Der Hörbuchmarkt in Deutschland


Diplomarbeit, 1997

99 Seiten, Note: 1.7


Leseprobe


DER HÖRBUCHMARKT IN DEUTSCHLAND

Außer zahlreichen Pressemeldungen unterschiedlicher Qualität und Länge existiert so gut wie keine Sekundärliteratur zum Thema. Um zuverlässige Daten und Definitionen der direkt am Herstellungsprozeß beteiligten Verlage zu erhalten, habe ich Interviews mit Fachleuten geführt und an 49 deutschsprachige 5 Hörbuchproduzenten einen Fragebogen verschickt, dessen Auswertung mir konkrete Informationen über die jeweilige Verlagsgeschichte, die Einführung des Produktes auf dem Markt, Werbestrategien, Produktion, Wechselwirkungen mit dem gedruckten Buch sowie über Vertriebswege beschaffen sollte. Die Ergebnisse sind trotz eines sehr hohen Rücklaufes von 63 Prozent keineswegs repräsentativ. Sie zeigen dennoch Tendenzen, Meinungen und Stimmungen, die das in der Öffentlichkeit nicht einheitlich gezeichnete Bild bestätigen und ergänzen. Bei dieser Untersuchung steht die verlegerische Sicht im Vordergrund, da es aus zeitlichen und finanziellen Gründen nicht möglich war, ebenfalls Buchhändler und Endverbraucher zu befragen.

Eine Klärung des Begriffes Hörbuch und eine Bestandsaufnahme der aktuellen Marktsitua- verdeutlichen die verschiedenen Auffassungen der Entwicklung und führen direkt in die Fragestellung ein. Die der Auswertung der Fragebögen und darauf folgenden Interviews entnommenen Informationen sollen Aufschluß darüber geben, inwieweit sich das Hörbuch in Deutschland etabliert hat und welche Hürden es - auch im vielzitierten und nicht immer angebrachten Vergleich zu den USA und Großbritannien - noch zu nehmen gilt. Dafür ist es notwendig, mehr als nur die Entwicklung von Absatzzahlen und Verlagsprogrammen zu betrachten.

Das Hörbuch ist keine neue Erfindung dieses Jahrzehnts. Seine Ursprünge sind in der Tra- des Vorlesens begründet und reichen zurück bis zu dem Moment, in dem es das erste Mal gelang, Sprache auf einem Tonträger festzuhalten. Zur Basisinformation werde ich einen kurzen Abriß der Entstehung der Worttonträger geben. Die Besprechung der Stärken und Schwächen dieses Mediums einschließlich ihrer Ursachen verdeutlicht, womit es bis zu seiner Durchsetzung kämpfen und was für Vorurteilen es gezielt mit welchen Methoden begegnen muß. Es handelt sich zum Teil um zunächst banal erscheinende Dinge, die nicht schwer zu lösen sind, aber bei einer negativen Grundeinstellung von seiten der Händler und Endverbraucher im Hinblick auf Marketing und Vertrieb keineswegs unterschätzt werden dürfen. Ein Überblick über den Produktionsweg des Hörbuches gibt Aufschluß über die schon im Vorfeld beginnenden Schwierigkeiten auf dem Weg zum Erfolg. Eine Analyse der PR-Arbeit, der Marketingstrategien und der bereits existierenden Vertriebsschienen wird durch weitere Vorschläge ergänzt.

Kinderkassetten müssen auf dem Worttonträgermarkt nicht mehr durchgesetzt werden. Der Vollständigkeit halber gehe ich in einem Exkurs, der die unterschiedlichen Voraussetzungen im Vergleich zum Tonträgermarkt und dem Hörverhalten der Erwachsenen aufzeigt, auf sie ein. Ebenfalls vorgestellt werden muß die „Initiative Wort Cassette“ (IWC), deren Existenzbedingungen Rückschlüsse auf die Situation des Hörbuchmarktes zulassen. Die Beschreibung ausgewählter Verlage mit unterschiedlichen Gründungsdaten, Größen und Programmen soll das Bild vervollständigen, um die jeweiligen Verfahrensweisen und Ansprüche aufzuzeigen. Die veränderte Marktlage spiegelt sich darin wider.

Das Anwachsen des Hörbuchmarktes bringt nicht nur die Diskussion um die Textbearbei- tungen der Lektorate und die Interpretationen durch die jeweiligen Sprecher mit sich, son-

dern erneuert einmal mehr die Prophezeiung des Endes der Lesekultur. Schlußbetrachtun- und ein Ausblick runden die Arbeit ab.

2. Was genau ist ein Hörbuch? Eine Definition

Ein grundlegendes Problem des Hörbuchmarktes in Deutschland ist die Tatsache, daß das Medium der Literaturtonträger kaum bekannt ist. Bei einer nicht repräsentativen Umfrage unter ca. 30 Studierenden der Literaturwissenschaften, Schauspielern und Literaturbegeisterten ergab sich, daß auch in einem Personenkreis, der sich beruflich mit Literatur befaßt oder über einen hohen Bildungsstand verfügt, kaum jemand spontan sagen kann, was ein Hörbuch ist und wo man es kaufen kann. Nur zweien war das Hörbuch ein Begriff. Alle anderen fragten sofort, ob es sich um Kinderkassetten oder Hörspiele handele. Tatsächlich wird der Begriff nicht bedeutungsgleich verwendet. Barbara Schäfer unterteilt Hörbücher in „Autorenlesungen“, „von Sprechern Vorgelesenes“ und „klassische Hörspiele“ 6 . Der „Spiegel“ dagegen bezeichnet sie als „Kassetten mit gelesener oder hörspielmäßig aufbereiteter Literatur“ 7 , was eine gedruckte Prosa- oder Lyrikfassung voraussetzt und Hörspiele, die explizit als solche verfaßt wurden, ausklammert. Unter welche Rubrik fallen aber Sprachlehrkassetten? Oder auf Tonträger aufgezeichnete Theaterstücke? Auch Kinderkassetten werden oft als eigene Gattung und nicht generell als Hörspiel oder Hörbuch verstanden. Der „Focus“ spricht allgemeiner von „gesprochener Literatur“ 8 .

