Die sprachliche Zurichtung von Identität in Ingeborg Bachmanns 'Malina'


Bachelorarbeit, 2010

70 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

II Sprache und Identität
1 Gesellschaft und Sprache
2 Die Rolle der Sprache bei der Bildung von Identität
3 Die Zuschreibung der Identität
4 Identitätsbehauptungen
5 Fazit

III Die (Un-)Möglichkeit des Erzählens: Eine Analyse der Erzählstruktur des Romans Malina
1 DiePersonen
1.1 Ivan
1.2 Malina
1.3 Ich
2 Einheit von Zeit und Ort
2.1 Die Zeit
2.2 Der Ort
3 Die Montage
3.1 Die Telefongespräche
3.2 Die Briefe
3.3 Das Interview
3.4 Die Träume 3
3.5Die Malina-Dialoge
3.6 Die Bezüge auf Literatur und Musik

IV Die sprachliche Zurichtung von Identität in Malina
1 Glücklich mit Ivan: Die Dokumentation eines zerstörten Ich
1.1 Liebesutopie oder Der Versuch eines Identitäsentwurfs
1.2 Die Sprachspiele zwischen Ich und Ivan
2 Der dritte Mann. Die Rekonstruktion der Identitätsdeformation
2.1 Die Sprache der Träume
2.2 Der sprachsymbolische Aufbau der Welt im Ich
3 Von letzten Dingen. Die Transformation als letzte Behauptung
3.1 Die Dialoge zwischen Ich und Malina
3.2 Das Verschwinden in der Wand oder Die Unhintergehbarkeit der symbolischen Ordnung

V Schlussbemerkung

Siglen

Literaturverzeichnis

I Einleitung

Bereits die erste Lektüre von Ingeborg Bachmanns Malina lässt den Leser die Komplexität des Romans erahnen und zwingt ihn unweigerlich in die Position des eigenständigen Interpreten. Je nach Rezeptionserfahrung und den aus dem Text gewonnenen Erkenntnissen werden unterschiedliche Schwerpunkte und Zugangsweisen zu einem Deutungsversuch gewählt. So lassen sich im Rahmen der Malina-Forschung zahlreiche Herangehensweisen - unter anderem sprachphilosophische, psychoanalytische, strukturalistische oder feministische - ausmachen. Der Hinweis auf die Vielschichtigkeit von Malina soll das Unterfangen, einen weiteren Interpretationsansatz zu finden, keinesfalls für sinnlos erklären, sondern lediglich darauf aufmerksam machen, dass eine Auslegung eben nur eine unter vielen möglichen ist. Da sich Ingeborg Bachmanns Roman nicht einfach als Geschichte einer äußeren Handlung lesen lässt, ist der Ausgangspunkt einerjeden Interpretation in der eigensten Erfahrung im Umgang mit dem Text zu suchen:

„Man muß überhaupt ein Buch auf verschiedene Arten lesen können und es heute anders lesen als morgen.“ (GuI 100)

Bei der Lektüre von Malina fallen als erstes die Erzählschwierigkeiten ins Auge. Mit eben diesen wird die Arbeit sich zunächst beschäftigen und verdeutlichen, dass sie die unausweichliche Folge der Verkettung von Identitäts- und Sprachproblematik darstellen. Der Versuch die tiefgreifende Identitätsbeschädigung in Malina erzählerisch zu rekonstruieren und den Prozess einer Identitätsfindung zu vermitteln, muss zwangsweise an die Grenzen der Möglichkeiten des Erzählens stoßen, handelt es sich doch um den Versuch „einer Artikulation von 'Unerzählbarem'“[1]. Inwieweit es Ingeborg Bachmann mit ihrem Roman letztlich aber doch gelingt, diese Grenze zu überschreiten und zu erzählen, was nicht erzählbar ist, soll im Rahmen einer Strukturanalyse beleuchtet werden.

Neben dem formal-strukturellen Aspekt liegt der inhaltlich-thematische Schwerpunkt der Arbeit auf der Auseinandersetzung mit dem Komplex Sprache-Identität. Ausgehend von soziologischen Identitätstheorien wird Malina dahingehend untersucht, inwieweit die Konstitution von Identität durch Sprache thematisiert wird. Deutlich werden soll, dass Inhalt und Struktur sich hier nicht trennen lassen, sondern dass vielmehr thematische Identitätsproblematik in strukturelle umschlägt.

