Transkulturelle Kunsttherapie

Heimat, Migration und Fremde - Relevanzen für kunsttherapeutisches Handeln


Diplomarbeit, 2007

90 Seiten, Note: 1,1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Prolog
1.1 / Vorwort
1.2 / Dank
1.3 / Einführung

2 Heimat und Fremde
2.1 / »Heimat«
2.2 / »Fremde«

3 Migration
3.1 / Definition
3.2 / Phasen der Migration
3.2.1 / Vorbereitungsphase
3.2.2 / Migrationsakt
3.2.3 / Phase der Überkompensation
3.2.4 / Phase der Dekompensation
3.2.5 / Phase der generationsübergreifenden Anpassungsprozesse
3.3 / Migration als Krise oder potentielles Trauma

4 Kultur
4.1 / Transkultur

5 Transkulturelle Kunsttherapie
5.1 / Transkulturelle Kompetenz
5.2 / Integration und Identität
5.3 / Narration
5.4 / Raum
5.4.1 / „Potential space“
5.4.2 / „Container“
5.4.3 / „Éspace aéré“
5.5 / Therapeutische und künstlerische Bewegungen
5.5.1 / „Die Spur der Form“ // Andreas und Thomas HOLSTEIN
5.5.2 / A line made by walking // Richard LONG
5.5.3 / Pilgerweg // akf et al
5.5.4 / „Bringing the war home“ // Katja SCHWINN

6 Epilog

7 Quellenverzeichnis
7.1 Literatur
7.2 Internet
7.3 Abbildungen

1 Prolog

1.1 / Vorwort

Mein familiärer Hintergrund hatte einen gewissen Einfluss bei der Festlegung des Themas. Beide Elternteile mussten unter den Kriegswirren als kleine Kinder ihre Heimat verlassen und unter wideren Umständen ein neues Zuhause finden. Diese Erfahrungen prägten ihr Leben und ihre Realität. Migratorische bzw. traumatische Erfahrungen und ihre Folgen sind sogenannte »Heiße-Kartoffel-Themen«. Sie werden in den nächsten bzw. übernächsten Generationen wieder bewusst und können ähnliche Symptomatiken auslösen wie in der akuten Ursprungssituation. Daher schien es mir wichtig, mich diesem Komplex anzunähern und daraus mögliche Konzepte und Haltungen für kunsttherapeutisches Handeln zu entwickeln.

Als ich mich auf Literaturrecherche zu den thematischen Komplexen Heimat, Fremde und Migration begab, tauchte ich in jedem Fachgebiet in einen Kosmos ein! Überall offerierten sich mir Informationen, Hypothesen, Perspektiven und Theorien, die es galt zu sortieren, gegeneinander abzuwägen und zu verknüpfen. Ich habe mich bemüht, zahlreiche Aspekte zum Thema »Transkulturelle Kunsttherapie« aus verschiedenen Gebieten wie Ethnologie, Kunst, Kulturgeschichte, Soziologie, Psychologie und Psychoanalyse zu erfassen und zu einem fruchtbaren Einblick zu verbinden.

Die vorliegende Diplomarbeit kann als eine wandernde bzw. migratorische Bewegung aufgefasst werden. Sie bildet zugleich den Abschluss meines Kunsttherapiestudiums. Die mir im Laufe der Zeit begegnenden Aspekte habe ich aufgesammelt und aufgeschrieben. In meiner Arbeit erhebe ich trotz interdisziplinärer Sichtweise keinesfalls einen Anspruch auf Vollständigkeit der Darstellung, vielmehr ist es die Betrachtung eines Teilaspektes aus einem unerschöpflichen und sich wandelnden Themenspektrum.

1.2 / Dank

Bei der Erstellung der Diplomarbeit stellten sich mir mehrere innere und äußere Hindernisse in den Weg, die ich nach und nach überwinden konnte. Meiner Familie und meinen Freunden möchte ich für die fantastische Unterstützung danken: Tanja, Maya und Lilly. Anita, Anne, Helmut. Andy, Alex und Alex, Annette, Christian, Jana, Jürgen, Katja, Marina, Nelson, Peter, Ranka, Ronja, Sabine, Simon, Stefan und Thom.

