenen in der Höhle in einer Art ‚Einbildung‘ leben, da sie das, was sie durch die Schatten vermittelt bekommen, für wahr halten, da sie nicht direkt Fremdes wahrzunehmen im Stande sind: Sie bilden sich beispiels- weise ein, dass ihre körperlichen Schatten an der Wand, ihre Selbstbilder sind und sie befähigen die Schatten zur Bewegung21 und zur Sprache (vgl. Kauder (2001:54)). Dadurch verkörpern die Gefangenen den Zustand eines „naiven Bewußtseins“, welches „sich ohne selbstkritische Reflexion oberflächliche Erklärungen zurecht [legt]“ und „sind darin gefangen.“ (ebd.). Dass das, was die Gefangenen sehen, nicht das Wahre ist, dessen sind sie sich nicht bewusst22, denn sie sind nicht fähig, dem was sie wahrnehmen skeptisch gegenüber zu treten, weil ihnen die Alternative des Vergleichs fehlt. Sie können also auch nicht erkennen wie banal, falsch und fiktiv dieses, ihr Scheinwissen ist (ebd.). Die Höhlenbewohner, „uns ganz ähnliche“ (Pol. 515a), wie Sokrates sagt, befinden sich also, präzise formuliert, nicht in einem Stadium des Völlig-Ungebildet-Seins, sondern in einem Stadium des Ein-Gebildet- Seins (vgl. Kauder (2001:54)).

[...]


1 Siehe weiterführend in einer übersichtlichen Darstellung Ballauffs Aufsatz Der Gedanke einer „allgemeine Bildung“ und sein Wandel bis zur Gegenwart in Twellmann (1981:233-270).

2 Isokrates gründete neben Platon eine höhere Bildung anstrebende Schule in Athen. Isokrates, Schüler des Sophisten Gorgias, konkurrierte also in seiner Zeit mit Platon auf dem Gebiet der Bildung (vgl. Rehn (2008:25)).

3 Hierbei handelt es sich um Teilüberschriften aus Böhmes Werk Geschichte der Pädagogik (Böhm (2004:13 f.)).

4 Die hier angeführten Stephanus Paginierungen beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf die Übersetzungen Friedrich Schleiermachers in Platon: Sämtliche Werke Band II, 2011.

5 Nicht nur das Wesen der Gerechtigkeit ist für Platons Untersuchung in der Politeia von Bedeutung, sondern auch die Frage nach dem Wert und Nutzen dieser Tugend (vgl. Utermöhlen (1967:101)).

6 Diese These erwächst aus dem Problem der Formung der Menschen und dieses existiert, „solange nicht politische Macht und philosophischer Geist in eins zusammenfallen.“ (Jaeger (1944:340)).

7 Obwohl Platon dem Philosophen eine Fülle an Charakteristika zuschreibt und er ihn im Ganzen als Kaloskagathos, einen guten und ehrenhaften Menschen (vgl. Pol. 489e) bezeichnet, kann man ihn trotzdem, wie im Sophistes geschildert, nicht leicht bestimmen, denn er ist „in vernunftmäßigem Verfahren mit der Idee des Seienden stets beschäftigt [und] wegen der Helligkeit der Gegend keineswegs leicht zu erblicken.“ (Soph. 254ab).

8 Im Phaidros ist davon die Rede, dass die Augen der Eingang (vgl. Phdr. 251ad) und der Spiegel der Seele sind (vgl. Phdr. 255d) .

9 Bei Platon sind das vor allem die Gegenstände der Mathematik.

10 Wahrheit wird im Griechischen auch mit ‚Unverborgenheit‘ übersetzt, als solche und als ‚Richtig- keit‘ fungiert sie auch bei Platon. Nach Heidegger vollzieht sich in Platons Höhlengleichnis der Wandel der Wahrheit aus der Unverborgenheit des Seienden zur Richtigkeit des Blickes (vgl. Heidegger (1957:42)).

11 Dieses Kapitel schließt in großen Teilen an eine Studie Kauders (2001) an, der versucht, das Höhlengleichnis aus pädagogischer Sicht zu interpretieren.

12 Begonnen wird in der Höhle mit der Beschreibung des Zustandes der Unbildung.

13 Genauer noch ist das Thema des Höhlengleichnisses der Zusammenhang zwischen Bildung, Unbil- dung und der menschlichen Natur (für menschliche Natur könnte man auch ‚Lebensform‘ setzen).

14 Adaptiert nach Blum (2004:51).

15 Eine weiterführende und detaillierte Beschreibung der Wahrheit auf den einzelnen Stufen findet sich bei Heidegger (1975).

16 Der Mensch kommt im Höhlengleichnis also in doppelter Weise vor: als Schatten und als wirklicher Mensch.

17 „Die Menschen verkennen die Wirklichkeit“, so schildert Kersting (1999:225), da sie annehmen, „dass sie mit der Welt und ihren Dingen vertraut seien, aber in Wahrheit ist ihnen die Welt fremd [und] sich selbst kennt der Mensch [auch] nicht besser.“

18 Rekurriert man auf das Sonnengleichnis (siehe Kapitel 2.1 dieser Arbeit bzw. Pol. 507d-509d), so könnte diese Behauptung dadurch belegt werden, dass für Platon die Sonne grundlegend für alle Er- kenntnis ist.

19 Das kann auch auf die Schattenbilder selbst bezogen werden: So wie die Höhlenbewohner nicht nur nicht wissen, dass das, was sie sehen Schattenbilder sind, so wissen sie auch nicht, dass selbige von nachgeahmtem Sein entspringen.

20 Vgl. im Anhang ein Abbild, das das Sonnen-, Linien- und Höhlengleichnis in einem Bild illustriert.

21 In der Höhle gibt es sowohl bewegte Schatten (die Schatten der vorbeigetragenen Gegenstände), als auch unbewegte Schatten (die Gefangenen).

22 Sie haben sozusagen kein ‚Bilderbewusstsein‘, d.h. Bilder sind ihnen nicht als Bilder bewusst. Nach Blumenberg wissen die Höhlenbewohner nicht, „was Bilder sind und wie mit ihnen umzugehen wäre, wenn sie den fugenlosen Zusammenhang der Wahrnehmung unterbrechen würden“, da ihnen der „Auffassungsmodus der Bilderwahrnehmung“ (Blumenberg (1996:27)) fehlt. Erst wenn der Ge- fangene befreit wird, bekommt er solch ein Bewusstsein und erkennt, dass das wovon etwas Bild ist, wahrer als selbiges ist. Platon als erster Theoretiker des Bildes, definiert das Bild als weniger seiend und weniger wahr (vgl. Niehues-Pröbsting: Platonische Mythen und Gleichnisse, SS 2009).

Ende der Leseprobe aus 52 Seiten

Details

Titel
Erkenntnis im Bildungsprozess
Untertitel
Platons Bildungskonzeption im Höhlengleichnis
Hochschule
Universität Erfurt
Note
2,0
Autor
Jahr
2011
Seiten
52
Katalognummer
V188182
ISBN (eBook)
9783656118398
ISBN (Buch)
9783656118633
Dateigröße
687 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erkenntnis, bildungsprozess, platons, bildungskonzeption, höhlengleichnis
Arbeit zitieren
Una Müller (Autor:in), 2011, Erkenntnis im Bildungsprozess, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/188182

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