Die Rolle der Musik in Peter Handkes Schriften


Magisterarbeit, 1983

82 Seiten, Note: 1.7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

A. Der Hintergrund der literarischen und gesellschaftlich- kulturellen Entwicklungen, die zu einer literarischen Rezeption von Popularkultur führten
1. Die Tradition der Beats, deren literarische Verfahren in mehrfacher Hinsicht richtungweisend für die Handkegeneration waren
2. Die sozio-kulturellen Voraussetzungen zur litera- rischen Rezeption von Popularkultur
3. Die Bedeutung der Rezeption von Popularkultur für die Literatur (BRD)

B. Die Arten der Musik in den Schriften Peter Handkes
1. Rock Pop Beat
1.1. Die Musikbox
1.2. Rockmusik im Theaterstück und Hörspiel
1.3. Objets trouvés, Cut-up Collagen et al aus dem Bereich der Rockmusik
1.4. Rockzitate als Motto
1.5. Rockzitate im Text
1.5.1. in Übersetzung
1.5.2. im Originalzitat
1.6. Rocksongs als Identifikationslieder
1.7. Probleme und Perspektiven der literarischen Integration von Rock/Popmusik
2 Muzak - Musik im Alltag - Gebrauchsmusik
3. Schlager
4. Karawanenmusik
5. Musik und Glück

C. Ausklang

Anhang:

Diskographie zu den Schriften Peter Handkes

Literaturverzeichnis

A. Der Hintergrund der literarischen und gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungen, die zu einer literarischen Rezeption von Popularkultur führten

Der 1942 in einem kleinen Ort in Kärnten, Österreich, geborene Schriftsteller Peter Handke gehört in die Reihe der Autoren, die es Ende der sechziger Jahre in Deutschland mit ihrem Interesse an Rock-, Popmusik und -Kultur nicht auf der Ebene der privaten Auseinandersetzung bewenden ließen, sondern diese Elemente ganz bewußt in ihre Literatur aufnahmen. Er und Schriftstellerkollegen wie Rolf Dieter Brinkmann, Wolf Wondratschek et al folgten in diesem Punkt der amerikanischen Pop-Literatur. „Die neuen Anti-Götter, Anti-Helden, Nach-Götter und Nach-Helden entsteigen den Welten des Jazz, des Rock, der Schlagzeilen und der Comics, der alten Filme"1 konstatierte 1968 der amerikanische Literaturprofessor Leslie A. Fiedler in seinem Freiburger Vortrag zur Standort- und programmatischen Schwerpunktbestimmung der neuen postmodernen Literatur. Ein sinnvoller Zugang zum Verständnis dieser neuen Haltung läßt sich nur auf dem Hintergrund der folgenden literarischen und gesellschaftlich-kulturellen Entwicklungen und Zustände erreichen.

1. Die Tradition der Beats, deren literarische Verfahren in mehrfacher Hinsicht richtungweisend für die Handkegeneration waren

Unter der Herrschaft des US-Senators Josef McCarthy (1950 - 1954) hatte die Mehrheit der Künstler sich infolge der allgemein herrschenden Atmosphäre von Furcht und Verunsicherung, die zur Ausbreitung von Mittelmäßigkeit und Konformismus führte, “in den abstrakten Expressionismus und Formalismus"2 zurückgezogen. Diese , „unnatürliche, hochästhetische Ruhe wurde nicht lange von den Künstlern hingenommen. Angst und Unzufriedenheit verlangten nach Ausdruck.“3 Es waren dann die Beats, eine Gruppe amerikanischer Autoren der Nachkriegsgeneration aus San Francisco, Los Angeles und später auch New York, die diesen Gefühlen eine erste öffentliche Artikulation verleihen sollten. Bekannteste Vertreter dieser in den Jahren 1955 - 1962 wichtigen Bewegung sind Autoren wie Allen Ginsberg, Lawrence Ferlinghetti, Michael Mc Clure, Frank O'Hara, W. Burroughs, Jack Kerouac, dessen Roman On The Road4 als das eigentliche Manifest dieser Bewegung zu gelten hat und als solches von großem Einfluß auf die nachfolgenden Schriftstellerbewegungen war. Hauptziel der Beats bestand darin, gezielten Widerstand gegen den von ihnen als allzu eingefahrenen und damit als erdrückend empfundenen american way of life als Ausdruck der modernen amerikanischen Konsumgesellschaft zu leisten; zur selben Zeit versuchten sie „den trockenen, präzisen und berechnenden Versen der akademischen Dichter, die gerade damals glaubten, die einzigen amerikanischen Dichter zu sein, die dieses Namens würdig wären"5 eine Lyrik und Prosa entgegen-zusetzen, die den von ihnen geschätzten Werten wie Spontaneität, Vorurteilslosigkeit, Nonkonformismus, et al zum Ausdruck verhelfen sollten. Ein weiteres wichtiges und trendsetzend innovatives Moment bestand in ihrem Vorgehen, ungewöhnliche und aufsehenerregende Lesungen zu halten, die nicht selten eine Verbindung von improvisierter live-Jazzmusik und lyrischen Darbietungen waren.

