Vorstadtkrokodile 2: eine idealistische Jugendgeschichte mit einer gelungenen Wertevermittlung?


Essay, 2011

15 Seiten, Note: 2

Anonym


Leseprobe


„Werte werden aufgrund von Vermittlungsprozessen oder aufgrund von Erfahrungen gelernt. Sie werden im Wege der Sozialisation, d. h. aufgrund vielfältiger Einflüsse vermittelt, wobei […] nicht zuletzt die Massenmedien eine zentrale Rolle spielen.“[1] In diese Massenmedien reiht sich auch der Film „Vorstadtkrokodile 2“ ein, der 2010 in den deutschen Kinos erschien und der zweite Teil zu der Verfilmung der „Vorstadtkrokodile“ ist. Die Besonderheit im Film „Vorstadtkrokodile 2“ besteht darin, dass durch den Film die Verfilmung von 2009 fortgesetzt wurde und er daher auf keiner literarischen Grundlage beruht, sondern ein Buch zum Film erschienen ist. Der erste Film der „Vorstadtkrokodile“ lehnt sich an das gleichnamige Buch von Max von der Grün aus dem Jahr 1976 an. Dieses Buch stellt eines der Klassiker des Deutschunterrichts in der Unterstufe dar. Neben dem Aspekt der Freundschaft in einer „Bande“ wird darin insbesondere die Problematik und der Umgang mit körperlicher Behinderung bei Kindern und Jugendlichen behandelt. Im Gegensatz zu Max von der Grüns Werk spielt „Vorstadtkrokodile 2“ nicht nur über 30 Jahre später in der heutigen Zeit, es haben sich in den Neuverfilmungen auch Änderungen bei den Darstellern und in der Handlung ergeben. In den neuen Verfilmungen steht außer der Integration eines behinderten Jungen in die Gemeinschaft noch mehr die von anderen „Außenseitertypen“ im Vordergrund. Außerdem soll auch im zweiten Teil die große Bedeutung von Freundschaft und Zusammenhalt thematisiert werden. Ob die darüber hinaus – auch unterschwellig - vermittelten Werte und Eindrücke des Films pädagogisch sinnvoll sind, ist fraglich. Der Film scheint vor allem ein wenig realistisches Umfeld von Kindern darzustellen und seine jungen Zuschauer in eine idealistische Welt zu versetzen, in der Kinder junge Erwachsene sind, für die beinahe nichts unmöglich ist. Ob diese Kritik begründet ist, soll im Folgenden erläutert werden.

Besonders auffallend sind in der – wie sich zeigen wird - idealistisch dargestellten Lebenswelt der Kinder im Film die ungewöhnlichen Eltern – Kind - Beziehungen und die daraus oft in nur geringem Maße gesetzten Grenzen. Zudem wird Kindern, die den Film sehen, angedeutet, es sei besser, bereits älter zu sein. Auch die positive Entwicklung und Aufnahme der Figur der Jenny in die Gruppe mag oberflächlich gesehen vorbildlich sein, vermittelt unterschwellig jedoch auch problematische Eindrücke. Gelungen und sinnvoll erscheint dagegen jedoch die Einführung neuer und zeitgemäß gezeichneter Charaktere wie bereits im ersten Teil von „Vorstadtkrokodile“, wodurch Kindern ermöglicht wird, einen anderen Blick für Außenseiter zu bekommen und sich mit diesen auseinanderzusetzen und sogar zu identifizieren.

Dies wird dadurch ermöglicht, dass beinahe jedes der Bandenmitglieder eine dieser Außenseiterrollen verkörpert und dennoch ein volles Mitglied in der Gemeinschaft darstellt, das nicht nur akzeptiert, sondern auch respektiert und in keiner Situation aufgrund seines „Defizits“ ausgeschlossen wird. Außerdem scherzen die Figuren über ihre eigenen Fehler und zeigen damit nicht nur, dass sie sich selbst nicht zu ernst nehmen; es wird auch vermittelt, wie unkompliziert die Mitglieder in einer Gruppe Schwächen umgehen können.

