Leben und Lehre des islamischen Religionsgelehrten Hārith al-Muhāsibī


Referat (Ausarbeitung), 1995

13 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


I. EINLEITUNG

Dieses Referat behandelt hauptsächlich das religiöse Gedankengut und die Lebenslehre des al-MuÎÁsibÐ, ein Name, der allerdings nur ein laqab ist. Dieses Cognomen läßt sich am besten mit „Gewissens-“ oder „Seelenforscher“ übersetzen, als einer Person, die mit der stetigen Analyse und ethischen Abwägung ihrer Handlungen beschäftigt ist. Dem laqab liegt die Kategorie muÎÁsaba zugrunde, die vor allem bei späteren terminologischen Klassifizierungsbestrebungen im Rahmen der Entstehung einer sufischen Theologie eine wichtige Rolle spielte. So widmete der berühmte Religionsgelehrte und Philosoph

al-ÇazzÁlÐ diesem Begriff das 38. Buch seiner IÎyÁ’ ‘ulÙm ad-dÐn („Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften“), welches als detaillierteste und umfassendste Studie zur muÎÁsaba auf uns gekommen ist. Al-ÇazzÁlÐ griff dabei auf eine ganze Reihe von Formulierungen al-MuÎÁsibÐs zurück und entwickelte sie weiter.

Den Mittelpunkt von al-MuÎÁsibÐs Gedankenwelt bildet eine äußerst subtile Kunst der Seelenentblößung und Gewissenserforschung, was ihm den berühmten Cognomen einbrachte und als das Spezifikum gilt, welches er seiner Zeit und der Nachwelt vermachte. Heutzutage würde man in ihm einen Psychologen und Pädagogen, aber auch Philosophen und Theologen zugleich sehen. Außerdem gilt er als einer der bedeutendsten Vertreter der frühislamischen Frömmigkeitsbewegung, des KalÁm und der orthodoxen Theologie. Nicht nur seine psychologischen Untersuchungen und autopädagogischen Lehren, die den Inhalt seiner meisten Werke bilden, sondern auch seine theologischen Ideen, besonders die Auseinandersetzung mit der Mu‘tazila, dürften seinerzeit ebenfalls großes Aufsehen erregt haben. Ob al-MuÎÁsibÐ auf den Grundlagen seiner psychologischen Erkenntnisse aufbauend auch ein eigenes theologisches System erstellt hat, das teils mit orthodoxen teils mit mystischen Begrifflichkeiten operiert, ist in der Sekundärliteratur umstritten:

Gemäß Massignons La passion d’al-Hosayn ibn Mansour Al-Hallaj, martyre mystique de l’Islam, exécuté à Bagdad le 26 Mars 922 (Paris 1922) schuf al-MuÎÁsibÐ eine „vorsichtige mystische Doktrin“, deren Ausgangspunkt die innere Einkehr und Selbstprüfung (Introspektion) waren. Indem er diese ausgiebig analysierte, entwickelte er eine ausgereifte Terminologie in bezug auf ihr Verhältnis zu den allgemeinen Lebensgegebenheiten.

Van Ess konstatiert in seiner Dissertation Die Gedankenwelt des ÍÁri× al-MuÎÁsibÐ (Bonn 1961), daß sich der arabische Gelehrte als religiös Suchender mit den verschiedensten Lehrmeinungen seiner für ihn in ihrem „Pluralismus“ geistig desorientierten Epoche auseinander setzte. Der richtige Weg schien ihm letztendlich nur derjenige zu sein, der zwischen allen Extremen und absoluten Neuerungen liegt. Somit finden sich in seinen Werken Positionen verschiedenster Denkschulen wieder, die er dialektisch zu harmonisieren versucht. Über die Sichtweisen in Mystiker- und Frömmigkeitskreisen seiner Epoche reflektiert er dabei als eine von vielen Möglichkeiten, und manches Gedankengut aus diesen Zirkeln integriert er in abgewandelter oder erweiterter Gestalt in seine eigene Lebensanschauung. Van Ess sieht daher in al-MuÎÁsibÐ nicht vorrangig einen Mystiker, sondern einen eigenständigen Denker, dem die historischen Umstände es versagten, eine weitere theologische Schule als Orthodoxie mit Breitenwirkung zu begründen.

