Die Lexik der Chicanos und ihre Anwendung in Texten


Magisterarbeit, 2008

184 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Diskussion des Chicanobegriffs

3 Geschichtlicher Hintergrund

4 Merkmale der gegenwärtigen Chicanokultur

5 Züge des mexikanisch-spanischen Wortschatzes

6 Forschungsergebnisse zur Chicano-Lexik und Forschungsdesiderata
6.1 Vielfalt und Größenordnung der Abweichungen von der mexikanisch­ spanischen Lexik
6.1.1 Das Populärspanisch
6.1.2 Code-Mischung oder Code-Switching
6.1.3 Caló
6.1.4 Chicano-Englisch
6.2 Anglizismen im Chicano
6.3 Existieren Dialekte im Chicano?
6.4 Spracherziehung und Chicano-Lexik
6.5 Stilistische Effekte des Gebrauchs von typischen Chicano-Lexien

7 Empirische Untersuchung der stilistischen Effekte an einem Textkorpus
7.1 Präsentation des Textkorpus
7.2 Ein Modell zur Beschreibung der Bedeutungsfaktoren von Wortwahlprozessen
7.3 Methodik der Analyse
7.4 Analyse der spanischen Textstellen mit Chicano-Lexik
7.5 Ergebnisse der Analyse und Ergänzung von Forschungsergebnissen

8 Zusammenfassung

9 Literaturliste

10 Anhang
10.1 Der achtundzwanzigseitige Textkorpus: die Novelle „Crisol“ von Justo S Alarcón
10.2 Liste der untersuchten Textstellen mit Chicano-Lexien
10.3 Apendice: Léxico Chicano

1 Einleitung

Jeder Mensch besitzt in seiner Sprache einen bestimmten Wortschatz, dass heißt ein Repertoire an Wörtern, auf den er situationsbedingt zugreifen kann. Dies ermöglicht ihm in einer ganz bestimmten Situation ein spezielles Vokabular heranzuziehen. So gebraucht man beispielsweise in einem Fachgespräch innerhalb seiner Arbeitsstelle einen anderen Ausdruckswortschatz, als es in der Umgangssprache, wie bei einer Unterhaltung zwischen Freunden, der Fall wäre.

Um eine solche Unterhaltung unter Freunden, speziell zwischen zwei Chicanos, geht es auch im anfangs aufgezeigten Textausschnitt. Hat man sich diese kleine Plauderei einmal durchgelesen, wird man feststellen, dass es sich nicht um eine standardspani­sche Version handelt und sich somit auch nicht auf Anhieb alle Wörter erschließen lassen.

Die Chicanos haben sich, bedingt durch verschiedene Aspekte, eine vom Standard­spanisch, sowie vom mexikanischen Spanisch abweichende Sprache kreiert. Zu den verschiedenen Aspekten zählen unter anderem die Geschichte und die Kultur dieser Minderheit.

Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht die Untersuchung der Lexik der Chica- nos. Die Arbeit gliedert sich in einen Theorieteil und einen empirischen Teil. Begin­nend mit der Theorie werden sechs verschiedene Punkte betrachtet.

Zunächst wird eine Gegenüberstellung des mexikanisch-spanischen Wortschatzes mit den Chicano-Lexien durchgeführt. Hiermit wird eine Einsicht in die Vielfalt der Abweichungen gegeben. Dazu soll außerdem eine Aussage zur Größenordnung ge­macht werden, um wie viele Abweichungen es sich hierbei handelt.

Da die Chicanos aufgrund ihres heutigen Wohnsitzes im Südwesten Nordamerikas mit der englischen Sprache in Kontakt kommen, ist es unabdingbar, auf die Entleh­nungen aus der anderen Sprache näher einzugeben. Hierzu werden die Arten dieser Entlehnungen in Form einer Klassifikation herausgearbeitet und aufgezeigt.

Bekannter Weise gliedert sich der Südwesten Nordamerikas in verschiedene Bundes­staaten, auf die sich die Chicanos verteilen. Aufgrund dieses Zustandes wird des Weiteren untersucht, ob es zu einer Dialektalisierung kommt und wie sich diese in ihrer Lexik niederschlägt.

In dieser Betrachtung darf auf keinen Fall darauf verzichtet werden, die nachfolgen­den Generationen mit einzubeziehen. So wird in Hinsicht auf die Sprache erforscht, ob der typische Chicano-Wortschatz auf die Kinder der Chicanos übertragen und somit eine bestimmte Sprecherziehung vorgenommen wird.

Durch den Einsatz der Chicano-Lexik werden außerdem verschiedene Wortwahl­effekte erzielt, die zum Abschluß des theoretischen Teils mittels der vorhandenen Forschungsliteratur genauer geprüft werden.

Im empirischen Teil liegt der spezielle Schwerpunkt auf der Textarbeit mit Chicano- Lexik.

Vor den beiden Hauptpunkten dieser Arbeit muss zunächst eine gewisse Basis, eine Art Kontext, geschaffen werden, um die sprachwissenschaftlichen Untersuchungen besser einordnen und verstehen zu können. An erster Stelle wird der Versuch unter­nommen eine Definition in Form einer Diskussion für den Chicanobegriff aufzustel­len.

Wenn man daraufhin eine erste Vorstellung bekommen hat, um welche Bevölke­rungsgruppe es sich hierbei handelt, wird als ein weiterer Schritt auf deren Geschich­te näher eingegangen. In diesem Fall wird der Zeitraum vom 19. bis 20. Jahrhundert beleuchtet, der sich von der Unabhängigkeit Mexikos bis zur heutigen Zeit erstreckt. Somit erhält man einen kurzen, aber umfassenden Blick über ihre geschichtliche Entwicklung.

Da diese Untersuchungen allerdings immer noch nicht ausreichen, um sich eine ge­naue Vorstellung von der Gruppe der Chicanos machen zu können, wird außerdem der soziale Aspekt in die Betrachtungen einbezogen und auch ihre Kultur näher be­trachtet. Diese spielt eine sehr große Rolle im Leben der Chicanos und spiegelt ver­schiedene Charakteristika, bestimmte Denkstrukturen und Handlungsweisen wieder, die man somit besser begreifen kann.

Bevor mit dem ersten großen Schwerpunkt, dem theoretischen Teil, begonnen wird, muss als eine letzte Vorarbeit das mexikanische Spanisch mit all seinen Facetten herausgearbeitet werden, um daraufhin einen Vergleich mit der Chicano-Lexik an­streben zu können. Bei dieser Untersuchung wird nicht nur die Lexik durchleuchtet, sondern auch die Phonetik und die Morphosyntax angerissen, da es auch auf diesen Gebieten einige Besonderheiten gibt, auf die nicht verzichtet werden kann. Diese

Eigenheiten werden allerdings nur aufgezählt, um einen Eindruck zu bekommen, inwieweit sich das mexikanische Spanisch vom Standardspanischen unterscheidet.

Nachdem alle Vorarbeiten geleistet wurden, folgt der erste Schwerpunkt. Der theore­tische Teil bezieht sich auf die vorhandene Forschungsliteratur verschiedener Wis­senschaftler, die mit eigenen Methoden einzelne Untersuchungen der sprachwissen­schaftlichen Aspekte vorgenommen haben. Die verschiedenen Unterpunkte des The­orieteils sollen in Form der weiter oben bereits formulierten Ziele analysiert werden.

Für den Unterpunkt der Abweichungen muss gesagt werden, dass hierzu ein so ge­nanntes Kontinuum im Bereich der Sprache der Chicanos erarbeitet wird, anhand dessen man dann die Größenordnung angeben kann.

Für den Punkt der Dialektalisierung wird festgelegt, dass sich die Analyse auf die Bundesstaaten Texas, New Mexico mit dem Süden Colorados, Arizona und Kalifor­nien bezieht.

Um auf die nachfolgenden Generationen eingehen zu können, soll in dem jeweiligen Unterpunkt die Problematik der Spracherziehung im Vordergrund stehen. Wichtig ist an dieser Stelle, zu schauen, wie die Kinder der Chicanos in den Unterricht integriert werden, welche Sprachen gefördert werden und vor allem wie sie mit den unter­schiedlichen Sprachsituationen zwischen der Schule und dem Zuhause umgehen.

Als Abschluß des ersten und bereits vorarbeitend für den zweiten Teil, dem Empiri­schen, werden die stilistischen Effekte der Chicanos herausgearbeitet, die auf eine bestimmte Wortwahl abzielen. An Hand dieser können die Textstellen aus dem Textkorpus im Praxisteil näher erklärt werden.

Der zweite Schwerpunkt liegt auf dem empirischen Teil, in welchem alle im Theorie­teil erarbeiteten Sachverhalte an den sich dort abzeichnenden Merkmalen veran­schaulicht werden.

Zunächst einmal wird der Textkorpus näher vorgestellt. So werden anfangs einige Angaben, sowohl über den Autor, als auch über den Inhalt der Novelle Crisol ge­macht. Für die Erklärung der Wortwahlprozesse, die im zu bearbeitenden Text statt­finden, wird ein lexikologisches Analysemodell erarbeitet und vorgestellt. In einem dritten Unterpunkt wird auf die Methodik der Analyse des Textes eingegangen und eine bestimmte Abfolge festgelegt. Diesem folgt der eigentliche und auch umfang­reichste Teil, mit der Herausarbeitung und der Beschreibung der einzelnen Wort­wahlprozesse, die der Autor stellvertretend für die Chicanos vorgenommen hat.

Die empirische Basis beschränkt sich auf nur einen Text. Zum einen erweist es sich als äußerst schwierig einen geeigneten Textkorpus in der vorhandenen Literatur und auch im Internet zu finden. Auf der anderen Seite ist es im Rahmen dieser Magister­arbeit nicht möglich, weitere Texte hinzuzuziehen, da der zu untersuchende Teil der Novelle einen ausreichenden Anteil an Textstellen mit Chicano-Lexik aufweist.

Zusammenfassend werden noch einmal alle Ergebnisse dieser Analyse aufgezeigt und damit die vorher erarbeiteten theoretischen Bausteine bestätigt oder wiederlegt. Zu den Zitaten muss hinzugefügt werden, dass der Autor dieser Arbeit von der An­nahme ausgeht, dass die Leser genügend Sprachkenntnisse in der englischen und spanischen Sprache besitzen, so dass auf eine Übersetzung ins Deutsche verzichtet wird. Für die verwendeten Beispiele in den einzelnen Kapiteln werden zum einen die entsprechenden Originalsätze oder Ausdrücke in Klammern gesetzt. Zum anderen erfolgt eine Angabe der deutschen, beziehungsweise der englischen Entsprechungen ebenfalls in Klammern nur dann, wenn es sich um Begriffe handelt, die einer Über­setzung bedürfen, um den Zusammenhang besser verstehen zu können.