„Jazz music is both a therapeutic and saved ritual, in addition, of course, to its many secular uses ... Knowing the language of jazz, its musical language, and sharing it with others in a closed company of the initiated, is perfectly in keeping with its secret religious character. Add to this its special hipster jive and you have something very much like a mystique of jazz ... To the beat generation it is also a music of protest Being apolitical does not preclude protest."6

2. Die sozio-kulturellen Voraussetzungen zur literarischen Rezeption von Popularkultur

Mit der Literatur der Beats, die als die eigentlichen Vorläufer der Hippies gelten, war eine Welle jugendlicher Protestbewegung eingeleitet worden, die Ende der sechziger Jahre sowohl in den USA als auch im westlichen Europa in den verschiedensten Äußerungsformen ihren Höhepunkt (und ihr baldiges Ende) fand. Das bereits von den Beats geäußerte Unbehagen an dem allzu selbstgefälligen american way of live und ihre Versuche, den ‚anderen Amerikaner‘ zu entwerfen, fanden ihre Fortsetzung in den zunehmend demonstrativer und dringlicher werdenden Ausbruchsversuchen der Hippies aus der als unbehaglich empfundenen Wohlstandsgesellschaft, die mit ihrer „Kluft zwischen der offiziösen Liberalismus-Ideologie der ,Permissive Society', die individuelle Freiheit verhieß, und den vielfältigen Zwängen, denen der Einzelne in der hochtechni­sierten Industriegesellschaft de facto unterworfen“7 war, mehr und mehr als psychische Belastung für das Individuum von den jungen Amerikanern verspürt8 wurde. Nach Jerry Rubin, Mitbegründer der ab 1967 offiziell existierenden amerikanischen Yippie9 -Organisation, hat die Überflußkultur mit dem ihr eigentümlichen Widerspruch zwischen der Unmittelbarkeit des Warenangebots auf der einen Seite und dem starren Funktionalismus des Arbeitsprozesses auf der anderen Seite, als auslösendes Moment der jugendlichen Protestbewegung der sechziger Jahre zu gelten.

Simultan zu dieser Gegenkultur entwickelte sich nun ausgehend von San Francisco, dem Geburtsort des Hippietums, und London neben der gängigen Unterhaltungsmusik, eine neue Pop-Musik. Dominierten in der Zeit vor dem Rock 'n' Roll schwülstig-sentimentale Schlager, die sogenannten Mondscheinballaden und Instrumental- einspielungen von seit den dreißiger Jahren beliebten Combos und Bigbands à la Glenn Miller Orchestra, den weißen Unterhaltungsmarkt, so war allmählich mit dem wachsenden Selbstbewußtsein der Jugend ein wesentlich von der schwarzen Musik des Country Blues und des Rhythm 'n' Blues beeinflußter Musikstil entstanden, der den Jugendlichen bessere Möglichkeiten der Identifikation bot. Auf dieser Grundlage konnte eine neue Popmusik entstehen, in der sich - nicht ausschließlich aber doch teilweise sehr nachdrücklich - der Protest der Jugendrevolte artikulierte.