Der Begriff Hörbuch wird nicht in seiner ausschließlichen Bedeutung, wie im folgenden genau definiert, benutzt. Wem das Medium bekannt ist, der weiß, daß sich hinter dem Begriff ebenso Hörspiele als auch Lesungen kompletter oder gekürzter Bücher verstecken können und nach welcher Sparte er sucht. Um weitere Käuferschichten zu gewinnen, muß aber die Existenz vorgelesener Bücher auf Tonträgern allgemein bewußtgemacht werden. Dabei ist es für die Definition an sich irrelevant, ob der Begriff Hörbuch das Hörspiel, Vorträge oder Sprachlehrkassetten mit einschließt oder nicht. Wichtig ist, daß sich die Anbieter auf eine Definition einigen, so daß die Käufer wissen, nach welchem Produkt sie fragen müssen und daß es neben dem klassischen Hörspiel noch andere Literatur auf

Tonträgern gibt. Hörbuchabteilungen schließen nämlich u. a. auch Kabarettprogramme mit ein, die bislang hauptsächlich im Schallplattenhandel angeboten und gesucht werden. Der Name Hörbuch hat allerdings den Nachteil, daß die Tonträger sich damit nicht ausreichend vom Buch abgrenzen und als eigenständiges Medium präsentieren.

In der Umfrage unter Hörbuchverlagen wurde um eine Definition gebeten, um herauszu- ob die Anbieter, die das Produkt erfolgreich vermarkten wollen, mit einer einheitlichen Begriffsbestimmung aufwarten können. Ihre Programme laufen vielfach unter dem Oberbegriff Hörbuch, obwohl darunter von den Verlagen nur ein Segment verstanden wird. Der Begriff wird weitgehend einheitlich bestimmt als: „Literatur auf Tonträger“, „ein gelesenes Buch“, „vorgelesener Text eines Buches auf MC“ (die Nennung der Musikkassette macht bereits auf das in Kapitel 5.1.8 Compact Disc oder Kassette behandelte Problem aufmerksam), „Bestseller von Schauspieler auf Kassette gelesen“, „reine Lesung des Buches ohne Dramatisierung, meist nur ein Sprecher“ oder am ausführlichsten ohne Ausschluß des Hörspiels: „sinnliche Stimmen von Profischauspielern sollen Literatur - das gesprochene Wort - vermitteln - der persönliche Einsatz des jeweiligen Schauspielers, der Charakter der Schauspieler soll das Hören zu einem einzigartigen Hörerlebnis machen“. 9

Grundsätzlich verbergen sich hinter den Begriffen Worttonträger, Literaturtonträger, Hör- Audiobuch, Audiobook, Hörspiel, Kinderkassette und Sprachlehrkassette folgende Bedeutungen:

Der Begriff umfaßt alle Tonträger, auf denen das gesprochene Wort Worttonträger dominiert. Er umschließt Hörbuch, Hörspiel, Kinderkassetten, Sprach-

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Literaturtonträger Sie Worttonträger, die auf literarischen Vorlagen beruhen, was sowohl Hörspiele als auch Hörbücher sein können.

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Das Hörbuch beinhaltet einen von einem oder mehreren Sprechern Hörbuch vorgelesenen Text, der auch in gedruckter Form ein vollständiges

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Kunstwerk (vgl. Hörspiel) darstellt. Er muß nicht notwendigerweise vorher als gedruckte Fassung (zum Beispiel als Rede) existiert haben,

8 Hörbücher. Literatur vom laufenden Band (1995), S. 178.

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Der amerikanische Begriff für Worttonträger. Er wird aus Werbe- und Audiobook Imagezwecken vom DerHörVerlag in Deutschland benutzt.

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Das Hörspiel ist eine eigenständige Literaturgattung, die erst durch die Hörspiel Aufführung im Rundfunk oder das Abspielen eines Tonträgers zum

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Sie umfassen sowohl Hörbücher als auch Hörspiele und Liedersamm- Kinderkassette lungen. Ihre Inhalte richten sich an Kinder und Jugendliche.

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Die Sprachlehrkassette beinhaltet Texte und Übungen für den Fremd- Sprachlehrkassett sprachenerwerb. Sie stellt einen Sonderfall unter den Worttonträgern e dar, weil sie in der Regel in Kombination mit einem gedruckten Buch

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Diese Arbeit befaßt sich mit Verlagen, die Literaturtonträger produzieren. Um umständli- Formulierungen zu vermeiden, werden sie unter der Bezeichnung Hörbuchverlage, auch wenn Hörspiele zum Programm zählen, geführt. Der klassische Kinderhörspielmarkt ist davon ausgeschlossen. Seine Hersteller vertreiben ihre Produkte nicht im Buchhandel und verstehen sie auch nicht als Literaturtonträger. Dadurch unterscheiden sie sich von den hier behandelten Verlagen, von denen einige ebenfalls Titel für Kinder veröffentlichen. Auch der Begriff Hörbuchmarkt schließt alle Literaturtonträger ein. Hörbuch hat im

allgemeinen Sprachgebrauch eine Bedeutungserweiterung erfahren und wird synonym für Literaturtonträger verwendet. Wird auf das Hörbuch unter seiner ursprünglichen Bedeutung Bezug genommen, erfolgt ein gesonderter Verweis.

3. Die Situation des Hörbuchmarktes in Deutschland

Trotz aller positiven Prognosen setzt sich das Hörbuch in Deutschland nur sehr langsam durch. In den USA dagegen nimmt der Höhenflug kein Ende. 1996 wurde dort ein Umsatz von 4 110,5 Mio. Dollar verzeichnet. Auch in Großbritannien floriert das Geschäft. Dort erreicht das Hörbuch einen Wortkassetten-Marktanteil von ca. 30 Prozent. Der Umsatz betrug 1996 85,37 Mio. Pfund. 11

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10 G. Müller: Dramaturgie des Theaters, des Hörspiels und des Films (1962), S. 106.

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Abb. 3: Absatzentwicklung des Hörbuchmarktes 1994 - 2000 in Deutschland 14

Die Statistiken verzeichnen einen eindeutigen Aufwärtstrend in allen drei Ländern bis ein- der Jahrtausendwende. Der deutsche Hörbuchmarkt weist im Vergleich zu den beiden anderen Ländern das geringste Wachstum auf. Der Absatz steigt bis ins Jahr 2000 nur um 1,17 Mio. Exemplare, bzw. um 7 Prozent. In der gleichen Zeitspanne wächst er in Großbritannien schätzungsweise um 66,5 Prozent. Die vergleichsweise geringe Steigerungsrate in den USA um lediglich 23 Prozent beruht darauf, daß der Markt seine Grenzen erreicht, wogegen die Hörbuchverlage in Europa erst Neuland betreten haben.