Bezogen auf den Forschungsstand kann gesagt werden, dass es Wissenschaftler gibt, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl mit der Phonetik, der Morphologie, als auch mit der Lexik des Chicanos beschäftigen. Der überwiegende Teil der Unter­suchungen bezieht sich allerdings auf die Beeinflussung des Spanischen durch das Englische. Hierzu liegt eine große Bandbreite an wissenschaftlichen Aufzeichnungen vor. Zu einigen in dieser Arbeit untersuchten Unterpunkten existieren allerdings kei­ne oder unzureichende Publikationen von Wissenschaftlern, was das Aufzeigen un­terschiedlicher Sichtweisen unmöglich macht. Außerdem muss an dieser Stelle ange­führt werden, dass man auf genau ein Chicano-Wörterbuch zugreifen kann, da bis heute kein weiteres erschienen ist. Dieses wiederum wurde bereits 1985 veröffent­licht und umfasst somit aufgrund einer fehlenden Neuauflage nicht den aktuellen Wortschatz. Verschiedene Institutionen haben einzelne Listen mit Chicano-Lexien angelegt, aber bei weitem nicht so umfangreich, wie es Galvan mit seinem Wörter­buch getan hat.

2 Diskussion des Chicanobegriffs

Wenn man den Ausdruck Chicano zum ersten Mal hört und sich dessen Sinn nicht erschließen kann, ist es sinnvoll, sich eines Lexikons zu bedienen und das Wort nachzuschlagen. In einem solchen Nachschlagewerk wird der Terminus mit der „Be­zeichnung für die Spanisch sprechende Bevölkerungsgruppe mexikanischer Herkunft in den USA, besonders in Südtexas und Kalifornien“ (Zwahr 92000 : 717) angegeben. Diese all­gemeingültige Aussage wird in wissenschaftlichen Studien allerdings verschiedenar­tig von den Forschern aufgefasst und wiedergegeben. Die Wissenschaftler lassen sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Ansichten in drei verschiedene Gruppen einteilen:

a) ausschließlich der Begriff Mexican-American
b) ausnahmslos der Ausdruck Chicano
c) Verwendung von Mexican-American bis zu einem bestimmten Zeit­punkt in der Geschichte, dann erfolgt ein Wechsel zu Chicano

Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden sehr viele Vermutungen darüber angestellt, welchen Ursprung das Wort Chicano beansprucht, wobei keine als wirklich gesichert gilt. Einerseits beruhen viele Darlegungen darauf, dass es seinen Ursprung im Náhu­atl, einer in Mexiko verbreiteten indigenen Sprache, hat. So existiert die Behauptung, dass die Indianer selbst das Wort Mexicano’ als die Zusammensetzung ,Me-shi-ca- noh’ aussprachen, wobei das weiche ,shi’ durch das harte ,chi’ ersetzt wurde. Ande­rerseits gibt es auch Überlegungen dazu, dass dieses Wort eine Mischung aus zwei verschiedenen Wörtern ist. Als Beispiel hierfür lassen sich die Zusammensetzungen Chihuahua’ + Mexicano', Chicago' + Mexicano' oder auch die Kombination von ,chico' + ,ano' aufzeigen. Auf jeden Fall soll damit die Verbindung angegeben wer­den, dass es sich um Amerikaner mit mexikanischer Abstammung handelt, wobei die mexikanischen Amerikaner selbst das Wort Chicano in Abwechslung mit dem Ter­minus Mexican-American gebrauchen (vgl. Ortego 1973: xv).

Der Begriff Chicano hat jedoch nicht nur Erklärungsversuche auf der sprachwissen­schaftlichen Ebene zu bieten, sondern weist ebenso im sozialen Bereich ein paar An­sätze auf. Er wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts eher als etwas Abschätzendes ge­braucht und bezieht sich dabei auf die Mexikaner, welche zur unteren sozialen Klas­se gehören. Die ungelernten Arbeiter, die gerade erst nach Nordamerika gekommen waren, standen hierbei besonders im Mittelpunkt (vgl. Villanueva 31994: 7).

Die Wissenschaftler Vargas, Acuña, Gebier, Moore, Guzmán und Gonzales hingegen siedelten den Ursprung für diesen Begriff in den 1960er Jahren an, als die so genann­te Chicano-Bewegung aufkam. Zaragosa Vargas (vgl. 2005: 1) erklärt in seinem Werk, dass sich der Terminus Mexican-American ab den 1960er Jahren zum Aus­druck Chicano umwandelte, um in der Zeit der Bürgerrechtsbewegung eine eigene Identität zu erlangen. Dem schließt sich der Wissenschaftler Rodolfo Acuña (62007: 266) an, welcher sich ebenfalls auf die Zeit der Bewegung und insbesondere auf die Jugendbewegung bezieht und den Terminus Chicano mit folgenden Worten be­schreibt:

„[...] the students also adopted the label ,Chicano’, partly in response to the Black Power mo­vement, which had changed its identification from ,Negro’ to ,Black’. The adoption of Chica- no was an attempt to dedicate the movement to the most exploited sector of the U.S. Mexican community, those whom traditional Mexicans and Mexican Americans pejoratively called ,Chicanos’.“

Die Forscher Leo Grebler, Joan W. Moore und Ralph Guzmán (1970: 583), die in ihrem Werk durchgehend den Terminus Mexican-American verwenden, verweisen auf den Ausdruck Chicano mit folgender Angabe:

„[...] chicano has emerged as a term of self-reference among the young activists in all states.“

Der Geschichtsprofessor Manuel G. Gonzales (1999: 8) bezeichnet die Einwanderer, welche in den Südwesten Nordamerikas gingen, als Mexicanos. Des Weiteren ver­wendet er den Begriff Mexican-American für diejenigen, welche in den mexikani­schen Gebieten geboren wurden, die heute zu Nordamerika gehören. Den Begriff Chicanos/Chicanas definiert er mit folgenden Worten:

„To avoid confusion, the term Chicanos (and/or Chicanas) will be employed to specify mem­bers of the Mexican community who, during the 1960s and subsequently, endorsed the major tenets of Chicanismo; that is, Mexican American who, as the journalist Rubén Salazar defined them, had a non-Anglo image of themselves.“

Der Wissenschaftler Theißen (vgl. 1997: 138f.) geht noch einen Schritt weiter und führt an, dass sich zu Beginn der siebziger Jahre der inhaltliche Schwerpunkt des Begriffes zu einem kulturell orientierten Selbstverständnis verschob. Weg von einer eher abfälligen und hin zu einer allgemeinen Bedeutung umfasst der Begriff Chicano nun nicht mehr nur die ursprünglichen Bewohner des ehemaligen mexikanischen Gebietes, sondern auch die mexikanischen Einwanderer, die in den letzten Jahrzehn­ten legal oder illegal nach Nordamerika kamen.

Zuletzt kann außerdem der Wissenschaftler Julian Nava (vgl. 1969: 106ff.) aufge­führt werden, der anhand einer graphischen Darstellung vier unt]erschiedliche Typen aufzeigt, welche sich selbst je nach einzelnen Eigenschaften, wie Sprache, Bräuchen,

Beruf oder Wohlstand mehr dem Mexikanischen oder mehr dem Amerikanischen zuordnen können. Er zählt zu den Mexikanern die Menschen, die so genannten , Wet­backs’ , braceros’, ,resident aliens’, ,green-carders’ und die Touristen. Zu den Nordamerikanern zählt er alle anderen, die sich weder selbst Mexican-Americans nennen, noch von anderen als solche bezeichnet werden. Dazwischen setzt der Wis­senschaftler die erste Generation der Mexican-Americans, die in Mexiko geboren wurden, aber heute Staatsbürger Nordamerikas sind. Und auch die zweite Generation steht dazwischen, welche sich aus Mexican-Americans zusammensetzt, die allerdings bereits in den USA geboren sind. Nava selbst verwendet in seinem Werk den Aus­druck Chicano gar nicht, sondern bezieht sich immer auf den Begriff Mexican- American.

3 Geschichtlicher Hintergrund

Die wichtigsten Eckdaten der mexikanisch-amerikanischen Geschichte für diese Ar­beit liegen im 19. und 20. Jahrhundert, welche aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Einerseits ist es unabdingbar sich der mexikanischen Geschichte zu widmen, da sich das Geschehen bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf mexikani­schem Gebiet abspielte. Andererseits muss ebenfalls die Geschichte Nordamerikas hinzugezogen werden, da sich seit 1848 ein Großteil des mexikanischen Gebietes in den Händen der Nordamerikaner befindet. Auch durch die verschiedenartige Be­trachtung, sowohl der politischen, als auch der wirtschaftlichen und sozialen Aspek­te, ist es notwendig, die Geschichte beider Länder in Betracht zu ziehen.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stand Mexiko noch unter der Herrschaft Spaniens. Doch bereits im September 1810 forderte der Priester Miguel Hidalgo y Costilla mit seinem berühmten „Grito de Dolores“ (Schrei von Dolores): „Long live our Lady of Guadalupe! Death to bad goverment! Death to the gachupines!“ die Menschen zur Revo­lution auf (vgl. Gonzales 1999: 59f.). Nach einem elf Jahre dauernden Kampf rief General Agustín de Iturbide im September 1821 die Unabhängigkeit aus, welche im Vertrag von Córdoba unterzeichnet wurde (vgl. Cosío Villegas 21974: 80ff.). Die erste Republik entstand 1824. Zum ersten Präsidenten Mexikos wählte man Guada­lupe Victoria, welcher den eigentlichen Namen Manuel Félix Fernández trug (vgl. Meier/Ribera 61993: 53).

