Soziale Arbeit mit Straßenkindern in Guatemala

Eine interkulturelle Bewertung


Diplomarbeit, 2009

152 Seiten, Note: 1


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. EINLEITUNG

2. GEOGRAPHIE, KULTUR UND GESCHICHTLICHER HINTERGRUND GUATEMALAS
2.1 Klima und Geographie des Landes
2.2 Kulturen und Ethnien
2.3 Wirtschaftliche Lage
2.4.1 Guatemala zwischen Reform und Repression
2.4.2 Die Zeit des Guerilla-Krieges
2.4.3 Politische Entwicklung seit Kriegsende bis heute
2.4.4 Auswirkungen auf die Familienstruktur und Konsequenzen der Kriegszeit
2.4.5 Rückschlüsse der Kriegsauswirkungen auf das Straßenkinderphänomen von heute

3. DAS PHÄNOMEN „STRASSENKIND“
3.1 Definitionen des Begriffs „Straßenkind“
3.1.1 Kinder auf der Straße
3.1.2 Kinder der Straße
3.2 Schutz der Kinder
3.2.1 Gemäß Kinderschutzkonvention
3.1.2 Gemäß “Código de la niñez” in Guatemala
3.3 Straßenkinder international/national - Schätzungen
3.3.1 Schätzungen weltweit/Lateinamerika
3.3.2 Zur Situation in Guatemala
3.4 Endstation Straße
3.4.1 Sozialisation in der Familie
3.4.2 Straßensozialisation
3.4.2.1 Die Trennung von den Eltern
3.4.2.2 Schutz und Hilfe durch die Gruppe

4. WESENTLICHE ASPEKTE IM LEBEN EINES STRASSENKINDES IN GUATEMALA
4.1 Aufenthaltsorte und Schlafplätze
4.2 Arbeitsfelder
4.3 Drogen
4.4 Gesundheit und Hygiene
4.5 Prostitution
4.6 “Maras” und Kriminalität
4.7 Konflikte mit der Polizei
4.7.1 Regelmäßige Kontrollen
4.7.2 „Soziale Säuberungsaktionen“

5. PROJEKT ZUR RESOZIALISIERUNG VON STRASSENKINDERN AM BEISPIEL VON "NUESTROS DERECHOS"
5.1 Die Organisation „Nuestros Derechos“ und ihre Geschichte
5.2 Zielgruppe
5.3 Programme der Organisation
5.3.1 Angebot 1 - Streetwork
5.3.2 Angebot 2 - Arbeit in Jugendgefängnissen
5.3.3 Angebot 3 - Gruppe für minderjährige Mütter
5.3.4 Angebot 4 - Heim für Straßenkinder
5.3.5 Angebot 5 - Schule für Kinderarbeiter und Kinder der Straße
5.4 Vorgehensweise und Methoden
5.5 Regeln und Sanktionen
5.6 Ziele
5.7 Exkurs: Streetwork in "La Capital" - ein Erfahrungsbericht
5.8 Resümee

6. ERLÄUTERUNG DER GRÜNDE DER KINDER FÜR EIN LEBEN AUF DER STRASSE ANHAND EINER EMPIRISCHEN STUDIE
6.1 Begründung der Auswahl der Befragungstechnik und der Probanden
6.2 Interviewleitfaden
6.2.1 Interviewleitfaden für das Experteninterview mit Carlos Toledo
6.2.2 Interviewleitfaden für die Gruppenbefragung mit den ehemaligen Straßenmädchen
6.2.3 Interviewleitfaden für die Einzelinterviews mit den Straßenkindern
6.3 Auswertung der Befragungen anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse
6.3.1 Festlegung des Analysematerials
6.3.2 Analyse der Entstehungssituation
6.3.3 Formale Charakteristika des Materials und Richtungsanalyse
6.3.4 Theoriegeleitete Differenzierung der Fragestellung
6.3.5 Auswertung des Experteninterviews mit Carlos Toledo
6.3.6 Auswertung der Gruppenbefragung der ehemaligen Straßenmädchen
6.3.7 Auswertung der Einzelinterviews mit den Straßenkindern
6.4 Fazit aus der Studie

7. THEORETISCHE GRUNDLAGE UND SOZIALARBEITERISCHE METHODEN IM BEZUG AUF INTERVENTIONSMÖGLICHKEITEN IN DER ARBEIT MIT STRASSENKINDERN
7.1 Begründung meiner Wahl der Lebensweltorientierten Theorie
7.2 Grenzen und Probleme sozialarbeiterischer Methoden
7.3 Zielsetzung
7.4 Methoden zur Zielumsetzung
7.4.1 Motivierende und Klientenzentrierte Gesprächsführung
7.4.2 Empowerment
7.4.3 Streetwork
7.4.4 Soziale Netzwerkarbeit
7.4.5 Sozialraumorientierung

8. SCHLUSSBETRACHTUNGEN
8.1 Einmal Straßenkind - immer Straßenkind?
8.2 Mögliche Zukunftsprognosen

9. VERZEICHNIS
9.1 Abkürzungsverzeichnis
9.2 Literatur- und Quellenverzeichnis

10. ANHANG
10.1 Anhang zur empirischen Studie
10.1.1 Transkriptionen der Befragungen
10.1.2 Entwicklung eines Kategoriensystems
10.2 Fotos der Straßenkinder

1. EINLEITUNG

Die vorliegende Arbeit befasst sich mit der Sozialen Arbeit mit Straßenkindern und Indikatoren zur Entstehung des Straßenkinderphänomens. Unter Berücksichtigung des kulturellen und geschichtlichen Hintergrundes werden sozialarbeiterische Methoden für den Umgang und der Unterstützung von Straßenkindern vorgeschlagen.

Mein Interesse an den Straßenkindern wurde vor knappen zwei Jahren geweckt, als ich einen Teil meines Jahrespraktikums an einer Schule für Kinder der Straße und jene aus armen Familien ableistete. Später wirkte ich einige Monate in einer Menschenrechtsorganisation in der Hauptstadt Guatemalas mit, die sich auf die Zielgruppe Straßenkind spezialisiert hatte und den Grundstein für die vorliegende Arbeit bildete. Mich faszinierte der enorme Überlebenswille und die Stärke dieser Kinder, die bereits in ihren jungen Jahren so viel erwachsener wirkten, als ihre meist zierliche Statur erahnen ließ. Während dieser Zeit wurde mir auch immer bewusster, wie Komplex das Phänomen des Kindes der Straße eigentlich ist und wieviele Faktoren in dieses hineinspielen. Es gab nicht einfach nur einen "Sündenbock", der für das Elend dieser Kinder und Jugendlichen verantwortlich gemacht werden konnte und gerade das machte die Ursachenerforschung so schwierig. Jedoch ist die Kenntnis über die Herkunft und Entwicklung der Problematik wesentlich für die Definierung der Internventionsmaßnahmen. Aus diesem Grund hatte ich vor einem Jahr mit den Recherchen zu dieser Diplomarbeit begonnen, mit dem Ziel, meine offenen Fragen zu den Ursachen des Straßenkinderphänomens und den Unterstützungmöglichkeiten für die Soziale Arbeit zu beantworten. Neben einer intensiven Literaturrecherche sollten mir zahlreiche Befragungen, Beobachtungen und praktische Erfahrungen im Umgang mit Straßenkindern dabei behilflich sein.

Ein weiteres Ziel, dass ich mir für diese Diplomarbeit gesteckt habe, ist es, dem Leser einen Eindruck zu geben vom Leben eines Straßenkindes und den Problemen, mit denen es täglich zu kämpfen hat.

Die Diplomarbeit kann in einen theoretischen und einen praktischen Teil eingeordnet werden.

Im ersten und theoretischen Teil werden zunächst einmal der geschichtliche und politische Hintergrund Guatemalas vorgestellt.

Ein Großteil der Bevölkerung wurde durch Massaker an Familienmitgliedern und einer Kindheit geprägt von Gewalt und Not schwer traumatisiert. Die Auswirkungen sind bis heute spürbar und haben durch ihren Einfluss auf die Sozialisation auch eine wesentliche Bedeutung hinsichtlich der Erklärung des Straßenkinderphänomens.

Nach Berichten der Menschenrechtsorganisation "Casa Alianza Guatemala" sterben jedes Jahr mindestens 400 - 500 Straßenkinder durch Gewaltanwendung seitens der Polizei. Weitere 2000 Kinder werden nach einem Bericht der "Prensa libre" (14. März 2008, S. 12) jährlich sexuell missbraucht und es wird geschätzt das ca. 70% aller Kinder im Laufe ihres Lebens Opfer einer Form von Gewalt werden, sei es nun psychischer, physischer oder seelischer Art. Und diese Zahlen dürften nach Schätzung von Unicef weit unter der wesentlich höheren Dunkelziffer liegen. Das sind die Fakten. Die Gesetzeslage sollte die Kinder genau davor bewahren.

Im dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit werde ich zunächst anhand der Gesetzesgrundlagen der UN-Konvention den "Soll-Zustand" in Guatemala in Bezug auf internationale Maßnahmen zum Schutz der Kinder eingehen, anschließend auf die nationalen Gesetzestextes aus dem "Código de la niñez".

Darauf folgt eine Erläuterung des "Ist-Zustandes", also die Darstellung wie die Realität vieler Kinder und Jugendlicher Guatemalas tatsächlich aussieht.

Dafür werden verschiedene Aspekte im Leben eines Kindes der Straße dargestellt und durch einen kurzen Erfahrungsbericht in kleiner Einblick in die Soziale Arbeit mit ihnen gegeben.

Im zweiten und somit praktischen Teil meiner Diplomarbeit wird die Straßenkinderorganisation "Nuestros Derechos" ("Unsere Rechte") und ihre methodische Vorgehensweise vorgestellt.

Da ich selbst für diese Einrichtung einige Monate tätig war, diente sie mir auch als Orientierungshilfe bezüglich der empirischen Studie, die zwei entscheidende Fragen klären soll:

- Warum ziehen so viele Kinder und Jugendliche in Guatemala das harte Leben auf der Straße einem Zusammenleben mit ihren Familien vor?
- Inwiefern kann die Sozialarbeit intervenieren und vielleicht sogar präventiv arbeiten? Welche Methoden sind wirklich sinnvoll und welche Theorie hilft bei der Erklärung?

