Erfindungen der Wirklichkeit - Kritik der Ausrichtung Sozialer Arbeit am Paradigma des Konstruktivismus


Diplomarbeit, 2002

81 Seiten, Note: 1


Leseprobe


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1. Einleitung

Der Anspruch des Menschen, die Gegebenheiten seiner Welt in der richtigen Weise erfassen, erklären und deuten zu können, ist seit jeher ein charakteristisches Merkmal menschlichen Daseins und Strebens. Was geschieht aber, wenn dieses Charakteristikum in Frage gestellt wird und dem Menschen jegliche Fähigkeit, seine Welt zu erkennen, abgesprochen wird. Die vorliegende Arbeit widmet sich dieser Thematik und den Auswirkungen eines konstruktivistischen Denkens. Sie hinterfragt die Prämissen und Konditionen eines Weltbildes, das auf der Annahme fußt, die Wirklichkeit sei lediglich eine `neuronale Konstruktion´ unseres Geistes. Die Soziale Arbeit hat bereits, wie die meisten ihrer Bezugswissenschaften, das konstruktivistische Denkmodell in zahlreichen Nuancen und Facetten rezipiert und weiterbearbeitet. Die vorliegende Arbeit will die, von der Sozialen Arbeit `absorbierten´, konstruktivistischen Elemente wieder einzeln ersichtlich machen, um sie daraufhin kritisch diskutieren zu können. In diesem Sinne wird zunächst die ursprüngliche Lehre des Konstruktivismus dargestellt. Hierauf folgt eine wertneutrale Transformation dieses neuen Modells in die Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit; um im letzten Abschnitt die kritische Prüfung der `Eignung´ des Konstruktivismus als einem Konzept der Sozialen Arbeit vorzunehmen.

Mein Anliegen war es, eine Synthese von sowohl theoretischen, als auch praktischen Überlegungen anzuregen. Theoretische Modelle werden in der Praxis angesiedelt und praktische Erfahrungen in die Sprache der Theorie übersetzt. Das Hauptziel dieser Arbeit jedoch ist es, wenn man einen Ausdruck der Theologie zitieren darf, die `Geister´ eines Paradigmas zu `prüfen´; die ursprünglichen Ausgangspunkte, sowie die letzthinnigen Auswirkungen eines Denkens zu erörtern, welches in einem Arbeitsfeld wie der Sozialen Arbeit eine unmittelbare Bedeutung für Menschen und deren Taten gewinnt.

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2. Die Ursprünge des Konstruktivismus

2. 1 Das `Dreigestirn´ eines neuen Paradigmas

Der Philosoph R. Descartes (1643 - 1727), sowie der Physiker I. Newton (1596 - 165o), waren die zwei wohl ausschlaggebendsten Persönlichkeiten, auf deren logischen, sowie physikalischen Erkenntnissen ein Weltbild aufgebaut wurde, das bis in das 2o. Jahrhundert hinein nahezu sämtliche Bereiche abendländischer Wissenschaft dominierte: Das Newtonsche bzw. Kartesianische Paradigma. An den `Grundfesten´ dieses kausalistischen und mechanistischen Weltbildes wagte als erster W. Heisenberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu `rütteln´, als er mit der Aufstellung der Heisenbergschen Unschärferelation 2 die Möglichkeit eines zufälligen und auf Wahrscheinlichkeiten aufgebauten Naturbildes in Betracht zog. 3 W. Heisenberg legte damit das Fundament für „[...] einen umfassenden Paradigmenwechsel in den Wissenschaften - eine wissenschaftliche Revolution.“ 4 , welche in den darauffolgenden Jahrzehnten durch die Theorie des Konstruktivismus vollends vollzogen wurde. Für letzteres verant-wortlich waren vor allem drei österreichische Wissenschaftler, die mithin als das `Dreigestirn´ des Konstruktivismus bezeichnet werden können:

E. v. Glasersfeld

H. v. Foerster

P. Watzlawick

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2 Die Heisenbergsche Unschärferelation besagt, dass jede wissenschaftliche Messung, mag sie noch so exakt sein, stets durch die Messgeräte bzw. das Messverhalten des Beobachters in ihrer Objektivität eingeschränkt ist.