Mexiko kämpfte nicht nur für seine Unabhängigkeit von Spanien. Das Land wollte ebenso wenig seine nördlichen Territorien an Nordamerika verlieren. Durch die Nähe ließen es die Nordamerikaner nicht unversucht, mexikanische Gebiete anzugliedern (vgl. Gonzales 1999: 58). Die erste gute Gelegenheit bot sich ihnen unbewusster Weise bereits Anfang der 1820er Jahre, als viele Nordamerikaner nach Texas gingen, einem damaligen Teil des mexikanischen Staates Coahuila, um dort als mexikanische Bürger zu leben, zu arbeiten und ihr neues Land zu unterstützen. Durch aufkommen­de Unstimmigkeiten zwischen Mexiko und Texas, wie die Ablehnung der Abschaf­fung der Sklavenhaltung seitens der Texaner, wurde 1836 die Unabhängigkeit von Texas ausgerufen. Nach dem Sieg über General Antonio López de Santa Anna und seinen mexikanischen Truppen, wurde Texas 1848 ein Staat der USA. Nun besaßen die Nordamerikaner eine gute Ausgangsposition, um neue Territorien zu gewinnen (vgl. Nava 1969: 60f.). Zunächst wollte man versuchen die Gebiete Alta California und Nuevo México käuflich zu erwerben, womit John Slidell beauftragt und nach Mexiko geschickt wurde. Die Mexikaner lehnten jedoch jegliche Gespräche ab. Der 1844 gewählte nordamerikanische Präsident James K. Polk entsandte General Zacha­ry Taylor in das Grenzgebiet zwischen Mexiko und Texas zur Beobachtung. Die provozierten Mexikaner beantworteten die Einmischung mit Schüssen, woraufhin die Nordamerikaner den Krieg gegen Mexiko 1846 deklarierten. Nordamerika bekam im Februar 1848 durch die Unterzeichnung des von Nicolas P. Trist ausgearbeiteten Vertrages Guadalupe Hidalgo große Teile Mexikos zugesprochen (vgl. Meier/Ribera 61993: 61ff.). Den letzten nordamerikanischen Eroberungsversuch stellte der so ge­nannte Gadsden Purchase dar. Da die Nordamerikaner Texas und Kalifornien mit einer direkt verlaufenden Eisenbahnlinie verbinden wollten, welche somit mexikani­sches Gebiet durchkreuzen würde, schickte man James Gadsden nach Mexiko, um das Gebiet namens La Mesilla käuflich zu erwerben. Da die mexikanische Regierung dringend Geld benötigte, wurde im Dezember 1853 der Vertrag von Mesilla ge­schlossen (vgl. Gonzales 1999: 92). Das verlorene Territorium besteht somit aus den heutigen Bundesstaaten Kalifornien, Arizona, Nevada, Utah, Teilen Colorados, New Mexiko und Texas, also dem gesamten Gebiet oberhalb des Flusses Rio Grande. Vie­le Mexikaner blieben in ihren Gebieten ansässig und wurden demzufolge Staatsbür­ger von Nordamerika, wobei ihnen die Regierung die vollen bürgerlichen und politi­schen Rechte laut Vertrag garantierte (vgl. Meier/Ribera 61993: 66ff.).

In den ersten dreißig Jahren der Unabhängigkeit befand sich Mexiko in einem stän­digen Zustand der Aufruhr und Revolte und musste 50 Regierungen durchlaufen, welche fast ausschließlich aus militärischen Putschen hervorgingen. In dieser Zeit konnte sich die Wirtschaft nicht entwickeln und es entstand Armut und Isolation in allen Bereichen (vgl. Cosío Villegas 21974: 97ff.).

Als man 1855 Benito Juárez, ein Indianer der Zapotec, zum Präsidenten von Mexiko wählte, wurden durch ihn verschiedene Reformen eingeleitet. Durch seinen irrtümli­chen Glauben, dass die Reichen und die Kirche den Armen helfen würden, entfachte sich 1858 ein Bürgerkrieg. An diesem beteiligte sich auch Europa, da Mexiko im Ausland hoch verschuldet war. Teilweise schaltete sich auch Nordamerika ein, um neue Territorien zu erlangen. Vor allem Frankreich beteiligte sich maßgeblich am Krieg, indem die Franzosen 1862 in Mexiko eindrangen und eine Monarchie mit dem Habsburger Ferdinand Maximilian einsetzte. Als die Nordamerikaner 1865 ihren eigenen Bürgerkrieg beendet hatten, wollten sie sich wieder ausgiebig um Mexiko kümmern. Um ihren eigenen Zielen näher zu kommen, legten sie Frankreich nahe, sich aus Mexiko zurückzuziehen. Nach dem Truppenabzug und der Hinrichtung Ma­ximilians 1867, wurde Mexiko wieder eine freie Republik unter Benito Juárez (vgl. Nava 1969: 61ff.).

In den nächsten zehn Jahren beschäftigten sich die Mexikaner hauptsächlich mit der Restaurierung der Republik. Durch den Bau der ersten Eisenbahnlinien wollte man die Armut vertreiben und die Wirtschaft neu beleben. Da der Präsident Juárez aller­dings kein Geld für Investitionen besaß und auch nicht auf finanzielle Unterstützung aus dem europäischen Ausland hoffen konnte, scheiterten seine Reformversuche (vgl. Cosío Villegas 21974: 115ff.). Nach seinem Tod wurde 1876 der General Porfi­rio Díaz zum neuen Präsidenten gewählt. Seine errichtete Diktatur sollte 35 Jahre andauern (vgl. Nava 1969: 64f.). Er kurbelte durch viele ausländische Unternehmen, welche nach Mexiko kamen, die Wirtschaft wieder an, wobei er allerdings auch durch die Industrielle Revolution begünstigt wurde. Der Bergbau wurde weiter aus­gebaut, die Ölproduktion gefördert und die Eisen- und Stahlindustrie aufgebaut (vgl. Gonzales 1999: 115f.). Am Ende der Regierungszeit von Díaz besaß Mexiko ein komplexes Netzwerk an Bahnlinien. Die Kommunikation über Post, Telegraphen­masten und Telefonleitungen wurde erweitert und Banken gegründet, was die Expan­sion von Landwirtschaft, Mienen, Kommerz und Industrie ermöglichte (vgl. Cosío Villegas 21974: 125). Díaz brachte den Menschen zwar mehr Sicherheit, aber nur auf Kosten ihrer Freiheit. Die ausländischen Unternehmer wurden reicher und die mexi­kanische Bevölkerung immer ärmer und abhängiger (vgl. Gonzales 1999: 116).

In Nordamerika kamen durch die geschaffenen Bahnlinien zahlreiche Nordamerika­ner in die neu gewonnenen Gebiete und ließen sich dort nieder. Dadurch bildeten sich verschiedene Konfliktherde, was an den drei Staaten Kalifornien, Texas und New Mexico kurz aufgezeigt werden muss.

Die mexikanische Bevölkerung wurde in Kalifornien, bedingt durch den Goldrausch ab 1849, von den Nordamerikanern und Europäern überrannt. Der Anteil der mexi­kanischen Amerikaner wurde auf anfangs 25 Prozent und zehn Jahre später auf nur noch 10 Prozent reduziert. Die Mexikaner und die Kalifornier rückten immer mehr in den Fokus der Diskriminierung, wobei ihnen oft Gewalt und auch Tötungen wieder­fuhren. Dies gipfelte darin, dass ein Gesetz erlassen wurde, welches ihnen untersagte die Mienen zu betreten, um ihnen das Anrecht auf das Gold zu verbieten.

In Texas profitierten, im Gegensatz zu Kalifornien, viele Mexikaner vom wirtschaft­lichen Aufschwung, beispielsweise in der Rinderzucht, der Schafzucht oder im

Baumwollanbau. Die Nordamerikaner benötigten sehr viele Arbeitskräfte, woraufhin viele Mexikaner über die Grenze gingen.

Aber auch in diesem Bundesstaat kam es zu Gewalttaten und Diskriminierungen ge­genüber den dunkelhäutigeren Mitmenschen, da man ihnen den Aufstieg und höher gestellte Positionen nicht gönnte. Auch in New Mexico gab es immer wieder Kon­flikte zwischen den Nordamerikanern und den Mexikanern. Die Situation entspannte sich erst durch den wirtschaftlichen Aufschwung, der in Verbindung mit dem Bau der Eisenbahnlinien stand. Im Bereich der Holzverarbeitung, der Rinderzucht, der Mineralienförderung und auch der Baumwolle benötigten die Nordamerikaner drin­gend zahlreiche Arbeitskräfte, woraufhin viele Mexikaner nach New Mexico aufbra­chen (vgl. Meier/Ribera 61993: 70ff.).

In Mexiko kamen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ersten politischen Stimmen auf, dass es an der Zeit für eine Republik und der Auflösung des Regimes von Díaz sei. Obwohl Francisco I. Madero, ein ehrgeiziger Freund von Díaz, die nächsten Wahlen gewinnen und einen Wechsel einleiten wollte, wurde Díaz 1910 wiederge­wählt (vgl. Cosío Villegas 21974: 132f.). Aber aufgrund von Korruption in allen Be­reichen der Regierung, Jahren einer untauglichen und schwachen Führung und vielen sozialen Problemen, kam es noch im selben Jahr zur Revolution (vgl. Gonzales 1999: 115). Diese kann man in drei Phasen einteilen (vgl. Cosío Villegas 21974: 151):

a) 1910 - 1920 ► Abschaffung des Regimes von Díaz
b) 1921 - 1940 ► Reformierung des Agrarbereiches, Verfestigung der Gewerkschaften, Wiederbelebung der Bildung und Kultur, Grün­dung von Institutionen („Bank von Mexiko“)
c) 1941 - 1970 ► Phase der Festigung, politische Stabilität, wirtschaftli­cher Fortschritt

Bedingt durch die Revolution kam es bis 1930 zu einer Flucht von hunderttausenden Mexikanern, meist auf illegale Art und Weise. Obwohl die ausgewanderten Mexika­ner in Nordamerika mit vielen Problemen, wie Rassenvorurteilen und Diskriminie­rungen, zu kämpfen hatten, war es für sie dennoch nicht so gewaltsam, wie in ihrem Heimatland. Die mexikanische Immigration wurde sowohl durch die Regierung Nordamerikas, als auch von privaten Unternehmen unterstützt, da man während des Ersten Weltkrieges mehr Arbeitskräfte in den Fabriken und auf den Feldern benötigte (vgl. Nava 1969: 87f.). Durch die Teilnahme Nordamerikas am Ersten Weltkrieg, änderte sich das Muster der Immigration. Man erließ 1917 ein Gesetz, welches die

Einwanderung regeln sollte. An erster Stelle stand der landwirtschaftliche Sektor und später kamen der Eisenbahnbau und die Steinkohlebergwerke hinzu. Dies führte zum ersten Mal in der Geschichte der Chicanos zu einem Dominoeffekt. Durch die Im­migration der Mexikaner, die für niedrige Löhne im Südwesten Nordamerikas arbei­teten, mussten die mexikanischen Amerikaner auf andere Gebiete, wie den Mittleren Westen und den Nordosten, ausweichen, um sich dort Arbeit zu suchen. Viele gingen aufgrund ihrer besseren Bildung und der Beherrschung der englischen Sprache, in größere Städte wie Chicago, Kansas City oder Detroit. Viele verschiedene Industrie­zweige holten sich Arbeitskräfte bis nach Pennsylvania, Ohio oder Michigan.

