Indiens langer Weg zu sozialer Gerechtigkeit: Strukturen sozialistischer Systeme und ihre Folgen


Seminararbeit, 2001

34 Seiten, Note: 2.0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung:

2. Indien eine Transformationsgesellschaft?

3. Administrative Strukturen sozialistischer Systeme
3.1 Sozialismus und autoritäre Herrschaft
3.2 Die vier Eckpfeiler der Planwirtschaft
3.3 Planwirtschaft und Bürokratie
3.4 Produktionsengpässe, Schattenwirtschaft und Korruption

4. Soziologische Implikationen der Planwirtschaft
4.1 Wahrnehmung ökonomischer Kosten
4.2 Fehlendes Unrechtsbewusstsein
4.3 Renaissance des Nationalismus und der ethnischen Differenz
4.3.1 Nationalismus
4.3.2 Ethnische Spannungen

5. Elitenrekrutierung im sozialistischen System
5.1 Szenarien des Machtwechsels

6. Die wirtschaftliche Transformation
6.1 Der Gegenstand der Transformation
6.2 Aufgaben der Transformation
6.3 Transformationshindernisse
6.4 Aufbruch zu alten Ufern
6.4.1 Strukturmuster des politischen Übergangs
6.5 Big Bang – vier Systeme kollidieren
6.5.1 Privatisierung und Förderung der Investitionen
6.5.2 Förderung der Exportwirtschaft

7. Gesellschaftspolitische Folgen der wirtschaftlichen Transformation
7.1 Ausweitung der Korruption
7.2 Behinderung weiterer Reformschritte im Parlament
7.2.1 Zersplitterung und Opportunismus im Parlament
7.3 Ausweitung der Schattenwirtschaft
7.3.1 Verzerrung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung
7.3.2 Abhängig Beschäftigte in der Schattenwirtschaft
7.4 Aufbrechen gesellschaftlicher Spannungen

8. Defekte Demokratie

9. Indien - eine dreidimensional defekte Demokratie
9.1 Indiens exklusive Demokratie
9.2 Indiens illiberale Demokratie
9.3 Indien eine Demokratie mit Enklaven?

10. Ausblick

11. Anhang

Bibliographie

Abbildungen

1. Einleitung:

Als sich Indien Anfang der Neunziger Jahre von seinem bisherigen sozialistischen Wirtschaftssystem verabschiedete waren die Hoffnungen gross. Auf den Spuren der Tigerstaaten wollte der indische Elefant den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt vorantreiben und die erschreckend hohen Auslandschulden und das Budgetdefizit über die Ankurblung der Exportindustrie tilgen. „Wohlfahrt durch freien Handel“ war die ausgegebene Devise.

Zehn Jahre später ist von dieser Aufbruchstimmung nicht mehr viel zu spüren. Zwar glaubt man mittlerweile vielerorts, auf dem südasiatischen Subkontinent sässe eine Milliarde Computerspezialisten, doch die indische Gesellschaft ist in zwei Teile zerbrochen. Während sich in den Zentren, wie Bangalore, die Computerindustrie zum Global Player gemausert und viele Inder zu Millionären gemacht hat, sind in die ländlichen Gebiete Hunger und Seuchen zurückgekehrt. Der Privatisierungsprozess ist ins Stocken geraten, ein Netz sozialer Sicherung ist nicht einmal in Ansätzen zu erkennen, das Kastenwesen ist - trotz der gesetzlichen Aufhebung - weiterhin das prägende Erscheinungsbild der ländlichen Gesellschaft und nationalistische Tendenzen innerhalb der Unionsstaaten, aber auch auf gesamtstaatlicher Ebene, können nicht mehr übersehen werden.