Axel Klöss-Fleischmann

1.3 / Einführung

„Everything is deeply intertwingled“ Ted Nelson (zit. in HAN, 2005)

Die Begriffskonjugation »Transkulturelle Kunsttherapie« steht für eine Kunsttherapie, die unter Berücksichtigung von kulturübergreifenden Aspekten, die daraus entstehenden Konsequenzen für das therapeutische Setting, den Methoden und der therapeutischen Identität, ableitet. Es sollen Möglichkeiten erarbeitet werden, auf welche Art vernetzend gestaltet werden kann. Die Vorsilbe „trans“ steht für etwas Übergreifendes, das die herkömmlichen Grenzen in einer weiteren Dimension verbindet! Es beschreibt dabei etwas Neues und Eigenständiges, das seine Wurzeln in dem Alten hat, aber mit anderen Systemen vernetzt ist.

Die vorliegende Arbeit handelt von äußeren und inneren Räumen. Benennbare und teilweise gut lokalisierbare Räume wie Heimat, oder unbekannte Räume wie die Fremde. So handelt es sich bei der Fremde nicht nur um den äußeren unbekannten Ort, sondern auch um eine innerpsychische Fremde, die sich in Beziehungen nach außen projiziert. Die inneren Räume tragen Anteile der äußeren Räume in sich, bzw. sind eigenständige Realitäten wie bspw. Beziehungsräume.

Die Welt und ihre Bewohner sind in Bewegung. Menschen wandern, reisen oder fliehen von dem einen Ort zu einem anderen. Manchmal aus eigenen Beweggründen, manchmal auch aus Zwang und Not. Die Migration ist als ein umwälzendes und „Ich-dekonstruierendes“ Erlebnis in der Entwicklung eines Menschen zu betrachten (vgl. GRINBERG L./ GRINBERG R., 1990). Ausgehend von einer historischen Sichtweise der Migration als einer globalen Realität, soll aus dem Blickwinkel einer psychoanalytischen Sichtweise auf die Thematik dieses „Wanderns“ der Menschen eingegangen werden: Die inneren Bewegungen stehen in Wechselwirkung zu den äußeren Bewegungen. Dabei werden verschiedene Phasen aufgezeigt, in die das Migrationsgeschehen einzuordnen ist.

Kunsttherapie behandelt im klinischen Kontext die direkten Auswirkungen einer Migration mit traumatischen Erlebnissen oder die Schwierigkeiten von Menschen, die sich deplatziert, fremd und unwillkommen fühlen in ihrer neuen Umgebung. Bei diesen Fällen ist der Kunsttherapeut in mehrfacher Hinsicht herausgefordert: Nach außen gerichtet muss er die vielfältigen kulturellen Formen berücksichtigen und sie aus einer anderen Perspektive verstehen lernen. Und nach innen gerichtet wird er zunehmend mit den eigenen Wurzeln seiner Identität konfrontiert. Ich möchte den vielseitigen theoretischen Hintergrund beleuchten, der es ermöglichen kann, einen förderlichen kunsttherapeutischen Raum zu generieren, in dem Menschen einen guten Platz für ihre Erfahrungen finden.

Transkulturell und kunsttherapeutisch zu handeln, bedeutet auch transdisziplinär zu arbeiten. Es scheint mir daher wichtig, dass sich die kunsttherapeutische Wissenschaftspraxis auch an ihren benachbarten Disziplinen orientiert, um einerseits „auf dem Laufenden“ zu sein und andererseits mit den eigenen Erkenntnissen einen Beitrag zum aktuellen Diskurs liefern zu können. So geschieht die Vernetzung auf mehreren Ebenen.

Das Anliegen meiner Arbeit ist nicht, eine mögliche Begleitung bei traumatischen Störungen oder sonstigen psychiatrischen Erkrankungen zu beschreiben. Hier verweise ich gerne auf die Diplomarbeit von Dörte BACKES (2006), die sich explizit mit dem weiten Spektrum der Pathologien einer Migrations- und speziell der Asylthematik auseinandergesetzt hat. Ebenso WENDLANDT-BAUMEISTER (2005), die kunsttherapeutische Arbeit mit Folterüberlebenden beschreibt.

Der Einfachheit halber verwende ich den Begriff „Migrant“ in meiner Arbeit, möchte aber ausdrücklich auf die Vielschichtigkeiten und Individualität der Schicksale hinweisen.

Ich benutze in meiner Arbeit aus Gründen der Lesbarkeit und Verständlichkeit die männlichen bzw. übergeschlechtlichen Bezeichnungen.