,,Namen wie Elvis Presley, The Beatles, The Rolling Stones, Bob Dylan ebenso wie ihre Produktionen und die von ihnen vertretenen Stil-richtungen der Popmusik beherrschten praktisch die gesamte westliche Jugend, ... waren ein neuer way of life, drückten Weltsicht und Selbst­verständnis einer ganzen Generation aus, schufen so etwas wie eine Gegenkultur zum obermittelschichtigen Kultraum des klassisch-bürgerlichen Establishment"10.

Hier stellt sich nun die Frage, was den hohen Attraktionswert dieser neuen Popmusik ausmachte. Es sind im Wesentlichen:

(1) der hart durchgehende Beatrhythmus, der in seiner Einfachheit und Eingängigkeit auf der musikalischen Ebene Aggressivität, Sexualität und Dringlichkeit zum Ausdruck brachte und Freisetzung von ungeheurer Energie zuließ und
(2) die textlich-inhaltliche Umsetzung von Einstellungen, Gefühlen und Anliegen, die eine direkte Widerspiegelung der eigenen (alltäglichen) Erfahrungen der Musiker und der sie mitprägenden gesellschaftlichen Bedingungen war, und das in einer ebenso natürlich-alltäglichen, unsentimentalen Sprache.

Popmusik wurde durch die schnelle und potentiell weltweite Verbreitung durch die Schallplattenindustrie und die in diesem Punkt eng mit ihr zusammenarbeitenden Massenmedien zum unbestritten größten und populärsten Zweig der modernen Unterhaltungsindustrie und machte somit einen selbstverständlichen Teil des modernen Konsumalltags aus, dem sich zu entziehen immer schwerer wurde.

3. Die Bedeutung der Rezeption von Popularkultur für die Literatur (BRD)

In den sechziger Jahren vollzogen einige in den Nachkriegsjahren aufgewachsene Autoren eine Hinwendung zur englischen und amerikanischen Popmusik und –kultur, unter deren Einfluß sie geraten waren. Mit ihrer zum Teil recht intensiven und affirmativen Verarbeitung von Elementen der Popularkultur zeichnete sich ein neuer Trend in der Literatur ab und geschah gleichzeitig der Ausbruch aus der bis dahin recht streng gehaltenen Trennung zwischen U- und E-Literatur. Autoren der Trümmerliteratur wie Heinrich Böll und insbesondere Günter Grass hatten durch ihre Auseinandersetzung mit dem Alltag der Arbeiterklasse als literarischem Gegenstand Vorarbeit für die Blickwendung auf ihre Unterhaltung geleistet. Die bis dahin dem Bereich der Trivialliteratur zugeordneten Objekte des Massenvergnügens erfuhren nun durch die jungen Literaten eine gründliche Aus­wertung; im Falle von Rolf Dieter Brinkmann, der sich anfangs für die Anerkennung und Durchsetzung der Pop-Literatur stark gemacht hatte,11 kann man auch von einer versuchten Aufwertung sprechen. Peter Handke ging es allerdings niemals darum, der Rock/Popkultur zu einem höheren Stellenwert innerhalb des Kulturbereiches zu verhelfen, sondern vielmehr darum, gewisse Einzelheiten aus diesem von ihm geschätzten und bewunderten Bereich herauszugreifen und zu verarbeiten und das auf selbstverständlich-natürlich-unbefangene Art. Daß die literarische Rezeption von Elementen der Popularkultur nicht gleichweg mit einer „Vernachlässigung älterer Literatur- und Bildungsgüter"12 gleichzusetzen ist, exemplifiziert der Fall Peter Handke besonders deutlich; das selbstverständliche Nebeneinander von Elementen aus dem Bereich der Popkultur und solchen aus dem Bereich der klassisch-seriösen Hochliteratur macht bis heute ein wesentliches Stilmerkmal der Schriften Peter Handkes aus.

Im folgenden Hauptteil soll anhand von Beispielen aus seinen Schriften bis einschließlich Die Geschichte des Bleistifts aufgezeigt werden, in welcher Weise er konkret mit Motiven der Popmusik verfährt, wie und wo er sie einsetzt und welche Wirkungen er damit jeweils erzielt. Zugleich bedeutet eine Auseinandersetzung mit Musik bei Peter Handke notwendigerweise eine Auseinandersetzung mit Rock- und Popmusik der späten fünfziger bis frühen siebziger Jahre. Die entsprechenden Angaben zu den bei Handke behandelten Schallplatten enthält die Diskographie im Anhang der Arbeit.