An dieser Stelle sei ein kurzer Exkurs zur Sekundärliteratur unternommen.

Bisher existieren drei Monographien zu al-MuÎÁsibÐ, die in einer westlichen Wissenschaftssprache verfasst wurden:

1) Margaret Smith: An Early Mystic of Baghdad (London 1935).
2) Abd el-Halim Mahmoud: Al-Mohasibi, un mystique musulman religieux et moraliste (Paris 1940).
3) Die neueste, bereits erwähnte Studie von Josef van Ess wurde als Dissertation in der Reihe Bonner Orientalistische Studien (N.S., hrsg. O. Spiess, Bd. 12) des Selbstverlages des Orientalischen Seminars der Universität Bonn publiziert.

Ich stütze mich vor allem auf van Ess, der die vorangegangenen Monographien von Smith und Mahmoud ausführlich rezipierte. Aufgrund eines ausgiebigen Quellenstudiums nimmt er gegenüber jenen beiden eine Akzentverschiebung insofern vor, als er den bis dato primär unter der Etikette „Mystiker“ erforschten al-MuÎÁsibÐ als einen auch in anderen Bereichen hervorragenden Denker umfassender beschreibt. So verknüpft er in seiner Gesamtdarstellung die theologisch-dogmatischen Ansichten des Gelehrten mit seiner Seelenlehre. Thematisch geht er über die zwei älteren Monographien weit hinaus und ergänzt wesentliche inhaltliche Punkte von den Quellentexten her.

An Mahmouds Studie kritisiert van Ess, daß dieser al-MuÎÁsibÐ nur ganz für sich betrachte, ohne auf Beziehungen zu oder Abhängigkeiten von den zeitgenössischen Geistesströmungen (wie z.B. der Mu‘tazila) einzugehen. Smith hingegen parallelisiere zuviel. In al-MuÎÁsibÐs Gedankensystem vorhandene „Lücken“ fülle sie einfach mit Zitaten späterer sufischer Kompilatoren wie SarrÁÊs (gest. 988) KitÁb al-lumÁ‘, QušairÐs (gest. 1074) RisÁla (wahrscheinlich 1046 verfaßt) oder al-HuÊwirÐs (gest. ca. 1071) Kašf al-maÎÊÙb („Die Enthüllung des Verschleierten“). Dadurch würden unfertige Ansätze al-MuÎÁsibÐs rückwirkend vervollständigt und wirklich originäre Konzeptionen verwischt. Das Manko in Smiths Methodik liegt demnach darin, daß sie al-MuÎÁsibÐ in manchen Punkten zum Zeitgenossen seiner Nachfahren stilisiert.

Weniger als sie verweist van Ess in seiner ausschließlich quellenorientierten Studie auf entsprechende Parallelen oder Bezüge sowohl zu zeitgenössischen als auch zu vorangehenden nicht-muslimischen mystischen oder Frömmigkeitsbewegungen. Dazu zählen insbesondere das syrische Mönchtum, gnostische Strömungen und bestimmte Kreise jüdischer frommer Männer. Insgesamt präsentiert van Ess al-MuÎÁsibÐ als ganz eigenwilligen Denker vor dem Hintergrund der muslimischen Geistesströmungen seiner Zeit.

II. BIOGRAPHIE UND QUELLEN

1. Biographie

Der volle Name al-MuÎÁsibÐs lautet: AbÙ ‘Abd Allah al - ÍÁri× b. Asad al-MuÎÁsibÐ al-‘AnazÐ.

Sein genaues Geburtsjahr ist nicht genau bekannt. Doch scheint ziemlich gesichert, daß er 781 u.Z. in Basra geboren wurde. Sezgin nennt in der GAS das Geburtsjahr 786. Den biographischen Quellen sind keine exakten Angaben über sein Lebensalter zu entnehmen. Daher kann man nur aus einer nicht mit dem Anspruch chronologischer Verbindlichkeit geäußerten Bemerkung al-MuÎÁsibÐs, die sich in ‘Attar's (st. 1220) TaÆkirÁt al-auliyÁ’ befindet und derzufolge al-MuÎÁsibÐ sein Leben in zwei Perioden von je 30 Jahren aufteilte, erschließen, daß sein Geburtsdatum höchstwahrscheinlich vor der Wende zum 9. Jahrhundert lag.