2 Heimat und Fremde

Die Pole der Dimensionen von »Heimat« und »Fremde« zeigen sich im Leben auf verschiedenen Ebenen: Auf der einen Seite steht das „Eigene“, das gute und sichere Objekt. Im kulturellen Zusammenhang und in der Thematik der Migration benenne ich diesen Pol mit „Heimat“. Gegenüber steht die „Fremde“, das Exil, das „Andere“, ein unbekannter Ort und Zustand der Ungewissheit. In den folgenden Kapiteln möchte ich aufzeigen, wie sich diese Pole beschreiben lassen und zueinander verhalten.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

2.1 / »Heimat«

„Heimat (...) suggeriert Identität. Man könnte die Heimat geradezu ein Psychotop nennen, einen Nährboden für das Seelische, angereichert mit Brauchtum und vermeintlicher Behaglichkeit.“

(GÖRNER, 2006, S. 12)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Filmstill »Heimat«

Aufgrund beispielloser Mobilität, Völkerwanderung und Globalisierung scheint als Gegenentwurf dazu der Heimatbegriff in den Vordergrund zu rücken. Dabei ist nicht mehr nur die Verwurzelung mit einem bestimmten Ort, einer Region oder einem Land gemeint, sondern das grundsätzliche Bedürfnis nach einem Ort der Zugehörigkeit. Laut einer Statistik des »Spiegel« ist Heimat für 31% der Befragten der Wohnort, für 25% die Familie, für 6% die Freunde und für 11% das Land (SCHLINK, 2000, S. 23).

Etymologisch betrachtet wurde der Begriff „das Hamätli“, der aus dem Mittelhochdeutschen stammt, im juristischen oder geographischen Sinn benutzt, um Herkunft oder Besitz festzulegen.

Es entstand eine Ableitung zu „Heimuot“, was damals „Haus“ oder „Heim“ bedeutete. Ebenso lies sich aber auch „Heimuoti“ ableiten, das eine ganz andere Bedeutung hatte: Man bezeichnete damit einen Zustand der Armut und Besitzlosigkeit und das Wohnen in einer „Einöde“ (HARTLIEB, 2004, S.6). Die minimale Wortveränderung führt zu einer innerpolaren Ausdehnung der Begrifflichkeit von „Heimat“. Es wird ein Bogen gespannt von den Emotionen des Wohlfühlens bis zu der Verlassenheit.

Erstmals im 15. Jahrhundert ist dann der Terminus »Heimat« aufgeführt. Es entstand eine Bedeutungsverschiebung, und dem Begriff wurde nach und nach ein größerer Raum zugeschrieben. Er weitete sich über das Haus bis zum Herkunftsort aus, später dann auf eine nicht klar abgegrenzte Region. (HARTLIEB, 2004, S.6).

Im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm wurde Heimat 1877 definiert als, „das Land oder auch nur der Landstrich, in dem man geboren ist oder bleibenden Aufenthalt hat" und „der Geburtsort oder ständige Wohnort, (...) selbst das elterliche Haus und Besitzthum heiszt so." (GRIMM, 1877, S.864f.)

In der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das Heimatrecht abgeschafft, das bis dahin einen Versorgungsschutz für Bedürftige bietet. Damit wurde Heimat zum „Ort einer Zugehörigkeit, die weder rechtlich noch staatsbürgerlich definiert war und darum um so mehr im Vagen bleiben musste“ (zit. in HARTLIEB, 2004, S. 7).

Der Heimatbegriff wurde von den Nationalsozialisten in Deutschland zur Manipulation benutzt. NEUMAYER beschreibt den Vorgang der Koppelung von Heimat und Nation: „die emotionale Beziehung zur direkten Lebenswelt auf das größere — und notwendigerweise abstraktere — Gebilde Staat zu übertragen, um damit den Staat zu einer persönlichen Angelegenheit zu machen. Vorgänge auf nationaler Ebene erzeugen so eine unmittelbare Betroffenheit beim einzelnen Menschen. Eine Betroffenheit, die insbesondere für den Aspekt der Landesverteidigung ausnutzbar war, denn dadurch ist die Verteidigung des Staates zu einer Verteidigung des persönlichen Hab und Gutes, des eigenen Glücks gemacht" (zit. in UNI ULM, 2007).