3 Vgl. F. Capra (1987), S. 14ff.

4 W. Krohn (2ooo), S. 441.

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2. 2 Das Biological Computer Laboratory

Die Tatsache, dass neben dem bereits erwähnten Autopoiesis-Aufsatz der beiden Chilenen H. Maturana und F. J. Varela, ein weiteres epochemachendes Schriftstück der Wissenschaft des 20. Jahrhunderts - der Maturana-Aufsatz Biology of Cognition - als ein „[...] internes Papier [...]“ 12 zwischen den Wissenschaftlern einer eigenständigen Forschungsabteilung der Universität für Elektrotechnik in Urbana/Illinois, bereits Jahrzehnte bevor dieses für öffentliches `Furore´ sorgte, im Umlauf war, legt es nahe, dieser damals noch unbekannten Universitätsabteilung, dem Biological Computer Laboratory (BCL) ein eigenes Kapitel zu widmen; und dies nicht zuletzt deshalb, weil durch das BCL jene Kooperationsbasis geschaffen wurde, die es H. Maturana, F. J. Varela und H. v. Foerster ermöglichte, in der dialogischen Begegnung die `Lehre´ des Konstruktivismus zu schaffen.

Wissenschaftler und Forscher aus einem Spektrum unterschiedlichster Disziplinen versammelten sich dort seit dem Jahre 1949 bei Tagungen und Kongressen. Sie vertraten ein ungewöhnlich breites Spektrum von Fachrichtungen: Psychiatrie, Elektrotechnik, Physiologie, Computerwissenschaft, Medizin, Zoologie, Psychologie, Soziologie, Ethnologie, Anatomie, Neurologie, Verhaltensforschung, Mathematik, Radiobiologie, Biophysik und Philosophie. 13 Das BCL bestritt den zu damaliger Zeit noch wissenschaftlich `diskriminierten´ interdisziplinären Diskursweg. Damit stieß es nirgendwo auf Anerkennung und wäre wahrscheinlich auch sehr bald aus finanzpolitischen Gründen `vor dem Aus gestanden´, wenn nicht die US-Airforce und US-Navy die Hauptfinanciers des Labors geworden wären. Die amerikanische Regierung sah in der Verbindung von Biologie und Technologie (Bionik) ein potentielles militärisches Instrument. Dies belastete das wissenschaftliche Renomee des BCL natürlich in ideologischer Hinsicht über Jahrzehnte hinweg. 14 „Das BCL konnte sich aber seine Abweichungen und Extravaganzen leisten, da es seine Mittel fast zur Gänze von außen bezog, vor allem auch von militärischen Organisationen. Genau diese relative Unabhängigkeit von lokalen universitären Strukturen und die Abhängigkeit von einer überregionalen

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12 G. Roth (2ooo), S. 256.

13 Vgl. A. Müller (2ooo), S. 9ff.

14 Vgl. a. a. O., S. 2off.

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3. Einführung in das Denken des Konstruktivismus

3. 1. Grundlegende Standpunkte des Paradigmas

3. 1. 1 Die Vorstellung von Wirklichkeit

Unser alltagstheoretisches Verständnis setzt eine real existierende Welt als gegeben voraus. Die radikalen Konstruktivisten indessen bezeichnen die Wirklichkeit als eine Als-ob-Realität, die sich durch eine vollkommen unüberwindbare Subjektabhängigkeit auszeichnet. Sie gehen in ihren Betrachtungen davon aus, dass dem Menschen die Erkenntnis absoluter Wahrheit bzw. überhaupt jegliche Erfassung von Wirklichkeit verwehrt bleibt.

Die Leugnung einer erkennbaren Wirklichkeit ist beim Konstruktivismus vornehmlich biologisch abgeleitet. Ein Wegbereiter biologischer Positionen war K. Lorenz, der die biologische Perspektive von Wahrnehmung und Erkenntnis in allen Wissenschaftsdisziplinen forderte. 18

Die uns `erscheinende´, meist `stillschweigend´ vorausgesetzte Realität basiert vor allem auf der Grundlage unserer Sinneswahrnehmungen: ,,Die alltägliche sinnliche Erfahrung erweckt in uns den Eindruck, dass unser Wahrnehmungssystem in direktem Kontakt mit der Welt steht: die visuelle Welt ist uns im wahrsten Sinne des Wortes unmittelbar augenscheinlich gegeben, die Laute dringen unvermittelt an unser Ohr, und wir betasten und begreifen die Gegenstände in unserer Reichweite unmittelbar als Gegenstände“ 19 . Hierauf würde ein Konstruktivist entgegnen, dass die Sinnesorgane zwar von Umweltreizen aktiviert werden, die neuronale Erregung jedoch, die aufgrund der sensorischen Reizung in den Sinnesorganen entsteht und dann zum Gehirn weitergeleitet wird, mit der wahrgenommenen Umwelt des Menschen nahezu nichts gemeinsam hat. Diese nervliche Erregung ist in ihrer qualitativen Beschaffenheit gänzlich unspezifisch und zudem unabhängig von der Art des Sinnesorgans. Das heißt,