Das Gesetz hatte andererseits die Wirkung, dass viele Mexikaner nach Mexiko zu­rückgingen, aus Angst in die Armee einberufen zu werden. Viele mexikanische A­merikaner hingegen bewiesen ihre Loyalität im Armeedienst. Sie mussten aber den­noch weitere Erfahrungen mit Diskriminierung und Rassismus sammeln, was teil­weise auch zur Asylsuche in Mexiko führte (vgl. Meier/Ribera 61993: 114ff.).

Die Immigration der Mexikaner wurde durch die Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre abrupt gestoppt. Millionen von Menschen in Nordamerika verloren ihre Arbeit und die Löhne sanken so stark ab, dass sie sich unterhalb des Existenzmini­mums befanden. Ein Großteil der Mexikaner ging aufgrund dieses Ereignisses frei­willig ins eigene Land zurück. Andere wurden mittels des Programms zur Rückfüh­rung finanziell von der Regierung unterstützt. Auf der anderen Seite versuchten die Nordamerikaner viele Illegale ausfindig zu machen und zu deportieren, wobei die Kinder, welche in Nordamerika geboren wurden, ebenfalls mitgingen. Die Rückfüh­rung der Mexikaner aus Nordamerika hatte kaum begonnen, als die eigenen Lands­leute die Regierung erneut zu überreden versuchten, mexikanische Kleinbauern hin­zu zu ziehen, um die Bebauung der Felder gewährleisten zu können, während die Vereinigten Staaten von Amerika seit 1941 am Zweiten Weltkrieg teilnahm, wofür ebenfalls Kräfte benötigt wurden. So wurde zwischen Nordamerika und Mexiko für die Zeit von 1942 bis 1960 ein Vertrag geschlossen, welcher es Tausenden von me­xikanischen Kleinbauern erlaubte, für eine bestimmte Zeitperiode nach Nordamerika gehen zu können. Andererseits meldeten sich erneut viele mexikanische Amerikaner freiwillig zum Kriegsbeitritt und wurden danach mit Auszeichnungen geehrt (vgl. Nava 1969: 88ff.).

Die Leiharbeiter, auch braceros genannt, stellten die Initiatoren einer weiteren Im­migrationswelle dar. Diese erstreckt sich über die Zeit des Zweiten Weltkrieges ab 1942 bis Ende 1964, den Koreakrieg mit einbeziehend (vgl. Meier/Ribera 61993: 172).

In den 60er und 70er Jahren kam es zur so genannten Chicano-Bewegung, in der sich viele mexikanische Amerikaner für zahlreiche soziale Veränderungen stark machten. Durch das niedrige Jahreseinkommen gehörten in dieser Zeit immer noch sehr viele zu den Armen. Die überwiegende Mehrheit der Familien konnte ihre Kinder nicht zur Schule schicken und war auf die Hilfe der sozialen Führsorge angewiesen. Somit mangelte es bereits bei den Kindern an Bildung und machte eine Veränderung des sozialen Standes unmöglich. Immer mehr mexikanische Amerikaner verließen die ländlichen Gegenden und zogen in die Städte, da man dort mehr verdienen konnte. Sie beteiligten sich selbst aktiver an Wahlen, um mehr am politischen Geschehen teilzuhaben und mehr für ihre eigenen Rechte zu kämpfen. Ebenso wurden sie nach und nach in verschiedenen Bereichen der öffentlichen Einrichtungen eingesetzt. Da der Schlüssel zum Erfolg die Bildung ist, ermöglichte man vielen Kindern und Ju­gendlichen der mexikanischen Amerikaner zur Schule und an Universitäten gehen zu können (vgl. Nava 1969: 96ff.).

Durch das Stadtleben veränderte sich für zahlreiche Familien die Lebensweise, da viele von ihnen eine Arbeit fanden, der sie das ganze Jahr nachgehen konnten. Auch die Frauen stiegen in das Berufsleben ein. Speziell für die mexikanischen Amerika­ner wurden Handelskammern und andere soziale Institutionen gebildet (vgl. Mei­er/Ribera 61993: 250ff.).

Die aus Hunderten von Organisationen bestehende Chicano-Bewegung konzentrierte sich auf Probleme wie Bildung, Ausbildung und Einkommen. Zu diesen Organisa­tionen gehörten an erster Stelle die Gewerkschaften, welche sich vor allem um die Farmarbeiter kümmerten. Sie führten mit Hilfe von Studentenvereinigungen, Kir­chenorganisationen, sowie zivilrechtlichen Gruppen Streiks in Form von Demonstra­tionen, Märschen und Predigten durch.

Einer der berühmtesten Repräsentanten dieser Bewegung war César Chávez, der für die Farmarbeiter viele Neuerungen erkämpfte. Er setzte die medizinische Versor­gung, eine Rente und eine Versorgung im Fall von Arbeitslosigkeit durch.

Ab Mitte der 1960er Jahre begannen sich studentische Vereinigungen zu bilden, wel­che sich vor allem für die Einstellung von mexikanischen Ausbildern, Beratungsleh­rern, sowie für eine zweisprachige und zweikulturelle Ausbildung einsetzten. Auch in den Vierteln, den barrios, in denen die mexikanischen Amerikaner größtenteils leben, hielt die Bewegung Einzug. Die Brown Berets stellen dort die bekannteste

Organisation dar. Sie versuchen vor allem die polizeiliche Gewalt und den Drogen­konsum in der Gemeinschaft zu bekämpfen.

Ab den 70er Jahren zeichnete sich der Feminismus als eine weitere Bewegung ab, welche sich für mehr Rechte der Frauen, wie dem Fürsorgerecht, der Kinderbetreu­ung, der Abtreibung und der sexuellen Diskriminierung am Arbeitsplatz einsetzte. Die Chicano-Bewegung stellte den Höhepunkt in der Geschichte der mexikanischen Amerikaner dar, denn durch diese Organisationen wurde es möglich, zu einer politi­schen Vertretung zu gelangen, um ihre bürgerlichen Rechte zu schützen (vgl. Gonza­les 1999: 196ff.).

4 Merkmale der gegenwärtigen Chicanokultur

In ihrer Geschichte mussten die mexikanischen Amerikaner ihre kulturelle Identität immer wieder auf ein Neues suchen. Die Zeit der Chicano-Bewegung, auch movi­miento genannt, stellte dabei den entscheidenden Wendepunkt dar. Die Verschie­denartigkeit, durch die sich die Gemeinschaft der Chicanos auszeichnet, macht die Suche nach kultureller Identität nicht einfach. So unterscheiden sie sich beispiels­weise aufgrund ihrer Bildung, den Gebrauch der spanischen oder englischen Spra­che, des Grades ihrer kulturellen Anpassung in der nordamerikanischen Gesellschaft oder ihres Berufes.

Wichtige Punkte während der Immigrationszeit waren außerdem die Rassenkonstel­lationen, regionale und kulturelle Unterschiede, sowie das kulturelle Klima zwi­schen Nordamerika und Mexiko, mit denen sich die Chicanos immer wieder kon­frontiert sahen. Diese Merkmale haben sich im Laufe der Zeit stark verändert. Ei­nerseits traten unter den mexikanischen Immigranten verschiedene kulturelle Eigen­schaften auf, womit sie sich gegenseitig bereits beeinflussten. Andererseits traf man in den städtischen und ländlichen Umgebungen in Nordamerika, wo man sich nie­derließ, noch einmal auf örtliche kulturelle Unterschiede, mit denen sie sich eben­falls arrangieren mussten (vgl. Meier/Ribera 61993: 234).

Wichtig ist jedoch, dass die oben bereits erwähnte Chicano-Bewegung dafür stand, seit den 1960er Jahren einen nationalistischen Gegendiskurs zu bilden. Damit woll­ten die Chicanos eine eigene „Nation“ demonstrieren, welche mit den Vorstellungen einer kollektiven Identität verknüpft war. Seit diesem Zeitpunkt gaben sie sich selbst den Namen Chicano, um ihre Eigenständigkeit noch einmal hervorzuheben. Sie ori­entierten sich an vielen anderen sozialen Bewegungen dieser Zeit, besonders an der Bewegung der Afro-Amerikaner, und setzten sich vorwiegend gegen die Rassendis­kriminierung ein (vgl. Pisarz-Ramírez 2005: 26f.).

Was aber macht eine bestimmte Kulturgruppe aus, bzw. unter welchen Gesichts­punkten erkennt man eine Kultur?

Der Wissenschaftler Nephtali De León (21972: 48) beschreibt Kultur mit folgenden Worten:

„Culture might be said to be something like the expression and way and style of life of a peo­ple.“

Der Ethnologe Edward B. Tylor (zitiert in: Greverus 1978: 57) stellt folgende Kul­turdefinition zur Verfügung:

„Cultur oder Civilisation im weitesten ethnographischen Sinne ist jener Inbegriff von Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Gesetz, Sitte und allen übrigen Fähigkeiten und Gewohnheiten, wel­che der Mensch als Mitglied seiner Gesellschaft sich angeeignet hat.“

Dieses Zitat kann noch durch die Ansicht Herbert Marcuses (zitiert in: Greverus 1978: 55) im Hinblick auf die Kultur als „höhere Kultur“ erweitert werden. Für ihn gehören die Bereiche Literatur, Kunst, Philosophie und Musik zur Kultur, welche von der heutigen Gesellschaft „übernommen, organisiert, gekauft und verkauft“ wer­den.

Allan Figueroa Deck (zitiert in: Heyck 1994: 15) nutzt als Ausgangspunkt für seine Definition von Kultur die folgenden Worte: „the meanings, values, thoughts, and fee­lings mutually shared by a people.“ Darauf aufbauend hebt er bestimmte kulturelle Themen hervor und teilt sie in die verschiedenen Kategorien: „(1) family, (2) religion, (3) community, (4) the arts, (5) the experience of (im)migration and exile, and (6) the question of cultural identity“ ein. In diesem Fall sollen nur die ersten vier Punkte ge­nauer durchleuchtet und abschließend auf die kulturelle Identität näher eingegangen werden. Der Autor dieses Werkes legt hierbei für seine Betrachtungen eine Zusam­mensetzung aller beschriebenen Teile als Definition von Kultur für sich selbst fest.