Heimat ist in seiner historischen Entwicklung und seinen Definitionen nicht eindeutig greifbar. Im Eingangszitat verwies ich auf das „Psychotop Heimat“ (vgl. GÖRNER, 2006). Da ich in der Auseinandersetzung mit »Heimat« die Vielseitigkeit und Weite dieses Begriffs kennenlernte, scheint mir die Psychotopmetapher einen treffenden Aspekt zu verdeutlichen: Die Erfahrungen mit Menschen und Beziehungen an diesem Ort »Heimat« prägen die Identität und alle weiteren Beziehungen maßgeblich.

Es entspricht dem menschlichen Bedürfnis, emotionale Verbindungen mit Orten einzugehen. Man sucht und spürt seine Wurzeln an diesem Ort. Das Haus steht als Symbol für die Heimat. BOLLNOW rät eindringlich dazu, an einem Ort zu wohnen, der einem entspricht und in dieser Art auch Heimat werden kann. Dazu schreibt er: „Wir lernen es erst langsam wieder, wie wichtig es für den Menschen ist, auf dieser seiner Erde zu »wohnen«. Das heißt: nicht als ewiger Flüchtling herumgetrieben zu werden und sich im Augenblick an einem zufälligen »Irgendwo«, an einem beliebigen Punkt zu befinden, der so gut ist oder so schlecht wie jeder andere, sondern an einem Punkt wirklich Wurzeln gefasst zu haben - und sich dann die Welt zu einer gegliederten Ordnung zusammenzuschließen vermag. Darum ist das Haus für den Menschen die Mitte der Welt“ (zit. in KLESSMANN/ EIBACH, 1998, S.113).

Doch neben dem Haus als Symbol für »Heimat« kann auch eine Region für eine großräumlichere Verwurzelung stehen. TREINEN bezeichnete 1965 die Heimat als „symbolische Ortsbezogenheit“ (zit. in UNI ULM, 2007). Dieser Hinweis auf den Symbolgehalt von Orten bezieht sich auf die emotionale und individuelle Bedeutung für den Menschen. Das innere Gefüge von Heimat löst sich sonst vom Kontext der reinen Ortsbezogenheit. Es beginnt, nach und nach, ein differenziertes Bild von Heimat zu entstehen.

Heimat ist stets ein Konstrukt, wird von jedem neu erschaffen, insbesondere wenn man in fremde Räume vordringt (GLÄSER 2002, S.92) „So sehr Heimat auf Orte bezogen ist“, schreibt Bernhard SCHLINK, „Geburts- und Kindheitsorte, Orte des Glücks, Orte an denen man lebt, wohnt, arbeitet, Familie und Freunde hat - letztlich hat sie weder einen Ort noch ist sie einer, Heimat ist Nichtort , (...) Heimat ist Utopie“ (SCHLINK, 2000, S. 32). Heimat hat etwas Unerfülltes und Unerfüllbares. Sie wird am meisten spürbar, wenn sie nicht da ist. SCHLINK spricht somit von der »Heimat« als Sehnsucht nach einem neuen Ort, einem Ort der so erst zu errichten ist und in der Zukunft liegt (ebd.).

Philip Kwame APAGYA, ein zeitgenössischer Photograph aus Ghana, lichtet vor selbstgemalten Kulissen Menschen aus seiner Heimat ab. Dabei berücksichtigt er die Wünsche seiner Kunden und gestaltet diese utopischen, mit Sehnsucht gefüllten

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

P. K. Apagya/ No place like home II

(inneren) Räume. Er selbst meint zu seiner Arbeit in einem Interview: „Meine Idee war nicht, meine Kunden zu manipulieren, sondern eine Traumfabrik zu schaffen: die Armut ist die Mutter der Erfindungen. Die Menschen möchten irgendwann einmal was haben und ich wollte ihnen einen Traum erfüllen. Das heißt diese Menschen stehen vor einem Hintergrund, der ihre Träume darstellt“ (VIDC, 2007).

Die vergebliche Suche nach Heimat errichtet eine neue Utopie: „Heimkehren würde dann bedeuten: einen Ort verfehlen, um bei sich selbst anzukommen. »Ich«, eine Heimat, irgendwo, hier“ (LIPTAY, 2005, S.40). Salman RUSHDIE interpretiert das moderne Märchen »Wizard of Oz«. Mit der Kraft der roten Schuhe ist es Dorothy möglich, sich überall ein Zuhause zu schaffen. Die Schuhe dienen als Metapher für ein Stückchen Heimat, das jeder Heimatlose mit sich und in sich trägt. Dorothys »home« existiert nirgendwo, außer in ihr selbst. Sie sind eine „bewohnbare Imagination, die auf die wirkliche Welt ein wenig abzufärben vermag“ (zit. In LIPTAY, 2005, S. 38f).