Die Figur von Kurt, der in den neuen Verfilmungen Kai genannt wird, wird auch im zweiten Teil weitergeführt und steht für den körperlich behinderten Jungen, der als Querschnittsgelähmter im Rollstuhl sitzt. Im ersten Teil stand die umstrittene Aufnahme eines „körperlich Behinderten“ in die Bande im Vordergrund der Handlung; in „Vorstadtkrokodile 2“ ist Kai ein bereits vollwertiges Mitglied, was sich z. B. darin zeigt, dass er wie die anderen nun mit Hilfe eines Handbikes Fahrrad fahren kann und dies eines der besonderen Hobbies der Bande darstellt. Kai zeichnet sich zudem durch bestimmte Fähigkeiten, z. B. in der Technik und insbesondere am Computer, aus. Dadurch ermöglicht er im Film den Bandenmitgliedern einen virtuellen Einblick in den Aufbau der Fabrikhalle, in die die Kinder einbrechen wollen, um die Boller – Brüder zu überführen. Den Plan der Fabrikhalle konnte Kai eigenen Angaben zufolge aufgrund seiner EDV-Kenntnisse aus dem Stadtarchiv herunterladen. Auch die Figur der Maria als einziges Mädchen in einer Bande, die sonst nur aus männlichen Mitgliedern besteht, gibt es im zweiten Teil weiterhin. Ebenso übernommen wird Hannes als der Kleinste und Jüngste von allen, der jedoch trotzdem als Held dargestellt wird und als einziger seine erste Liebe mit Maria erfahren darf.

Die Figur des unsicheren Peters wird etwas verändert. Peter ist noch immer ängstlich und versteckt sich bei drohender Gefahr beispielsweise als erster. Er bohrt wie im Buch von Max von der Grün allerdings nicht mehr in der Nase, wenn er aufgeregt ist, sondern stottert in der Neuverfilmung. Er wird jedoch genauso in die Gruppe integriert und erhält z. B. bei der Beobachtung der Boller – Zwillinge in der Fabrik auch ein Walky – Talky, um seine Kameraden warnen zu können. Neu hinzugekommen ist Jorgo, der als Grieche und damit als Ausländer mit plumpem Humor und Charme bei den Zuschauern absoluter Sympathieträger ist und wie alle anderen in der Gruppe aufgenommen ist. Die Figur von Frank, der aus dem Buch übernommen wurde, bekommt im Film die Rolle als Übergewichtiger und ist dadurch ebenso wie Kai körperlich benachteiligt, wie die anderen Kinder scherzen, und scheint trotz Unbeholfenheit aus der Gruppe nicht wegzudenken.

Die Einführung und Darstellung der Thematik von der Integration benachteiligter Menschen in die Gemeinschaft ist somit wie im ersten Teil der „Vorstadtkrokodile“ auch im zweiten Teil der Verfilmung gelungen erfolgt und kann die Zuschauer dazu anregen, Vorurteile, die gerade in der Pubertät entstehen und ausgeprägt werden können, in Frage zu stellen[2] und den Umgang mit Außenseitern oder Menschen mit Schwächen zu bedenken und kann dadurch evtl. zu einer Verhaltensänderung führen. In dieser Hinsicht leistet der Film auch einen pädagogischen Beitrag.