Die Chicanos stellen neben den Kubanern und Puertoricanern eine Hauptgruppe der Lateinamerikaner in Nordamerika dar. Sie kennzeichnen sich durch ihren Gleichmut, der Religionsverbundenheit, sowie ihrer Zuwendung zu traditionellen Werten aus. Gerade durch diese Eigenschaften gelang es den Chicanos die erlittene Trennung von der Heimat und die Diskriminierungen zu erdulden und den Kampf für ihre eigenen Bürgerrechte nicht aufzugeben (vgl. Heyck 1994: 5).

Im Leben der Chicanos besitzt die Familie den höchsten Stellenwert, da sie den Ort darstellt, wo die eigene kulturelle Identität geformt und bewahrt wird, sowie aus ihr emotionale Unterstützung gezogen wird. Diese Familienorientiertheit hängt einer­seits damit zusammen, dass sich ihre Mitglieder einen Schutzraum aufbauen, weil sie in der Gesellschaft nur geringe Bildungs- und Aufstiegschancen bekommen. Ande­rerseits herrscht in der Familie großer Respekt gegenüber älteren Generationen und gegenüber dem Familienoberhaupt, was wiederum als machismo interpretiert werden kann. Der Mann steht demnach an erster Stelle, wobei die Frau sich diesem unterzu­ordnen hat. Schon allein damit grenzen sich die Chicanos stark von den Nordameri­kanern ab, da man bei den Chicanos die Familie als eine Solidargemeinschaft und bei den Nordamerikanern als konsumorientiert und individualistisch wahrnimmt. Die Chicanos übertragen die Bedeutung der Familie im Einzelnen auf die ganze Gemein­schaft und stellen unter dem Begriff La Raza eine große Familie dar, deren Mitglie­der sich aufeinander verlassen und auf den anderen „zählen“ können (vgl. Pisarz- Ramírez 2005: 135ff.).

Im Bezug auf die Erziehung der Kinder steht die Mutter unbestritten an erster Stelle. So werden aber nicht nur die Eltern, sondern die ganze Familie in die Betreuung der Kinder einbezogen. Eine weitere sehr wichtige Rolle spielt die Organisation der compadrazgo, was eine verwandtschaftliche Beziehung unter sehr guten Freunden darstellt. Hierbei handelt es sich um gegenseitige Hilfe und Unterstützung, in morali­scher und auch finanzieller Hinsicht (vgl. Heyck 1994: 18).

Die Religion spielt in der Kultur der Chicanos ebenfalls eine sehr wichtige Rolle. Sie sind Anhänger des katholischen Glaubens, was auf der Eroberung Mexikos durch die Spanier im 16. Jahrhundert beruht. Hierbei steht die Heilige Jungfrau Maria und ihre mexikanische Inkarnation, Virgin de Guadalupe, im Mittelpunkt. Sie wurde für die Chicanos zur Schutzpatronin der unterdrückten Rasse und gilt auch heute noch als Symbol der Befreiung. Die vielen bewahrten religiösen Praktiken und der traditionel­le Katholizismus wurden von den Chicanos in die Vereinigten Staaten von Amerika hineingetragen (vgl. Theißen 1997: 146ff.).

Die Religion wird in nahezu alle Familienfeste eingebunden, was sich von der Taufe bis zum 15. Geburtstag eines Kindes, den so genannten quinceañeras, erstreckt. Die Beziehung zwischen den Lateinamerikanern und ihren Gottheiten ist sehr persönlich. Sie setzt sich aus verschiedenen Bestandteilen, wie einer langen Unterhaltung, sanf­tem Bitten, Verhandeln, Beschimpfungen, Danksagungen für erhaltene Gefälligkei­ten und vermiedene Unfälle zusammen. Die katholisch-gläubigen Chicanos beten zu ihren Lieblingsheiligen und setzen sie in die Position eines speziellen Freundes, der auch compadre genannt wird. Die Religion hat für die Lateinamerikaner einen eher volkstümlichen, als offiziellen Charakter und ist ebenso mehr emotionaler als theolo­gischer Natur. Durch die Art der Praxis der religiösen Handlungen werden viele per­sönliche Eigenschaften der Praktizierenden sichtbar. Für sie ist es nicht notwendig in eine Kirche zu gehen oder einer religiösen Organisation anzugehören. Durch die sehr enge Verbundenheit zu ihrer Religion zelebrieren sie ihren Glauben sehr oft auch außerhalb der Kirche, beispielsweise in ihrem Zuhause. Ebenso existieren viele Men­schen ohne eine bestimmte Konfession, die aber an die Spiritualität glauben. Im Falle einer Krankheit oder eines bestimmten geistigen Zustandes, bei dem der Arzt nicht helfen kann, wenden sich die Menschen an einen so genannten curandero, einen Heilpraktiker, welcher durch Beten und volkstümliche Medizin versucht dem Lei­denden zu helfen (vgl. Heyck 1994: 94f.).

Der dritte wichtige Bereich, welchen Allan Figueroa Deck aufzählt, stellt die Ge­meinschaft dar. Der Soziologe Daniel Bell (zitiert in: Heyck 1994: 162) beschreibt diese mit folgenden Worten:

„consists of individuals who feel some consciousness of kind which is not contractual, and which involves some common links through primordial cultural ties. Broadly speaking, there are four such ties: race, color, language and ethnicity.“

Hierbei handelt es sich nicht um eine Gemeinschaft im Sinne eines bestimmten Ge­bietes in dem verschiedene Menschen zusammenleben. In erster Linie geht es um gewisse familiäre Werte und Erfahrungen und darum, dass das Kollektiv unter Be­achtung öffentlicher Anlässe zusammenhält. Diese Volksgemeinschaft kann man als eine Art ausgedehnte Familie betrachten, welche mit Selbsthilfegruppen, Orte für Gottesdienste, Gemeindezentren, Wirtschaftsverbänden oder auch Nachbarschafts­verbänden verbunden ist.

Der Begriff community kann aufgrund ethnischer Zugehörigkeit ebenso für eine Ein­teilung der Menschen in bestimmte Gruppen stehen. Die Nordamerikaner mit latein­amerikanischer Herkunft werden beispielsweise in ,Mexican\ ,Cuban’ oder auch Puerto Rican’ eingeteilt. Der Ausdruck steht vor allem für den Stolz und die urtüm­liche Herkunft. Dies wird durch Paraden, Konzerte oder theatralische Darbietungen unterstützt, um die Zugehörigkeit zu verstehen zu geben. Auf jeden Fall stellt die Gemeinschaft eine Art Verteidigung gegen auftretende störende Veränderungen so­wohl im wirtschaftlichen, als auch im sozialen Bereich dar (vgl. Heyck 1994: 162f.).

Innerhalb der Chicano-Bewegung wurden auch besonders künstlerische Ideen und Visionen neu entdeckt und zum Vorschein gebracht, welche sich etwa bis 1975 als eine gemeinschaftsorientierte Phase entwickelten und sich dann in eine individuali­sierende Phase umwandelten. Dies hatte allerdings nichts damit zu tun, dass sich die Chicanos von der Gemeinschaft abwandten. Vielmehr waren sie bestrebt, sich dem Vermarktungsmechanismus des Mainstreams anzupassen (vgl. Pisarz-Ramírez 2005: 209ff.).

Die Kunst stellt einen Teil der Chicano-Gemeinschaft dar, welche von ihren Ge­meindezentren finanziell unterstützt wird. Auf diese Art und Weise können junge Künstler ihre Geschichten in Liedern, in der Dichtkunst, im Tanz oder in der Wand­malerei ausdrücken. Hierbei handelt es sich um einen lebendigen Teil der Latinokul- tur. Persönliche Sichtweisen und Gefühle des Künstlers werden somit eingebunden, genauso wie er auch eine breite volkstümliche Masse anspricht und eine fließende und dynamische soziale Wirklichkeit erzeugt (vgl. Heyck 1994: 254).

Einen großen Bereich in der Kunst der Chicanos nimmt die Wandmalerei, die so genannten murals, ein. Diese wurde vor allem in den späten 1980er Jahren sehr be­rühmt und gern genutzt, um Gefühle zu verschiedenen politischen Themen, wie die Revolution, auszudrücken. Außerdem war man natürlich auch sehr stolz auf seine Vergangenheit, bzw. seine Wurzeln und so flossen in diese Malerei immer wieder Symbole aus der vorkolumbianischen Zeit der Maya und Azteken, sowie viele religi­öse Bilder der Virgin de Guadalupe ein. Mit dieser Art von Kunst versucht man die große Masse anzusprechen, auf ihre Selbstachtung hinzuweisen und sie an ihr kultu­relles Erbe zu erinnern (vgl. Meier/Ribera 61993: 242f.).

Eine ebenso wichtige Rolle in der Chicano-Kultur spielt die Literatur, vor allem das Drama und die Poesie. Die Chicanos brachten eine Flut von Novellen, Kurzgeschich­ten, Essays und Gedichten hervor, in denen hauptsächlich über die Frustration, das Leiden und das grundsätzliche Überleben ihrer selbst geschrieben wurde. Eines der bekanntesten Gedichte der Chicano-Literatur ist der Epos „I Am Joaquín“ von Ro­dolfo Gonzales. Des Weiteren begannen sie sich durch Volksballaden über die Im­migration auszudrücken. Die Themenpalette weitete sich wenig später auf Sachge­biete wie Vorurteile, Diskriminierung und Ausnutzung aus. Die Chicanos verfassten diese Texte, sowohl auf Englisch, als auch auf Spanisch oder in Kombination der beiden Sprachen. Festzuhalten ist hier ebenfalls, dass nicht nur geschrieben, sondern auch Theater gespielt oder Filme gedreht wurden. Einer der wohl bekanntesten Filme ist „Zoot Suit“ von Luis Valdez (vgl. Meier/Ribera 61993: 235ff.).

Auch im journalistischen Bereich gab es einen explosionsartigen Anstieg an Beiträ­gen von den Chicanos. Es entstanden Zeitungen und Zeitschriften, sowohl für die Allgemeinheit, als auch für spezielle Bereiche, wie zum Beispiel das Magazin „El Grito“ für Wissenschaftler. Dahingegen stellen „Caminos“, „La Luz“ oder auch „Hispanic“ eher populäre Zeitschriften dar.

Ein ebenso wichtiger Bereich der kulturellen Identität ist die Musik für die Chicanos. Seit Mitte der 1960er Jahre wollte man nicht nur Texte schreiben, sondern seine An­sichten über bestimmte Themen, wie die Behandlung der Mexikaner in der nordame­rikanischen Gesellschaft, mittels der Musik zum Ausdruck bringen. Die Chicanos sangen über den Kampf der Immigranten, der Hinterlist des Alkohols und der Dro­gen, sowie über den Stress des Lebens in Nordamerika. Berühmte Chicanos, wie Linda Ronstadt oder Joan Báez, brachten durch die Mischung aus Rock und mexika­nisch traditionellen Musikformen den Menschen die spanische Sprache näher.