18 Vgl. G. Roth (2ooo), S. 258.

19 A. a. O., S. 229.

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hierzu einer sehr eindringlichen Metapher: „Objektivität ist die Wahnvorstellung eines Subjekts, dass es beobachten könnte ohne sich selbst.“ 23

Die konstruktivistische Ablehnung einer objektiven Wirklichkeit besteht philosophiegeschichtlich nicht erst seit dem Erscheinen der Maturanaschen Aufsätze, sonders bereits seit den ersten Denkern der Antike, wie ich im übernächsten Kapitel darlegen werde. Vorab soll hier Artur Schopenhauer zitiert werden, der es versteht in zwei Sätzen die Kernaussage dieses Kaptitels zusammenzufassen: „Wer [...] sich in die Anschauung der Natur so weit vertieft und verloren hat, dass er nur noch als rein erkennendes Subjekt da ist, wird ebendadurch unmittelbar inne, dass er als solches die Bedingung, also der Träger der Welt und alles objektiven Daseins ist, da dieses nunmehr als von dem seinigen abhängig sich darstellt. Er zieht also die Natur in sich hinein, so dass er sie nur noch als ein Akzidenz (zu verstehen als `Erweiterung´, d. Verfasser) seines Wesens empfindet.“ 24

3. 1. 2 Möglichkeiten und Bedingungen menschlicher

Erkenntnis

Die Aussage des vorausgehenden Kapitels: Es gibt keine von uns unabhängige, objektive Umwelt - das menschliche Gehirn selbst ist es, das Umwelt und Welt erfindet - ist eindeutig dem Sprachjargon der Erkenntnistheorie zuzuordnen. In der Tat kennzeichnet der konstruktivistische Ansatz (lediglich) eine weitere Formulierung des Erkenntnisweges, der seit dem Königsberger Philosophen I. Kant nicht mehr aus dem Philosophiediskurs

23 E. v. Glasersfeld (1985a), S. 19.

24 A. Schopenhauer (1977), S. 234 f.

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3. 2 Grundbegriffe des Konstruktivismus

3. 2. 1 Das Prinzip der undifferenzierten Codierung

In der Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte der deutsche Neurophysiologe J. Müller bei der Informationsübertragung von Nervenzellen das Prinzip der undifferenzierten Codierung. Diese Entdeckung blieb 12o Jahre lang von der Wissenschaft unbeachtet, bis sie vor drei Jahrzehnten zum initialisierenden `Auftakt´ für die Formulierung des Konstruktivismus wurde. Dieses Prinzip besagt, „Die Erregungszustände einer Nervenzelle codieren nur die Intensität, aber nicht die Natur der Erregungsursache.“ 35 Das heißt, dass die Information, die entlang der menschlichen Nervenfasern (Axone) weitergeleitet wird, zum einen schlichtweg eine elektrische Spannungsveränderung und zum andern, dieser weitergeleitete elektrische Impuls, unabhängig davon, ob er von den Sinneszellen der Augen, der Ohren, oder der anderen Sinnesorgane ausgelöst wurde, in eine Spannungsveränderung von jedes Mal exakt 1/1o Volt ist und damit keinerlei qualitative Aussage über die `Art und Weise´ einer jeweiligen Sinneswahrnehmung ableiten lässt. Die Sinneszellen codieren lediglich die quantitative Störung eines Sinnesorgans an einer bestimmten Stelle, aber niemals das `wie´ der Perturbation (Störung). Würde man eine elektrische Mikrosonde an einem Axon anbringen, so würde bei jeglicher Perturbation lediglich ein `Klick´ im Lautsprecher ertönen. 36 „Die Signale, die dem Gehirn zugeführt werden, sagen also nicht blau, heiß, cis, au, usw., usw., sondern `Klick, Klick, Klick.´“ 37 , oder wie H. v. Foerster zu sagen pflegte: „`Klick´, `klick´ ist das Vokabular der Nervensprache.“ 38 .