B. Die Arten der Musik in den Schriften Peter Handkes

1. Rock Pop Beat

Rock ‘n‘ Roll nahm seinen Anfang mit dem aus Cleveland, Ohio, stammenden Radio DJ Alan Freed, der Anfang der fünfziger Jahre als erster Rhythm ‘n‘ Blues Schallplatten in seinen Sendungen spielte, den Begriff Rock ‘n' Roll prägte und schnell eine allgemeine Begeisterung bei den weißen heranwachsenden Jugendlichen Amerikas auslöste, die der banalen Musik der weißen Radiostationen längst überdrüssig geworden waren und im Rhythm ‘n' Blues, der machtvollen, aus den Südstaaten originierenden schwarzen Musik endlich das entdeckten, was ihnen und den nachfolgenden Generationen ein neues, eigenes Lebensgefühl vermitteln sollte. 1954 nahm der 1927 in einem Detroiter Vorort geborene Country und Western Sänger Bill Haley Rock Around The Clock (ursprünglich ein Hit von Ivory Joe Hunter in den amerikanischen R+B Charts) auf; im darauffolgenden Jahr war es bereits ein Hit in der ganzen Welt. Das war die Geburtsstunde der modernen Popmusik.

1.1. Die Musikbox

Mit dem Aufkommen des Rock ‘n' Roll begann auch die Blütezeit der Musikboxen, die man in den USA bereits seit den frühen dreißiger Jahren, in der Bundesrepublik erst ab Anfang der fünfziger Jahre kannte.1 Sie gehörte genauso notwendig in die Reihe der Zwänge und Erkennungszeichen der aufströmenden Rock 'n' Roll orientierten Jugend wie das Auto, das drive-in, der hamburger et al und erhielt Mitte der fünfziger Jahre in den USA, respektive Anfang der sechziger Jahre in der BRD einen ungeahnt hohen Stellenwert als Vermittlerfunktion zwischen Jugend und Popmusik, da sie neben dem Auto- und Kofferradio das teenagergerechteste Medium war, sich für wenig Geld über die anhaltend zunehmende Fülle von Neuerscheinungen auf dem Schallplattenmarkt zu informieren. Haupt-funktionsort der Musikbox waren Lokale, Eis-, Snack- und Kaffeebars.

In den Schriften Peter Handkes nimmt die Musikbox eine wichtige Rolle ein. Das läßt sich schon an der Häufigkeit erkennen, mit der er sie in seinen Büchern als wiederkehrendes Motiv vorkommen läßt; eine Vorliebe übrigens, die er mit dem Filmemacher und Freund Wim Wenders teilt. Bereits in seinem in den Jahren 1965 und 1966 entstandenen zweiten Roman Der Hausierer, zu dem der Kriminalroman das literarische Grundmuster lieferte, gehört eine Musikbox in die Reihe der einzelnen Gegenstände der alltäglichen Wirklichkeit, die, da sie der Geschichte dienen, beschrieben werden.2 Vor dem Mord erfahren wir „Der Greifer im Musikautomaten wandert auf und nieder, ohne bis jetzt eine Platte zu fassen."3 Noch sind die Verhältnisse geordnet und die Wahrnehmung der Wirklichkeit ungestört. Dann geschieht der Mord und mit ihm der Abbruch dieser vorher vermittelten Wirklichkeit. „Niemand kümmert sich in diesem Augenblick um den Musikautomaten"4, der, ungeachtet der durch den Mord eingetretenen Veränderungen, die vorher geltende, geordnete Wirklichkeit fortsetzt. Bevor der Täter zu einem Geständnis kommt, wartet er „atemlos ... auf den ersten Ton aus dem Musikauto- maten"5, da die Musik, von der wir an anderer Stelle des Romans bereits erfahren haben, daß sie seine Bewegungen erleichtert6, ihm auch das Sprechen leichter machen wird.

In seiner 1969 entstandenen Erzählung Die Angst des Tormanns beim Elfmeter findet sich der Kriminalroman als literarisches Grundmuster wieder; und wie schon in dem Roman Der Hausierer geht es Handke erneut ebenfalls darum, das angewandte Schema zu durchbrechen.