Klassische ökonomisch – technische Wachstumsanalysen, wie sie von Seiten der WTO und des IWF vorgenommen werden, sind hier als Lösungsperspektiven zum Scheitern verurteilt, da in Indien komplexe politische und soziokulturelle Strukturen zur Verschleppung des Wirtschaftswachstums beitragen, die auf das vorher praktizierte sozialistische Wirtschaftssystem zurückgeführt werden können

Diese Arbeit wird sich daher vorwiegend analytisch mit diesen zu identifizierenden Strukturen beschäftigen und versuchen sie theoretisch zu generalisieren. Dabei interessiert weniger die Qualität der aus ihnen folgenden Defizite – weshalb v.a. auf makroökonomische Daten und Statistiken verzichtet wurde – als vielmehr die Gründe und impliziten Mechanismen für ihr Vorhandensein. Eine so geartete Methodik erfordert es, gewisse Ursachen und Defizite idealtypisch zu übersteigern und aus dem Gesamtzusammenhang zu abstrahieren. Es kann deshalb kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden, manche für eine Einzelbetrachtung relevanten, regionalspezifischen kulturellen oder soziologischen Faktoren müssen vernachlässigt werden.

In der Untersuchung wird sich zum einen zeigen, dass die Wirtschaftsform des Sozialismus politische Strukturen entwickelt, die das System inhärent instabil machen, sich im Zuge eines liberalisierenden Transformationsprozesses verfestigen und nachhaltig die gesellschaftliche und politische Kultur schädigen. Zum anderen soll nachgewiesen werden, dass Indien als ein solcher Transformationsstaat angesehen werden kann und in ein - von Wolfgang Merkel und Aurel Croissant ausgearbeitetes - Schema „defekter Demokratie“[1] passt, das den von Dahl entwickelten Demokratiebegriff des „Wettbewerbs durch Partizipation“[2] ergänzt. Welcher strukturellen Logik die erörterten Problematiken dabei unterliegen, und welche politischen und ökonomischen Interdependenzen sich zwischen den einzelnen Problembereichen ergeben, soll im Folgenden entfaltet werden.

2. Indien eine Transformationsgesellschaft?

Indien bezeichnet sich gern als die „größte Demokratie der Welt“, doch bei genauer Betrachtung ergeben sich frappierende Parallelen zu den Transformationsstaaten Osteuropas. Sozialistische Wirtschaftssysteme scheinen administrative Strukturen zu entwickeln, die unabhängig davon, ob die Regierungsform autoritär (Osteuropa) oder demokratisch (Indien) geartet ist, auftreten. Die ökonomischen Kosten und Marktverzerrungen, sowie die gesellschaftlichen Verwerfungen, die beim Übergang vom sozialistischen zum liberalen System beobachtbar sind, scheinen dem Transformationsprozess selbst zu entspringen und - wenn überhaupt - wenig Verknüpfungspunkte zur vorher praktizierten, gesellschaftlichen und politischen Kultur zu haben. Phänomene, die fast alle Transformationsgesellschaften kennzeichnen, sind unzureichend privatisierte Märkte, fortschreitende Korruption, eine patriarchalisch-oligarchische Elitenrekrutierung, ein parlamentarischer „Partisanen-Opportunismus“, die wachsende Polarisierung gesellschaftlicher Gruppen und die Spaltung in eine Zweiklassengesellschaft.

Da Indien ein demokratisch verfasster sozialistischer Staat war, bietet es sich methodisch an, Indien in der Folge als einen in der Transformation befindlichen Staat zu betrachten. Um das Auftreten der Transformationserscheinungen verstehen und erklären zu können, müssen vorher die grundlegenden Charakteristika sozialistischer Systeme logisch stringent dargelegt werden.

3. Administrative Strukturen sozialistischer Systeme

Der auf die wissenschaftliche Kritik von Marx und Engels an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zurückgehende Sozialismus ist, abstrahiert von seiner realen Erscheinung, die Bestrebung, eine Gesellschaftsform mit Gemeineigentum an den Produktionsmitteln zu erreichen. Dabei verwirft der Sozialismus die kapitalistische Theorie der Preisbildung über Angebot und Nachfrage und generalisiert Marx` Entdeckung des „Wertes der Arbeit“ als einzige normativ vertretbare Möglichkeit der Preisbildung, da im kapitalistischen System der Wert der Ware Arbeitskraft immer kleiner bleibt als der Wert der produzierten Güter[3] und der Mehrwert der Arbeitskraft von den Unternehmern als Gewinn abgeschöpft wird. Dies hat nach Marx die Ausbeutung und Verelendung der Arbeiterklasse zur Folge.