Bei den statistischen Erfassungen muß ein entscheidender Unterschied zwischen dem Markt in den USA und in Deutschland beachtet werden: In den USA sind alle Worttonträ- ger zu einem Begriff - Audio-books - zusammengefaßt, in Deutschland dagegen gibt es eine Unterteilung in Kinderkassetten, Hörbücher, Hörspiele, Sprachlehrkassetten etc. All dies sind Worttonträger, die in den Statistiken nur in der Gesamtheit betrachtet werden. Natürlich ist dann ein Markt auch in Deutschland vorhanden. Bei einer Analyse der einzelnen Segmente wird deutlich, daß die Kinderkassetten in der Bundesrepublik und in Groß- britannien eindeutig dominieren, wogegen sie in den USA einen kleineren Raum einnehmen. Wie die folgenden Übersichten zeigen, haben sich dort die anderen Genres zu gleichen und größeren Teilen etabliert. Audiobooks umfassen in Abb. 4 die Literaturtonträger mit belletristischen und klassischen Titeln. Ratgeber, sogenannte Motivationals, sind eigens aufgeführt, wogegen sie in Abb. 6 unter Audiobooks, Lehre/Sprache, Sonstige und Religion verteilt sind. In Großbritannien wird der Bereich Comedy getrennt von Audio-books betrachtet. Er ist bei den anderen Ländern in letzterem enthalten. Bei derart unterschiedlichen Zusammensetzungen von Grafiken und Statistiken

sowie nicht einheitlichen Begriffsdefinitionen ergeben sich keine übersichtlich vergleichbaren Eindrücke der Marktlage.

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Abb. 6: 1995 Gesamtabsatz 17,02 Mio. Exemplare in Deutschland aufgeteilt nach Segmenten 17

Wenn der Markt in Deutschland demnach nur um 7 Prozent wächst, muß darauf geachtet werden, welche Segmente stärker oder schwächer ansteigen. Es sind die Hörbücher, bei denen ein Wachstum um 45 Prozent bis zum Jahr 2000 erwartet werden. Der ebenfalls erfaßte Kinderkassettenbereich stagniert dagegen. 18

Wenn die Umsatzzahlen aller Segmente zu einer Zahl zusammengefaßt werden, scheint das Produkt auf dem Markt erfolgreich zu sein. Der Kinderkassettenmarkt erfährt keine

Einbußen. Hörbücher und Hörspiele für Erwachsene stoßen noch auf weitaus weniger Resonanz. Diese Arbeit befaßt sich vorrangig mit der Situation der Hörbücher und geht vergleichend auf die anderen Segmente ein, da ein enger Zusammenhang zwischen den Entwicklungen der einzelnen Bereiche besteht.

In den USA haben die Hörbücher seit den sechziger und siebziger Jahren nennenswerte wirtschaftliche Erfolge. Im Gegensatz dazu müssen sie sich in Deutschland erst etablieren und stoßen dabei auf vielfältige Hindernisse. Das Problem wandert im Kreis:

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Abb. 7: Interessenkreislauf

Die Verlage produzieren ein kleines Ausgangsangebot an Hörbüchern. Die Buchhändler bestellen und präsentieren keine Hörbücher, weil keine Nachfrage besteht. Die Kunden erzeugen keine Nachfrage, weil sie entweder das Produkt nicht kennen und/oder ihnen das Angebot zu klein ist und nicht zusagt. Daraufhin bleibt das Verlagsangebot klein. Dieser Kreislauf ist bei der Einführung eines neuen Produktes normal. Auch die Compact Disc hat ihren Siegeszug in der Tonträgerwelt nicht direkt nach der Markteinführung angetreten und hat heute die Audiokassette fast verdrängt. Dabei hatte dieses Trägermedium noch damit zu kämpfen, daß für das Abspielen ein neues Gerät angeschafft werden mußte, wogegen Hörbücher auf jedem gängigen Kassettenrekorder abspielbar sind.

Die Bedeutung eines breiten Lagers wird offenbar von vielen Sortimentern unterschätzt. Für 62 Prozent der Verbraucher war es 1994 wichtig, daß ein gesuchtes Buch nicht erst bestellt werden muß. Nur 54 Prozent der Buchhändler gingen von dieser Annahme aus. Junge Kunden messen der sofortigen Verfügbarkeit noch mehr Bedeutung bei als ältere

Käufer. 19 Da Hörbücher ebenso wie Printfassungen hauptsächlich in Buchhandlungen angeboten werden, gilt für sie dasselbe. Eine Größe muß demnach aus dem Teufelskreis ausbrechen und einen Vorstoß wagen. Deutsche Hörbuchverlage verzeichnen für ihre Verhältnisse seit jüngstem teilweise einen enormen Aufwärtstrend. Die Erwartungen des Verlag und Studio für Hörbuchproduktionen wurden 1995 mit einer dreißigprozentigen Umsatzsteigerung sogar übertroffen. Der Jutta Steinbach Verlag teilte diese Erfolge für die Jahre 1993 und 1994. Das Jahr 1995 verlief etwas ruhiger, erst 1996 war wieder ein Zuwachs zu bemerken. Litraton schätzte die 1996er Zuwachsrate in den ersten Monaten auf 50 Prozent. Der Rowohlt Verlag stellte nach einem erfolglosen Anlauf seine Produktion wieder ein und sieht auch für den seit 1994 überdurchschnittlich anwachsenden Markt, der für Prognosen zu jung sei, keine Zukunft. Cottas Hörbühne schaffte es im Alleingang ebenfalls nicht. Der Verlag schloß sich mit sieben weiteren zum DerHörVerlag (DHV) zusammen, der in einer konzertierten Aktion mehr Erfolg verzeichnet. Dieser schrieb schon im ersten Jahr schwarze Zahlen und verhalf mit gezielten PR-Maßnahmen sich und kleineren Unternehmen der Branche zu Umsatzsteigerungen. Die Deutsche Grammophon macht zwar kein Minus mit Hörbüchern, mag von einem Boom jedoch noch nicht sprechen. 20 Der Barsortimenter Koch, Neff & Oetinger mißt dem Markt nicht allzuviel Bedeutung bei, weil sein Potential begrenzt und nicht mit den neuen Medien vergleichbar sei.

Eine Auswertung der Frage, wann die Verlage die Hörbuchproduktion aufnahmen, ergab, daß 46 Prozent zwischen 1994 und 1997 in das Geschäft einstiegen. Jeweils drei begannen 1994 und 1995, und fünf nahmen 1996 die Arbeit auf. Für das laufende Jahr ist nur ein „Neueinsteiger“ zu verzeichnen 21 . 1994 begannen verstärkte PR-Bemühungen der BASF und der IWC. Zusätzlich entstand durch die Gründung des DHV Bewegung auf dem Markt, der neue Umsatzmöglichkeiten erhoffen läßt. Es ist zu erwarten, daß in den nächsten Jahren noch mehr Verlage die Hörbuchproduktion aufnehmen werden.

Ebenso steigt auch die Anzahl der Sparten und der publizierten Titel. Dies läßt sich an den Segmenterweiterungen sowohl insbesonders der Verlage erkennen, die in den neunziger

Jahren die Arbeit und/oder das Programm aufnahmen als auch an der Anzahl der geplanten Neuerscheinungen.