Bei Josef Bloch, dem Protagonisten der Erzählung, macht die Musikbox einen selbstverständlichen Teil seiner alltäglichen Wirklichkeit aus. Als er sich mit jemand verabredet, wählt er als Treffpunkt eine Gaststätte, „wo sich, wie Bloch wußte, eine Musicbox befand."7 Diese Textstelle verweist schon auf den im Verlauf des Erzählgeschehens noch mehrfach zu Tage tretenden besonderen Faszinationswert, den diese Musikboxen für ihn besitzen.

„Er vertrieb sich die Zeit, indem er Münzen in den Automaten warf und andere Leute für sich drücken ließ“ 8

Hieran wird deutlich, daß sein Umgang mit Musikboxen von dem Zwang, sie in Betrieb zu setzen, bestimmt wird, wobei es ihm letztlich weniger auf die Wiedergabe von bestimmten Schallplatten, als vielmehr auf das Auslösen des rein mechanischen Ablaufs ankommt.

,,In einem Café drückte er einige Platten, nachdem der Wirt den Musikautomaten eingeschaltet hatte; noch bevor alle Platten gespielt hatten, war er hinausgegangen;“ 9

Für Bloch, der bereits am Anfang des Romans den Eindruck eines verstörten, gehetzten und rastlosen Menschen macht, geraten nach dem von ihm an einer Kinokassiererin begangenen Mord alle Gegenstände zum Signal der Verfolgung. Im Gegensatz zu beispielsweise dem Helden in Der kurze Brief zum langen Abschied (1971) kann der von Angst getriebene, die Wirklichkeit zunehmend als Irritation empfindende Bloch keine Befreiung in der Musik finden. Mit der Zunahme der Bedrohlichkeit der Gegenstände wirkt auch sie unangenehm auf ihn: „und die Musicbox spielte nicht sondern dröhnte“10. Nur an einer Stelle gelingt es ihm, wenigstens für kurze Zeit seine Ängste zu vergessen: „Er warf ein paar Münzen in die Box, als ob nichts wäre und tanzte ohne weiteres mit der Pächterin".11 Musik wird in diesem Buch noch nicht, wie in Der kurze Brief zum langen Abschied und Wunsch-loses Unglück, auf die Ebene der Bewußtseinsklärung erhoben, sondern verbleibt in dem Bereich der Gegenstände des modernen Alltags. Hierzu paßt, daß er nicht die Titel der Schallplatten nennt.

„Handke hat in allen seinen Büchern Details der Wirklichkeit beschrie-ben, die ich zwar sehe, aber niemals auf diese Weise beschreiben könnte. Ich erinnere mich z.B. an seine Beschreibungen von Spiel-automaten und welche Rolle diese Spielautomaten für seine Empfin-dungswelt haben, wie sich das, was für ihn schwierig auszudrücken ist, plötzlich in einem Song, den er aus dem Spielautomaten hört, klärt. Das kann allein schon deshalb für mich nicht vorhanden sein, weil ich zu den Songs, die aus den Spielautomaten kommen, gar keine Beziehung habe, weil ich die nicht kenne, weil das eine ganz andere Art der Wirklichkeitsdarstellung ist."12

So führte der österreichische Schriftstellerkollege Hermann Lenz in einem 1974 mit Manfred Durzak geführten Gespräch aus. Im Kurzen Brief zum langen Abschied (1971) erreicht Peter Handke für seinen Helden durch auf der Musikbox gedrückte Plattentitel eine ähnliche Klärung der Bewußtseins-welt wie durch die „literarischen Filter"13, d.h. die mitgeführte Reiselektüre, die besuchte Aufführung von Friedrich Schillers Don Carlos et al.14

„An der Wand neben jedem Tisch befand sich ein Kästchen, an dem man die Platten der Musicbox drücken konnte, ohne dafür aufzustehen. Ich warf ein Vierteldollarstück ein und wählte ‘Sitting On The Dock Of The Bay‘ von Otis Redding. Dabei dachte ich an den großen Gatsby und wurde selbstsicher wie noch nie: bis ich mich gar nicht mehr spürte." 15