3.1 Sozialismus und autoritäre Herrschaft

Der Sozialismus muß nicht zwangsläufig von einer autoritären oder totalitären Herrschaftsform begleitet sein. Das Auftreten dieser beiden Herrschaftsformen kann eher als mögliche Begleiterscheinung der Bemühungen um die Durchsetzung eines sozialistischen Wirtschaftssystems gesehen werden[4]. Sie legitimieren sich meist über den Glauben an die Vorbildlichkeit, und somit die Autorität, einer Person, bzw. einer Staatsideologie und der durch sie geschaffenen Ordnung (Charismatische Herrschaft).[5] Autoritäre, bzw. totalitäre Herrschaft wirkt einigend auf diejenigen, die sie von sich aus akzeptieren und kann auch durch eine eventuell gesatzte Ordnung rationalen Charakter erhalten(legale Herrschaft).[6] Jedoch wirkt sie durch die Ausübung von offener und struktureller Gewalt[7] repressiv auf non-konforme gesellschaftliche Gruppen.[8]

Gerade Indien hat aber mit seinem „Dritten Weg“ gezeigt, dass Sozialismus auch die ökonomische Variante eines demokratischen Systems sein kann. Für diese Untersuchung interessanter sind deshalb vielmehr die unmittelbaren Erscheinungen eines sozialistischen Systems, namentlich Planwirtschaft und Regulierung und deren innewohnenden Strukturen.

3.2 Die vier Eckpfeiler der Planwirtschaft

Welche Ordnungsstruktur muß nun ein System besitzen, das die Gemeinschaft an den Produktionsmitteln beteiligen und die Preisbildung auf die geleistete Arbeitszeit zurückführen will?

Soll die Preisbildung nicht mehr nach Marktmechanismen erfolgen, sondern einheitlich reguliert sein, muß die Preissetzung durch eine zentrale Behörde erfolgen. Dies schließt automatisch die Existenz privaten Produktionseigentums aus, dem Individuum darf es nicht mehr möglich sein, auf dem Markt einen anderen Preis als den Festgesetzten zu erzielen. Existiert kein privates Produktionseigentum, gibt es für die Individuen auch keine Investitions- und Produktionsanreize mehr. Daher muß auch die Allokation der zu produzierenden Gütermengen zentral erfolgen, der Staat wird damit zum Monopolisten für sämtliche Wirtschaftsabläufe. Gewöhnlich besitzt auch kein Staat alle natürlichen Ressourcen um einen autonomen Wirtschaftskreislauf zu erhalten, somit fällt auch der gesamte Aussenhandel in sein Aufgabengebiet.

Zusammenfassend lassen sich idealtypisch

a) Der Zentralismus
b) Die zentrale Planung
c) Das Staatseigentum
d) Das Aussenwirtschaftsmonopol

als die vier Eckpfeiler der Planwirtschaft definieren.[9]

Ausgestaltung und Umfang dieser vier Kategorien kann in der Realität natürlich differieren. Abbildung 1 zeigt eine Übersicht über verschiedene Typen von Wirtschaftssystemen und unterscheidet dabei auch zwischen unterschiedlichen Ausprägungen des Sozialismus.

3.3 Planwirtschaft und Bürokratie

Die administrative Institutionalisierung dieser vier Eckpfeiler findet ihren Ausgang in einer obersten Behörde, die allein entscheidet was, wieviel, wo und wie produziert wird[10]. Dabei ist es überaschenderweise unerheblich, ob die grundsätzlichen Richtlinien der Wirtschaftspolitik in einem frei gewählten Parlament oder in einem obersten Zentralrat festgesetzt werden. Die Bürokratie emanzipiert sich nämlich in der Folge von den übrigen Gewalten, wird in wirtschaftspolitischen Fragen zum absoluten Souverän und degradiert Parlament und Regierung zu Steuereintreibern. Bereits Albert Einstein erkannte diesen Mechanismus des planwirtschaftlichen Systems:

„Trotz allem darf man nicht vergessen, dass eine Planwirtschaft kein Sozialismus ist. Eine Planwirtschaft als solches kann auch eine vollständige Versklavung des Einzelnen mit sich bringen. Der Sozialismus muß zuallererst einige äußerst schwierige sozialpolitische Fragen lösen:

1. Wie läßt es sich angesichts der weitreichenden Zentralisierung der politischen und wirtschaftlichen Macht vermeiden, dass die Bürokratie zu mächtig und anmaßend wird?
2. Wie schützt man die Rechte des einzelnen?
3. Wie bildet man aus ihnen ein demokratisches Gegengewicht zur Bürokratie?“[11]

Diese von Einstein beobachtete Emanzipation der Bürokratie entsteht weder durch intendierte Machtüberschreitungen noch durch fehlende Institutionalisierung, sondern durch den immensen Regulationsbedarf der wirtschaftspolitischen Tagesgeschäfte. Während im liberalen Wirtschaftssystem Marktransaktionen individuell und spontan von Einzelpersonen vollzogen werden und die Marktregulation wie von einer „unsichtbaren Hand“ geleitet erfolgt, benötigt die Planwirtschaft für jede noch so kleine Transaktion einen ganzen Apparat an bürokratischen Regelungen, Genehmigungen und Inputs.

Eine solche Konstellation hat unweigerlich zur Folge, dass entweder sämtliche Wirtschaftsaktivität zum Stillstand kommt, oder jeder - mit der Aufgabe von Allokation und Distribution - beauftragte Bürokrat, sei er nun Vorsteher in einem sowjetischen Oblast oder Angestellter in einem indischen Panchayat, Exekutive und Legislative auf sich vereint, da er gezwungen ist, spontan und willkürlich Entscheidungen zu treffen.

Der Blick weg von diesen theoretischen Überlegungen hin zur Realität zeigt tatsächlich eine massive Machtballung in den Bürokratien der ehemals sozialistischen Systeme.

3.4 Produktionsengpässe, Schattenwirtschaft und Korruption

Eine im voraus geplante Marktregulierung unterliegt Fehlperzeptionen. Da Gütermengen, Produktionspreis und Verkaufspreis nicht durch Marktmechanismen bestimmt, sondern nach Plan allokiert werden, können Versorgungsschwierigkeiten und Produktionsengpässe die Folge sein. Der ökonomischen Schaden der durch Fehlallokationen (falsche Einschätzung der Bedürfnisse) oder die Veränderung externer Faktoren (Dürrekatastrophen, Veränderung der Weltmarktpreise z.B. für Öl oder Textilien) zustande kommt, muß von der gesamten Gesellschaft getragen werden. Im kapitalistischen System hingegen profitieren die Haushalte von der Konkurrenz auf den Märkten. Hat sich ein Anbieter verspekuliert, springt sein Mitbewerber nur allzu bereitwillig in die Bresche.

Aristoteles macht „Verantwortung“ von zwei Voraussetzungen abhängig. Dem „Wissen“ um die Sache und der „Macht“ diese zu beeinflussen.[12] Das planwirtschaftliche System schiebt diese Verantwortung auf diejenigen ab, die faktisch keine Verantwortung tragen können, weil ihnen das dafür spezifische Element der Macht fehlt. Doch diesen Mangel an Einflussmöglichkeiten auf das System wussten die Bürger des real existierenden Sozialismus bereits frühzeitig zu mildern. Innerhalb eines handlahmen wirtschaftlichen Systems entwickelte sich ein lebhafter Schwarzmarkt als eine Art Selbsthilfe.[13]

Zwar ist ein solcher Schwarzmarkt auf unterer Ebene relativ harmlos, doch gewinnt er je weiter er in den Staatsapparat und einflussreichere Gesellschaftsschichten hineinragt[14] zunehmend an Bedeutung und ökonomischer Qualität. Dazu kommt, dass dieser Schwarzmarkt von unten nach oben undurchlässig ist, d.h. die unteren Schichten werden durch eben den, von Marx so eloquent dargestellten, Verelendungsmechanismus von der Partizipation und der Möglichkeit der Besserstellung ausgeschlossen. Ein gewaltiges Potential für eine strukturelle und latente Polarisierung der Bevölkerung.

Es bedarf nicht viel Vorstellungskraft um zu erkennen, dass in einem solchen Umfeld und in Verbindung mit der schon angesprochenen Machtkonzentration auf die Bürokratie, der Korruption Tür und Tor geöffnet ist. Politische Patronage und das berühmte Wort der Nomenklatur sind reale Ausprägungen dieser Überlegungen.