Anschließend wird anhand der Ergebnisse dieser Studie und weiterer Literaturrecherche eine geeignete Theorie zur Herausarbeitung von Methoden für die Soziale Arbeit mit Straßenkindern vorgeschlagen und auf deren praktische Umsetzung eingegangen. Doch da sich gerade der kulturelle Hintergrund und die Arbeitsbedingungen erschwerend auswirken, wird auch auf die Probleme und die Grenzen der Sozialen Arbeit mit Kindern der Straße verwiesen.

Im letzten Teil befasse ich mich mit der Frage, ob ein Straßenkind Zukunftsperspektiven hat und wenn ja, wie diese aussehen und erreicht werden können.

Die Diplomarbeit beende ich mit einem persönlichen Fazit und versuche daraus mögliche Zukunftsprognosen für die Entwicklung des Straßenkinderphänomens in Guatemala zu geben.

2. GEOGRAPHIE, KULTUR UND GESCHICHTLICHER HINTERGRUND GUATEMALAS

Guatemala ist mit seiner artenreichen Pflanzen- und Tierwelt und einer von den Maya Völkern geprägten Kultur in vielerlei Hinsicht eines der interessantesten Länder Lateinamerikas und zieht jedes Jahr tausende von Touristen an. Doch hinter der Schönheit dieses Landes verbirgt sich auch die Geschichte einer gescheiterten Demokratie, die zu einem der größten Völkermorde in Zentralamerika führte und deren Ausirkungen noch heute in der Bevölkerung spürbar sind. Im folgenden Kapitel möchte ich versuchen Guatemala in seiner Ganzheitlichkeit darzustellen und deshalb sowohl auf seine klimatischen und geographischen Gegebenheiten eingehen, als auch auf den geschichtlichen Hintergrund des Landes sowie die Auswirkungen der Kriegszeit auf die Bevölkerung von heute.

2.1 Klima und Geographie des Landes

Guatemala erstreckt sich über eine Fläche von insgesamt 108.889 Quadratkilometer und wird von den Ländern Belize, El Salvador, Honduras und Mexiko eingerahmt. Eine der vielen Besonderheiten Guatemalas ist die Vielzahl der vorhandenen Klimazonen im Land, vom tropischen Regenwald bis hin zu schneebedeckten Gipfeln und Vulkanen.

Der meterologische Rythmus wird durch die Regenzeit bestimmt, somit gibt es nur zwei Jahreszeiten, den Sommer, also die wärmere und fruchtbare Regenzeit von Mai bis Oktober, und die restlichen Monate des Jahres, die den guatemaltekischen Winter darstellen. Das wird vor allem in den Nächten von Dezember bis Januar spürbar, da die Temperaturen in diesen Monaten bis unter die Null-Grad-Grenze fallen können. Tagsüber erwärmt sich die Luft jedoch wieder aufs Neue, so dass man sich die Kälte der Nächte kaum noch vorstellen kann.

Allgemein kann gesagt werden, dass die Temperaturen je nach Höhe des jeweiligen Gebiets zwischen einem Jahresmittel von 25 Grad Celsius im Tiefland und unter 15 Grad im Hochland und im Winter in den Regionen über 3000m liegen.

Im Süden steigt das Land zur zentralamerikanischen Kordillerenkette an, die die Landschaft mit ihren 4000 Meter hohen Gipfeln und insgesamt 33 Vulkanen, von denen bis heute noch drei aktiv sind, dominiert.

Im Norden liegt dagegen das tropischen Tiefland, das heute nur noch sehr dünn besiedelt ist.

Neben einer beeindruckenden Pflanzenwelt bietet Guatemala auch eine riesige Artenvielfalt an Schmetterlingen und exotischen Tieren wie der Jaguar, Krokodile, Schildkröten, Leguane, Schlangen und Brüllaffen. Insgesamt schätzt man die Artenvielfalt der Vögel auf 900, unter ihnen ist auch der Quetzal, der Vogel, der gleichzeitig als Symbol der Freiheit und Unabhängigkeit die Nationalflagge ziert und nachdem 1924 die guatemaltekische Landeswährung benannt wurde.

Die überwiegend angenehmen Jahrestemperaturen des Landes sowie seine reiche Flora und Faune haben Guatemala den Beinamen "Land des ewigen Frühlings" verliehen. Geht man nach den Bodenschätzen und der Vielzahl an Früchten und Gemüsesorten, die dort angebaut werden können, so ist Guatemala ein "reiches" Land. Neben den, vor allem früher, reichen Vorkommen an Gold, Silber, Zink und Blei gab es in den 80er Jahren auch Projekte zum Abbau von Nickel und Öl, die jedoch aus Kostengründen später eingestellt wurden (Kurtenbach, 1998, S. 21, Abs. 2). Die bedeutendste Ressource des Landes ist jedoch nach wie vor der Kaffee, Bananen, Zuckerrohr und Baumwolle, die vor allem ins Ausland exportiert werden.

2.2 Kulturen und Ethnien

Die Landesbevölkerung ist sehr unterschiedlich verteilt, so lebt die Mehrheit der indigenen Bevölkerung im Hochland und über ein Drittel der insgesamt 10 Millionen Einwohnern im Städte-Dreieck Chimaltengango, Antigua und Guatemala-Stadt. Guatemala ist mit seiner von den Maya-Völkern geprägten Kultur und Geschichte das vielschichtigste Land der Region. Die am meist verbreiteste Religion ist der Katholizismus, der wesentliche Elemente der traditionellen Relegion der Mayas enthält (vgl. Kurtenbach, 1998, S. 8). Ihm gehören insgesamt ca. 75% der Bevölkerung an, weitere 25% stellen die Protestanten (vor allem evangelische Sekten) dar.

Die Armutsrate des Landes liegt bei 80% in den Städten und sogar bei 90% auf dem Land, was sich auch in den Beschäftigungssektoren wiederspiegelt: Demnach ist über die Hälfte der Bevölkerung in der schlecht bezahlten Landwirtschaft tätig, geschätzte 30% im Dienstleistungssektor und lediglich ca. 17% im profitableren Industriebereich (vgl. Kurtenbacher, 1998, S. 152).

Die Bevölkerung besteht ungefähr zu 40% aus spanischsprachigen Mestizen, den sogenannten "Ladinos", und zur 50% aus Maya, die wiederum in 22 Sprachgruppen aufgeteilt werden können und die restlichen 7% werden von Weißen (teilweise europäische Auswanderer) und Schwarzen repräsentiert (vgl. Kurtenbacher, 1998, S. 152).

Die Spaltung des Landes in Maya und Ladinos wird in keinem Bereich so deutlich wie in der Kultur. Dieser Unterschied ist nicht nur kultureller Art, sondern auch auf das Zugehörigkeitsgefühl der jeweiligen Bevölkerungsgruppe begründet. Zwar verfügen beide über ein reiches Kulturerbe, das jedoch keine gemeinsame Basis besitzt. Das äußert sich zum einen in der gegenseitigen Diskriminierung, die jedoch zum größten Teil von der Ladino-Bevölkerung ausgeht, zum anderen durch häufig sehr konträre Lebensstile, dem der Mayas im Hochland, die ihre Existenz überwiegend durch die Landwirtschaft sichern und dem der Ladinos, die meist in den Städten ansäßig und mehr im Dienstleistungsbereich beschäftig sind (siehe oben im Text). Ein bis heute sehr offensichtliches kulturelles Problem ist die mangelnde Wertschätzung und Sensibilität gegenüber der Mayakultur und ihres Erbes.

So fanden noch bis vor Kurzem in den für die Maya heiligen Ruinen von Tikal Rockkonzerte statt, die nicht nur in der Natur des Regenwaldes Spuren hinterließen, sondern auch den Steinen der Tempel nachhaltige Schäden zufügten (vgl. Kurtenbach, 1998, S. 142).

Im März 1995 wurde jedoch das "Abkommen über die Rechte indigener Völker", in dem die kulturelle Anerkennung und Förderung der indigenen Sprachen und Religionen festgeschrieben wird, unterzeichnet. Damit begann eine verstärkte Auseinandersetzung der Maya selbst mit ihrer Kultur, ihren Traditionen und Wissen.

Auch die Regierung reagierte darauf. Es wurde die Zweisprachigkeit in den Schulen eingeführt, ebenso wie eine Maya-Universität.

Doch trotz dieser Kulturpflege fällt die Identitätssuche der Maya schwer, findet man doch bis heute noch viele Bräuche und Riten, die ursprünglich nicht von dem Maya stammen, sondern auf die spanische Kolonialzeit zurückzuführen sind. So wird z. B. das Bild eines typisch guatemaltekischen Dorfes von der bunten, handgewebten Kleidung der Bewohner geprägt. Auch diese Trachten sind ein Kolonialerben und stammen von den Spaniern. Diese hatten die Einheimischen im 16. Jahrhundert zwangsumgesiedelt und ihnen das Tragen von Trachten verordnet, um sie so schneller einem bestimmten Dorf zuordnen zu können.

Heute ist das Tragen der Tracht ein zentrales Symbol der Identität als Maya und das Ablegen der entscheidende Schritt zur "Ladinisierung" (Kurtenbach, S. 143, Abs. 2).

Im Gegensatz zu den Maya repräsentieren die Ladinos das spanische Erbe der guatemaltekischen Kultur. Auch wenn zahlreiche koloniale Bauwerke schweren Erdbeben und schlechter Denkmalpflege zum Opfer fielen, lassen sich noch heute zahlreiche Kulturdenkmäler in den größeren Städten wie z. B. im Zentrum der Hauptstad, in Quetzaltenango und vor allem im UNESCO Weltkulturerbe Antigua bestauenen. Die Literatur der Ladinos findet seine kulturellen Bezugspunkte in Spanien und Frankreich und befasst sich bis heute mit den zwei zentralen Themen der eigenen Identität und der Auseinandersetzung mit der politischen Wirklichkeit des Landes.

Doch wie auch in Europa ist auch die Alltagskultur sowohl der Maya, als auch der Ladinos vom wachsenden Einfluss internationaler Trends, Musik, Literatur und Filmen geprägt und die Anpassung vieler Menschen und Film- bzw. Musikproduktion in Guatemala an USamerikanische Vorbilder ist nicht zu übersehen.

Es bleibt somit die Frage, "ob sich vor diesem Hintergrund eine Rückbesinnung auf das reiche kulturelle Erbe eine gemeinsame, guatemaltekische Kultur und Identität herausbilden kann" (Kurtenbach, 1998, S. 147, Abs. 2).