Heimat scheint ein Amalgam aus Erinnerung und Phantasie zu sein (GÖRNER, 2006, S. 19). Sie ist eine Grenzerfahrung, zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Vertrautem und Ungewohntem, zwischen Verklärung und kritischer Einsicht. Heimat ist das erste »Eigene«, ein Ort an dem Eigenkompetenz erfahrbar wird.

Die Betrachtungen bilden den gedanklichen Inhalt der ersten Polarität »Heimat«. Neben den schwer greifbaren und vagen Erklärungen bleibt das Wissen um einen symbolischen Bezug zu einem mehr oder weniger lokalisierbaren Ort, den jeder Mensch anders zuordnet. Manchmal ist es das Haus in dem man wohnt, oder die Region. »Heimat« kann aber auch völlig losgelöst sein von Orten und als emotionaler intrapsychischer Raum oder als eine sehnsüchtige Utopie existieren. Die Zunahme von migratorischen Entwurzelungszuständen und virtuellen Orten, die eine Bindung per se unmöglich machen, führen zu einer entfremdeten und entwurzelten menschlichen Psyche. Vielleicht erfährt gerade deshalb die »Heimat« eine Renaissance in Form von Kitsch und überschwänglicher Identifikation.

Ein Heimatgefühl kann erst herausgebildet werden, wenn der Gegenpol dazu existiert, die „Nicht-Heimat“. Deshalb nähern wir uns im folgenden Kapitel der zweiten Polarität, der »Fremde«.

2.2 / »Fremde«

„Was ich auf Reisen suche, ist das Fremdsein ganz und krass, der Schein der Vertraulichkeit ist gewichen, die Welt ist neu, sie ist mir nicht Freund und nicht Feind,

ich wohne nicht,

ich bin nicht eingestuft, man erwartet mich nicht,

ich habe keine Geschäfte in der Stadt, ich verstehe nichts, und das bedeutet die Möglichkeit des Begreifens.“

(KOEPPEN zit. in LIPTAY, 2005, S. 307)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Davis Rhych/ Parakanal

Der entsprechende Gegenpol zur »Heimat« ist die »Fremde« oder das »Exil«. „Das Exil ist ein Ort, der sich auf keiner Landkarte findet“ (FIXE JOUR INITIATIVE BERLIN, 2004). Menschen, die im Exil leben, sind aus ideologischen oder politischen Gründen zwangsentfremdet (GRINBERG et al., 1990, S.182). In der Antike galt es als ernste und harte Strafe, wenn man verbannt wurde (ebd.).

Jemand, der sich in der Fremde befindet, ist entwurzelt und entortet. Die Fremde ist ein Ort der Erfahrung von Verlust. Bernhard JENSEN schreibt: „In der Melancholie des Exils verschränken sich die räumliche und zeitliche Dimension des Verlustes, so dass es - in den Worten Jean AMÉRYs - ‚keine Rückkehr gibt, weil niemals der Wiedereintritt in einen Raum auch ein Wiedergewinn der verlorenen Zeit ist’ “ (JENSEN, 2004, zit. in FIXE JOUR INITIATIVE BERLIN).

Dieses Verlustgefühl steht in engem Zusammenhang mit »Heimweh«, denn Heimat wird erst aus der Fremde erfühlt und zurückersehnt. In früheren Zeiten galt gerade dieses Heimweh als ernstzunehmendes Krankheitsbild, als Ursache schwerer Depressionen. In seiner Schrift Dissertatio medica de Nostalgia oder Heimwehe nennt der Baseler Arzt Johannes HOFER 1688 verschiedene Auslöser: Hauptsächlich handelt es sich um „Anpassungsschwierigkeiten, in einer fremden Lebenswelt, der Verlust der vertrauten Umgebung, das Einatmen anderer Luft, das Entbehren der heimatlichen Milch (...) Vor der Seele steht immer das Bild der Heimat, es bildet sich eine Art Schwermut aus, und diese führt nicht selten zum Tode“ (zit. in LIPTAY, 2005, S. 9).