Diese wiederum stellt ebenso einen kulturellen Aspekt dar. Der Gebrauch der spani­schen Sprache unter den Chicanos nahm im Laufe der Zeit ab. Dies liegt vor allem daran, dass sich die folgenden Generationen in Gebieten niedergelassen hatten, die nicht direkt an der zweisprachigen Grenze liegen und somit auch nicht mehr durch die neuesten Immigranten beeinflusst werden. Ein zweiter Grund liegt im Beschluss verschiedener Staaten, welche Englisch zur alleinigen Sprache in der Schulbildung erklärten. Dies erweckt den Anschein, als könne die Sprache der Chicanos ausster­ben. Andererseits wurde die spanische Sprache immer wieder durch die vielen Im­migranten, Touristen oder auch Geschäftsleute, welche über die Grenze nach Nord­amerika kamen, verstärkt. In den barrios ist Spanisch die Kommunikationssprache schlechthin und besonders bei den Neuankömmlingen sehr beliebt, da man sich zu­erst über Jobs, Wohnungen und soziale Einrichtungen informieren musste (vgl. ibid.: 242ff.).

Kultur wird aber nicht nur über Kunst ausgedrückt, sondern ebenso durch viele ande­re Aspekte, wie die Lebensweise und den Kleidungsstil. Die meisten Chicanos haben sich während der Immigrationszeit in den barrios angesiedelt, was sich später als ihr permanentes Zuhause etablierte. Dies lag daran, dass sie es aufgrund ihrer Herkunft, ihrer geringen Bildung, des wenigen Einkommens, der Hautfarbe und Familiengröße sehr schwer hatten, sich als Minderheit in der „weißen“ Gesellschaft zu behaupten (vgl. Ludwig 1973: 123). Im Gegenzug zu ihrem religiösen Verhalten, wurden die Chicanos immer wieder der Kriminalität bezichtigt. Bedingt durch den Vertrag von Guadalupe wurden sie eineinhalb Jahrhunderte von den Nordamerikanern unter­drückt. Weil viele sich aber zu wehren versuchten und für ihre Rechte kämpften, wurden sie in den eigenen Reihen als Helden gefeiert. Von den nordamerikanischen Zeitungen wurden sie allerdings zu blutrünstigen outlaws hochstilisiert. In der heuti­gen Zeit nehmen vor allem die jugendlichen Chicanos diese „Helden“ zum Vorbild und gründen in ihren barrios Gangs oder Clubs. Diese Bandenmitglieder werden auch pachucos bezeichnet, welche einen neuen Kleidungsstil, den zoot suit, populär machten, welcher sich vor allem durch außergewöhnliche Frisuren und Hosen aus­zeichnet (vgl. Theißen 1997: 151f.). So weisen sie sich laut Dittrich Theißen durch „their style of haircut, the thick heads of hair, the duck-tail comb, and the pachuco pants“ (1997: 152) aus.

Die jugendlichen Chicanos, auch vatos locos oder cholos genannt, haben in den meisten Fällen die Schule abgebrochen und keine Aussicht auf eine Arbeit. Ohne Geld und Auto, als einem Statussymbol, geraten viele von ihnen in den Kreislauf der Gewalt (vgl. Theißen 1997: 152). In Anbetracht dieser Begebenheiten verringern sich die Chancen der Chicanos in der nordamerikanischen Gesellschaft Anerkennung zu erlangen, da sie für ihr Auftreten und ihr schlechtes Image ein Stück weit selbst verantwortlich sind.

In der Betrachtung der Merkmale der Kultur der Chicanos ist es abschließend not­wendig, noch etwas genauer auf die kulturelle Identität einzugehen. Im Mittelpunkt steht bei jedem Chicano die Definierung des Selbst in Bezug auf seine Mitmenschen und in Bezug auf die ganze Welt. Nur so wird jeder zu der Erkenntnis gelangen, wer er wirklich ist und wo er hingehört. Zahlreiche lateinamerikanische Bürger identifi­zieren sich vollkommen mit der Kultur Nordamerikas. Andersherum gibt es aber auch ein paar, die dies bewußt nicht tun. Die Mehrheit befindet sich genau zwischen diesen beiden Typen. Die Exilanten und Immigranten haben im Bezug auf ihre Kul­tur alle das gleiche Schicksal, nämlich das sie gleichermaßen entwurzelt sind. So stellen die vier oben erwähnten Aspekte Familie, Religion, Gemeinschaft und Kunst die Bezugspunkte für die Chicanos in ihrer kulturellen Identität dar.

Die Menschen, die entwurzelt wurden, erleiden durch den Verlust ihrer Bezugspunk­te, Werte und der Personen, durch die sie sich selbst definiert hatten, ein großes Trauma. Sie müssen versuchen die Wurzeln ihrer ursprünglichen Kultur auf neuem Boden zu verpflanzen. Wenn dieser Prozess erfolgreich verläuft, behält diese ver­setzte Kultur Teile ihres Ursprungs, wobei es andererseits auch zu einer Anpassung an einen neuen Lebensweg und damit auch zu neuen Bezugspunkten kommt. In die­sem Prozess trifft eine persönliche, religiöse, spirituelle, hierarchische, integrierte und gemeinschaftliche Sichtweise auf eine unpersönliche, weltliche, materialistische, individualistische und gleichmacherische Sichtweise.

Genau das passiert, wenn ein männlicher „Macho“ plötzlich einen Gehaltsscheck seiner Frau akzeptieren soll oder wenn seine behütete Frau allein die U-Bahn zur Arbeit nehmen muss und nicht mehr am Herd steht. Die entwurzelten Menschen i­

dentifizieren sich nun mit den neuen Eigenschaften Nordamerikas, die sie selbst aus­gesucht haben oder annehmen mussten und bringen diese mit den alten Werten ihrer ursprünglichen Kultur im Bereich Familie, Religion, Gemeinschaft und Kunst zu­sammen. Dieser Prozess kann sowohl eine vielseitige, als auch gezielte Anpassung sein, fällt allerdings nicht jedem Chicano gleichermaßen leicht (vgl. Heyck 1994: 372f.).

5 Züge des mexikanisch-spanischen Wortschatzes

Die Eroberung Mexikos durch die Spanier fand zu Beginn des 16. Jahrhunderts statt, wodurch das Land zur stellvertretenden Autorität auf dem neuen Kontinent wurde und daher eine starke sprachliche Bindung an das Mutterland Spanien aufweist. Die Spanier stießen bei der Eroberung Mexikos auf eine bereits blühende Zivilisation, was es unmöglich machte dieses Land nieder zu werfen, wie sie dies beispielsweise mit den Antillen taten. Die Völker des alten und neuen Kontinents begannen sich zu vermischen, womit eine eigenständige Sprachentwicklung Mexikos unterbunden wurde. Mit einer geographischen Einteilung Mexikos nach seinen lautlichen Beson­derheiten tun sich die Wissenschaftler bis heute noch schwer. Hierbei setzt sich al­lerdings immer mehr die Einteilung in Hochland und Küstenzonen durch (vgl. Ku- barth 1987: 63f.).

Die Phonetik spielt eine große Rolle im mexikanischen Spanisch, da man in diesem Bereich viele Abweichungen finden kann. Auch die nahe Verbindung zu Spanien verhinderte nicht, dass sich im mexikanischen Spanisch eine besonders starke Ver­änderung des Vokalismus vollzog, nämlich die Vokalschwächung. Innerhalb eines Wortes kam es in bestimmten Umgebungen zum Ausfall oder zur Entkräftung unbe­tonter Vokale. Dies kommt besonders im zentralen Hochland Mexikos zwischen /s/ und den Tenues /p/, /t/ und /k/ vor, was man an den Beispielen ,demstrar’ [demstrár] und ,tods’ [töös] gut erkennen kann. Nicht nur der Vokalismus verdient es erwähnt zu werden, sondern es muss an dieser Stelle auch der Konsonantismus angeführt werden. Hierbei wird auch von einer Konsonantenstärkung gesprochen.

Der Wissenschaftler Malmberg macht die Substratwirkung des Náhuatl dafür ver­antwortlich. Dies wird allerdings vom Wissenschaftler Lope Blanch widerlegt, indem er erklärt, dass diese Phänomene auch außerhalb Mexikos auftreten. Man kann für den Konsonantismus drei lautliche Besonderheiten anführen. Zum einen handelt es sich um die Devibration des starken /-r/, beispielsweise am Wortanfang, sowie die Assibilierung. Als zweite Besonderheit kann die Längung des finalen /-s/ und als dritte die Vokalreduktion angeführt werden. Außerdem erscheint es wichtig den Ye­ísmo und den Žeísmo anzuführen, wobei der erstgenannte in ganz Mexiko vertreten ist und der Žeísmo nur im Süden Mexikos auftritt (vgl. ibid.: 64ff.).

Auf dem Gebiet der Morphosyntax ist es wichtig die Phänomene „Loísmo“ und „Vo­seo“ anzuführen, wobei der „Voseo“ nur von der Landbevölkerung der Staaten Chia­pas und Tabasco verwendet wird. Ebenfalls eine mexikanische Besonderheit stellt die große Anzahl an Gerundivperiphrasen dar, wobei dem Verb ,if (gehen) unter­schiedliche Bedeutungen zukommen, welche allerdings vom Kontext abhängen. Hier kann das Beispiel ,voy terminando' angeführt werden, welches für den Ausdruck ,estoy a punto de' steht. Im Verbalsystem Mexikos findet eine Strukturveränderung der Tempora statt, wobei das „perfecto compuesto“ (zusammengesetztes Perfekt) die Funktion des „imperfecto“ (Imperfekt) übernimmt, um den Verlauf oder die Wieder­holung zum Ausdruck zu bringen. Während die Spanier das perfecto compuesto ver­wenden, gebrauchen die Mexikaner eher das indefinido (historisches Perfekt) (vgl. Kubarth 1987: 74f.).