2.3 Wirtschaftliche Lage

Seit 150 Jahren dominieren Kaffee und Bananen die guatemaltekische Wirtschaft und hatten wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur Guatemalas. Von den positiven Auswirkungen dieses Handels bekam die indigene Bevölkerung jedoch nur wenig zu spüren. Man vertrieb sie nicht nur von ihrem Land, sondern zwang sie auch, häufig unter militärischer Gewalt und unmenschlichen Bedinungen, ihre Plantagen für sie abzuernten, während eine kleine Ladino-Elite und US-amerikanische Firmen sich an den Gewinnen bereicherten.

Ähnliches wiederholte sich in den Baumwoll-, Zuckerrohrplantagen, sowie in der Textilindustrie.

In den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte sich ein ausgeklügeltes System der Schuldknechtschaft, die die indigene Bevölkerung zu Sklaven der Großgrundbesitzer machte und dadurch der Bedarf an Arbeitskräften auf den Plantagen deckte.

Konnten die Maya früher ihre Felder in den wärmeren Zonen ein zweites Mal bestellen, waren sie jetzt durch die Zwangsenteignung ihrer Felder gezwungen sich in Krisenzeiten Geld bei den Großgrundbesitzern zu leihen und die Schulden dann auf deren Plantagen abzuarbeiten. Diese Schulden wurden vom Vater auf die Frau oder Kinder vererbt, beim Verkauf einer Finca war die Summe der ausstehenden Schulden an den Käufer zu entrichten.

Unter General Ubico (1931 - 44) wurde dann die sogenannten Vagabundengesetze eingeführt. Jeder, der damals weniger als 2,6 Hektar eigenes Land besaß, musste auf den Plantagen arbeiten.

Diese Gesetzesreform ähnlich verhielt es sich auch mit der United Fruit Company, eine US-amerkanische Firma, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganze Landrechte zum Anbau von Bananen und Guatemala selbst zum Statisten des Bananenhandels degradierte (vgl. Kurtenbach, Kap. 2, S. 26 - 43).

Formen der Sklaverei haben sich bis heute erhalten. Zwar haben Kaffee und Bananen ihre Monopolstellung im guatemaltekischen Markt aufgegeben, aber dennoch bringen sie nach wie vor ein Drittel der Exportgüter ein (vgl. Kurtenbach, 1998, S. 26). So zeichnen sich bis heute deutliche Spuren des Kapitalismus ab und nach wie vor "regiert" eine kleine Prozentzahl der (wohlhabenden) Bevölkerung die Marktwirtschaft und wirkt zum Nachteil der minderbemittelten Mehrheit auch immer noch intensiv auf politische Entscheidungen zu ihren Gunsten ein.

Kooperativen versuchen dem entgegenzuwirken indem sie Eigenversorgung und Produktion von nichttraditionellen Agrarprodukten wie Zwiebeln, Knoblauch, Brokkoli kombinieren und sich durch deren Verkauf selbstständig und vor allem unabhängig von den Großgrundbesitzern versorgen zu können.

Die ungerechte Verteilung des Landbesitzes wird auch an folgenden Zahlen ersichtlich: 2,2% der Höfe verfügen über 65% des Bodens, während die Masse der Bauern (41%) weniger als 0,7 Hektar bewirtschaften kann (Kurtenbach, 1998, S. 45, Abs. 2). Bemühungen der armen Bevölkerung eine umfassende Agrarreform zu erreichen konnten bis heute durch die guatemaltekische Oligarchie erfolgreich unterbunden werden, was zur Folge hat, dass heute nach Angaben der Weltbank ca. 80% der Bevölkerung in Armut lebt und somit nicht mal grundlegende Bedürfnisse wie ausreichende Nahrung, Wohnraum und Zugang zum Bildungs- und Gesundheitssystem kaum oder sogar gar nicht befriedigt werden können.

Wie oben im Text bereits erwähnt arbeitet heute ein Fünftel der Guatemalteken in der Industrie und ein Drittel im Dienstleistungssektor. Nichtregierungsorganisationen gehen davon aus, dass lediglich ein Drittel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter in den formalen Arbeitsmarkt integriert ist, weitere 7% arbeitslos ist und mind. 60% der Guatemalteken unterbeschäftigt ist.

Der arbeitende Teil der Bevölkerung wird meist nicht nur sehr schlecht bezahlt, sondern kann nicht einmal mit der Einhaltung von sozialer und arbeitsrechtlicher Mindeststandards rechnen, was die Arbeitssituation noch belastender macht. Der Großteil der Bevölkerung ist so nicht krankenversichert und finanziell auch nicht in der Lage sich privat zu versichern. So kann ein Arbeitsunfall, eine Krankheit oder eine Schwangerschaft die fristlose Kündigung und damit die unmittelbare Bedrohung der eigenen Existenz zur Folge haben (vgl. Kurtenbach, 1998, S. 46/47).

Betrachtet man diese Ungerechtigkeiten, so verwundert es wohl nicht, dass es in der Geschichte Guatemalas mehrfach zu gewaltsamen Protesten und Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich zum Guerilla-Krieg kam, auf den ich im nächsten Kapital eingehen möchte.

2.4.1 Guatemala zwischen Reform und Repression

Die Geschichte Guatemalas ist ebenso vielseitig wie auch umfangreich und würde daher den Rahmen meiner Diplomarbeit sprengen. Aus diesem Grund werde ich mich in diesem Teil meiner Arbeit mit den wichtigsten Ereignissen dieser Zeit beschäftigen und insbesondere die geschichtlichen Wendepunkte im 19. -21. Jahrhundert und ihre Hintergründe näher beleuchten.

Den Anfang fand der Konflikt in der liberalen Reform von 1871, die sich dafür einsetzte die individuelle Macht der Bevölkerung zu beschneiden und dem Landbesitz der mächtigen Kaffeepflanzer eine gesetzliche Basis zu verschaffen. Unter dem Deckmantel des Liberalismus herrschte General Justo Rufino Barrios jedoch als Diktator. Die relative Unabhängigkeit der indigenen Völker, die sie bis dahin noch gehabt hatten, wurde durch die Zwangsarbeiter zu Gunsten der Großgrundbesitzer abgelöst. Die Reformen verbanden technologische Fortschritte zum Vorantrieb der Wirtschaft sowie neue militärischen Konzepte mit der Unterdrückung der Gemeinde- und Kirchenrechte am Bodenbesitz.

Damals fanden die ersten Aufstände der Bevölkerung, insbesondere der Indígenas, gegen politische Anführer, Steuereintreiber und Plantagenbesitzer statt. Diese wurden jedoch schon damals gewaltsam von den Milizen aufgelöst und die Bauern ihres Landes enteignet.

Mit dem Aufstieg neuer wirtschaftlicher Gruppen nach dem Amtsantritt von Präsident José María Barrios 1893 kamen auch neue Spannungen auf, die auch nach dessen Ermordung und Ablösung durch Estrada Cabrera 1898 noch weiter stiegen, ebenso wie die Unzufriedenheit der Bevölkerung, vor allem der armen Mehrheit.

1901 unterzeichnete die Regierung ein Abkommen mit der United Fruit Company (UFCO) über den Betrieb von Bananenplantagen, was gleichzeitig den Beginn der internationalen Beziehungen Guatemalas mit den Vereinigten Staaten darstellte.

Wie einschneidend diese noch werden würden, zeigte sich in den darauf folgenden Jahrzehnten (vgl. ODHAG/ Oficina de Derechos Humanos, 1998, Kap. 3). Mit den Wahlen 1944 eröffnete sich eine Dekade der Reformen und Hoffnungen, die einen "Meilenstein" in der Geschichte Guatemalas darstellt und die Wende hin zur Demokratie hätte sein können.

Zielsetzung und Politik der Regierungen von Juan José Arévalo (1945 - 51) und Jacobo Arbenz (1951 - 54) waren im geschichtlichen Kontext Guatemalas geradezu revolutionär und das erste Mal in der Geschichte des Landes wurde wirklich eine demokratische Regierungsform angestrebt. Sie setzten sich nicht nur für die politischen Grundrechte ein, sondern auch für die Einführung und Verbesserung von Arbeitsgesetzen zum Schutz der Beschäftigten, Verbesserung des Bildungssystems ein, sondern bemühten sich auch um eine Agrarreform. Deren Kern waren die Umwandlung von Brachland in Produktivland mittels Zwangsverpachtung von Boden, den man zuvor von Deutschen und Nazisympathisanten konfisziert hatte. Zudem erhielten die Kleinbauern staatliche Kredite, Material und Beratung.

Die Reform stieß jedoch auf heftigte Ablehnung von Seiten der "drei Säulen" der oligarchischen Gesellschaft (Großgrundbesitzer, Militär und katholische Kirche), da sie ihre bisherige Privilegstellung zu gefährden schien. Zwar war die Kirche nicht unmittelbar von der Landreform betroffen, jedoch sah sie sich durch sie bei der Sozialversicherung und dem Erziehungswesen um ihre zentrale Stellung in diesen gesellschaftlichen Bereichen gebracht. Zudem sollte das Wahlrecht auf alle Personen ausgedehnt werden, die lesen und schreiben konnten, sowohl Männer, als auch Frauen. Mit der Verabschiedung der neuen Gesetze machte sich die Regierung jedoch nicht nur unter den nationalen Großgrundbesitzern Feinde, sondern auch bei großen US-amerikanischen Unternehmen wie die United Fruit Company. Durch die Gesetzesreform standen den Arbeitern nun auch das Recht auf Streik zu, ebenso wie gewerkschaftliche Organisationen und kollektive Lohnverhandlungen. Das setzte die Betriebe unter Druck und zwang sie zu einer gerechteren Entlohnung und Behandlung ihrer Mitarbeiter. Der Zwang zur Lohnarbeit war somit verringert worden. Das Militär dagegen befürchtete den Verlust der Kontrolle über die ländlichen Gebiete. 1954 wurden die guatemaltekischen Reformer schließlich mit Hilfe der oben genannten drei Säulen der Oligarchie und mit Hilfe einer vom US-Geheimdienst CIA fianzierten und unterstützten Söldnertruppe gestürzt.

Das bedeutete nicht nur ein Zurückfallen in alte, autoritäre Herrschaftsmuster, sondern auch eine Verschärfung der Repression bis hin zum Völkermord. Eine aktive Rolle bei der Integrierung der Opositionskräfte hatte dabei der Erzbischof Rossel übernommen und zum "Nationalen Kreuzzug gegen den Kommunismus" aufgerufen (vgl. Kurtenbach, 1998, S. 73 - 77).

Arbenz wurden somit sowohl die Intrigen der United Fruit Company zum Verhängnis, deren Brachland zwangsverpachtet hätte werden sollen, als auch die antikommunistische Hysterie in den USA (vgl. Kurtenbach, 1998, S. 78).