Neben der »Fremde« als Ortsbezeichnung lassen sich ebenso Eigenschaften ableiten, die kennzeichnend sind für das »Fremde«: Fremdheit lässt sich definieren als das „Fehlen von Charakteristika des Eigenen, des Hiesigen, des Heimischen, des Sicheren, des Vertrauten“ (SADER, 2002, S. 36). Im Griechischen bedeutet „Xénos“ »der Fremde«, zugleich aber auch »Gast« (DUDEN, 1997). Fremd bezeichnet im kulturellen Kontext somit nicht nur „ausländisch“, sondern auch andersartig, nicht eigen, unbekannt, bedrohlich, nicht einfühlbar. Aber etwas, das auch aufgenommen und sich verändern kann. Das Fremde scheint bedrohlich und verlockend zugleich, maßgeblich sind die eigene Perspektive der Wahrnehmung und ihre Prägung von Abwehr und Angst bzw. Neugier und Interesse. In der Ethnologie sind „das Unbekannte, (...) das Nicht-Offensichtliche, das Vertriebene, Verpönte, Nicht- Anerkannte, die blinden Flecken der eigenen Kultur oder bisher unerkannte Ziele die begehrten Ziele der Forschung“ (PEDRINA in PEDRINA/SALLER/WEISS, 1999, S. 8). Das Fremde ist Bestandteil der Forschung und trägt zu Erkenntnissen über die eigene Kultur bei.

Die Definition von »Fremde«, sie es nun der fremde Ort, eine fremde Person oder eine fremde Emotion, erfolgt über Abgrenzung. Die etymologische Bedeutung von »Definition« ist per se eine „Erklärung unter Abgrenzung“ zu anderen Sachverhalten. FLUSSER schreibt weiter, dass „Die chinesischen Bauern räumlich und zeitlich dank Mauern definiert sind, und jenseits der Mauern leben Nomaden" (FLUSSER zit. in TUNKEL, S.26). Diese Tätigkeit weist somit auf eine Eigenheit der Sesshaftigkeit hin. Für den Menschen ist es teilweise überlebenswichtig, sich über Abgrenzung zu anderen Gruppen zu definieren. Der Seßhafte und der Nomade brauchen sich gegenseitig, um sich zu definieren. Ohne Sesshaftigkeit würde kein Nomadentum existieren und umgekehrt.

Georg SIMMEL erwähnt in seinem »Exkurs über den Fremden« aus dem Jahre 1908, dass Fremdsein zunächst Fernsein bedeutet (zit. in BIERBRAUER, 2005, S.214). In diesem Stadium existiert keinerlei Bedrohung durch den Anderen. Erst in der Annäherung und in der Begegnung kann der Fremde auch zum Feind werden. Darauf reagiert der Einheimische mit Abgrenzung durch Kollektivisierung. Das bedeutet, dass der Fremde nicht als Individuum wahrgenommen, sondern einer Gruppe zugeschrieben wird, die durch die nationale Herkunft definiert wird. SIMMEL nennt in diesem Zusammenhang die kollektive Besteuerung von Juden im Mittelalter unabhängig ihres sozialen Standes. Auf diese Art und Weise wurde die Distanz aufrechterhalten (ebd.).

Die polaren Bezeichnungen „Einheimische“ und „Fremde“ stellen uns vor Schwierigkeiten, denn man wird zu der Annahme verleitet, dass Menschen in homogene Gruppen unterteilt werden können. Das bildet eine Vorraussetzung für die Entstehung und Festigung von Stereotypen.

Manfred SADER postuliert in seinem Werk »Toleranz und Fremdsein« die Anwendung einer hyperpersonellen Bezeichnung. Er gebraucht den Begriff des „fremden“ als Adjektiv, anstatt die Menschen in „Einheimische“ und „Fremde“ zu unterteilen (SADER, 2002, S.33). Beim ersten Kontakt ist etwas fremd, aber dieser Zustand kann sich im Verlaufe der Beziehung ändern. Er begründet dies unter anderem mit der wechselnden Definition von Immigranten in den verschiedenen Staaten. In Frankreich wird jeder Immigrant der zweiten Generation automatisch „integriert“, d.h. er erhält die französische Staatsbürgerschaft Ebenso erhalten Menschen, die in den USA geboren sind, oder mindestens fünf Jahre dort leben, automatisch die US- amerikanische Staatsbürgerschaft. In Deutschland wird per Gesetz die Abgrenzung durch die nationale Gruppenzugehörigkeit lange aufrechterhalten. Doch allein die Staatszugehörigkeit auf dem Papier bedeutet noch nicht, in die Gesellschaft integriert zu sein (vgl. Kap. 5.2 »Integration und Identität«).