Das 1968 veröffentlichte Sitting On The Dock Of The Bay 16 des schwarzen amerikanischen Soulsängers Otis Redding (1940 - 1967) wurde postum zu seinem größten Hit. Dieses für Redding ungewohnt nachdenkliche und sozial orientierte Lied erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der sein Zuhause in Georgia verläßt und sich nach San Francisco begibt: ‘cos I had nothing to live for / and the black nothing's gonna come my way /. Doch trotz der Aussichtslosigkeit seiner Situation läßt er sich nicht entmutigen: Now I'm just gonna sit on the dock of the bay / watching the tide roll away / Sittin' on the dock of the bay / wasting time.‘ / Der Ich-Erzähler des Kurzen Briefs zum langen Abschied schöpft Mut und Hoffnung aus dem Lied. „Es würde mir gelingen, vieles anders zu machen. Ich würde nicht wiederzuerkennen sein!"17 Anders als Bloch wählt er bewußt diese Schallplatte aus und versteht, sie auf seine eigenen Hoffnungen und Wünsche anzuwenden. Auch Gatsby „glaubte an die rauschende Zukunft, die Jahr um Jahr vor uns zurückweicht. Sie ist uns gestern entschlüpft, doch was tut's - morgen schon eilen wir rascher, strecken weiter die Arme. ...stemmen uns gegen den Strom - und treiben doch stetig zurück, dem Vergangenen zu.“18

In Handkes 1972 entstandener Erzählung Wunschloses Unglück19, die auf der Biographie seiner Mutter basiert, findet sich ein Beispiel für die von Hermann Lenz angesprochene Klärung von Situationen. Wenn er anläßlich der nach vielen Jahren „in einem kleinen Café ihres Heimatortes"20 stattgefundenen Wiederbegegnung zwischen seiner Mutter und seinem leiblichen Vater schreibt: „ich stand weit weg an der Musikbox und drückte ,Devil in Disguise' von Elvis Presley"21, so enthält dieses knappe Detail von erzählter Wirklichkeit möglicherweise mehr Aussagekraft und Vermittlung seiner Gefühle als beispielsweise ein argumentatives Erklären derselben hätte vermitteln können. Das ‘/You look like an angel / You walk like an angel / You talk like an angel / But I got wise / You're the devil in disguise /‘ aus dem Elvis Presley Hit Devil in Disguise aus dem Jahre 1963 signalisiert die ablehnende Einstellung des Jungen seinem Vater gegenüber. Er läßt die Schallplatte das aussprechen, was ihm zu sagen unmöglich gewesen wäre und erreicht durch die Übertragung der Worte Elvis Presleys auf seine Situation die Freisetzung seiner Gefühle. Die Abwehrhaltung zu diesem von ihm als peinlich und letztlich unangebracht empfundenen Wiedertreffen seiner Eltern, „die Mutter aufgeregt, der Vater ratlos“22, bringt er durch sein Stehen , „weit weg an der Musikbox“23 zum Ausdruck, und durch das Abspielen von Devil in Disguise liefert er seinen Kommentar, was zugleich ein Ausweichen in eine andere Welt, zu der die ältere Generation keinen Zugang hat, bedeutet.

„Vor Elvis war der Rock nur eine vage Geste der Rebellion gewesen. Mit Elvis aber wurde er auf einen Schlag unabhängig und stabil, und dann brachte er seinen eigenen Stil hervor, in Klei­dung, Sprache und Sex, eine totale Unabhängigkeit in fast allen Dingen - alles das, was man jetzt für selbstverständlich ansieht. Das war der entscheidende Durchbruch der Teenager, und Elvis löste ihn aus. Und so wurde er, ohne viel Mühe, einer derjenigen, die auf radikale Weise die Leute in ihrem Denken und in ihrer Lebensweise beeinflußten.“24

Analog zu den verbotenen Büchern von Bernanos, Faulkner, Fallada et al im Internat25 war auch die Rockmusik dazu prädestiniert, dem jungen Peter Handke eine Gegenwelt zu seinem alltäglich-normalen Leben zu errichten. Eine im Lokal aufgestellte Musikbox bedeutete in der Enge des heimatlichen Arbeitermilieus schon Freiheit; hier zeigte sich ihm eine andere und letztlich erstrebenswertere Welt.