In jungen Jahren zog es ihn nach Bagdad, wo er auch den größten Teil seines Lebens verbrachte. Al-MuÎÁsibÐ war ein Zeitzeuge des glanzvollen Aufstiegs des mu‘tazilitischen KalÁm innerhalb der islamischen Theologie, der sich in Basra und Bagdad vor allem unter AbÙ ’l-HuÆail (ca. 750-840; ab 818 in Bagdad) und Bišr ibn al-Mu‘tamir zu einer rationalistischen Schulrichtung konsolidiert hatte. Gemäß Nagels Geschichte der islamischen Theologie – Von Mohammed bis zur Gegenwart (München 1994) wird die rationalistische islamische Theologie und Metaphysik seit AbÙ ’l-HuÆail mit dem Sammelnamen Mu‘tazila belegt, dessen ursprünglicher Sinn umstritten ist. Nach dem Verständnis der Mu‘taziliten selbst deutet er auf den Rückzug (i’tizÁl) aus dem Zwist der seit dem Ersten Bürgerkrieg und der Ermordung ‘U×mans i.J. 656 u.Z. aufgekommenen religiös-politischen Parteiungen hin. Mit Vernunftargumenten wurde eine Haltung jenseits von ihnen angestrebt, die jedermann billigen konnte.

Über al-MuÎÁsibÐs Lebenslauf sind kaum Einzelheiten bekannt. Man weiß sicher, daß er sein Leben vollkommen der Lehrtätigkeit widmete. Drei Ereignisse markieren seinen Lebensweg. Die ersten zwei erwähnt der Gelehrte selbst in einer Art „autobiographischem Passus“ seines K. an-NaÒÁ’iÎ („Buch der guten Ratschläge/Ermahnungen“), der gemäß Rosenthals Die arabische Autobiographie auch den ersten auf uns gekommenen autobiographischen Versuch in der islamischen Literatur überhaupt darstellt. Es handelt sich einerseits um den Bruch mit seinem Vater aufgrund eines existentiellen Vater-Sohn-Konflikts und andererseits um seine „Konversion“. In al-MuÎÁsibÐs Bericht drückt sich aus, daß diese „Konversion“ die große Wende seines Lebens bedeutete:

Es ist uns überkommen, daß diese Gemeinde sich in 70 und mehr Sekten aufspalten wird, von denen (nur) eine das Heil erlangen wird. [...] Zeit meines Lebens dachte ich unaufhörlich nach über den Zwiespalt (i ÌtilÁf) der Gemeinde und forschte nach dem klaren geraden Weg ... und ich sah ihren Zwiespalt wie ein tiefes Meer, in dem viele ertranken und aus dem nur eine kleine Schar sich rettete. Ich sah, wie jede Gruppe unter ihnen behauptete, das Heil läge in ihrer Lehrmeinung und Untergang treffe ihren Gegenspieler. [...] So suchte ich rechte Leitung im Wissen und versank in langes Nachsinnen. Da wurde es mir licht aus dem Buche Gottes und dem Konsens der Gemeinde, daß der Verfolg (häretischen) Gelüstens (hawÁ; ahl al-hawÁ = „Sektierer“) blind macht vor der Rechtleitung und abirren läßt von der Weisheit. Ich begann also, das Gelüsten aus dem Herzen hinauszuwerfen und forschte nach der Gruppe des Heils (al-firqa an-naÊÐya) aus Angst vor (häretischen) Gelüsten. Da fand ich in dem Buche Gottes ... in Übereinstimmung mit dem Konsens der Gemeinde, daß der Pfad des Heils darin liegt, sich an die Gottesfurcht zu halten (tamassuk bit-taqwÁ), die obligatorischen Pflichten (farÁ’iÃ) Gott gegenüber zu erfüllen; in dem, was er verboten, skrupelhaft zu sein und nach dem, was er erlaubt, zu streben; alle seine Vorschriften (zu befolgen); die Werke, die man tut, in reiner Absicht für Gott zu tun und seinem Propheten nachzufolgen...