Darauf folgte eine Ära der militärischen Dominanz über mehr oder weniger über offene politische und wirtschaftliche Entwicklungen dse Landes. Die regelmäßigen Wahlen stellten lediglich eine Fassade dar, hinter der die Ergebnisse bereits im Vorfeld schon immer feststanden.

Der nun führende General Castillo Armas ließ sich seine gewaltsame Machtübernahme von 1954 in einem Plebiszit "legitimieren", also bei den Wahlen nur er zur Auswahl stand und keine weiteren Kandidaten und somit Alternativen für die Bevölkerung zur Verfügung standen. So war auch das Wahlergebnis, 99% der Stimmen für Armas, wenig verwunderlich. Unter der Führung Armas war man bestrebt, die Errungenschaften der Revolution schnellstmöglichst rückgängig zu machen und setzte somit die Verfassung von 1945 wieder außer Kraft und verabschiedete ein Strafgesetz zur Prävention von Kommunismus. Die Auswirkungen des Regierungswechsels waren für die Bevölkerung verherrend und sofort spürbar: Allein in den ersten beiden Monaten der Amtszeit von Castillo Armas wurden 8000 Bauern ermordet, tausende Anhänger der Revolution verhaftet, Gewerkschaften, Parteien und Organisationen verboten, der Arbeitskodex außer Kraft gesetzt, die Agrarreform rückgängig gemacht. Zudem wurden die Alphabetisierungsprogramme eingestellt, was zur Arbeitslosigkeit hunderter Menschen führte. Ausländische Unternehmen profitierten dagegen von der neuen Politik. Sie erhielten zahlreiche neue, großzügige Konzessionen. Und auch die katholische Kirche gewann durch die Reform wieder enorm an Einfluss, was vor allem auf die Zurückerhaltung ganz alter Rechte zurückzuführen ist, die sie bereits Ende des 19. Jahrhunderts hatte abgeben müssen.

Die Ausdehnung der Agrarexporte beschränkte sich auf die Erweiterung des Anbaus bekannter und auf die Einführung neuer Produkte, wie Baumwolle, Zucker und Viehwirtschaft.

Das Militär war nun nicht nur noch der bewaffnete Arm der Großgrundbesitzer, sondern entwickelte sich im Laufe der Jahre zu einem integralen Bestandteil der Oligarchie (vgl. Kurtenbach, 1998, S. 82 - 83).

Am 13. Nobember 1960 rebellierte ein Drittel der Armee, 45 Offiziere besetzten den Stützpunkt "General Justo Barrios" und erlangten kurzzeitig die Kontrolle über die Hauptstadt, jedoch wurde der Aufstand niedergeschlagen udn auf Anraten des USamerikanischen Btschafters mit Hilfe der loyalen Truppen der Armee beendet (vgl., ODHAG, 1998, Kap. 3.2.1).

Bis 1980 durchlief Guatemala dann eine Phase beindruckenden Wachstums, das Bruttoinlandprodukt vervierfachte sich. Straßen, Eisenbahnnetze, Häfen und Elektrizitätswerke wurden ausgebaut und moderen Kommunikationsformen durch Medien verbreiteten sich. Doch dieses Wachstum trug maßgeblich zur Verstärkung der ohnehin schon gravierenden Unterschiede bei, insbesondere in den ländlichen Gebieten stieg die Armut. Der ökonomischen Wandel ging mit dem Versuch einher, die autoritären Strukturen in der Politik aufrechtzuerhalten. Alle diese Faktoren führten dann schließlich um 1980 zum Guerilla-Krieg (vgl ODHAG, 2003, Kap. 3.3.1).

2.4.2 Die Zeit des Guerilla-Krieges

Bereits in den 70er Jahren besaßen 60% der ländlichen Bevölkerung kein eigenes Land mehr, was Migration und Lohnarbeit verstärkte, während gleichzeitig neue finanzielle Abhängigkeiten durch Ablösung von traditionellen Tauschhandel durch Geldwirtschaft entstanden.

Hinzu kam, dass der Einfluss der Kirche gerade im Hochland stetig zunahm und zu einem allgemeinen Wandel die traditionelle, durch das Alter bestimmte Hierarchie in den Dorfgemeinschaften zerstört wurde.

Jedoch unterstützte die katholische Kirche, ebenso wie zahlreiche nationale und internationale Organisationen, die Kolonisierung dünn besiedelter und landwirtschaftlich kaum genutzter Gebiete wie z. B. die tiefergelegenden Regenwaldgebiete vor allem im Norden des Quiché und von Huehuetenango.

Mit Hoffnung auf mehr Kontrolle und Prävention kommunistischer Einflussnahme unterstützte die katholische Kirche zudem Selbsthilfeformen (vgl. Kurtenbach, 1998, S.95).

Nichts desto trotz mobilisierten sich in den 70er Jahren nicht nur Bauern, Arbeiter und Studenten, sondern es entstanden auch vier politische Gruppen, die die Abschaffung des Systems zur Not auch mit Gewalt herbeiführen wollten. Alle Gruppen haben zwar ihren Ursprung in den ersten Guerilla-Zusammenschlüssen, jedoch mit dem Unterschied, dass dieses Mal auch die indianische Bevölkerung miteinbezogen wurde. Man hatte erkannt, dass es ohne ihre Unterstützung kaum eine Chance auf Sieg gab (vgl. Kurtenbach, 1998, S. 102, Abs. 2). Die Regierung reagierte darauf mit einer Aufstockung der Streitkräfte von 1975 mit 11.400 Mann auf 42,000 1988.

Viele junge Männer versuchten zwar, sich dem Wehrdienst zu entziehen, aber das Militär griff darauf hin mit Zwangrekrutierungen durch. Oft wurden die Jugendlichen einfach aus ihren Dörfern im Hochland verschleppt, viele von ihnen noch Kinder, während sich die wohlhabende, überwiegend weiße Mittel- und Oberschicht einfach von der Wehrpflicht freikaufte (Kurtenbach, 1998, S. 104).

Ihren Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen zwischen der Guerilla und dem Militär zwischen 1980 und 1982. Nach Angaben der Guerilla fanden auf 60% des Territoriums Kämpfe mit der Armee statt, im März 1980 streikten insgesamt 50.000 Plantagenarbeiter und legten damit aus Protest die Erntearbeiten lahm. Gewerkschaften forderten einen höheren Mindestlohn und drohten mit Generalstreik. Ein begrenztes Zugeständnis von Seiten der Regierung wurde jedoch von einer Woge der Gewalt gegen die Opposition begleitet, die von Anfang 1980 bis Mitte 1981 mindestens 11.000 Opfer forderte (vgl. Molkentin, 2002, Kap. 5).

Auch ein Regierungswechsel 1982 besserte die Situation nicht, ganz im Gegenteil: Die Repression steigerte sich zum Massenmord; das Militär bombardierte Regionen flächendeckend u. a. mit Napalm, in denen es Guerillaeinheiten vermutete. Es kam zu unzähligen Massakern, bei denen ganze Dörfer ausgelöscht, die Felder dem Erdboden gleichgemacht wurden.

Für Überlebende richtete man sogenannte "strategische Dörfer" ein, bei denen sie unter völliger Abhängigkeit und vollkommener Kontrolle der Armee standen und für den Export Agrarprodukte anbauen mussten. So wurde systematisch die Kultur, die Autonomie sowie die Identität der Hochlandbewohner zerstört.

Diese umfassende Militarisierung der ländlichen Gebiete stellt den verheerendesten Angriff auf die indianische Dorfgemeinschaft seit der spanischen Eroberung dar, da der Staat sämtliche Ebenen der Gemeinschaft in einem bisher nicht gekannten Ausmaß durchdrang und kontrollierte (vgl. Kurtenbach, 1998, S. 109/110).

Nach einem schweren Schlag gegen die städtische Basis der Guerilla durch Zerstörung der Kommandozentralen in der Hauptstadt, schlossen sich vier Guerillagruppen im Februar 1982 zur "Unión Revolucionaria Nacional Guatemalteca (URNG) zusammen. Fortan stellten sie sich gemeinsam dem Kampf gegen das Militär (vgl. Kurtenbach, 1998, S. 110).

Etwa die Hälfte aller Hochlandbewohner wurden durch den Krieg zur Flucht gezwungen, allein zwischen 1981 und 1984 waren 150.000 guatemaltekische Flüchtlinge auf dem Weg zur mexikanischen Grenze.

Man schätzt, dass die Zeit des Krieges und der staatlichen Repression bis zum Ende 1996 mindestens 140.000 Menschen das Leben gekostet hat. Das entspricht in etwa 10% der Bevölkerung. Das Land wurde von einem Klima der Angst und der Gewalt beherrscht und in der Dunkelheit wagte sich niemand mehr auf die Straße (Molkentin, 2002, S. 190). Die Folgen dieser Zeit sind bis heute noch spürbar.

2.4.3 Politische Entwicklung seit Kriegsende bis heute

"Diez años han transcurrido desde que el primer contingente de lo que luego constituiría el Ejército Guerillero de los Pobres decidiópenetrar en territorio nacional, para iniciar una larga y desigual lucha contra el genocida régimen oligárquico de Guatemala"

(Mario Payeras aus "Pueblos en armas", 1985, S.257).

Nach 10 Jahren Guerilla-Krieg wurde im Oktober 1986 der erste Dialog zum Beginn des Friedensprozesses über die Medien ausgetragen: Noch auf einer Europareise gab Präsident Cerezo bekannt, dass er zu Friedensverhandlungen bereit sei, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Guerilla bereit sei, die Waffen niederzulegen (vgl. ODHAG, 1998, S. 243).

Doch paralell zu diesem indirekten Dialog zwischen Regierung und Guerilla hatte das Militär von April bis Mai und erneut von Oktober bis Dezember `86 weiter Militäraktionen im indigenen Hochland durchgeführt, die mit der Großoffensive in den 80er Jahren vergleichbar waren. Wieder forderten die Übergriffe viele Tote und schürten die Angst der Bevölkerung aufs Neue. Manche eben ersten zurückgekehrten Flüchtlingsgruppe verließen daraufhin erneut das Land (vgl. Misereor, 1999, S. 282).

1987 wurde ein zweiter Anlauf im Friedensprozess versucht, bei dem die Guerilla einen 6- Punkte-Plan für die ersten Gespräche vorschlug, um so eine Humanisierung des Krieges auf der Basis des Genfer Abkommens und ein Minimalprogramm struktureller Änderungen zu erreichen (vgl. Iglesia Guatemalteca en el Exilio, 1989, S. 80ff).