Handkes 1970 entstandener Fernsehfilm Chronik der laufenden Ereignisse26, der „eigentlich eine Verfilmung vom Gläsernen Schlüssel von Dashiell Hammett sein“27 sollte, erzählt die Geschichte zweier junger Männer, die vom Land in eine Großstadt kommen, wo sie sich eine Veränderung ihres Lebens erhoffen. - Bereits ihre Namen Philip Spade und Sam Beaumont ent- halten deutliche Anspielungen auf die Kriminalromane des amerikanischen Schriftstellers Dashiell Hammett; der Protagonist in The Glass Key (1931) heißt Ned Beaumont, der Detektiv in The Maltese Falcon (1930) Samuel Spade. An mehreren Stellen des Filmbuchs zi­tiert Handke direkt aus The Glass Key. - Die Stadt -obwohl anfangs noch als freundlich empfunden - wird sich im Verlauf des Filmgeschehens zunehmend feindlich präsentieren. Mit dem Versuch, eine Befreiung von Zwang und Abhängigkeit durchzusetzen, müssen Spade und Beaumont am Ende scheitern. Petula Clarks Versprechungen: ‘downtown things will be great / ... everything's waiting for you downtown‘/ aus ihrem 1964 aufgenommenen gleichnamigen Hit „Downtown“28 können sich für die beiden Helden der Chronik nicht erfüllen. Ein Teil der insgesamt 45 Szenen des Films zeigt für das Amerikabild der späten fünfziger bis sechziger Jahre so typische Erkennungszeichen wie Snackbars, Musikboxen, drive-ins, Tankstellen, Motels, Mädchen mit Pferdeschwanz et al: „eine Snack-Bar am Nachmittag, ... im Hintergrund eine beleuchtete, aber nicht bespielte Musicbox“.29 Wenn Spade und Beaumont im Gespräch über Kelly vorschlagen „Sie könnte an uns vorbeigehen und zum Zeichen, daß sie uns verstanden hat, in der Musicbox Perry Como wählen“30, erhält die Musikbox hier die Bedeutung eines potentiellen Vermittlers. In der 43. Szene, die eine Aneinanderreihung von Blackoutszenen ist, erinnert folgende Stelle „Beaumont vor einem Musikautomaten. Er wirft eine Münze hinein. Der Wagen im Musikautomaten fährt hin und her, bis der Greifer eine Platte herausholt und auf den Teller legt. Der Tonarm senkt sich auf die Platte, aber vor dem ersten Ton Blackout: /“31 in ihrer detaillierten Beschreibung des rein mechanischen Funktionierens der Musikbox sehr an ähnliche Stellen wie zum Beispiel in Der Hausierer 32 oder folgende aus Die Angst des Tormanns beim Elfmeter:

„Man sah den Greifer in der Musicbox nach einer Platte fassen, man sah, wie der Tonarm zuschlug.“33

Dieser Film wurde, so Handke, indem er „eine Allegorie zweier Jahre der bundesrepublikanischen Geschichte werden wollte, vielleicht noch mehr auch eine Allegorie von dem mythischen Kampf zwischen Kino- und Femsehbildern, in dem am Schluß die Kinobilder von den Femsehbildern verdrängt worden sind.“34

[...]


1 Leslie A. Fiedler: Das Zeitalter der neuen Literatur, in: Christ und Welt, 13.9. und 20.9.1968. Vgl. auch: Harald Hartung: Pop als ,postmoderne' Literatur. Die deutsche Szene: Brinkmann und andere, in: Neue Rundschau, 82. Jahrgang, Berlin/Frankfurt/M. 1971, S. 723-742.

2 Rolf Ulrich Kayser: Underground? Pop? Nein! Gegenkultur!, Köln/Berlin 1969, S. 27.

3 Ebd.

4 1951 geschrieben, 1957 veröffentlicht.