Bereits in der Atmosphäre seines Elternhauses, wo die Häresie des Vaters der Rechtgläubigkeit der Mutter gegenüberstand, mochte al-MuÎÁsibÐ einiges von jenem „Meer des Zwiespalts und der Irrtümer“ verspürt haben, aus dem er sich an das rettende Ufer der „Gruppe des Heils“ zu flüchten suchte. Welcher häretischen Richtung genau sein Vater anhing, ist umstritten: entweder einer ši‘itischen Gruppe oder der QadarÐya, jener Denkrichtung, die die menschliche Handlungs- und Willensfreiheit vor der göttlichen Prädestination betonte. Nach dem Tod seines Vaters weigerte er sich aus scheuer „Skrupelhaftigkeit“ (wara‘ = ein wichtiger Tugendbegriff; „Frömmigkeit, Scheu“), trotz großer eigener Armut das Erbe des beträchtlichen väterlichen Vermögens anzutreten. Vielleicht dachte er dabei an das HadÐ×: „Anhänger zweier (verschiedener) Glaubensgemeinschaften beerben sich nicht.“

Der zitierte Abschnitt spiegelt al-MuÎÁsibÐs echtes Erleben wider und nennt einige seiner zentralen Gedanken: die „Gelüste (hawÁ = „Leidenschaft, Begierde; Zuneigung“) des Herzens“ als Ursache für Häresien und Irrtümer. Voraussetzungen zur Beschreitung des individuellen Heilspfades sind: „Gottesfurcht“ (taqwÁ) und „Pflichterfüllung gegenüber Gott“, d.h. die Empfindung von „Skrupelhaftigkeit“ (wara‘) bei von Gott verbotenem Tun („schlechtes Gewissen“) und das Streben danach, „die Werke, die man tut, in reiner Absicht (nÐ ya, iÌlÁÒ) und Aufrichtigkeit (Òidq) für Gott und seinen Vorschriften entsprechend zu tun“.

An dritter Stelle fällt die Tatsache ins Gewicht, daß al-MuÎÁsibÐ ab ca. 846 u.Z. dazu gezwungen wurde, seine öffentliche Lehrtätigkeit aufzugeben, als AÎmad Ibn Íanbal (st. 855) in seinem standhaften Eintreten für die Glaubenswahrheiten der ahl as-sunna mit seiner Autorität über das Los der anderen Geistesströmungen in Bagdad entschied. Da al-MuÎÁsibÐ aus Gründen der Dialektik die KalÁm -Methodik der Mu‘tazila übernommen hatte, warf Ibn Íanbal ihm vor, dadurch indirekt diese „häretische Theologenschule“ anzuerkennen und von ihrem Gedankengut beeinflußt zu sein. In gewisser Hinsicht traf dies auch zu, da sich an verschiedenen Stellen bei al-MuÎÁsibÐ Grundideen AbÙ ’l-HuÆails als Prämissen für die eigene Argumentation nachweisen lassen. Allerdings verkannte Ibn Íanbal, der al-MuÎÁsibÐ nach Art der ahl al-ÎadÐ× als „Neuerer“ verketzerte, daß es dem Gelehrten tatsächlich gelungen war, die Mu‘tazila mit ihren eigenen rationalistischen Methoden in einigen theologischen Streitpunkten zu schlagen. Der zur islamischen Orthodoxie erstarkende Sunnismus unter der Führung Ibn Hanbals erschütterte al-MuÎÁsibÐ Stellung in Bagdad vollständig. Vermutlich zog er sich für eine Weile nach Kufa zurück. 857 u.Z. verstarb er vergessen und gemieden in Bagdad. Fünf Jahre zuvor hatte der Kalif al-Mutawakkil im Zuge seiner antirationalistischen Reaktion mit dem Dekret von 852/53 u.Z. der miÎna seiner promu’tazilitischen Vorgänger, den Kalifen al-Ma’mÙn und al-WÁ×iq, ein Ende gesetzt.

[...]

Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Leben und Lehre des islamischen Religionsgelehrten Hārith al-Muhāsibī
Hochschule
Freie Universität Berlin
Note
2,0
Autor
Jahr
1995
Seiten
13
Katalognummer
V184977
ISBN (eBook)
9783656098164
Dateigröße
2608 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
islamische Theologie, Sufismus
Arbeit zitieren
Manuela Petzoldt (Autor:in), 1995, Leben und Lehre des islamischen Religionsgelehrten Hārith al-Muhāsibī , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/184977

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