Doch wie zuvor reagierte das Militär auf dieses Angebot mit Großoffensiven und massiven Rekrutierungen. Es kam zu Massakern und Bombardierungen, woraufhin auch die Guerilla mit Gewalt antwortete.

Erst als der Präsident Costa Ricas, Oscar Arias, am 6. und 7. August 1987 zu einem Treffen aller zentralamerikanischen Präsidenten einlud und dort das für die Einleitung eines Friedensprozesses wesentliche Dokument unterzeichnet wurden. Die Präsidenten verpflichteten sich in diesem u. a. umfassende Versöhnungsprozesse zu fördern, zu denen der Dialog mit den bewaffneten Gruppen gehörte, ein Amnestiegesetz zu erlassen, eine Versöhnungskommission einzurichten, Demokratisierungsprozessen einzuleiten sowie zukünftig freie Wahlen durchzuführen (vgl. Ebenda, S. 54 - 64).

Doch es sollte bis 1990 dauern, bis die diesen Verpflichtungen auch wirklich nachgegangen wurde. Eingeleitet hatte diesen Prozess der überraschende Sieg von Jorge Derrano Elias bei den Präsidentschaftswahlen 1990. Er war Mitglied der Nationalen Versöhnungskommission (CNR) und hatte maßgeblich an der Einleitung eines Friedensprozess mitgewirkt, daher wurde dies international als positive Entwicklung gewertet (vgl ODHAG, 1998, S. 298f).

Der Friedensprozess wurde somit in den kommenden drei Jahren zum zentralen Thema in Guatemala (vgl. Molkentin, 2002, S. 219, Abs. 3).

Zu den letztendlich entscheidenden und ernsthaften Verhandlungen kam es jedoch trotz allem erst im Januar 1994.

Durch diese Neuaufnahme der Bemühungen um eine friedliche Lösung begann zwar ein stockender, von vielen Schwierigkeiten begleiteter, aber am Ende erfolgreicher Friedensprozess, der mit dem endgültigen Abkommen über den "festen und dauerhaften Frieden" am 29.12.1996 besiegelt wurde (vgl. Molkentin, 2002, S. 233, Abs. 2). Um also den 36 Jahre andauernden Bürgerkrieg durch eine politische Lösung über Verhandlungen zu beenden, wurden zehn Jahre benötigt (vgl. Molkentin, 2002, S. 255, Abs. 2).

Nach dem Friedensschluss im Dezember 1996 kam es zu keinen Kriegshandlungen mehr. Die Guerilla wurde entwaffnete, das Militär um 33% vermindert, die ambulante Militärpolizei wurde ganz aufgelöst und es wurden Wiedereingliederungsmaßnahmen für zumindest einen Teil der durch den Krieg Demobilisierten ergriffen (vgl. MINUGUA/ Misión de las Naciones Unidas para Guatemala, 2/1998, S. 19f).

Der Rückgang der staatlichen Repression bedeute jedoch nicht, dass das Leben in Guatemala nach Friedensschluss auch friedlicher geworden ist, ganz im Gegenteil. Dies drückt sich sowohl durch einen Anstieg häuslicher Gewalt wie in der allgemeinen Kriminalität durch Raubüberfälle, oftmals mit Todesfolge, aus (vgl. Molkentin, 2002, S. 275, Abs. 3).

Nicht nur während der Zeit des Guerilla-Krieges wurde die Verletzung von Menschenrechten in Guatemala gezielt und strategisch als Mittel zur Sozialen Kontrolle eingesetzt, leider ist dem auch heute noch so (vgl. ODHAG, 1998, S. 21). Beobachtungen zeigen, dass nicht nur die Gewalt innerhalb der Bevölkerung stetig zunimmt, sondern auch die Übergriffe durch die Polizei, insbesondere auf Straßenkinder. Korruption ist nach wie vor ein brisantes Thema in Guatemala und laut einem Bericht der Prensa libre vom 08.10.08 bis in die höchsten politischen Positionen verbreitet. Es bleibt zu hoffen, dass dem Land in den nächsten Jahren mit Unterstützung aus dem Ausland gelingt zu einer Demokratie zurückzukehren, die nicht nur als Deckmantel für Korruption und Kapitalismus dient und dadurch irgendwann einmal das Vertrauen seiner Landsleute zurückzugewinnen. Vielleicht könnte sich dann auch wieder ein stabiles Werte- und Normensystem etablieren.

2.4.4 Auswirkungen auf die Familienstruktur und Konsequenzen der Kriegszeit

Der Krieg hat auf vielerlei Weise negativ auf die Familienstruktur sowie die Gesellschaft in Guatemala ausgewirkt. Zum einen durch die Traumatisierung der damaligen Kinder, die entweder als Zeugen von Gräueltaten oder als zum brutalen Handeln gezwungene Akteure noch heute von diesen schrecklichen Erinnerung belastet werden und diese an ihre eigenen Kinder wiedergeben.

"(Mein Bruder) war immer nur am Weinen, er war gerade sechs Jahre alt. Er war immer nur am Weinen. Als sie meinen Vater mitnahmen, konnte er gar nicht mehr reden, weil sie ihm Plastiküber den Kopf gezogen hatten, ihn erstickten und noch dazu schlugen. Mein Vater guckte uns nur an, ganz traurig, wirklich, das ist ein Blick, den man im ganzen Leben nicht mehr vergisst...Als er (mein Bruder) schrie: Papa, sag doch, was du weißt, damit sie dich loslassen!, war das für sie (das Militär) nur ein Grund zur Freude."

(CEH/ Comisión de Esclarecimiento Histórico, III, S. 70)

Viele Eltern werden zudem auch heute noch von Schuldgefühlen geplagt, weil sie ihre Kinder vor der Willkür des Militärs nicht hatten schützen können (vgl. Unicef, 2003, S. 190). Doch sie geben nun nicht nur das Gefühl der Ohnmacht, das sie während dieser Zeit häufig erleben mussten, an die nächste Generation weiter, sondern auch das extreme Misstrauen, die Hoffnungslosigkeit sowie die Wut über die Repression durch die staatlichen Organe. Das wiederum führte zu einem Zusammenbruch der sozialen Normen, deren Auswirkungen bis heute zu spüren sind. In Guatemala herrscht ein Klima der Angst und Gewalt, in der Kriminalität, Selbstjustiz und Lynchmorde an der Tagesordnung sind. Die Bevölkerung hat nach wie vor kein Vertrauen in die Regierung, vor allem nicht in das Gerichtswesen, war es doch quasi "Pfeiler der Repression" (vgl. Unicef, 2003, Kap. 2)

Das Familienleben war aufgrund der ständigen Bedrohung ständig enormen Belastungen ausgesetzt. Man setzte die Bevölkerung systematisch unter Druck, es tauchten Leichen mit Folterspuren auf, Menschen verschwanden auf "unerklärliche" Weise, ganze Dörfer wurden kollektiv massakriert. "Der Terror nahm einen massiven Charakter an und entwickelte sich u einer öffentlichen Zeremonie außerhalb jeglichen Vorstellungsvermögens" (ODHAG, 1998, S. 24, Abs. 4).

Gleichzeitig gab man der Bevölkerung keine Möglichkeit sich gegen das ihnen widerfahrende Unrecht zur Wehr zu setzen, da die rechtlichen Instanzen entweder zerschlagen worden waren oder aber bereits unter der Kontrolle des Militärs standen.

Die Auswirkungen der Repression auf die Gesellschaft lassen sich wie folgt zusammenfassen:

* Ständige Anspannung durch ein Klima der Angst

* Verbreitung und Verharmlosung von Gewalt

* Öffentliche Darstellung des Grauens und dadurch Traumatisierung der Bevölkerung

* Offene Demonstration der Straflosigkeit, die Resignation und Angst zur Folge hatte

* Rückzug aus Organisationsprozessen aus Angst vor Verfolgen, keine politische Teilnahme mehr

* Infragestellen von Werten und Normen, was den Verfall des Wertesystems zur Folge hatte

* Misstrauen in der Gemeinschaft, man traute niemandem mehr und wusste Freund und Feind nicht mehr von einander zu unterscheiden

(vgl. ODHAG, 1998, S. 25/26)

Die individuellen Folgen dagegen äußerten sich dagegen vor allem durch:

* Erleben einer bedrohlichen Wirklichkeit

* Ohnmachtsgefühl durch die Aufstandsbekämpfungsstrategie des Militärs und der Straflosigkeit, mit der auf ihre Verbrechen geantwortet wurde, vermittelte der Bevölkerung das Gefühl, nichts gegen das Elend und das ihnen angetane Unrecht unternehmen zu können; es führte zu Lähmungserscheinungen und Formen der Anpassung an die "feindliche" Umgebung, um das eigene Leben bzw. das der Familie zu schützen

* Alarmzustand, dieser chronische Zustand der Anspannung und Angst führte häufig zu dauerhafte gesundheitlichen Schäden, sowohl psychischer als auch physischer Natur

* Verhaltensauffälligkeiten, die als Produkt der ständigen Angst und Bedrohung gesehen werden können und sich durch unkontrollierte Reaktionen führte, von Handlungsunfähigkeit bis hin zu extremen Verhalten wie Panikattacken.

* Gesundheitliche Probleme, sowohl organischer, psychosomatischer als auch affektiver Art, z. B. Störungen des Immunsystems, unspezifische somatische Beschwerden (vgl. ODHAG, 1998, S. 27, Abs. 1)

All diese negativen Auswirkungen spiegelten sich selbstverständlich auch in einer Veränderung der Familienstrukturen nieder, die teilweise noch bis heute das Familienleben vieler Guatemalteken beeinflussen.

Nach Berichten von UNICEF seien es vor allem die Waisenkinder, die aus dem GuerillaKrieg hervorgingen, die die Folgen bis zum heutigen Tag noch am deutlichsten spüren. Nach Zahlen der Organisation wurden während dieser Zeit ca. 100 000 bis 150 000 Kinder zu Halb- und Vollwaisen (CEH, IV, S. 193).

Der Verlust der Eltern führte bei den Kindern zu häufig zu Identitätsproblemen, sowie das bereits oben erwähnte Gefühl der Ohnmacht, der ständigen Angst und des Misstrauens gegenüber jedem (vgl. UNICEF, 2003, S. 74).