Der erste Teil der Arbeit (Kapitel II) liefert zunächst einmal den theoretischen Rahmen für die Interpretation des Romans. Um den unauflösbaren Zusammenhang von Sprache und Identität verdeutlichen zu können, soll auf die sozialphilosophische/ -psychologische Theorie des 'Symbolischen Interaktionismus' George Herbert Meads verwiesen werden. Die für diese Arbeit relevanten Grundgedanken seines Ansatzes - etwa den des sprachsymbolischen Aufbaus der gesellschaftlichen Wirklichkeit oder den der fundamentalen Funktion der Sprache bei der Entstehung von Identität - werden vorgestellt und erläutert. Des Weiteren wird in Anlehnung an Erving Goffman das Prozedere der Identitätszuschreibungen im Zuge der Selbstinszenierungen beleuchtet. Dabei wird der Frage nach identitätsbildender bzw. -sabotierender Definitionsmacht nachgegangen und ein kurzer Blick auf mögliche Versuche, mit Beschädigungen und Gefährdungen der Identität umzugehen, geworfen.

Im nächsten Schritt (Kapitel III) soll nun die Kompositionsmethode des Romans Malina untersucht werden. Hierfür werden Aufbau und Erzählstruktur eingehend analysiert und bezüglich der inhaltlichen Uneinheitlichkeit gedeutet. Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei Malina um eine „quasi-autobiographische Ich-Erzählung“[2] handelt, liegt das Hauptaugenmerk auf der Untersuchung des Ich und der Zeitlichkeit. Da die Montage verschiedener Textarten für den Roman konstitutiv ist, sollen sie einzeln kurz beleuchtet und in ihrer Bedeutung für die Gesamtstruktur herausgestellt werden.

Die Interpretation von Malina (Kapitel IV) orientiert sich an der Kapitelfolge des Romans: Das erste Kapitel Glücklich mit Ivan soll als Dokumentation eines zerstörten Ich gelesen werden. Hierfür wird die Liebesbeziehung zu Ivan betrachtet und als utopische Projektion eines identischen Lebens entlarvt. Untersucht wird in diesem Kontext die Funktion der Sprachspiele zwischen Ich und Ivan. Das zweite Kapitel des Romans soll als Versuch der Rekonstruktion der Identitätsdeformation verstanden werden. Da die Träume den Hauptteil dieses Kapitels ausmachen, werden sie analysiert und in ihrer Funktion erläutert. Die Frage nach dem dritten Mann soll geklärt, d.h., die dem Ich eingeschriebene Sprache bzw. symbolische Ordnung von Welt - und damit auch von sich selbst - soll zum Vorschein gebracht werden. Von letzten Dingen wird nun als konsequente Weiterführung des Versuchs Identität zu behaupten gedeutet. Wieso die Dialoge zwischen Ich und Malina das Ich letztlich in der Wand verschwinden lassen, und inwieweit dies ein Zeugnis für die Unhintergehbarkeit der symbolischen Ordnung ist, wird geklärt.

Am Ende der Arbeit soll die unauflösbare Verkettung von Identität und Sprache - im Sinne der sprachlichen Zurichtung von Identität - deutlich geworden sein.

II Sprache und Identität

„Wir sind die Geschichten, die wir über uns zu erzählen vermögen.“[3] Wenn wir Geschichten (über uns) erzählen, ist uns klar, dass wir sowohl durch den Inhalt als auch durch die Art und Weise unseres Erzählens, ein Stück von uns, unserer Identität preisgeben. Die Aussage, dass Sprache oder der Umgang mit Sprache eine Möglichkeit darstellt, uns selbst auszudrücken, würden wir sofort unterschreiben. Doch ist dies tatsächlich der einzige Zusammenhang von Sprache und Identität? Ist Sprache in diesem Kontext lediglich ein Teil unseres Ausdrucksrepertoires, das Medium, mit dem wir versuchen uns verständlich zu machen? Oder ist sie letzten Endes vielleicht doch weitaus mehr und besitzt in Bezug auf Identität eine Funktion, die viel grundlegender ist als geahnt? Diesen, aber auch noch weiterführenden Fragen, wird sich nun die nachfolgende Untersuchung widmen.

1 Gesellschaft und Sprache

Dass Gesellschaft und Sprache zusammenhängen, ist offensichtlich: Jede Gesellschaft besitzt ihre eigene Sprache. Doch wie sie zusammenhängen, lässt sich nicht so leicht klären. Bringt eine bestimmte Gesellschaft ihre eigene Sprache hervor, oder formt eine Sprache die Gesellschaft? Lassen sich Sprache und Gesellschaft überhaupt voneinander trennen oder sind sie gar untrennbar miteinander verwoben? Dies sind Fragen, die auch George Herbert Mead (1863 - 1931) sich so gestellt haben könnte, liefert er in seinem Werk Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus doch äußerst schlüssige Antworten.