4. Soziologische Implikationen der Planwirtschaft

Die oben angesprochenen Wirkungszusammenhänge beeinflussen das soziale Handeln und das soziale Gefüge der Bürger des jeweiligen Staates. Neben den fehlenden Anreizen zur Leistungsmotivation und damit zur Innovation, was unmittelbare Auswirkungen auf die Bildungssituation hat, rücken v.a. drei Faktoren in den Vordergrund[15].

4.1 Wahrnehmung ökonomischer Kosten

Der erste Faktor ist das Fehlen des kostenbewussten Denkens mangels praktischer Erfahrung, was zu einer Art Fatalismus gegenüber dem ökonomischen Potential und der auftretenden Kosten führen kann. Da im Wirtschaftszentralismus individuelle Anreize fehlen wird das Potential zur Besserstellung, aber auch die Gefahr einer Verschlechterung also zum Teil gar nicht mehr wahrgenommen.

Doch diese Konstellation beinhaltet nicht nur ein kognitiv-psychologisches Defizit. Man muss sich vielmehr die Frage danach stellen, wer in einem solchen System überhaupt fähig wäre zu investieren. Bis auf die oberste Reihe der politischen Eliten nämlich niemand. In diesem Licht betrachtet erscheint der Sozialismus als eine riesige Kapitalvernichtungsmaschine, welche Gleichheit dadurch setzt, dass sie Mittellosigkeit auf breiter Basis erzeugt. Dieses Phänomen sollte im Gedächtnis behalten werden, da es eine zentrale Dimension für das heutige Erscheinungsbild von Transformationsgesellschaften liefert.

4.2 Fehlendes Unrechtsbewusstsein

Wie bereits dargestellt wurde, entwickelt sich im Sozialismus ein umfassender, weitverzweigter Schwarzmarkt, der grosse Anreize zu Korruption bietet. Das dadurch entstehende Fehlen des Unrechtsbewusstseins ist weniger ein „moral hazard“- Problem[16], als ein latenter Ausdruck zivilen Ungehorsams, ja der Ignorierung staatlicher Institutionen. Die Bürger und paradoxerweise gerade die Bürokraten sind sich bewusst, dass der Staat nicht fähig ist, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und flüchten sich daher in den informellen Sektor. Staatliche Autorität verliert somit ganz allgemein an Akzeptanz, der Bürger lebt am Staat vorbei und fasst sein Unrechttun nicht mehr als unrecht auf, sondern als notwendig und rational, als ein - innerhalb einer zivilen Gesellschaft - ganz normales alltägliches Handeln.

4.3 Renaissance des Nationalismus und der ethnischen Differenz

Jedoch leben nicht alle Bürger so passiv. Wie schon in Punkt 3.4 angesprochen beinhaltet der Ausschluss der unteren Schichten von der ökonomischen Partizipation extremes Potential für eine Polarisierung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Die politische Agitation solch polarisierter Gruppen kann grob in zwei Kategorien unterteilt werden. Nationalistische Tendenzen, die sich gegen das Supremat des Staates wenden und ethnische Spannungen, die zwischen Gruppen unterschiedlicher ethnischer Abstammung entstehen. Natürlich können die Grenzen zwischen beiden Kategorien fliessend sein, d.h. der Nationalismus kann auch ethnisch geprägt und motiviert sein.

4.3.1 Nationalismus

Der auftretende Nationalismus wird durch die zentralistische Prägung des sozialistischen Systems hervorgerufen. Der offensichtliche Mangel an Wohlfahrts- und Partizipationsmöglichkeiten innerhalb des Zentralismus führt zu regionalen Seperations- und Unabhängigkeitsbestrebungen. Es ist für die Zentralregierung möglich, diese Bestrebungen, z. B. durch grössere Anteile an regionaler Verwaltung, Autonomiestati, oder die Einrichtung von Sonderwirtschaftszonen, in einem gewissen Rahmen zu kompensieren, da die Bestrebungen zwar gegen die Zentralregierung, aber in der Regel auch nach innen gerichtet, also Ausdruck des Wunsches nach Unabhängigkeit von den ökonomischen Defiziten des Zentralstaates, sind. Solange die nach Unabhängigkeit strebende Region im Zentralstaat bleibt, ist allerdings nicht zu erwarten, dass diese nationalistischen Tendenzen verschwinden.