"Angel Rafael war 14 Jahre alt, als er seine Mutter und seinen Bruder verlor. Für ihn war die Trennung von der Familie schlimm, und es kam sogar so weit, dass er nicht mehr wusste, wer noch am Leben und wer schon tot war. Alle hatten verschiedene Richtungen eingeschlagen, und sogar die eigenen Verwandten verwehrten ihnen den Zugang zu ihren Häusern, weil sie glaubten, sie seien Guerilleros und es sei nicht angebracht, sie im Hause zu haben, weil es eine zu große Gefahr für sie bedeutete, ihnen zu helfen." ( ODHAG ,I , S. 75)

Einige Zeugnisse des REMHI berichten über Konflikte, die durch den Verlust oder die Abwesenheit von Familienangehörigen entstanden sind. In diesen Fällen ist die Rede von Jugendlichen, die kriminell oder alkohol- und drogenabhängig wurden, vor allem, wenn ihnen der Vater fehlte (vgl. ODHAG,1998 , S. 49).

Ebenso führte eine Neuorganisation der Familien häufig zu Konflikten, wenn der Vater eine neue Frau heiratete oder umgekehrt. Vor allem die Kinder litten laut Berichten des REMHI häufig unter einer erneuten Umstruktierung der familiären Verhältnisse, da es zu einer wiederholten Verunsicherung führte und den gerade zurückgekehrte Alltag zu ein bißchen mehr Normalität ins Wanken brachte. Aber auch für den neuen Partner war die Akzeptanz der Kinder nicht immer einfach, vor allem, wenn sie eigene Kinder im Krieg verloren hatten (vgl. ODHAG, 1998, S. 79)

Aber nicht nur auf psychischer und physischer Ebene wurden die Familien durch die Kriegszeit bedroht, sondern auch auf wirtschaftlicher.

Viele hatten all ihr Hab und Gut verloren und standen nun vor dem finanziellen Ruin. Aber auch überdurchschnittlich hohe Militärausgaben und die Zerstörung großer Teile der Infrastruktur hinterließ seine Spuren in der Wirtschaft.

Die Folgen dessen dauern bis heute an. Viele Familien haben es nach wie vor noch nicht geschafft ihre finanzielle Situation wieder zu verbessern und leben heute noch in Armut. Man schätzt das 80% arm sind und davon 65% extrem arm. Vor allem die Landbevölkerung ist wie zu Kriegszeiten davon am schlimmsten betroffen. Die Kinder machten und machen die Erfahrung, dass die Eltern sie nicht versorgen konnten und sie mithelfen mussten, wenn die Existenz der Familie gesichert werden sollte.

2.4.5 Rückschlüsse der Kriegsauswirkungen auf das Straßenkinderphänomen von heute

Wie oben erwähnt begleitet viele Kinder bis heute noch das Gefühl, von ihren Familien nicht ausreichend versorgt werden zu können und sich daher um sich selbst kümmern zu müssen (vgl. Unicef, 2003, S. 83, Abs. 3). Bis heute leidet der Großteil der Bevölkerung unter der Armut und gibt diese meist auch an die nächste Generation weiter. Die unmittelbare Folge dieser Verarmung ist die Kinderarbeit mit entsprechend negativen Konsequenzen für die Bildung der Kinder und Jugendlichen. Diese ist zwar in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte Guatemalas kein neues Phänomen, wurde jedoch durch den Krieg deutlich verschlimmert (vgl. UNICEF, 2003, S. 86). So berichteten auch viele Kinder in meiner Befragung zur empirischen Studie (siehe Kap. 6), dass sie mitunter aufgrund dieser finanziellen Situation ihre Familie verlassen hätten, da sie nicht mehr genügend zu essen bekommen hätten und ohnehin hatten hart arbeiten müssen, um zu überleben. Als Straßenkind konnten sie das von ihnen erwirtschaftete Geld wenigstens für sich selbst verwenden, anstatt es abends an die Eltern abgeben zu müssen.

Ein weiteres "Erbe" der Kriegszeit an die Kinder und Jugendlichen von heute, insbesondere der Straßenkinder ist die Verharmlosung von Gewalt, die "Verrohung" wenn man so will. Viele von ihnen sind mit Gewalt aufgewachsen, ihre Eltern haben sie im Krieg in ihrer wohl brutalsten Form erlebt und sind oft gar nicht mehr fähig, sich ihren Kindern gegenüber anders zu verhalten.

"Derartige Gewalterfahrungen prägen Kinder nachhaltig in ihrem Sozialverhalten. Sie werden oftmals unsensibel für das Leiden anderer. Derartige Erfahrungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder Gewalttaten wiederholen." (Machel, S. 17) Die Kinder von damals sind die Eltern von heute und bedenkt man die These von Machel, so erstaunt es nicht, dass die meisten Kinder der Straße bei den Interviews angaben auch im Elternhaus durch physische und psychische Gewalt bedroht und misshandelt worden zu sein.

Desweiteren leiden noch viele Menschen bis heute an den Traumatas, die sie durch die schrecklichen Erlebnisse im Krieg, sowie in der Nachkriegszeit erlebten.

"Sie holten die Mutter und ihre zwei Kinder aus der Küche, sie (das Militär) zogen sie aus und warfen sie zu Boden. Vor ihren Familienangehörigen wurde sie vergewaltigt...Sie machten sich lustigüber sie...Alle Soldaten vergewaltigten sie. Dann traten sie auf ihnen heraum und stachen mit ihren Bajonetten in ihre Geschlechtsteile und Brüste. Sie ermordeten den Vater vor den Augen seiner Frau und Töchter. Die Söhne ließen sie frei. Dann gossen sie Benzin auf das Haus und verbrannten es. Als das Militär sich zurückzog, brachte man die Frauen ins Krankenhaus von Zacapa (...), wo sie anschließend starben." (CEH, III, S. 54)

Die hauptsächlichen Folgen dieser Traumatas, die, wenn auch nicht selbst erlebt, sondern von den Eltern an die Kinder weitergegeben wurden, führten zu allgemeinem Misstrauen, vor allem gegenüber staatlichen Organen, und Angst, die sich auch im Verhalten vieler Straßenkinder wiederspiegelt. Diese ständige Angst äußert sich unter anderem auch durch Symptome wie Aggressivität, Alpträume und Depressionen (vgl. UNICEF, 2003, S. 84, Abs. 1). Auch Konzentrationsschwierigkeiten sowie Entwicklungsverzögerungen werden berichtet (CEH, IV, S. 199).

Als letzte wesentliche Auswirkung des Krieges auf das Straßenkinderphänomen ist der Werteverfall zu betrachten, der eng mit der "Verrohung" in Verbindung steht (vgl. ODHAG, 1998, S. 25/26). Sie wissen nicht mehr, woran sie glauben sollen und was wirklich gut bzw. schlecht ist, die Grenzen zwischen Gut und Böse sind verwischt und eine Differenzierung aufgrund eines fehlenden Vorbildes zur Orientierung kaum möglich.

Nicht zuletzt aufgrund der extremen sozialen Ungleichheiten erlebt das Land bis heute einen Anstieg der Kriminalität und Gewalt (vgl. Kurtenbach, 1998, S. 47, Abs. 2).

3. DAS PHÄNOMEN „STRAßENKIND“

Im 2. Kapitel meiner Diplomarbeit gehe ich auf den geschichtlichen Hintergrund Guatemalas ein, um zu veranschaulichen, wie groß der Einfluss des Kriegsgeschehens noch bis heute auf die Familienstrukturen ist und ein Zusammenhang mit dem Straßenkinderphänomen hergestellt werden kann. Von den Auswirkungen der Kriegszeit möchte ich nun im folgenden Kapitel zu einer genauen Definierung und Differenzierung des Begriffs "Straßenkind" übergehen. Anschließend sollen die rechtlichen Grundlagen zum Schutz der Kinder anhand der auch in Guatemala gültigen UN- Kinderrechtskonvention und der nationalen Gesetzeslage näher beleuchtet werden. Also dargestellt werden, wie Kinder und Jugendliche eigentlich rechtlich geschützt werden müssten und anschließend auf die Wirklichkeit vieler Minderjähriger in Guatemala zurückkommen, die mit den rechtlichen Grundlagen nicht viel gemein hat.

Doch bevor speziell auf die Kinder der Straße in Guatemala eingegangen wird, will ich anhand einiger Zahlen aus internationalen Statistiken einen kurzen Abriss auf die Straßenkinderproblematik machen, um das Ausmaß dieses traurigen Phänomens noch besser zu veranschaulichen.

Relevant für der Versuch die Straßenkinderproblematik verstehen zu können ist zudem auch der Prozess, den der Jugendliche durchläuft, bis er definitiv sein Elternhaus verlässt, um stattdessen auf der Straße zu leben. Also weg von der Resozialisierung im Elternhaus hin zur sogenannten "Straßenresozialisation".

3.1 Definitionen des Begriffs "Straßenkind"

In den Medien wird häufig von "dem" Straßenkind gesprochen, ohne den Begriff dabei differenziert zu betrachten. In den Statistiken erscheinen entweder immens hohe Zahlen oder unglaublichwürdig niedrige. Das könnte darauf zurückzuführen sein, dass "Straßenkind" ein sehr weitläufiger Begriff ist. Damit werden meist sowohl die Kinder bezeichnet, die ihr komplettes Leben auf der Straße verbringen, also tags- als auch nachtsüber, ebenso wie diejenigen, die sich nur zeitweise auf der Straße aufhalten. Eine Unterscheidung entstand daraus, dass man den allgemeinen Begriff des "Straßenkindes" als diskriminierend empfand, welche die Würde des Kindes bzw. Jugendlichen verletzte. Im folgenden Abschnitt möchte ich kurz auf diese inhaltliche Differenzierung aus internationalen Diskussionen eingehen und den Begriff etwas näher erläutern.

3.1.1 Kinder auf der Straße

Nicht alle Kinder, die den Großteil ihrer Zeit auf der Straße verbringen, sind auch gleich Straßenkinder.

Häufig reicht das Einkommen der Eltern sowie der älteren Geschwister nicht aus, um alle ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. Daher müssen sehr oft auch schon die Kleinsten mithelfen, das magere Familieneinkommen aufzubessern, indem sie auf der Straße arbeiten und ihren Lohn am Abend zu Hause abgeben. Diese Kinder nennt man „Kinder auf der Straße“.

Sie arbeiten als Schuh- oder Scheibenputzer, verkaufen auf kleinen Körben Süßigkeiten oder betteln in stark frequentierten Fußgängerpassagen. (Vgl. Strobl, 1994, S.11) Die Kinder stehen noch im regelmäßigem Kontakt mit ihren Familien (Vgl. Engelmann, 2002).