Da das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit auf der Lexik liegt, werden nun im Einzelnen die fünf verschiedenen sprachlichen Züge des mexikanischen Spanisch betrachtet:

a) Indigenismus
b) Archaismus
c) Anglizismus
d) Mexikanismus
e) Seemannsausdrücke

a) Beginnend mit der Untersuchung der Indigenismen, muss zunächst einmal geklärt werden, worum es sich hierbei handelt. Unter dem Begriff Indigenismus ver­steht man den indigenen Einfluss als Substrat auf das Spanische, besonders im Be­reich des Wortschatzes. Dies geschah allerdings nur im Zeitrahmen der Eroberung und der spanischen Erstbesiedlung Lateinamerikas (vgl. ibid.: 44). Die hier aufge­zeigte Form des historischen Sprachkontaktes wird als Substrat bezeichnet, da sie sich aufgrund des höheren Ansehens der Sprache des Eroberungsvolkes, nach einer bestimmten Zeit der Zweisprachigkeit, förmlich unter diese schiebt. Somit wird die erste vorhandene Sprache aufgegeben und nur vereinzelte Sprechgewohnheiten in die neue Sprache übernommen und diese teilweise verändert. Hierbei werden in den meisten Fällen vor allem die Lautung, der Wortschatz und die Namen umgewandelt (vgl. Dietrich/Geckeler 1990: 138f.).

Obwohl man Mexiko hispanisierte, die ethnischen Gruppen dabei unterdrückte, dis­kriminierte und verminderte, haben viele von ihnen ihre eigene Sprache und Kultur bis heute bewahrt (vgl. Störl 2002: 260). Einen ganz besonderen Einfluss hat die in­digene Bevölkerung auf Mexiko gehabt. Die zwei bekanntesten Gruppen sind die Azteken und die Maya. Der Einfluss ist zwar nur von geringem Ausmaß, aber weit ausgeprägter als im Rest Lateinamerikas (vgl. Kubarth 1987: 63ff.). Durch das oben besprochene Zusammentreffen zweier Kulturen innerhalb Mexikos wurde es erfor­derlich, verschiedene Termini der indigenen Sprachen in das Spanische aufzuneh­men, nicht aber die indigenen Sprachen vollständig zu übernehmen. Der Wissen­schaftler Malmberg (zitiert in: Kubarth 1987: 44f.) äußert sich zu diesem Sachverhalt wie folgt:

„Es lógico que el contacto con una naturaleza nueva y con nuevas condiciones de vida creasen en los emigrados la necesidad de acuñar nuevos términos para denominar lasplantas, anima­les, instrumentos, comidas y hábitos sociales que encontraban.“

Die wohl bedeutendste Gruppe war die der Azteken mit ihrer eigenen Sprache, dem Náhuatl, was gleichzeitig auch die offizielle Sprache während ihrer Herrschaftszeit im Großraum Mexikos und Zentralamerikas war.

Diese Sprache bestand aus nur 20 Lauten, welche im Allgemeinen einfach zu artiku­lieren waren, wenn man die beiden Varianten /tz/ und /tl/ herausnimmt. In diesem System gab es keine Guturale und Nasalvokale. Die Azteken drückten sich im schriftlichen Bereich durch Hieroglyphen, figurativ und farbenfroh aus (vgl. Gómez Mango de Carriquiry 1995: 38f.).

Im Spanischen sind zahlreiche Indigenismen zu finden, die aus der Aztekensprache stammen. So wurde das Wort ,aguacate’ für Avocado aus dem Aztekischen über­nommen. Die Erdnuss beispielsweise wird mit ,cacahuete’ bezeichnet. Auch das Wort ,chicle' für Kaugummi übernahm man von den Azteken und ebenso die Wörter ,tomate’ für Tomate, ,petacď für das Zigarettenetui oder beispielsweise den Begriff jícarď für eine kleine Kaffee- oder Teetasse (vgl. Dietrich/Geckeler 1990: 185f.).

Die zweitgrößte indigene Gruppe, welche Einfluss auf das mexikanische Spanisch besaß, stellen die Mayas dar. Ihre Sprache ist im Vergleich zum Náhuatl etwas an­ders aufgebaut. Sie verbreitete sich von Yucatan bis nach Guatemala und wurde in die beiden verschiedenen Mayasprachen der Hochebene und des Flachlandes einge­teilt, die aber eng verwandt waren und aus bis zu fünfzehn Dialekten bestanden.

Die Sprache der Mayas wurde mittels gedämpfter Stimme artikuliert. Und im Ver­gleich zum Spanischen fehlten bestimmte Laute, wie /d/, /f/ und /r/, womit die Aus­sprache für Fremde sehr schwierig war (vgl. Gómez Mango de Carriquiry 1995: 45). Auch hierfür lässt sich eine Reihe von Indigenismen finden, die ins Spanische ein­flossen. Als Beispiele sind ,xoy’ für ,orzuelo’ (Gerstenkorn), ,tulix’ für ,libélulď (Libelle), ,chuchul für ,arrugado, seco’ (runzelig, trocken), ,xux’ für ,avispď

(Wespe) oder auch ,charí für pequeño’ (klein) zu nennen (vgl. Lope Blanch 2000: 197).

b) Ein zweites wichtiges Merkmal des mexikanischen Spanisch sind die Archa­ismen. Unter diesen versteht man die Bezeichnung für alle Sprachelemente, die zwar ererbt sind, aber im heutigen Spanisch in Europa nicht mehr existieren. Die Archa­ismen in Lateinamerika sind im lateinamerikanischen Lexikon stark vertreten, wobei ihr regionales Erscheinen stark variieren kann (vgl. Kubarth 1987: 44). Schaut man in das Diccionario de la lengua española der Real Academia, dann findet man unter dem Stichpunkt ,arcaísmo' folgenden Eintrag:

„voz, frase o manera de decir, anticuadas; empleo de voces, frases o maneras de decir, anticu­adas“. Anticuado, por su parte, quiere decir“ que no está en uso mucho tiempo ha“. (Moreno de Alba 1992: 50)

Dazu muss herausgefunden werden, in welchen Gebieten bestimmte Wörter unter­lassen werden und an welchen Stellen sie in der heutigen Zeit noch in Gebrauch sind. Gegenwärtig existieren noch sehr viele Wörter, die in Spanien nicht mehr ge­braucht werden, aber in Lateinamerika noch rege Anwendung finden.

Die Autorin dieses Werkes teilt die Ansicht von Moreno de Alba, welcher 1992 in seinem Buch Diferencias léxicas entre España y América zu der Erkenntnis kam, dass nicht zuletzt deshalb der Gebrauch des Begriffes Archaismus nicht ganz kor­rekt eingesetzt ist. Daher sollte eher eine Einteilung in absolute und relative Archa­ismen vorgenommen werden.

Das liegt zum einen daran, dass es Wörter gibt, die von der Mehrheit oder aber auch von allen spanischsprechenden Menschen gar nicht mehr genutzt werden. Zum an­deren gibt es Wörter, die von Personen bestimmter geografischer Gebiete gespro­chen werden. Für den ersten Fall ist das Beispiel yantar (comer) anzuführen, was nahezu von niemandem mehr gebraucht wird, demnach einen absoluten Archaismus darstellt. Für den relativen Archaismus hingegen kann man das Wort prieto’ (mo­reno) angeben, welches heutzutage noch in verschiedenen lateinamerikanischen Regionen Verwendung findet, aber für die Spanier Europas zu den Archaismen zählt. Somit handelt es sich hierbei um keinen absoluten Archaismus, da es nicht die Gesamtheit der Spanisch sprechenden Personen betrifft (vgl. Moreno de Alba 1992: 50f.).

Das mexikanische Spanisch besitzt noch heute sehr viele Archaismen, die nur noch von wenigen Spanischsprechenden anderer Länder benutzt werden, da es dafür neu­ere Wörter gibt. Für Mexiko können hierfür die Beispiele ,almareo’ (mareo), ,boje’

(simple, tonto), buraco’ (agujero), ,melárchito’ (melancólico), playo’ (plano) oder auch ,sequío' (sed) aufgezeigt werden.

So werden jedoch nicht nur Wörter als Archaismen bezeichnet, die beispielsweise in Mexiko noch verwendet werden und von den europäischen Spaniern nicht mehr. Ebenfalls zu den Archaismen zählen spezielle Wörter, die nur in bestimmten Gebie­ten eines Landes, beispielsweise in ländlichen Gegenden, gebraucht werden. In gro­ßen Städten wiederum sind diese Ausdrücke unbekannt. Des Weiteren zählen so genannte Jargons dazu, welche nur von kleinen Personengruppen benutzt werden. Als Beispiele für die ländlichen Ausdrücke, den so genannten Ruralismen, stehen basto' (aparejo de las caballerías), ,limetón' (garrafa grande), ,merca' (compra) oder auch ,tata' (padre) zur Verfügung. Als Jargon oder spezifische Ausdrücke gel­ten beispielsweise ,apañarse' (robar, léxico de la delincuencia), gavera' (molde para tejas o ladrillos), ,retobar' (forrar de cuero) und auch ,tresalbo' (caballo que tiene tres patas blancas) (vgl. Moreno de Alba 1992: 55ff.).

c) Einen dritten wesentlichen Bestandteil des mexikanischen Spanisch bilden die Anglizismen. Hierbei gibt es verschiedene Möglichkeiten die bestimmten Wör­ter aus einer fremden Sprache, in diesem Fall aus dem Englischen, in die eigene Sprache zu übernehmen, bzw. zu integrieren. Die Interferenz kann auf phonologi- scher, grammatischer, sowie lexikalischer Ebene stattfinden, wobei die zuletzt ge­nannte am häufigsten auftritt. Die Anglizismen können auf verschiedene Art und Weise eingeteilt werden. An dieser Stelle soll die Aufteilung von Emilio Lorenzo kurz und beispielhaft dargestellt werden. Er teilt sie in sieben verschiedene Gruppen ein.

Die erste Gruppe stellt die natürlichen Wortentlehnungen, die so genannten angli­cismos crudos dar, welche mit ihrer englischen Schreibweise und ursprünglichen Aussprache in die spanische Sprache übernommen werden. Als Beispiele dienen ,hobby', ,lunch', ,sandwich' oder auch ,slogan'.

Zur zweiten Gruppe zählt Lorenzo die Anglizismen, welche sich in einer Eingewöh­nungsphase befinden. Hierbei handelt es sich um Anglizismen, deren Schreibweise und Aussprache schrittweise an die spanische Sprache angeglichen wird. Einerseits gibt es, wie am Beispiel fútbol', orthografische Anpassung, aber keine phonologi- sche, da die Zusammensetzung [tb] im Spanischen nicht geläufig ist. Andererseits existieren zahlreiche Wörter, deren Anpassung nicht gemeinsam in allen spanischen Dialekten stattfindet. In einigen Gebieten wird das Beispiel ,ticket, und pickets' mittels ,tique' und ,tiques' wiedergegeben, während in anderen Bereichen die natür­liche Wortentlehnung stattfindet.