Verstärkt wird dies dadurch, dass die Kinder mit ihren Schwächen und Fehlern nicht nur in Gemeinschaft integriert werden, sondern auch gemeinsam in der Gruppe stark sind.[3] Wie der Soundtrack des Films die Kinder mit „Superhelden“ betitelt, so werden sie auch dargestellt: Eine Gruppe von Kindern, die u. a. aus einem querschnittsgelähmten Rollstuhlfahrer, einem ängstlichen Stotterer, einem kleinen Jungen, einem Mädchen und einem Übergewichtigen besteht, ist den Erwachsenen und den höheren Instanzen wie Polizei usw. dadurch überlegen, dass sie durch Neugier, Aufmerksamkeit, Mut und einen starken Willen mit ihren eigenen Mitteln eine Straftat aufklären und damit die Existenz von Mitarbeitern einer ganzen Firma retten können. Dies wird vor allem durch den Zusammenhalt in der Gruppe ermöglicht. Es wird immer wieder betont, dass die Kinder stets gegenseitig füreinander einstünden und das Motto gelte „alle für einen“. Dies wird insbesondere in der Szene von Marias und Ollis Abschied deutlich, als die Kinder sich in einer großen Traube umarmen und ihre Krokodilzeichen dem Anführer Olli abgeben. Das zeigt symbolisch, wie groß der Zusammenhalt in der Gruppe gewesen ist. Als Jenny nach dem Umzug von Maria und Olli versucht, Hannes zu trösten, behauptet sie, Freunde gäbe es „wie Sand am Meer“ und er solle doch eine neue Bande gründen. Hannes stellt jedoch die Gegenfrage, ob Jennys Freunde denn allzeit verlässlich seien und sie mit ihren Sorgen jederzeit auf sie zukommen könne, denn dann habe sie „ihre Krokodile“ gefunden. Der Film verdeutlicht dahingehend für Kinder einen besonderen Wert in unserer Gesellschaft: Dass Freundschaft, Zusammenhalt, und füreinander Einstehen in der Gemeinschaft von großer Bedeutung sind und stark machen.

Durch die Behandlung und den spielerischen Umgang von Integration und Freundschaft greift der Film Werte auf, die für Jugendliche von großer Bedeutung sind, wie aus der Shell Jugendstudie von 2006 hervorgeht, die „eines der umfassendsten und repräsentativsten Abbilder der Wünsche, Werte und Zukunftsperspektiven der Jugend in Deutschland“[4] liefert. Hier wurden 2532 Jugendliche im Alter von zwölf bis 25 Jahren zu ihrer persönlichen Wert- und Zielorientierung befragt, die sie jeweils auf einer siebenstufigen Skala von 1 („unwichtig“) bis 7 („außerordentlich wichtig“) einschätzten. Dabei stand der Wert, gute Freunde zu haben, von denen man akzeptiert wird, mit der Bewertung 6,5 (Jungen) bzw. 6,7 (Mädchen) an oberster Stelle.[5] Der Film stellt daher auf witzige und moderne Weise dar, wie Integration und Zusammenhalt heute funktionieren können, gerade weil die Kinder im Film dadurch am Ende zu Helden werden. Daher bietet er mit seinen Darstellern in der Vorbildfunktion für Kinder und Jugendliche Anregungen für ihren eigenen Umgang mit diesen Werten im Alltag und ihrer Lebenswelt.

Neben diesen positiven Aspekten entstehen im Film vor allem für jüngere Zuschauer allerdings auch andere Eindrücke, die ein unrealistisches Bild in Bezug auf bestimmte Umgangsformen mit sich bringen. So werden beispielsweise eigenartige Elternmodelle vorgestellt: Die Eltern von Kai, die im ersten Teil noch als um ihren querschnittsgelähmten Sohn äußerst besorgt charakterisiert worden sind, spielen in diesem Teil nur noch eine kleine Rolle und tauchen nur zu Beginn und am Ende des Films auf, da sie in der Zwischenzeit in den Urlaub fahren. Sie übertragen Kais 16 – jähriger attraktiver Cousine Jenny die Aufsichtspflicht, die selbst Ferien hat. Dies ist problematisch, da Jenny selbst noch minderjährig ist. Jenny erhält von Kais Mutter noch entsprechende Anweisungen (00:22:58), etwa dass Kai zu Hause sein müsse, wenn es dunkel wird, um 22 Uhr im Bett sein müsse und ausgenommen der Sendung „Tatort“ nur die Sender ARD und ZDF im Fernsehen sehen dürfe. In der ersten Zeit nimmt Jenny ihre Rolle als „Babysitter“ auch sehr ernst: Sie versucht, Kai aus dem Versteck der Bande zu holen und nach Hause zu bringen, da sie es dort für zu gefährlich hält (00:25:25); Kai lehnt dies jedoch ab und bleibt bei seinen Freunden. Dies hat keine weiteren Konsequenzen, wie z. B., dass Jenny die Eltern von Kai telefonisch benachrichtigt. Jenny legt ihre Rolle als ältere Aufsichtsperson jedoch mit der Zeit ab, als sie die Freunde näher kennen lernt und verschafft Ihnen z. B. im Gegenzug dafür, „dass Kai nicht mehr so zickig ist“, durch den Hintereingang Zugang in eine Diskothek. Nicht ganz nachvollziehbar ist also der plötzliche Wandel von Kais einstmals strengen und besorgten Eltern, die nun – wenig realistisch – ihren Sohn, der ihm ersten Film noch eine Spezialschule für körperlich Behinderte besuchen sollte, während ihrer Abwesenheit einer pubertierenden Verwandten anvertrauen.