3.1.2 Kinder der Straße

Im Gegensatz zu den „Kindern auf der Straße“ ist der Kontakt der Straßenkinder zu ihren Angehörigen nur mehr sporadisch, wenn er auch in vielen Fällen nicht ganz abgebrochen wird (Strobl, 1994, S. 15, Abs. 4).

Die Gesellschaft ächtet diese Kinder und der Großteil der Bevölkerung behandelt sie ohne jeden Respekt. Bereits mehrfach ist es in Guatemala Stadt zu dramatischen Unfällen gekommen, bei denen am Straßenrand bettelnde Kinder einfach überfahren wurden. Oft stammen diese Kinder aus Großfamilien, deren Eltern nicht selten ebenso so wenig Schulbildung wie Geld besitzen. Ähnlich wie bei den „Kindern auf der Straße“ gibt es für diese Kinder und Jugendlichen nicht ausreichend Essen, ebenso wenig wie Aufmerksamkeit durch die Eltern (vgl. Adick, 1997, S. 23). Die fehlende Zuwendung suchen sie dann in der Gemeinschaft einer Jugendbande. Diese verbringt alle Zeit gemeinsam miteinander, hält zusammen und bietet Schutz gegenüber anderen Gangs, Wachkommandos und der Polizei.

Meist sind sie zu zweit oder in der ganzen Gruppe unterwegs, mit der sie gemeinsam durch die Stadt ziehen. So können sie sich gegenseitig Schutz bieten. Kinder der Straße sind auf die Straße als Lebensraum gänzlich und für längere Zeit angewiesen (vgl. Zinnecker, 1997, S. 101) .

3.1.1 Schutz der Kinder

"Ich weißnicht, warum Gott so ungerecht zu mir war, warum uns dies alles zustoßen musste. Ich habe viermal versucht, mich umzubringen, aber ich habe es nicht geschafft. Der Gedanke an das Geschehene qält mich dauernd. Ich habe es noch niemandem erzählt und manchmal bekomme ich Depressionen, und dann denke ich daran, es noch einmal zu versuchen und mich umzubringen. Hoffentlich wird uns in Guatemala eines Tages Recht widerfahren!"

(CEH, IV, 201)

Nach Ende der Kriegszeit war die indigene Menschenrechtlerien Rigoberta Menchú eine der ersten die die tausendfache Verletzung der Grundrechte der Kinder angeprangert hatte. Vor allem während der Kriegszeit hatte man Kinder und Jugendliche zur Zielscheibe der staatlichen Gewalt auserkoren. Sind sie es doch, die die Zukunft des Landes darstellen und oft nicht gewünschte Veränderungen herbeirufen können. Man hat sie gefoltert, missbraucht und vielfach auf unvorstellbar grausame Weise umgebracht. Doch mit dem Ende des Krieges gingen die Morde und Misshandlungen an Minderjährigen zwar zurück, halten aber dennoch bis heute an.

Und auch heute noch setzt sich der Staat nur mit gemäßigtem Bemühen für den Schutz der Kinder ein. Zwar wurden mit dem "Código de la niñez" (zu dt: Kinderschutzgesetz) und dem Beitritt zur UN und der damit verbundenen Unterzeichnung der Kinderschutzkonvention die Grundlagen gelegt, die jedoch nur eine Fassade für die dazu konträre Realität in Guatemala darstellen.

Täglich werden Straßenkinder durch "Soziale Säuberungsaktionen" (siehe Kap. 4) von der Polizei systematisch misshandelt und ermordet. Sexuelle Misshandlungen stehen an der Tagesordnung, werden jedoch nur in den seltesten Fällen vor Gericht verhandelt, Anzeigen von der Polizei nicht aufgenommen (Nuestros Derechos).

Nach einem Artikel aus der Prensa libre vom 3. Februar 2008 Seite 11 werden nach tausenden Fällen von illegaler Adoptionen guatemaltekischer Kinder in die USA langsam die politischen Bestrebungen zur Eindämmung dieser seit Beginn der Amtszeit des guatemaltekischen Präsidenten Alvaro Colom zwar verstärkt, die Gelder für soziale Angelegenheiten sowie für Schulbildung wieder reduziert.

Ich möchte in den folgenden Abschnitten meiner Diplomarbeit zunächst die offizielle Gesetzeslage nach der UN-Kinderschutzkonvention und anschließend anhand der nationalen Gesetze aus dem Código de la niñez auf die Wirklichkeit eines Straßenkindes Guatemalas eingehen.

3.1.1.1 Nach der Kinderschutzkonvention

Am 20. November 1989 wurde das "Übereinkommen über die Rechte des Kindes" von der UN verabschiedet (Engelmann,2002, S. 8). Bis auf die USA und Somalia wurde die Kinderrechtskonvention von allen Mitgliedsstaaten unterzeichnet und ratifiziert, somit hatten sie alle sich dazu verpflichtet, alle nationalen Gesetz auf Grundlage dieser Konvention zu beschließen (vgl. Engelmann, 2002). Jedoch belegen Studien von UNICEF das Gegenteil. Laut einer Statistik kann davon ausgegangen werden, dass das Bildungssystem nach wie vor mehr als mangelhaft ist, immer noch unzählige Kinder an den Folgen der Armut wie z. B. Unterernährung leiden müssen und sich die Zahl der Straßenkindern bei einem weiteren Anwachsen der Städte bis 2025 fast verdoppeln wird. War es bis jetzt schon schwer, dem Elend der Kinder der Straße entgegen zu wirken, so frage ich mich, wie es erst in knappen 20 Jahren noch möglich sein soll.

Artikel 1: das Recht auf einen Namen und eine Staatszugehörigkeit; Artikel 2: das Recht auf Gesundheit;

Artikel 3: das Recht auf Bildung und Ausbildung;

Artikel 4: das Recht auf Freizeit, Spiel und Erholung;

Artikel 5: das Recht auf eine Privatsphäre und eine gewaltfreie Erziehung im Sinne der Gleichberechtigung und des Friedens;

Artikel 8: das Recht auf sofortige Hilfe in Katastrophen und Notlagen und auf Schutz vor Grausamkeit, Vernachlässigung, Ausnutzung und Verfolgung;

Artikel 9: das Recht auf eine Familie, elterliche Fürsorge und ein sicheres Zuhause; Artikel 16: Schutz der Privatsphäre und Ehre

Artikel 19: Schutz vor Gewaltanwendung, Misshandlung, Verwahrlosung Artikel 33: Schutz vor Suchtstoffen

Artikel 34: Schutz vor sexuellem Mißbrauch

Artikel 35: Maßnahmen gegen Entführung und Kinderhandel

Artikel 36: Schutz vor sonstiger Ausbeutung

Artikel 37: Verbot der Folter, der Todesstrafe, lebenslanger Freiheitsstrafe, Rechtsbeistandschaft

Artikel 40: Behandlung des Kindes in Strafrecht und Strafverfahren

(Auszug aus der UN-Kinderrechtskonvention)

3.1.1.2 Nach dem “Código de la niñez” in Guatemala

Die Gesetzeslage in Guatemala ist in Bezug auf Kinder und Jugendliche eigentlich klar. Da es sich um ein Entwicklungsland handelt ist es nicht verwunderlich, dass die Einhaltung von Regeln bei der Bevölkerung keine besonders hohe Priorität genießt und der Grad der Moral oft mit dem Niveau des Wohlstandes eines Landes vergleichbar sein mag. Jedoch ist erschreckend, dass viele der Verbrechen an Kindern und Jugendlichen nicht von zufälligen Fremden verübt werden, sondern durch die Familie selbst und vor allem dem Staatsorgan Polizei.

Darauf wird jedoch im nächsten Punkt noch näher eingeganen. Vorab hier einige Auszüge aus dem "Código de la niñez", also dem Gesetzbuch zum Schutz des Kindes in Guatemala, um eine Vorstellung vom "Soll-Zustand" zu bekommen, von dem anschließend auf den "Ist-Stand" übergegangen wird.

KAPITEL III

Die Pflichten des Staates

Artikel 14 - Der Staat soll die Rechte aller Kinder und Jugendlicher wahren, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Nationalität, ihrem Geschlecht, ihrer Sprache, Religion, politischen Meinung oder anderern Indikatoren, wie ihre ökonomische Lage, ihr Alter und ihrer rechtlichen Vertreter.

Der Staat muss höchst bestrebt sein, die Anerkennung des Kindes durch beide Elternteile garantieren zu können, welche sich um das Kindeswohl sorgen müssen und dieses als übergeordnetes Interesse betrachtet sollen. Die Eltern haben die Fürsorgeplficht und müssen dem Kind mit Respekt und unterstützender Begleitung in seiner Entwicklung begegnen.

Artikel 15 - Der Staat hat die Pflicht besonders Kinder und Jugendliche zu schützen und sie zu respektieren, insbesondere in Bezug auf folgende Punkte:

a) Zurücklassen des Kindes, Missbrauch und Ausbeutung durch Prostitution
b) Diskriminierender Umgang, Züchtigung, Trennung oder Ausschluss von Bildungschancen, Erholung oder Arbeit
c) Wirtschaftliche Ausbeutung oder jegliche Art von gesundheitsbeeinträchtigender Arbeit, oder Arbeit die die schulische und die physische Entwicklung des Kindes beeinträchtigen
d) Grausamer, erniedrigender und unmenschlicher Umgang mit dem Kinde
e) Ermutigung zum Konsum von Tabak, Alkohol, Kleberstoffen und Drogen
f) Situationen die die Kinder in Lebensgefahr bringen oder zu Gewalt führen wie die Benutzung und der Verkauf von Waffen
g) Situationen die die Sicherheit der Kinder bedrohen wie Gefangennahmen und rechtswidrige Umsiedlungen
h) Situationen die die Identität der Kinder gefährden, wie illegale Adoptionen und Kinderhandel

Um dem nächsten Kapitel nicht vorzugreifen, so abschließend nur noch gesagt, dass alle oben genannten Punkte, hinsichtlich deren präventiv durch rechtliche Vorgaben gehandelt werden sollte, auf die Realität eines Straßenkindes ohne Einschränkungen zutreffen. Als Beispiele seien hier die Prostitution, der Drogenkonsum, illegale Adoptionen sowie die Misshandlung und Ermordung von Straßenkindern erwähnt.