5 Bruce Cook: The Beat Generation, New York 1971. Zit. nach: Klaus Mehnert: Jugend im Zeitbruch, Stuttgart 1976, S. 26.

6 Lawrence Lipton: The Holy Barbarians, New York 1959, S. 212.

7 Helmut Schmiedt: No satisfaction oder Keiner weiß mehr: Rockmusik und Gegenwartsliteratur, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Jahrgang 9, Heft 34, Göttingen 1979, S. 11

8 Jerry Rubin: Do lt! Scenarios of the Revolution, London 1970.

9 Youth International Party.

10 Werner Faulstich: Rock - Pop - Beat - Folk. Grundlagen der Textmusik Analyse, Tübingen 1978, S. 27.

11 Vgl. Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla (Hrsg.): Acid. Neue amerikanische Szene, Berlin 1969.

12 Helmut Schmiedt: Peter Handke, Franz Beckenbauer, John Lennon und andere Künstler, in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Peter Handke, Text und Kritik 24/24a, vierte Auflage, München 1978, S. 90.

1 Vgl. Hanns-Werner Heister: Die Musikbox. Studie zur Ökonomie, Sozialpsychologie und Ästhetik eines musikalischen Massenmediums. Segmente der Unterhal­tungsindustrie, Frankfurt 1974, S. 11-65.

2 Vgl. Peter Handke: Der Hausierer, Fischer Taschenbuch, Frankfurt 1970, S. 75.

3 Ebd., S. 12.

4 Ebd., S. 27.

5 Ebd., S. 112.

6 Vgl. ebd., S. 47.

7 Peter Handke: Die Angst des Tormanns beim Elfmeter, Frankfurt 1972, S. 11.

8 Ebd.

9 Ebd., S. 37.

10 Ebd., S. 93.

11 Ebd., S. 94.

12 Manfred Durzak: Gespräche über den Roman, Frankfurt 1976, S. 244.

13 Manfred Durzak: Peter Handke und die deutsche Gegenwartsliteratur, Stuttgart 1982, S. 11.

14 Vgl. auch das Kapitel Rock Zitate im Text 1.5.2. im Originalzitat, S.44.

15 Peter Handke: Der kurze Brief zum langen Abschied, Frankfurt 1972, S. 19.

16 Soul ist eine Weiterentwicklung von Blues und Gospel.

17 Handke: Brief, a.a.O., S. 19 f.

18 F. Scott Fitzgerald: Der Große Gatsby, Zürich 1974, S. 189.

19 Vgl. auch das Kapitel Rock Zitate als Motto, S. 33

20 Peter Handke: Wunschloses Unglück, Salzburg1972, S. 27.

21 Ebd.

22 Ebd.

23 Ebd.

24 Nik Cohn: A Wop Bopa Loo Bop A Lop Bam Boom. Pop History, Reinbek 1971, S 19.

25 Vgl. Heinz Ludwig Arnold: Gespräch mit Peter Handke, in: Arnold: Text und Kritik 24/24 a, a.a.O., S.22

26 Erstsendung am 10. Mai 1971 im WDR.

27 Heiko R. Blum: Gespräch mit Peter Handke, in: Michael Scharang (Hrsg.): Über Peter Handke, 4. Auflage, Frankfurt 1979, S. 82.

28 Peter Handke: Chronik der laufenden Ereignisse, 3. Auflage, Frankfurt 1975, S. 78.

29 Ebd., S. 19.

30 Ebd., S. 26.

31 Ebd., S. 118.

32 Vgl. Handke: Hausierer, a.a.O., S. 12.

33 Handke: Tormann, a.a.O., S. 68.

34 Handke: Chronik a . a.O., S. 137

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Details

Titel
Die Rolle der Musik in Peter Handkes Schriften
Hochschule
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Note
1.7
Autor
Jahr
1983
Seiten
82
Katalognummer
V185127
ISBN (eBook)
9783656994374
ISBN (Buch)
9783869430003
Dateigröße
828 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Die Magisterarbeit untersucht die Rolle der E-Musik in den Schriften Peter Handkes, zur Übersicht ist der literaturwissenschaftlichen Arbeit eine Diskographie beigefügt.
Schlagworte
rolle, musik, peter, handkes, schriften
Arbeit zitieren
Gabriele Eschweiler (Autor:in), 1983, Die Rolle der Musik in Peter Handkes Schriften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/185127

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