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Abb. 8: Anteil der verkaufsstärksten Sparten am Gesamtprogramm 1997

Am erfolgreichsten und zukunftsträchtigsten sind die Bereiche Belletristik 22 , Sachbuch und Krimi/Abenteuer. Die Sparte Autorenlesungen kann sich zum Teil mit Belletristik oder Klassikern überschneiden. Bei den Kinder(hör)büchern, hier nicht zu verwechseln mit den gängigen Kinderhörspielkassetten, ist ebenfalls ein Wachstum zu verzeichnen. Die Antworten auf die Frage nach der Entwicklung der Absatzzahlen tendieren gleichermaßen zu einer Steigerung der Titelzahl in den genannten Sparten. Gleichgeblieben ist der Bereich der religiösen Hörbücher, wogegen der Absatz von Lyrik und Schauspielmitschnitten nachläßt. Fremdsprachige Originalaufnahmen spielen keine bemerkenswerten Rollen, obwohl letztere bei dem mittlerweile gut ausgebauten Angebot fremdsprachiger Printliteratur Erfolgschancen haben.

Im allgemeinen stehen die Händler und viele Verlage dem Medium noch skeptisch gegen- Der Buchhandel verzeichnet allerdings dort, wo ein umfangreicheres Hörbuchangebot, einschlägige Werbung und Displays vorhanden sind, ein überproportional steigendes Interesse. Optimismus ist durchaus berechtigt, wobei eine Euphorie verfrüht wäre. Daran, daß in Deutschland ein Potential vorhanden ist, besteht kein Zweifel. Es wird nur nicht effektiv genutzt und ist ebenso wie die Angebotspaletten, -formen und -methoden nicht annähernd ausgeschöpft.

4. Die Entstehung des Hörbuches

Wortaufnahmen sind keine Neuschöpfung der neunziger Jahre. Seitdem die technische Möglichkeit besteht, Sprache auf Tonträgern festzuhalten, gibt es Literatur auf wieder abspielbaren Medien. Bismarck rezitierte 1889 Uhland-Verse für Sprechmaschinen und Alexander Moissi nahm Schillers Kraniche des Ibykus auf Schellackplatte auf. Die Deutsche Grammophon gab 1954 mit einer Aufnahme von Faust I in der Düsseldorfer Inszenierung von Gustav Gründgens das erste deutsche Hörbuch heraus. 23 Für Blinde und Sehbehinderte bedeutet der Zugang zu Literaturtonträgern die Möglichkeit, Texte ohne Mithilfe einer weiteren Person als Vorleser rezipieren zu können. Nur hießen diese Tonträger noch nicht Audiobook. Der vom DerHörVerlag benutzte neue Name suggeriert, daß es sich um ein bislang in Deutschland nicht dagewesenes Produkt handelt, welches der aufgeklärte Mensch besitzen sollte, weil es dem „Zeitgeist“ entspricht. Er soll vom Blinden- und Sehbehindertenmedium weg- und zum Modeartikel für jedermann hinführen.

4.1 Hören und Zuhören

Die Wurzeln des Hörbuches liegen in der Tradition des Erzählens und des Vorlesens. Während bis zur flächendeckenden Alphabetisierung Texte gleich welcher Art weitgehend mündlich tradiert werden mußten, scheint das Vorlesen heute nur noch für Kinder und Sehbehinderte selbstverständlich zu sein, sofern es sich nicht um Lesungen handelt, die Erwachsene in die Rubrik „Kulturelle Bildung“ und nicht in „Vorlesen“ einordnen.

Vorlesen bedeutet (zurück)gewonnene Unmittelbarkeit und Sinnlichkeit. [...] Immer wieder kommen beim Nachdenken übers Vorlesen Kindheitsbilder herauf. Denn die damalige Kuscheligkeit ist in reiner Form nicht wieder zu haben; das kollektive Gedächtnis bewahrt sie im Bilde der vorlesenden Großmutter: real selten, hartnäckig als Mythos. 24

Zuhören bei einer Darbietung ohne Bilder, zum Beispiel eines Hörbuches, bedeutet für den Rezipienten, sich „in besonderer Weise auf das gesprochene Wort oder die Musik zu konzentrieren.“ Das ausschließliche Benutzen des Hörsinns bietet Raum für „Assoziationen,

für eigene Bilder im Kopfe des Hörers, und läßt dessen Gedanken ins Weite schweifen“ 25 . Zuhören verlangt im Falle des Hörbuches sogar mehr Konzentration als das gedruckte Buch.

Zuhören, wie jemand vorliest, ist etwas ganz anderes als selber lesen. Wenn du selber liest, kannst du dir Zeit nehmen oder die Sätze rasch überfliegen - du bist es, der das Tempo bestimmt. Wenn dir jemand vorliest, muß du dich ständig bemühen, deine Aufmerksamkeit mit seinem Lesetempo in Einklang zu bringen - mal liest er zu schnell und mal zu langsam. 26

Lesen läßt auch die Freiheit zu, Seiten zu überspringen, sie hin- und herzublättern und sinnlich zu erfassen. Die Hörkassette muß erst umständlicher an die passende Stelle gespult werden. 27 Während das Lesen nach ermüdender Bildschirmarbeit und visueller Reizüberflutung durch übermäßiges Fernsehen zusätzlich anstrengt, kann ein Audiobuch Entspannung bieten. „Man kann es hören wie gute Musik.“ 28

4.2 Hörbuch und Hörspiel in Rundfunkwortprogrammen

Der Rundfunk begann 1917 in Deutschland als Kriegsfunk mit Wortbeiträgen. 1923 wurde zunächst in Berlin ein regelmäßiger, täglicher Sendebetrieb aufgenommen. Das Programm bestand fast zur Hälfte aus Wortbeiträgen wie Berichten, Vorträgen, Literatur und Morgenfeiern. Die Rezitation von Heinrich Heines Seegespenst ist 1923 das erste literarische Wortprogramm im deutschen Rundfunk. Ab 1924 wurden regelmäßig Hörspiele ausgestrahlt, zu denen beispielsweise Gottfried Benn, Bert Brecht oder Alfred Döblin wichtige Beiträge lieferten. 29 Grob in Typen unterschieden, bestand das frühe deutsche Hörspiel aus Bearbeitungen klassischer wie zeitgenössischer Bühnendramen, aus Unterhaltungs- und realistischen Stoffen (zum Beispiel Bert Brechts Flug der Lindbergh 1929).