3.2 Straßenkinder international/national - Schätzungen

Laut Berichten UNICEFS kann weltweit von ca. 100 Millionen Straßenkindern die Rede sein, die meisten von ihnen leben in den sogenannten Entwicklungsländern. Nach zwei Weltkriegen und einer globalisierten Weltwirtschaft, die Armut, Arbeitslosigkeit und Konkurrenzkämpfe noch verstärkte, sind die Zahlen von Straßenkinder noch weiter gestiegen. Im folgenden Abschnitt soll nun die Straßenkinderproblematik zunächst auf interantionaler und anschließend auf nationaler Ebene veranschaulicht werden.

3.2.1 Schätzungen weltweit/Lateinamerika

Insbesondere Straßenkinder in Afrika, Lateinamerika und Indien sorgen für Schlagzeilen, während wir vom Elend unserer "Nachbarn" in Osteuropa nur wenig zu hören bekommen. Doch nach dem Zusammenbruch des Sowjetregimes und den damit verbundenen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüchen steigen auch dort die Zahlen der Menschen in Not und somit der Kinder der Straße (vgl. Adick, 1997, S.7). In Russland gibt es zwar keinen offiziellen Dienst, der genaue Angaben über die Zahlen der Straßenkinder geben könnte, aber man kann sich ein wenig an den Zahlen der Kinder orientieren, die von der Polizei auf der Straße aufgegriffen und in sogenannte "Kinderaufnahme- und Verteilungsstellen" gebracht wurden. Man schätzt ihre Zahl auf ca. 50.000, jedoch gehen Fachleute davon aus, dass die staatlich "registrierten" Zahlen stark manipuliert wurden und eigentlich mit fünf multipliziert werden müssten, was dann 250.000 Straßenkinder entspräche (vgl. Adick, 1997, S.217, Abs. 1/2).

In Indien leben ca. 340 Millionen Menschen in absoluter Armut, 44 Millionen von ihnen sind Kinderarbeiter von denen der Großteil auf der Straße lebt, wieviele genau ist schwer zu sagen, da die Regierung die eigentliche Anzahl immer wieder herunterspielt und verharmlost (vgl. Adick, 1997, S. 120).

Eine Statistik von Unicef zeigt auf, dass mit 122,3 Millionen die größten Anzahl von Straßenkindern in Asien zu finden ist, dem Afrika südlich der Sahara mit 49,1 Millionen Straßenkindern folgt und die Tabelle mit insgesamt 5,7 Millionen Kindern der Straße in Lateinamerika und der Karibik abgeschlossen wird.

Die Darstellung könnte den Eindruck erwecken, dass somit die Problematik des Straßenkinderphänomens in Lateinamerika nicht so akut sei, wie auf den anderen genannten Kontinenten.

Bedenkt man jedoch ihre Größe und ihren Landesumfang, fällt auf, dass dies nicht zutrifft, sondern die Lage in kleinen Ländern Lateinamerikas wie Guatemala mindestens genauso besorgniserregend ist wie die der asiatischen und afrikanischen.

Wie genau die Realität eines Straßenkinders in Guatemala aussieht, wird nun im nächsten Abschnitt genauer erläutert.

3.2.2 Zur Situation in Guatemala

Die Situation vieler Kinder in Guatemala ist dramatisch. Laut einem Bericht der "Prensa libre" vom 14. März 2008 Seite 12 sind 70% aller Kinder Opfer einer Form von Gewalt, sei es nun psychischer, physischer oder seelischer Art. 2000 Kinder werden jährlich sexuell missbraucht, wobei diese Zahl nach Schätzung von Unicef weit unter der wesentlich höheren Dunkelziffer liegen dürfte. Mindestens 468 Minderjährige starben im vergangenen Jahr durch Gewalteinwirkung, über 100 von ihnen zeigten Hinweise von Folter und wurden nach Aussagen der Straßenkinderorganisation "Casa Alianza" Opfer von "Sozialen Säuberungssaktionen" (s. a. Kap. 4.7.2). Der Behörde für Menschenrechte wurden 3800 Fälle von Gewalt gegen Minderjährige gemeldet.

Man schätzt die Anzahl der Straßenkinder nach offiziellen Angaben auf 500, Straßenkinderorganisationen wie Casa Alianza oder "Nuestros Derechos" gehen jedoch von mindestens 3500 aus. Die Regierung Guatemalas ist jedoch stets um ein gutes Erscheinungsbild gegenüber der internationalen Presse bemüht ist und so ist es schwer, "echte" Statistiken zu finden. Selbst in der Presse erscheinen nur zensierte Zahlen. Aussagekräftige Fakten erhält man daher vor allem durch Menschenrechtsorganisationen, welche selbst Nachforschungen betrieben und eigene Statistiken erstellt haben (Casa Alianza).

Man sagt, dass ca. 80% der Bevölkerung in Armut leben, dementsprechend hoch ist auch die Zahl der unterernährten Kinder (vgl. Prensa libre, 14. März 2008, S. 38). Die Regierung gibt im Schnitt 12 Cent pro Kind und Schultag für eine zusätzliche Versorgung mit Lebensmitteln aus, um die Zahl der durch Unterernährung geschädigten Kinder und der dadurch bedingten Todesfälle zu reduzieren. Doch werden viele Schulen gar nicht erst von der Regierung anerkannt und erhalten somit auch keine staatliche Unterstützung (Nuestros Derechos).

Für das Jahr 2009 sollen die Gelder für den Bildungsbereich und somit auch für ergänzende Maßnahmen weiter reduziert werden. Laut Aussage des guatemaltekischen Präsidenten Alvarón Colom müsse mehr in die Wirtschaft investiert werden (vgl. Prensa libre, 22. Juni 2008, S. 2 und S. 6).

"Eine Gesellschaft, die Kinder verkommen lässt, riskiert ihre humane Zukunft. Missachtung und Vernachlässigung der Heranwachsenden sind Ausdruck der Unfähigkeit und des praktizierten Unwillens zur eigenen gesellschaftlichen Zukunft." (Thiersch, 1992, S. 58, Abs. 3)

3.3 Endstation Straße

Heute auf der Straße lebende Kinder und Jugendliche beschlossen in den wenigsten Fällen von heute auf morgen ihr Elternhaus zu verlassen, um stattdessen auf der Straße zu leben. Die Gründe dafür sind so individuell wie die Heranwachsenden selbst, jedoch lässt sich sagen, dass sie in der Regel einen gewissen Prozess durchlaufen, ehe es zum Umbruch im Leben dieser Kinder und Jugendlichen kommt. Auf diesen Entwicklungsprozess möchte ich im folgenden Abschnitt näher eingehen, weg von der Sozialisation in der Ursprungsfamilie und hin zur Straßensozialisation in seinen Etappen und Einflusfaktoren.

3.3.1 Sozialisation in der Familie

Durch die Soziologie wissen wir, dass die Hauptaufgaben einer Familie aus der Platzierungs-,Reproduktions-, Existenzsicherungs- sowie Sozialisations- und der Regenerationsfunktion bestehen. Das bedeutet, dass die Familie sowohl für die Fortpflanzung und Erhaltung ihrer selbst zuständig ist (Reproduktionsfunktion), als auch für ihre Existenzsicherung durch Verdienst des Lebensunterhaltes und ausreichende Ernährung.

Desweiteren sollte die Familie seinen Mitgliedern das Gefühl der Geborgen- und Sicherheit vermitteln, als Ort der Regeneration und Rückzugsmöglichkeit vom Stress des Alltags dienen (Regenerationsfunktion). Und zuletzt gilt ein Verantwortungsbereich der Unterstützung des Familienmitglieds bei der Einfindung und Orientierung in der Gesellschaft, auf dass er in dieser seinen Platz finde und die Sozialisierung des Individuums.

Emile Durkheim definierte 1907 den Begriff der Sozialisation wie folgt:

" Sozialisation ist die Vergesellschaftung des Menschen und Prägung der menschlichen Persönlichkeit durch gesellschaftliche Bedingungen."

Der junge Mensch soll also von der Familie und der Gesellschaft dahingehend geprägt werden, dass er ein gesellschaftsfähiges und soziales Mitglied der Gemeinschaft wird. Darauf sollte die Sozialisation eines Individuum im Idealfall hinauslaufen.

Die Sozialisation eines Kindes in Guatemala in der Familie soll nun anhand der Familienstresstheorie erklärt werden. Mit ihrer Hilfe kann auf die spezielle Sozialisationssituation durch den Guerilla-Krieg und seine Auswirkungen eingegangen werden.

Zentrale Bedeutung wird in diesem Zusammenhang außergewöhnlichem Stress zugewiesen, der über nicht erwartbare Ereignisse wie der Tod eines geliebten Menschen, Krankheit oder Arbeitslosigkeit. Aufgrund der hohen Armutsrate und Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung ist die Wahrscheinlichkeit, dass eines dieser Ereignisse regelmäßig in Familien auftritt, extrem hoch. Schon normaler Stress, also aufgrund vorhersebarer Ereignissse wie z. B. Schuleintritt, wird in Familien als belastend erlebt. Außergewöhnlicher Stress darüber hinaus auch noch als bedrohlich (vgl. Ebenda, S. 25). Wie jedoch eine solche stressreiche Situation vom Kind erlebt wird, hängt von den Bewältigungsmöglichkeiten seiner Familie ab. Kann diese trotz schwieriger Lage die Ordnung des Zusammenlebens erhalten bzw. wiederherstellen, ist trotz Problemlage ein relativ stabiles Sozialisationsumfeld für das Kind gewährleistet. Fehlen ihr dafür jedoch die Ressourcen wie Bildung, Unterstützung durch andere, finanzielle Mittel, usw. , so ist die Persönlichkeitsentwicklung des Heranwachsenden enorm gefährdet.

Grundsätzlich gilt in diesem Zusammenhang:

"Je stärker eine Person in ein soziales Beziehungsgefüge mit wichtigen Bezugspersonen innerhalb und außerhalb der Familie eingebunden ist, desto besser kann diese Person auch mit ungünstigen sozialen Lebensbedingungen, kritischen Lebensereignissen und andauernden Lebensbelastungen umgehen und umgekehrt." (Hurrelmann, 1993, S. 240)

[...]

Ende der Leseprobe aus 152 Seiten

Details

Titel
Soziale Arbeit mit Straßenkindern in Guatemala
Untertitel
Eine interkulturelle Bewertung
Hochschule
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Note
1
Autor
Jahr
2009
Seiten
152
Katalognummer
V186754
ISBN (eBook)
9783869434995
ISBN (Buch)
9783869434001
Dateigröße
1269 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
soziale, arbeit, straßenkindern, guatemala -, eine, bewertung
Arbeit zitieren
Carolin Zobel (Autor:in), 2009, Soziale Arbeit mit Straßenkindern in Guatemala, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/186754

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