Bei der dritten Gruppe handelt es sich um Entlehnungen, die sich vollkommen an die spanische Sprache angeglichenen haben. Lorenzo unterscheidet hierbei zwischen Wörtern, die direkt aus dem Englischen ins Spanische übernommen wurden, wie ,túnel', ,tenis', ,suéteť und den Wörtern, die indirekt, also über das Französische, ins Spanische gelangten, wie ,quilla', ,brida' oder ,vagón'.

Die vierte Gruppe sind die Lehnübersetzungen, die so genannten calcos. Hierbei handelt es sich um Wörter, die buchstäblich vom Englischen ins Spanische übersetzt wurden. Schön veranschaulichen lässt sich dies an den Beispielen public relations', was zu ,relacionespublicas' und ,strong man', was zu ,hombre fuerte' wird.

Darauf folgt die fünfte und etwas spezifischere Gruppe der Lehnübertragungen, welche für die englischen Wörter ähnliche Begriffe im Spanischen findet. Zu den bekanntesten Wörtern zählen hier ,romance' (für amoríos), ,conferencia' (für a­samblea) oder auch ,concreto' (für cemento).

An sechster Stelle stehen die Anglizismen, die einen außereuropäischen Ursprung haben. Mittels des Englischen wurden aus dem Orientalischen stammende Wörter ins Spanische aufgenommen. Dafür können die sehr bekannten Beispiele ,yoga', ,champú' und pijama' aufgezählt werden.

Die letzte Gruppe dieser sieben nimmt die der Anglizismen mit klassischem Ur­sprung ein. Hierbei handelt es sich um Wörter, die das Englische aus griechischem oder lateinischem Ursprung bildete und dann ins Spanisch übertrug. Die Begriffe gramófono', penicilina' oder auch ,electrónico' stellen hierfür gute Beispiele dar. Speziell für Mexiko gibt es ein paar Anglizismen, welche nur in diesem Land Vor­kommen. Zu diesen gehören unter anderem ,lunch' (comida a media mañana), ,windbraker' (anorak), office boy' (mensajero), ,lobby' (vestíbulo) oder auch ,trusť (consorcio) (vgl. Moreno de Alba 1992: 195ff.).

d) Ein vierter sprachwissenschaftlicher Zug des mexikanischen Spanisch stellt die Gruppe der Mexikanismen dar. Diese spanischen Lexeme, deren Ursprung in Mexiko liegt, haben speziell für dieses Land eigene Bedeutungen (vgl. Santamaría 51992: xii). Die Beispiele ,chamaco' (Junge), ,híjole / jíjole' (Ausdruck der Überra­schung oder Furcht), ,órale' (los, gehen wir) oder auch pinche' (verflucht, ver­dammt) können an dieser Stelle angeführt werden (vgl. Lipski 1994: 286).

e) Eine etwas kleinere, aber dafür nicht weniger bedeutungsvolle Gruppe, die ebenso auf das mexikanische Spanisch Einfluss hatte, stellen die so genannten mari- nerismos dar. Hierbei handelt es sich um eine Art Seemannssprache, viel mehr um seemännische Ausdrücke, welche in der Zeit der Überfahrt von den Eroberern der Neuen Welt aus Europa mitgebracht wurden. Beispiele hierfür sind ,el flete’ (pago de cualquier transporte), ,el aparejo’ (conjunto de cosas), ,abrď (abertura entre dos cordilleras), sowie ,se amarran’ (no se atan) und ,se botan’ (no se tiran) (vgl. Va­quero de Ramírez 32003: 41f.).

Das Verhältnis der Wörter der indigenen Bevölkerung Lateinamerikas im Vokabular der Fischkunde hingegen ist anderen semantischen Bereichen, wie dem Familienle­ben oder der Religion sehr überlegen. Trotzdem verringert sich dieses hohe Verhält­nis an indoamericanismos im nautischen Wortschatz Lateinamerikas auf eine sehr wahrnehmbare Art und Weise, so dass er praktisch spanischen Ursprungs ist.

Abschließend kann festgehalten werden, dass fast alle maritimen Termini der ame­rikanischen Indios, welche in die spanische Sprache aufgenommen wurden, ihren Anfang auf den Antillen genommen haben. Die lexikalischen Einheiten der übrigen lateinamerikanischen Sprachen werden nur auf lokaler oder regionaler Ebene mit einer begrenzten Lebensdauer verwendet (vgl. Lope Blanch 1977: 49).

6 Forschungsergebnisse zur Chicano-Lexik und For­schungsdesiderata

6.1 Vielfalt und Größenordnung der Abweichungen von der mexika­nisch-spanischen Lexik

Nachdem im vorhergehenden Teil dieser Arbeit die wichtigsten Züge des mexikani­schen Spanisch, mit dem Hauptaugenmerk auf der Lexik, im Einzelnen näher be­leuchtet wurden, wird nun die Vielfalt an lexikalischen Varianten des chicano aufge­zeigt, um die Größenordnung an Abweichungen darstellen zu können.

Das chicano stellt mit seinen etwa 20 Millionen Sprechern die größte Gruppe des Spanischen in Nordamerika dar (vgl. Ramírez 1992: 46). Sie setzt sich aus drei ver­schiedenen Einheiten zusammen. Zum einen sind es die einsprachig Spanischspre­chenden, zum anderen die einsprachig Englischsprechenden und zum dritten ist es die bilinguale Gruppe, welche den größten Anteil dieser drei Einheiten ausmacht (vgl. Sánchez 1982: 9).

Die aus Mexiko hervorgegangene spanische Varietät hat sich im Laufe der Zeit durch den starken Sprachkontakt und der daraus resultierenden Vermischung mit dem Englischen gebildet. Durch die sehr heterogene Sprachlandschaft in Mexiko weist das chicano eine sehr verzweigte und facettenreiche Struktur auf, welche eben­so durch die verschiedenen regionalen Variationen des Englischen in Nordamerika beeinflusst wurde. Elías-Olivares y Valdes (zitiert in: Stewart 1999: 190) zeigt fol­gendes Kontinuum dazu auf: „Standard Spanish - Popular Spanish - Español Mixtureado - Caló - Chicano English - Standard English“ Um dieses Phänomen verständlich zu machen, soll hier das Beispiel ,Pásame el periódico ’ in den verschiedenen Sonderar­ten aufgezeigt werden.

Im mexikanischen Standardspanisch sagt man Pásame el periódico'. Für das espa­ñol popular wird das Beispiel durch ,PáHame el periódico (o periódiko)' ausge­drückt, während für das español mezclado ,PáHame el papel' und für den caló der Ausdruck ,PáHame el papiro' steht. Zuletzt fehlen noch das Chicano-Englisch, für welches dieser Beispielsatz durch ,PáHame el paper' angeführt werden kann, sowie das Standardenglisch, welches mittels Pass me the paper' ausgedrückt wird (vgl. Ramírez 1992: 46).

Der Wissenschaftler Espinosa führte anhand von verschiedenen Studien („Speech mixture in New Mexico: the influence of the English language on New Mexican Spa- nish“ 1917, „Estudios sobre el español de Nuevo Méjico“ 1930-46, „Hispanic In­fluences in the United States“ 1975) im Bereich der Phonetik, der Morphologie und der Lexik die ersten Untersuchungen des chicano durch. Nachfolgend wurde von verschiedenen Forschern vor allem der große Einfluss des Englischen auf das Spani­sche verdeutlicht (vgl. Hahr 2002: 114f.). Zwischen den unterschiedlichen Sprecher­gemeinschaften haben sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur aufgrund der kolossalen Entfernung große Differenzen herausgebildet. Das Spanische in Nord­amerika wurde gleichfalls den dort vorherrschenden Bedürfnissen angepasst und weiterentwickelt. Bestimmt durch die nordamerikanische Politik wurde den Spa­nischsprechern durch das neue Bildungswesen auferlegt, ihre Varietät ein Stück weit aufzugeben und Englisch zu erlernen.

Das chicano zeichnet sich durch verschiedene phonetische, grammatische und lexi­kalische Besonderheiten aus. Hierzu können drei unterschiedliche sprachliche Ur­sprünge angegeben werden, welche für seine Entstehung von großer Bedeutung sind. An erster Stelle steht der indigene Einfluss, der auf die Lexik begrenzt ist. Die zweite Stelle wird durch den Einfluss des Spanischen, welcher von den Eroberern aus Spa­nien herrührt, besetzt. Und schließlich ist die Beeinflussung durch die dominante englische Sprache aufzuzeigen.

Zum ersten Bereich wird festgehalten, dass die indigenen Wörter im chicano zahl­reich sind. Sie stammen überwiegend aus dem Taíno der Antillen, dem Quechua aus Peru, sowie dem Náhuatl aus Mexiko. Die Wörter aus dem Náhuatl sind allerdings im gesamtspanischen Raum verbreitet und zählen somit nicht als lexikalische Eigen­heit des Südwesten Nordamerikas. Man findet im chicano, bedingt durch den spani­schen Einfluss sowohl viele Archaismen, als auch daraus hervorgegangene Neolo­gismen. Die archaischen Formen wie ,com’ (como), ,ansť (así) oder ,ivierno’ (in­vierno) zeigen den Sprachstand des Spanischen des 16. Jahrhunderts auf und werden derart nur noch in Lateinamerika angewandt. Eine ebenso große Rolle spielen die Regionalismen aus Spanien. So lässt sich laut Espinosa beispielsweise bei fierro', ,lambeť und ,urnía' der spezielle leonesische Charakter anhand der Artikulation und äußeren Form erkennen (vgl. Hahr 2002: 117).

Wie in jeder lebendigen Sprache, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt, kommt es auch im chicano zu neuen Formen, welche durch bestimmte syntaktische und morphologische Bildungsmuster entstehen. Die zwei Entwicklungssysteme, das Blending und die Analogiebildung, sorgen für die Entstehung von Neologismen.

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Ende der Leseprobe aus 184 Seiten

Details

Titel
Die Lexik der Chicanos und ihre Anwendung in Texten
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Romanistik Sprachwissenschaft)
Note
2,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
184
Katalognummer
V186842
ISBN (eBook)
9783656100065
ISBN (Buch)
9783656100959
Dateigröße
1249 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Chicanos, Mexican-American, Mexicano, Sprachwissenschaft, Mexico, Sprache, Amerika
Arbeit zitieren
Sprachwissenschaftlerin Romanistik (MA) Antje Rohloff (Autor:in), 2008, Die Lexik der Chicanos und ihre Anwendung in Texten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186842

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