Hannes lebt bei seiner alleinerziehenden, sehr jungen Mutter Christina, die mit 29 Jahren wohl noch im Teenageralter Mutter geworden ist. Teilweise scheint das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn verkehrt zu sein, denn Hannes fühlt sich wie auch schon im ersten Film für seine Mutter verantwortlich und arrangiert z. B. ein Blinddate für sie, da er sich Sorgen darum macht, dass sie älter wird und dabei keinen Mann an ihrer Seite hat. Dass Kinder sich um den Stand alleinstehender Elternteile sorgen, sich hierfür in gewisser Weise verantwortlich fühlen und gern die Initiative ergreifen, stellt ein in Kinderfilmen beliebtes Motiv dar; wie z. B. in der amerikanischen Komödie „Eins und Eins macht Vier“ von 1995 und ähnlichen Spielfilmen. Dabei sind die Eltern – Kind – Rollen, wie in Hannes´ Familie quasi vertauscht. Insgesamt zeigt sich Hannes´ Mutter sehr locker im Umgang mit ihrem Sohn: Als Hannes zu spät nach Hause kommt, bemerkt sie : „Wenn ich jetzt `ne strenge Mutter wär´, würd´ ich fragen, warum du schon wieder so spät bist“ (00:14:40). Bei der Unterhaltung am Tisch während des Essens scheinen auch die Rollen verkehrt zu sein: Hannes stellt wie in der Elternrolle seiner Mutter die Frage, wie ihr Arbeitstag gewesen sei und sie antwortet „Bei uns ging heute voll der Punk ab [...]“ (00:58:40). Dass seine Mutter keine autoritäre und strenge Person ist, wird auch noch durch kleinere Nebenhandlungen betont, die jedoch das Gesamtbild abrunden. Während des Abendessens am Tisch legt sie sich eine Gesichtsmaske auf und nimmt sich dabei zwei Gurkenscheiben aus dem bereits angemachten Salat für ihre Augen.

[...]


[1] Höhn, Elisabeth: Wandel der Werte und Erziehungsziele in Deutschland.Würzburg 2003, S.19.

[2] Vgl. Apeltauer, Ernst: Perspektivenvorgaben und Perspektivenwechsel am Beispiel von ausgewählten Nachrichteninhalten. In: Kepser, Matthis und Nickel-Bacon, Irmgard (Hg.): Medienkritik im Deutschunterricht (Band 14). Kronach 2004, S.115.

[3] Vgl. Hordych, Barbara: Eingeschworene Bande. In: Süddeutsche Zeitung für Kinder, Ausgabe Nr.5, April 2011, S.21.

[4] Stein, Margit: Wie können wir Werte vermitteln? Werteerziehung in Familie und Schule. München 2008, S.81.

[5] Vgl. Stein (2008), S.82.

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Vorstadtkrokodile 2: eine idealistische Jugendgeschichte mit einer gelungenen Wertevermittlung?
Hochschule
Ludwig-Maximilians-Universität München  (Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Seminar
Note
2
Jahr
2011
Seiten
15
Katalognummer
V184916
ISBN (eBook)
9783656105213
ISBN (Buch)
9783656105893
Dateigröße
442 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
kritischer Essay zum Film
Schlagworte
Film, Deutschunterricht, Werte, Vorstadtkrokodile, Didaktik, Wertevermittlung
Arbeit zitieren
Anonym, 2011, Vorstadtkrokodile 2: eine idealistische Jugendgeschichte mit einer gelungenen Wertevermittlung?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/184916

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