Nachdem die Nationalsozialisten den Rundfunk zur ideologischen Massenbeeinflussung nutzten und die Hörspielkunst vernachlässigten, erlebte sie nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine neue Blütezeit. Der Rundfunk wurde von den Besatzungsmächten zur

Re-education und Kulturförderung benutzt. Die Wortprogramme ersetzten das Theater, die Zeitungen und Zeitschriften. Prominente Autoren wie Ingeborg Bachmann, Wolfgang Borchert und Max Frisch gehören zu den wichtigen Hörtextverfassern der Nachkriegszeit.

Künstlerisch entwickelte sich das Hörspiel immer mehr zur eigenen literarischen Form, aus der in den sechziger Jahren das „totale Schallspiel“ mit seinen abstrakten Geräuschkollagen und in den siebziger Jahren Originaltoninszenierungen hervorgingen. Die Masse der Hörer wandte sich mittlerweile verstärkt dem Fernsehen zu.

Die achtziger und neunziger Jahre sind dadurch gekennzeichnet, daß die deutschen Rund- die Musikprogramme in den Vordergrund stellten und Wortbeiträge auf ein Minimum reduzierten. Zwar gibt es auf den musikorientierten Unterhaltungssendern regelmäßig zu festen Sendezeiten ausgestrahlte Comedy-Beiträge, die eine Art Extrem-Kurzhörspiel darstellen, aber mit literarischen Wortbeiträgen nicht vergleichbar sind. Um qualitativ gute Wortsendungen hören zu können, müssen Interessierte auf Nebenprogramme umschalten. 30 Dort finden sie ein Hörspiel- und Hörbuchmekka vor. Liebhaber gesprochener Literatur werden in Deutschland von den öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten verwöhnt. Jeder noch so kleine Sender verfügt über eigene Abteilungen. Einschaltquoten, die allerdings nichts darüber aussagen, ob jemand bis zum Ende der Sendung dabeibleibt, von 2,6 Prozent entsprechen ca. 200 000 Hörern - Interessentenzahlen, von denen Verlage oder Theater träumen. Da die Sender mit ihren Produktionen keine Gewinne machen dürfen, verschwinden trotz Wiederholungen wahre Schätze in Archivräumen. Diese auszugraben und der Allgemeinheit zugänglich zu machen, hat sich der DHV zum Ziel gesetzt. 31 Existiert eine mehrteilige Radio-Lesung als Hörbuch, kann in solchen Fällen der Kauf der Tonträger die mühsame Suche nach verpaßten und zufällig von anderen Hörern aufgenommenen Folgen ersparen.

4.3 Das Worttonträgerangebot in den USA und in Großbritannien

In den sechziger und siebziger Jahren stießen Literaturtonträger in den USA bereits auf ein großes Interesse. Besonders aktuelle Bestseller verkauften sich in hohen Zahlen. Seit dem

Ende der achtziger Jahre boomt der Wortkassettenmarkt in den USA mit einem jährlichen Umsatzwachstum um zehn Prozent und einem Umsatzvolumen von vier Milliarden Dollar im Jahr 1996. 32 Bis zum Jahr 2000 wird eine weitere Steigerung von rund 23,5 Prozent erwartet, wobei die größten Wachstumssprünge bei den Segmenten Belletristik und Ratgeber und Motivation stattfinden sollen. Allerdings wird gleichzeitig erwartet, daß der Absatz prozentual bis zum Ende des Jahrtausends schwächer ansteigt als von 1994 bis 1996. 33 1985 hatten nur 8 Prozent der amerikanischen Bevölkerung Bücher auf Kassette gehört. 1994 waren es knapp 25 Prozent. 34 Die Marktchancen des neuen Mediums wurden früh erkannt, und schon 1986 schlossen sich die größten amerikanischen Verlage und Duplizierer zur „Audio Publishers Association“ (APA) zusammen. Als Ziele verfolgt sie die „Durchsetzung hoher Qualitätsstandards bei der Produktion und Veröffentlichung von Wortkassetten ebenso wie die Promotion und Öffentlichkeitsarbeit zur Steigerung ihrer Marktanteile“ 35 .

In den USA werden Literaturtonträger mit 34 Prozent der verkauften Exemplare in erster Linie über den Versand(buch)handel vertrieben. Darauf folgen Supermärkte und Kaufhäuser mit 24 Prozent und der Musikfachhandel mit 8 Prozent. Buchhandlungen haben am Vertrieb nur einen Anteil von 15 Prozent und verzeichnen sogar eine leicht rückläufige Tendenz um 1 Prozent. 36

Angesichts der sinkenden Zahl der Buchläden durch die Aufgabe von Geschäften, die sich wegen der fehlenden Preisbindung besonders in kleineren Orten nicht halten konnten, muß das Angebot notwendigerweise auf anderen Vertriebsschienen erscheinen. So finden sich in größeren Autobahnraststätten Drehregale mit Hörbüchern, und Audio Adventures entwickelte sogar ein Leihsystem entlang der Highways, bei dem die Kunden an einer Station Kassetten ausleihen und bei der nächsten wieder zurückgeben können. Rund 80 000 Mitglieder nutzen diesen Service. 37 Reine Hörbuchläden sind zwar seltener, bieten dafür aber gleich eine Auswahl von bis zu 10 000 Kassettentiteln.

Vom Angebot her scheint es für jede Altersstufe übergangslos alles Erdenkliche zu geben. Es reicht vom Selbsthilfebuch bis zur Prominentenbiographie, John Grisham und Steven King über Shakespeare und Charles Dickens bis zu klassischen Hörspielproduktionen. Nachdem das Motto „Books are long and life is short“ 38 in bezug auf Textkürzungen ausgereizt war, tendiert auch der amerikanische Hörer wieder mehr zu weniger rigoros gelichteten Fassungen. Margaret Mitchells Gone with the Wind besteht ohne Striche aus dreißig Kassetten.

Typisch für den amerikanischen Markt ist auch die Nutzung des Mediums hauptsächlich während der Reise und beim Pendeln von und zur Arbeit. Unter dem Motto „Double your time“ werden stundenlange Fahrten mit ca. 100 km/h über endlose Highways zum Informationserwerb genutzt. 39

Von großen Verlagen werden Niedrigpreis-Sortimente in Supermärkten angeboten, die weitere Zielgruppen erschließen sollen. Random House ging 1993 mit der Billig-Reihe „price less“ auf den Markt, in der bestimmte Titel ein Jahr nach der Markteinführung zum halben Preis von 8,99 Dollar verkauft werden. Gekürzte Fassungen des Anbieters Durkin Hayes sind sogar schon für 4,99 Dollar erhältlich. Die zum Teil enormen Erfolge von Hörbüchern haben mittlerweile aber auch die Lizenzgebühren gewaltig in die Höhe getrieben. Audio-Rechte rücken in der Werteskala den Filmlizenzen immer näher. 40

Auch in Großbritannien liegt das Hörbuch im Trend:

Heard the spoken word from the U. K.? Audiobooks are staking their claim as one of the industry’s success stories for the 1990s, as heavyweight publishers, major labels and distribution giants come together to take a gleeful share of this expanding market. 41

In den vergangenen Jahren explodierte der Markt förmlich. Hörbücher erreichten auf dem Wortkassettensektor einen Marktanteil von 30 Prozent und erschienen so zahlreich, daß die Käufer zeitweise zwischen acht unterschiedlichen Ausgaben von Jane Austens Pride and Prejudice zu Preisen von 5 bis 25 Pfund wählen konnten. Anfang 1996 bereinigte und

beruhigte sich der Markt nach der enormen Titelschwemme wieder. Etliche Produzenten sprangen nach zwei Jahren wieder ab. 42

Zu den Hauptanbietern zählen die BBC, HarperCollins, Hodder Headline, Reed und Ran- House. Sie verfügen über umfangreiche Archive mit Hörbuchadaptionen sowie Backlists. Nachdem die Anzahl der Konkurrenten abnahm, stieg mit der Qualität der Titel auch der Preis. Die Spoken Word Publishers Association (SWPA) nennt als Hauptvertriebswege den Buch- und Musikfachhandel, prognostiziert jedoch ein starkes Wachstum für den Direkt-Vertrieb, Kioske und Tankstellen. 43 Reine Hörbuchgeschäfte sind in Großbritannien selten. Der Anbieter The Talking Book Shop in London wartet dafür sogar mit Online-Bestellmöglichkeiten im „Internet Talking Book Shop“ auf.

Bestseller des Jahres 1996 ist die Geschichte Großbritanniens, die von der BBC unter dem Titel The Sceptered Isle als Paket mit zwölf Kassetten angeboten und im letzten Jahr 65 000mal verkauft wurde. „Square One“, ein britisches Fachmagazin für Audiobooks, stiftete 1995 einen Hörbuchpreis, der dem Medium zu einem größeren Bekanntheitsgrad verhelfen sollte.

Die Situation des amerikanischen Marktes läßt sich nicht ohne weiteres auf den europäi- übertragen. Die Voraussetzungen sind zu unterschiedlich. Kritiker des Hörbuches führen gerne ins Feld, daß in den USA die Zahl der Analphabeten wesentlich höher liegt als in Europa. 1993 wurde sie in den Vereinigten Staaten auf 10 Prozent geschätzt, was 60 Millionen Menschen entspricht. In Deutschland vermutet die Unesco 3 bis 4 Millionen leseunkundiger Personen, also ca. 5 Prozent der Bevölkerung. 44 Zu klären bleibt, warum das Hörbuch in Europa nur in Großbritannien bisher große Erfolge erzielt, obwohl in der Bundesrepublik scheinbar ähnliche Bedingungen herrschen.

Im Gegensatz zu deutschen Anbietern haben die englischen einen entscheidenden Startvor- Der Fundus an muttersprachlicher Literatur auf Tonträgern ist riesig, da der amerikanische Markt offensichtlich alle vorstellbaren Sparten ausgeschöpft hat. In Deutschland

41 P. Sexton: Sound symbiosis: UK’s record and publishing industries join to realize a-books’ potential (13.08.1994), S. 72.

wird vielfach die geringe Auswahl von Audiobooks kritisiert. Besonders die große Alters- der Zwölf- bis Zwanzigjährigen, die Bibi Blocksberg und Benjamin Blümchen nicht mehr hört, findet auditiv zu Thomas Mann und Uwe Johnson keinen Übergang. Die Verlage in den USA bieten schon lange alles. Der Einstieg in den britischen Markt fällt ihnen leichter als in die übrigen europäischen, da sie direkt exportieren können und nicht erst in eine Fremdsprache übersetzen müssen. Von daher ist das Ausgangsangebot in Großbritannien viel breiter gefächert als in Deutschland und präsentiert sich somit effektiver. 45 In der Bundesrepublik steigt das Angebot zwar kontinuierlich und orientiert sich auch am amerikanischen Markt, ist aber von dessen Titelzahlen weit entfernt.

4.4 Die Entwicklung des Worttonträgerangebotes in Deutschland 46

1910 kamen in Deutschland die ersten Schallplattenaufnahmen mit Vorträgen klassischer Dichtung auf den Markt. Die Marktanteile blieben jedoch gering. Nach 1945 wurden Hörspielplatten und Lesungen für Kinder publiziert, wobei das Angebot für Erwachsene selbst mit der Einführung der handlicheren Audiokassette im Jahr 1965 eine Ausnahme bildete. In dieser Zeit wurde den Literaturtonträgerangeboten in den USA und in Großbritannien schon wesentlich mehr Interesse entgegengebracht. Der Markt in Deutschland hinkt dem der USA mindestens zwanzig Jahre hinterher.

Angeregt durch die Absatzerfolge in den USA und im Vereinigten Königreich, begannen in den achtziger Jahren einige der größeren Verlage und Schallplattenfirmen, eigene Hörbücher zu produzieren. Die Resonanz blieb verhalten. Zum Teil wurde die Produktion wieder eingestellt. Bis auf das Segment Kinderkassetten konnten keine nennenswerten Erfolge erzielt werden.

Durch den Absatz an öffentliche Bibliotheken waren in den sechziger und siebziger Jahren kleinere Anbieter mit spezifischen Wortkassetten-Programmen wenigstens in der Lage, wenn auch nur mit kleinen Auflagen, kontinuierlich produzieren zu können.

4.5 Die Einsatzmöglichkeiten des Hörbuches

Es soll Autofahrer geben, die sich auf den morgendlichen Stau auf dem Weg zur Arbeit freuen, weil er ihnen mehr Zeit verschafft, ihrem neuesten Hörbuch zu lauschen. Doch nicht nur Pendler und Langstreckenfahrer werden von den Hörbuchanbietern umworben. Die Einsatzmöglichkeiten des Mediums scheinen geradezu unerschöpflich. Stereoanlage, Autoradio, Disc- und Walkman machen gesprochene Literatur im Gegensatz zur Printausgabe in fast jeder Lebenslage zugänglich. So richtet sich die Werbung angefangen bei Sportlern, vor allem Joggern oder Trimmradfahrern, Pendlern, Zugreisenden, Fluggästen an Hausfrauen, die sich beim Bügeln bilden wollen, oder an Urlauber, die entspannt am Swimmingpool Literatur genießen möchten, „ohne sonnenbrillenbewaffnet gegen die Sonne anzukämpfen und schließlich mit Arm- und Nackenschmerzen resigniert aufzugeben“ 47 . Bleiben noch Lehrer, die ihren Schülern im Unterricht Originaltöne bekannter Autoren präsentieren und Beschäftigte, die viel am Computer arbeiten und ihre Augen am Ende eines Tages nicht mehr belasten möchten.