4.3.2 Ethnische Spannungen

Mindestens genauso gefährlich für die Stabilität der politischen Ordnung, jedoch wesentlich komplexer gestaltet sich das Auftreten ethnischer Spannungen. Sie sind ebenfalls ein unmittelbarer Ausdruck für das Fehlen jeglicher ökonomischer Partizipationsmöglichkeit. Allerdings fehlt den Ethnien in der Regel der territoriale Anspruch, d.h. eine Ethnie kann sich schlecht von einem Land unabhängig erklären oder Autonomiestatus erlangen. Auch der Rückzug in die eigene homogene Gemeinschaft ist nur bedingt möglich, da er kein Ausbrechen aus dem übergeordneten System des Sozialismus erlaubt. Als Folge richtet sich die Spannung nach aussen, jedoch nicht gegen die Staatsmacht, sondern gegen andere ethnische Gemeinschaften, die als potentielle Mitbewerber, Begünstigte des sozialen Systems, verantwortlich für soziale Mißstände oder einfach als Bedrohung für die eigene Gemeinschaft erkannt werden.

Dieser Zustand zeigt bemerkenswerte Parallelen zu dem von Hobbes erläuterten Naturzustand. Es mag möglicherweise darin liegen, dass auch Hobbes einen zwischenmenschlichen Wettbewerb beschreibt, der nicht auf eine ökonomische Basis verlagert werden kann[17]. Durch die künstliche Verdrängung des ökonomischen Wettbewerbs aus der Gesellschaft scheint der Sozialismus genau entgegen seiner eigentlichen Absicht zu wirken. Statt Klassen und ökonomischen Wettbewerb aufzuheben, schafft er neue gesellschaftliche Bruchlinien.

[...]


[1] Wolfgang Merkel/Aurel Croissant: „Formale und informale Institutionen in defekten Demokratien“, Heidelberg 2001, in: http://www.polunity.com/direktzurpolitik/sta_pol.html

[2] eigentlich „für die Partizipation offener Wettbewerb“ – „contestation open to partizipation“. Robert Dahl: „Polyarchy. Partizipation and Opposition“, New Haven/London, 1971, S. 5.

[3] „Der durchschnittliche Preis der Arbeit ergibt sich, indem man den durchschnittlichen Tageswert der Arbeitskraft durch die durchschnittliche Stundenzahl des Arbeitstages dividiert. Der so gefundene Preis der Arbeitsstunde dient als Einheitsmass für den Preis der Arbeit“. Karl Marx: „Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie“, Offenbach/M., Bollwerk Verlag, 1949 Kap. 6/18/Abs. 3., in: „Internationale Bibliothek der kommunistischen Linken“, http://www.sinistra.net/lib/cla/rue/daskaporgd.html#uvi17

[4] Was nicht heissen soll, dass es keine von Beginn an auf autoritäre Ordnung ausgelegten sozialistischen Systeme gäbe. Das Problem ist aber, dass (wahrscheinlich wegen des Einflusses des Ost-West-Konflikts) alle gängigen Sozialismusdefinitionen autoritäre Herrschaft sozusagen als notwendige Bedingung für den Sozialismus aufzufassen scheinen.

[5] Nach der Typologisierung von Max Weber: „Die drei reinen Typen legitimer Herrschaft“, in: „Wirtschaft und Gesellschaft“, in: Michael Sukale (Hrsg.): „Schriften zur Soziologie“, Reclam 1995, S. 312.