Bei der Betrachtung im Umgang mit dem „Fremden“ stellt sich auch die Frage nach deren intrapsychischen Anteilen. FREUD prägte den Begriff des „inneren Auslands“ für das Unbewusste (vgl. GRINBERG et al., 1990). Es kann unterschieden werden in psychische Anteile, die integriert sind und solche, die nicht integriert sind. Beide Bestandteile gehören jedoch zu der psychischen Struktur. Die Projektion der eigenen fremden Anteile in das Äußere lässt auf eine intrapsychische Größe schließen, die aus verschiedenen Gründen nicht verinnerlicht werden kann. Etwas Bedrohliches muss an einen extrapsychischen Ort verlagert werden, um die Zerstörungskraft abzumindern. Dies entspricht einem primären Abwehrmechanismus der frühen Stufe: Exklusion und Ausschluss. Erfolgt keine Projektion, so wird das Bedrohliche als Introjekt abgekapselt (vgl. ELHARDT, 2001, S. 47f.). Um dieses Introjekt aufzubewahren, benötigt es einen »Container«. Der Container verwahrt das »Fremde« und zu gegebenem Anlass kann es wieder hervorgeholt werden. Hierzu verweise ich auf das gleichnamige Kapitel (5.4.1 »Container«).

Der Philosoph GADAMER bemerkt: „Es gibt kein gelingendes Verstehen eines anderen, das nicht zugleich das Verständnis, das man von sich selbst hat, verändert“ (zit. in SADER, 2002, S.41). Somit ist das Verstehen des Fremden analog zum Verstehen des Eigenen Das Verstehen des Anderen beeinflusst die eigene Identität. Dazu bemerkt Julia KRISTEVA: „Der Fremde ist in uns selbst: er ist die verborgene Seite unserer Identität (...) Wenn wir ihn in uns erkennen, verhindern wir, dass wir ihn (...) verabscheuen“ (KRISTEVA zit. in WELSCH zit. in ALLOLIO-NÄCKE, 2005, S. 335). Im Erkennen geschieht eine erste Annäherung an das fremde Objekt. Es wird nicht nur verbannt oder mit Stereotypen belegt. Und die Erkenntnis, dass das Fremde im Außen auch Anteile im Inneren anregt, bzw. solche sich dort auch finden lassen, bestätigt mich in der Annahme, dass im Umgang mit dem Fremden ein Zugang entstehen kann, um die eigene »Identität« zu begreifen und zu formen.

Im vorigen Kapitel zitierte ich GÖRNER: „Heimat (...) suggeriert Identität. Man könnte die Heimat geradezu ein Psychotop nennen, einen Nährboden für das Seelische, angereichert mit Brauchtum und vermeintlicher Behaglichkeit“ (GÖRNER, 2006, S.12). Diese Identitätsbildung geschieht meiner Meinung nach nicht nur in der »Heimat«, obwohl sie dort maßgeblich geprägt wird, sondern ebenso im Umgang mit dem Fremden, dem verborgenen Anteil in uns und der uns gegenübersteht.

SADER geht in seiner Formulierung noch einen Schritt weiter, indem er postuliert: „Bildung besteht zu ganz wesentlichen Teilen darin, Fremdes in Nichtfremdes, manchmal sogar in Eigenes zu verwandeln“ (SADER, 2001, S. 40). Er spricht einerseits eine pädagogische Haltung an, wie unbekanntes Material durch Lesen, Forschen und Hinterfragen zum eigenen Wissen hinzugefügt werden kann. Doch im Begriff der »Bildung» steckt auch eine künstlerische Haltung: „Ich mache mir ein Bild von etwas“ oder „Ich bilde etwas heraus“. Und dieses Bild zu machen oder zu gestalten, geschieht maßgeblich in der Gratwanderung zwischen Aneignung und Abgrenzung von Raum und Material. Diese Herangehensweise findet sich auch in kunsttherapeutischem Handeln wieder. Im Umgang mit Material kann »Fremdes« zu »Eigenem« gemacht werden (vgl. Kap. 5 »Kunsttherapie).

SADER distanziert sich davon, alles zu verinnerlichen (SADER, 2001, S. 40). Die Aneignung vs. Abgrenzung ist auch keine »Entweder-Oder» Haltung. Durchaus kann zwischen dem »Eigenem« und dem »Fremden« in Abstufungen differenziert werden. Somit ist das Maß der Fremdheit ausschlaggebend, es wird anstatt einer statischen Größe zu einer dynamischen Einheit.