Bei Betrachtung der vielfältigen Einsatzmöglichkeiten dieses „Universalmediums“ scheint einem Hörbuch-Boom nichts im Wege zu stehen. Die praktische Seite der Benutzung - bis hin zu der aufgekommenen Frage: „Und was mache ich mit der Kassette, wenn ich sie einmal gehört habe?“ - sollte jedoch nicht außer acht gelassen werden. Was banal erscheint, hat (vielleicht auch bei Überprüfung des eigenen Verhaltens?) durchaus seine Berechtigung, erwähnt zu werden, weil genau diese Punkte von Kritikern und Zweiflern gern ins Feld geführt werden.

Hörbücher werden auf Kassette oder CD angeboten und auf entsprechenden Geräten abge- Generationen, die mit diesen Medien aufgewachsen sind, besitzen in der Regel zumindest eine Kassettenabspielmöglichkeit in Form einer Stereoanlage und/oder eines Walkmans. Ältere Menschen dagegen verfügen oft nur über ein Radio, weil sie sich von der modernen Technik überfordert fühlen. 48 Eine Stereoanlage ist weitgehend immobil. Hörer sind daran gebunden, in einem Raum zu bleiben oder die Lautstärke stark zu erhö- hen. Das mag beim Bügeln oder Staubwischen möglich sein, bei kurzfristigen Tätigkeiten in verschiedenen Räumen treten Schwierigkeiten auf. Ein Walkman mag hier die logische

Alternative sein. Wären da nicht die Batterien, die immer an den spannendsten Stellen leer sind und neu beschafft werden müssen, wenn sich nicht zufällig geladene im Rucksack befinden. Auch Akkus bieten aufgrund der höheren Anschaffungskosten und geringeren Spieldauer keine nennenswerte Alternative.

Der Walkman mit rutschfesten Kopfhörern ist bei Joggern ein beliebtes Requisit. Der Discman hat ihm gegenüber für Sportler den Nachteil, daß er zu leicht auf Erschütterungen reagiert. Discmen in Flugzeugen sind wie Handys nicht bei allen Linien erlaubt, also für Reisen nur bedingt geeignet.

Die Chancen, von Antriebsproblemen ungestört, eine längere Zeit einem Text zuzuhören sind im Auto am größten. Besitzer vornehmlich älterer Kleinwagen könnten auf Probleme stoßen: Oft übertönen die Nebengeräusche des Fahrzeugs den Text. Das größere Problem im Auto stellt das Tonträgerwechseln mit dem damit verbundenen Greifen und Aus-der-Hülle-nehmen der richtigen Anschluß-CD oder -Kassette dar, wenn nicht angehalten werden soll. Besonders im Dunkeln sind Beschriftungen schwer lesbar. Auf den Tonträgern selber wird selten angesagt, auf welche Seite gerade eingelegt wurde. Ein Verlag teilte mit, daß eine Studie des TÜV Bayern die Ungefährlichkeit von Worttonträgern während der Autofahrt ergab.

Der Einsatz in Kraftfahrzeugen liegt nach Ergebnissen der Marktforschung mit an der Spitze der Nutzungsorte von Literaturtonträgern. 49 Hiesige Zweifler des Audiobook-Booms bemerken, daß in Deutschland andere Bedingungen als in Amerika herrschen, die sich zum Beispiel darin ausdrücken, daß hier mangels Streckenlängen nicht tagelang durch einsame Wüsten gefahren werden muß, ohne eine menschliche Stimme außer der des Hörbuchsprechers zu vernehmen. Jedoch läßt auch die Konzentrationsfähigkeit amerikanischer Autofahrer nach fünfstündigem Zuhören stark nach. Und fünfstündige Autofahrten sind auch in Deutschland keine Seltenheit. In den USA gibt es keine flächendeckenden Radiosender mit überwiegendem Wortanteil wie den Deutschlandfunk, den man von Flensburg bis Berchtesgaden durchgängig hören kann. Der Carl-Auer-Systeme-Verlag vertreibt beispielsweise, genau ausgerichtet auf die Zielgruppe der Autofahrer, ein Programm mit demTitel Autobahnuniversität.

Natürlich können Hörbücher ebenfalls ohne Neben-(oder Haupt-?)beschäftigung konsu- werden, wobei das Stillsitzen und akustische Genießen erst wieder gelernt werden muß. Auffällig ist ebenfalls, daß entsprechende Bedenken bei Büchern nicht geäußert werden. Gedruckte Literatur muß ihre Daseinsberechtigung nicht mehr nachweisen.

5.1 Die Produktion

Damit deutlich wird, wo in Deutschland die Probleme des aufstrebenden Hörbuchmarktes liegen, ist es notwendig, den Produktionsweg eines Literaturtonträgers darzustellen, weil in ihm bereits viele Stolpersteine auf dem Weg zum Erfolg enthalten sind.

5.1.1 Die Textauswahl

Texte, die ins Programm aufgenommen werden sollen, lassen sich aus verschiedenen Quellen schöpfen. Dabei stoßen die Verlage auf unterschiedliche Schwierigkeiten. Soll ein Text gewählt werden, der noch nirgendwo als Hörbuch veröffentlicht wurde? Soll er als (Autoren-) Lesung oder als Hörspiel produziert werden? Soll es ein Text sein, der schon in einer gesprochenen Version vorhanden ist und neu aufgenommen wird? Oder handelt es sich um ein Hörspiel, das ebenfalls entweder schon als fertiges Kunstwerk vom Rundfunk übernommen wird oder noch als Manuskript vorliegt?

Eine der ersten Hürden, die bei der Auswahl eines Textes überwunden werden muß, ist der Einkauf der Lizenz. Während in den USA Audio-Rechte teilweise ähnlich umkämpft sind wie Filmrechte 50 , die in manchen Fällen mit ihnen als Paket verkauft werden, und die Preise in astronomische Höhen klettern, ist es auf dem deutschen Markt stiller. 51 Probleme gab es bereits bei amerikanischen Lizenzforderungen an deutsche Verlage. In Deutschland

49 Vgl. H. Heidtmann: Facelifting für Literaturtonträger? (1996), S. 922.

wächst der Hörbuchmarkt zwar, hat aber noch lange nicht die Ausmaße erreicht wie in den USA. Den Geschäftspartnern in Übersee mußte erst deutlich gemacht werden, daß sich der Markt hierzulande noch im Experimentierstadium befindet. 52 Deshalb gehen deutsche Verlage zunehmend diesen Lizenzverhandlungen aus dem Weg, indem sie eigene Titel auf Tonträgern produzieren 53 . Für kleine Verlage sind Bestseller-Lizenzen selten erschwinglich, so daß es Aufgabe der Großen wäre, hier die Initiative zu ergreifen.