35 H. v. Foerster (2ooo), S. 138.

36 Vgl. a. a. O., S. 138f.

37 A. a. O., S. 138.

38 A. a. O., S. 138.

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3. 2. 2 Pragmatik als Leitmotto

Wahrnehmung besitzt, wie die neurophysiologische Funktionsweise der Nervenfasern aufzeigen konnte, keinerlei Spezifität. Darin liegt auch ihr evolutionstheoretischer Vorteil, denn „[...] ihre freie Deutbarkeit macht überhaupt erst eine Kommunikation der Sinnesempfindungen und eine Überführung von Wahrnehmung in Aktion möglich.“ 39 , was wiederum impliziert, dass menschlichen Deutungen und Interpretationen von Wirklichkeit keinerlei Grenzen gesetzt sind. Der Verlust der tatsächlich-realen Erkennbarkeit der Umwelt des Menschen wird hingenommen, insofern ein neuer Aspekt von Wahrnehmung in den Vordergrund rückt. E. v. Glasersfeld bezieht hierzu Stellung: „Statt einer ikonischen Beziehung der Übereinstimmung oder Widerspiegelung können wir hier die Beziehung des Passens einsetzen. Das heißt, dass wir in der Organisation unserer Erlebenswelt stets so vorzugehen trachten, dass das, was wir da aus den Elementen der Sinneswahrnehmung und des Denkens zusammenstellen - Dinge, Zustände, Verhältnisse, Begriffe, Regeln, Theorien, Ansichten und, letzten Endes, Weltbild -, so beschaffen ist, dass es im weiteren Fluss unserer Erlebnisse brauchbar zu bleiben verspricht.“ 40 Das Erkannte wird demnach nur aufgrund einer hohen Brauchbarkeit bzw. Nutzbarkeit als relevant und plausibel erfasst, und d. h. als real erfasst. An dieser Stelle zeigt sich die pragmatische Ausrichtung 41 des Konstruktivismus sehr deutlich, welche weder nach Wahrheit oder Wertigkeit einer Kognition fragt, sondern lediglich die Perfektionierung unserer Lebensbedingungen, sowie das Überleben der menschlichen Art in den Vordergrund rückt. Nicht zuletzt deshalb bezeichnet H. Maturana zu Beginn des Aufsatzes Kognition die Wahrnehmung als ein rein „[...] biologisches Phänomen [...]“ 42 .

39 S. Schmidt (2ooo), S. 15.

40 E. v. Glasersfeld (1985a), S. 18.

41 Vgl. S. Schmidt (2ooo), S. 37f.

42 H. Maturana (2ooo), S. 89.

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3. 2. 3 Eine neue Dimension - die Autopoiesis

Die beiden chilenischen Biologen H.. Maturana und F. J. Varela veröffentlichten seit dem Jahre 197o zahlreiche Publikationen, darunter vor allem Aufsätze 43 , welche seither das Bild nahezu aller Natur- und Geisteswissenschaften nachhaltig geprägt haben. Aufbauend auf experimentellen Befunden im Bereich der Sinnesphysiologie von niederen Tieren, Primaten und Menschen, 44 entwickelten sie eine allgemeine Theorie lebender Systeme, welche als herausragendstes Merkmal das Phänomen der Autopoiesis (griechisch: autos - selbst; poieinmachen) beschreibt. 45 Im Folgenden sollen die wichtigsten Bestandteile dieses relevantesten Begriffs des konstruktivistischen Diskurses kurz angerissen werden.

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Details

Titel
Erfindungen der Wirklichkeit - Kritik der Ausrichtung Sozialer Arbeit am Paradigma des Konstruktivismus
Hochschule
Philosophisch-Theologische Hochschule der Salesianer Don Boscos Benediktbeuern
Note
1
Autor
Jahr
2002
Seiten
81
Katalognummer
V185899
ISBN (eBook)
9783656990291
ISBN (Buch)
9783867467537
Dateigröße
933 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
erfindungen, wirklichkeit, kritik, ausrichtung, sozialer, arbeit, paradigma, konstruktivismus
Arbeit zitieren
Andreas Keck (Autor:in), 2002, Erfindungen der Wirklichkeit - Kritik der Ausrichtung Sozialer Arbeit am Paradigma des Konstruktivismus, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185899

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