Ich fasse zusammen: Durch Abgrenzung entsteht sowohl das »Fremde« als auch das »Eigene«. Die Grenzen sind nicht statisch, sondern können je nach persönlicher Neugier oder Abwehr variieren. Die »Fremde« beinhaltet mehr als nur unbekanntes Wissen über einen Ort oder eine Person oder einen Zustand. Vielmehr kann es zur eigenen Erkenntnis über die Identität beitragen.

In Kapitel 2 führte ich die Definitionen und Assoziationen zu »Heimat« und »Fremde« an. Ich möchte hier überleiten zum nächsten Kapitel, das die Aspekte über Migration und die Erfahrungen von Migranten aufgreift. Migration bildet sozusagen die Verbindung und die Bewegung zwischen den beiden Polaritäten »Heimat« und »Fremde«. Dabei wird auch unterschieden in innere und äußere Gesichtspunkte.

3 Migration

„Die Wanderung von Menschen ist eine ähnlich archaische Erfahrung wie Geburt, Sexualität und Tod. Die Abwehrhaltung der Sesshaften gegen die Wanderer ist ebenso uralt.“

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Beate Winkler

(Zit. In Sader, 2002, S. 25)

„Im Wanderer steckt einer,

der seine Entwicklung nicht beendet“

Joseph Beuys

(zit. in GROBER, 2006, S.1)

3.1 / Definition

Migration wird als „Wanderung von Individuen oder Gruppen im sozialen oder geographischen Raum“ (BADE, 2000, S.11) bezeichnet. Der Wortursprung stammt vom Lateinischen „migratio“ ab und bedeutet schlichtweg „wandern“ (DUDEN, 1997). Migration bedeutet den Übergang von einer sozialen Realität in eine neue Realität, von einer Kultur in die andere.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

In der Psychotherapie findet sich die Migration in vielen Metaphern wieder: Eine Reise wird gemacht, ein Weg wird gegangen, es ist ein Übergang oder eine Überquerung von etwas (vgl. DOKTER, 2005, S.145). In dieser Reise geht es meistens darum, eine neue Heimat zu finden, die eigene Identität zu klären und in einen guten Umgang mit seiner Herkunft zu kommen (ebd.).

Um Migrationsprozesse zu betrachten muss man nicht erst 100.000 Jahre zurückgehen, als der homo erectus aus Afrika sich in die Welt ausbreitete. Das junge, vielstaatige Europa ist geprägt von Migranteneinflüssen aus allen Richtungen. Somit könnte man Migration nicht nur als einen individuellen Zustand nach einer Notsituation auffassen, sondern vielmehr als eine prägende soziale Kraft (SADER, 2002, S. 26). In diesem Zusammenhang spricht der Migrationsforscher und Historiker Klaus J. BADE vom homo migrans, denn die Wanderungen gehören zum Menschsein wie Geburt, Fortpflanzung, Krankheit und Tod (BADE, 2000, S. 11) und finden schon seit Jahrtausenden in unterschiedlichen Dimensionen statt.

Mittlerweile kann von einer globalen Migration gesprochen werden. Es ist dem Menschen möglich, entlegenste Punkte auf der Erde in kürzester Zeit zu erreichen. Im Jahre 2005 leben ungefähr 3% der Weltbevölkerung, 175 Millionen Menschen außerhalb ihres Geburtslandes. Migrationsbewegungen lassen sich jedoch schwer messen, vorhandene Statistiken sind nur Näherungswerte und die temporäre Migration entzieht sich dem gängigen Raster (DÜVELL, 2005, S.62). Es wird vermutet, dass diese Zahl steigen wird, da Kriege, wirtschaftliche Verhältnisse und familiäre Faktoren die Mobilität der Menschen begünstigen wird (BIERBRAUER, 2005, S.14).

[...]

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Details

Titel
Transkulturelle Kunsttherapie
Untertitel
Heimat, Migration und Fremde - Relevanzen für kunsttherapeutisches Handeln
Hochschule
Fachhochschule für Kunsttherapie Nürtingen
Note
1,1
Autor
Jahr
2007
Seiten
90
Katalognummer
V187973
ISBN (eBook)
9783656116097
ISBN (Buch)
9783656115960
Dateigröße
1542 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Transkulturell, Kunst, Kunsttherapie, Heimat
Arbeit zitieren
Axel Klöss-Fleischmann (Autor:in), 2007, Transkulturelle Kunsttherapie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/187973

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