Von der Zweitverwertung ihrer Produktionen über Lizenzgebühren profitieren die Rund- finanziell nur wenig. Für sie wiegt der Werbeeffekt mehr. Wortprogramme im Radio finden wieder größere Beachtung. 54

Auch am Mitspracherecht der Autoren kann eine Produktion schon im Vorfeld scheitern. Patrick Süskind wehrte sich zehn Jahre lang gegen eine Audioversion seines Romans Das Parfüm. Erst 1995 gelang es Litraton in Hamburg, den Autor für das Projekt zu gewinnen und damit den Großkonzern Bertelsmann auszustechen, der das Dreifache für die Rechte geboten hatte. 55

Nicht alle Texte eignen sich überhaupt für eine Umsetzung in die Hörbuchform. Obwohl das Angebot in den Sparten sehr vielfältig ist, gibt es für dieses Medium in seiner Reinform Grenzen. Lexika, Nachschlagewerke oder Kochrezepte sind wegen der meist enthaltenen Grafiken und Illustrationen und der damit problematischen Anwendung nicht zu empfehlen. Dies schließt Comics ein. Aber auch Texte, die eine ständige Reflexion erfordern oder „keine Melodie haben“, sind akustisch schwer rezipierbar. Das Auge kann beim Lesen leicht einen Absatz mehrmals hintereinander erfassen, wogegen ein Tonträger viel mühsamer und zeitaufwendiger an die richtige Stelle gebracht werden muß. Kabarettistische Texte müssen auch nach einem längeren Zeitraum noch aktuell sein, sonst ist die Produktion mangels Interesse am Thema nicht mehr absetzbar. Die möglicherweise nicht ganz ernst gemeinte Antwort eines Verlages hat einen plausiblen Hintergrund: Helmut Kohls Ich wollte die Einheit wäre aufgrund der sprachlichen Präsentation eventuell eine wenig erfolgversprechende Autorenlesung, aber mit einem anderen Sprecher sinnlos.

Warum „Bestseller der neueren Art“ nicht geeignet sein sollen, erscheint rätselhaft, da gerade ihr Absatz steigt.

Im April 1997 meldete das Börsenblatt, daß der Musikindustrie jährlich ein Schaden von 130 Millionen D-Mark durch das illegale Kopieren von Musikmedien entstünde. Raubkopien von Pop-Titeln werden primär vertrieben, wobei die CD zu 90 Prozent der bevorzugte Tonträger sei. 56 Pop-Musik ist international anbietbar, da sie weltweit gehört werden kann, ohne daß die Hörer den Text der Lieder verstehen müssen. Worttonträger sind für eine Person, die die verwendete Sprache nicht beherrscht, von geringem Interesse. Von daher dürfte der Export von illegal kopierten Audiobooks in anderssprachige Länder gering sein. Bei steigenden Absatzzahlen stellt sich die Frage, ab wann auch Hörbücher als lukratives illegales Kopiergeschäft angesehen werden. Es ist interessant, wie die Hörbuch-Verlage mit diesem Problem umgehen und ihm entgegenwirken.

Es herrscht Einigkeit. Außer der mündlichen und schriftlichen Angabe des Copyrights auf den Tonträgern und ausgeschlossenem Rückgaberecht weiß nur einer eine Lösung. Dieser Verlag beruft sich leider auf sein Betriebsgeheimnis und verrät seine Methode nicht. Raubkopieren ist praktisch nicht verhinderbar, wobei einige der Befragten angaben, bislang auf keine Probleme gestoßen zu sein oder „dringendere Sorgen zu haben“.

5.1.2 Textbearbeitungen und Spielzeiten 57

Ein immer wiederkehrender Kritikpunkt an reinen Hörbüchern wie Lesungen ist der Grad ihrer Bearbeitung. Lange Romane werden ohne Kürzungen von den Produktionskosten und damit dem Verkaufspreis her für den Massenabsatz zu teuer. Branchenkenner fürchten neben den zahlreichen anspruchslosen Unterhaltungsprogrammen als Folge die Verbreitung von „Literatur light“ 58 . Im Gegensatz zu den Amerikanern würden in Deutschland ungekürzte Fassungen bevorzugt. Hier sind Texte noch heilig und größere Eingriffe ein Tabu. In den USA stellen sich die Verleger eher auf die Gewohnheiten der Kunden ein und kürzen die Vorlagen zum Teil radikal. Mit dem Slogan „Books are long and life is short“ wirbt eine amerikanische Audiobook-Firma für leicht bekömmliche Literaturhäppchen von

3 bis 4 Stunden Länge. 59 Jan Nathen, Geschäftsführerin der Audio Publishers Association, begründet diesen Umgang damit, daß die Hörer nur so viel vom Inhalt erfahren wollen, um im Bekanntenkreis mitreden zu können. Es gibt jedoch auch Autoren wie Stephen King oder John le Carré, die eine Kürzung ihrer Texte verbieten. 60 Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, der die Ausweitung der Hör-Literatur begrüßt, setzt dagegen, daß auch Ausschnitte von Romanen - ähnlich wie solche von Opern - das Interesse wecken können. 61 Ausschnitte sind jedoch etwas anderes als Kürzungen, wenn der jeweilige Text vollständig dargeboten wird. Der Erfolg solcher Produktionen ist zweifelhaft.

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Abb. 9: Spielzeiten nach Segmenten in den USA Abb. 10: Spielzeiten nach Segmenten in Deutschland

1996 62 1996 63

In den USA und in Deutschland sind die Spielzeiten der meistverkauften Segmente Belle- und Motivational am längsten, wobei die Aufnahmen in den Vereinigten Staaten durchschnittlich 70 Minuten mehr enthalten als die in der Bundesrepublik produzierten. In Deutschland sank dazu die Spielzeit der Kategorie Audiobook, die hier Literaturtonträger meint, im Vergleich zu 1993 um etwa eine Dreiviertelstunde. Sachthemen beanspruchen fast eine Stunde mehr Zeit, wobei zu beachten ist, daß bei diesem Genre Kürzungen aus inhaltlichen Gründen nicht angebracht sind.

Ende der Leseprobe aus 99 Seiten

Details

Titel
Der Hörbuchmarkt in Deutschland
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg
Note
1.7
Autor
Jahr
1997
Seiten
99
Katalognummer
V185652
ISBN (eBook)
9783656982715
ISBN (Buch)
9783867465496
Dateigröße
979 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
hörbuchmarkt, deutschland
Arbeit zitieren
Ute Hennig (Autor:in), 1997, Der Hörbuchmarkt in Deutschland, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185652

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