[6] Ders: S.312

[7] Strukturelle Gewalt wurde von J. Galtung definiert als: „vermeidbare Beeinträchtigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse oder, allgemeiner ausgedrückt, des Lebens, die den realen Grad der Bedürfnisbefriedigung unter das herabsetzt, was potentiell möglich ist.“

J. Galtung: „Strukturelle Gewalt“, in: Albrecht, U. / Vogler, H. (Hrsg.): "Lexikon der internationalen Politik", München 1997, S. 475-79

[8] Einen sehr guten Überblick über das Spannungsverhältnis von legitimer Herrschaft und autoritärer Repression bietet das Buch von Andreas Mehler: „Die nachkolonialen Staaten Schwarzafrikas zwischen Legitimität und Repression“, Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1990

[9] Skript zur Veranstaltung: „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“ an der Universität Frankfurt, veröffentlicht im Internet unter: http://www.wiwi.uni-frankfurt.de/Professoren/ritter/veranstalt/ss97/wipol/projekt/pro48.htm

[10] Diese vier Fragen umreissen in der Volkswirtschaftslehre das Grundproblem der Allokation.

[11] Quelle: „Albert Einstein und die Politik“, in: http://www.toplo.de/albert_einstein_politik.htm

[12] „Da unfreiwillig ist, was aus Zwang oder Unwissenheit geschieht, so möchte freiwillig sein, dessen Prinzip in dem Handelnden ist und zwar so, dass er auch die einzelnen Umstände der Handlung kennt.“ Aristoteles: „Nikomachische Ethik“, 1111a/25, übersetzt von Eugen Rolfes, erschienen in: Aristoteles Philosophische Schriften, Band 3, Meiner-Verlag Hamburg 1995, S. 48.

[13] Merkel/Croissant bezeichnen das Entstehen dieser informellen Strukturen des Schwarzmarktes und des Klientelismus als das „Resultat evolutionärer Prozesse der Institutionenbildung während des autokratischen Regimes.“ Es wird im folgenden noch gezeigt werden, dass dies evolutionäre Prozesse eines sozialistischen Wirtschaftssystems sind.

[14] einer der wenigen Punkte in denen der Sozialismus, zumindest auf formaler Ebene, tatsächlich Gleichheit herstellen konnte, war dass die produktionsbedingte Knappheit auch vor Parteibonzen nicht Halt machte. Diese waren genauso gezwungen, ihre sonst nicht erfüllbaren Bedürfnisse über informelle Kanäle zu befriedigen.

[15] Die Faktoren sind der allgemeinen Transformationstheorie entnommen. Hier aus dem Skript zur Veranstaltung: „Grundzüge der Wirtschaftspolitik“ an der Universität Frankfurt, veröffentlicht im Internet unter: http://www.wiwi.uni-frankfurt.de/Professoren/ritter/veranstalt/ss97/wipol/projekt/pro48.htm

[16] Moral hazard bezeichnet eine adaptive Form von Verstössen gegen die gesellschaftlich Ordnung, die von den Individuen nach dem Motto: „nicht so schlimm, alle anderen machen es ja auch“ , moralisch verniedlicht werden. (z.B. Steuerhinterziehung, Schwarzfahren usw.)

[17] Hobbes` Gedankenerxperiment findet in einem völlig uninstitutionalisierten Raum, der Anarchie, statt. Die Idee des ökonomischen Wettbewerbs lässt Hobbes, wahrscheinlich aus methodischen Gründen, aussen vor. Vgl.: Thomas Hobbes: „Leviathan“, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1998, Kap. 13.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Indiens langer Weg zu sozialer Gerechtigkeit: Strukturen sozialistischer Systeme und ihre Folgen
Hochschule
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg  (Südasieninstitut Abteilung Politische Wissenschaft)
Veranstaltung
Demokratie und Entwicklung in Südasien
Note
2.0
Autor
Jahr
2001
Seiten
34
Katalognummer
V18809
ISBN (eBook)
9783638230735
ISBN (Buch)
9783638645898
Dateigröße
645 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Erörterung der Besonderheiten administrativer Eigenschaften sozialistischer Wirtschaftssysteme. Besonderes Augenmerk geniessen die sozialen Verzerrungen, die bei der Transformation vom sozialistischen zum liberalen Wirtschftssystem entstehen.
Schlagworte
Indiens, Gerechtigkeit, Strukturen, Systeme, Folgen, Demokratie, Entwicklung, Südasien
Arbeit zitieren
Jochen Gottwald (Autor:in), 2001, Indiens langer Weg zu sozialer Gerechtigkeit: Strukturen sozialistischer Systeme und ihre Folgen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18809

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