Ausgehend von der Fragestellung, was „nun der grundlegende Mechanismus [sei], durch den der gesellschaftliche Prozeß angetrieben wird“[4], sucht Mead die Grundzüge menschlicher Sozialität aufzudecken, wobei deutlich wird, dass bei ihm nicht die Struktur von Gesellschaft, sondern ihr prozessualer Charakter im Vordergrund steht. Im Rahmen seiner Kommunikationstheorie gelangt er zu der Auffassung, dass „das Grundprinzip der gesellschaftlichen Organisation des Menschen die Kommunikation zu sein“[5] scheint. Worin für Mead nun das Besondere an menschlicher Kommunikation - und somit auch an menschlicher sozialer Organisation - besteht, zeigt sich bei einer genaueren Betrachtung seiner Theorie der Kommunikation:

Der Mensch reagiert auf Reize. Mead unterscheidet Zeichen, Gesten und Symbole, wobei Zeichen die einfachen Sinnesreize darstellen, auf die instinktive Reaktionen folgen. Auf Ebene dieser einfachen Reize, zeigt der Mensch in seiner Reaktion noch keinen wirklichen Unterschied zum Tier. Im Bereich der Gesten jedoch schon: Gesten sind zunächst auch einmal Zeichen, allerdings solche, auf die mit Verhalten reagiert wird. Mehr noch: Eine Geste selbst ist schon Verhalten und ermöglicht somit allererst kommunikativen Austausch. Während allerdings ein Tier nahezu automatisiert auf die Geste eines anderen Tieres reagiert, ist der Mensch in der Lage, seine Reaktion zu verzögern. Dies kann er, weil er darüber nachzudenken vermag, was eine Geste in einer bestimmten Situation bedeutet, was für einen Sinn sie hat. Er wird über die situationsgemäße Bedeutung der Geste nachsinnen, und dann die jeweils passende Reaktion auswählen. Letztlich bedeutet dies, dass der Mensch nicht mehr auf das Zeichen an sich reagiert, sondern auf den von ihm vermuteten Sinn der Geste. Damit reagiert er auf ein Symbol. Ein Symbol weist in seiner Sinndimension über die konkrete Situation hinaus und „tendiert dazu, im Individuum selbst und bei anderen Menschen eine Gruppe von Reaktionen auszulösen“.[6] Es ist als Zeichen oder Begriff Träger ganzer Erfahrungskomplexe. „In der Kommunikation zwischen Menschen sind Symbole Stellvertreter für Interpretationsweisen und Handlungsabsichten.“[7] Löst nun ein Symbol innerhalb einer bestimmten Gemeinschaft die gleichen Reaktionen aus, handelt es sich um ein signifikantes Symbol. Ein signifikantes Symbol bedeutet „für den Einzelnen sowohl ein Reiz als auch eine Reaktion“[8], befähigt also das Individuum dazu, auf die von ihm hervorgebrachten Gesten selbst zu reagieren. Das heisst, es ist in der Lage, die möglichen Handlungsreaktionen anderer Personen innerlich zu repräsentieren und dadurch das Antwortverhalten zu antizipieren. „An dem Punkt, an dem die Geste diesen Zustand erreicht, wird sie zu dem, was wir „Sprache“ nennen.“[9]

Sprache als höchstentwickelte Kommunikationsform, „als das Symbolsystem par excellence ist Träger intersubjektiv geteilten Wissens“.[10] In ihr werden soziale Erfahrungen symbolisiert und zu verbindlichen Mustern wechselseitiger Verhaltenserwartungen generalisiert. Eben diese besondere Befähigung zur symbolvermittelten Interaktion zeichnet die menschliche Lebensform aus und erlaubt die Steuerung des „gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozesses“[11] über Sprache. Die wechselseitige Abhängigkeit von Gesellschaft und Sprache tritt deutlich zu Tage: Sprache als Gesamtheit der signifikanten Symbole ist sozialer Natur, denn schließlich können Symbole nur im Kontext gesellschaftlicher Situationen geschaffen und gegebenenfalls signifikant werden. Die damit zusammenhängende Konstruktion eines gesellschaftlich verbindlichen Sinnhorizontes ermöglicht ihrerseits die Koordination bzw. gegenseitige Anpassung von Handlungen der einzelnen in den gesellschaftlichen Prozess eingeschalteten Individuen.

Im Zuge der Sozialisation erlernen wir nun - nahezu selbstverständlich - die Sprache unserer Gesellschaft, jedoch ohne uns des sprachsymbolischen Aufbaus unserer gesellschaftlichen Welt wirklich bewusst zu werden. Durch den unbekümmerten Umgang mit dieser Sprache erkennen wir wohl oder übel die geltenden Werte unserer Gesellschaft an, beinhaltet doch jede Sprache zwangsweise die Werte und Erwartungshaltungen derjenigen Gesellschaft, die durch sie organisiert wird. Sicherlich kommt es immer wieder zu Umbauten und Neukonstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeit, indem neue typisierbare Erfahrungen gemacht werden, schließlich ist und bleibt symbolische Kommunikation in erster Linie ein fortlaufender Verständigungs- und damit Interpretationsprozess, dem nunmal die prinzipielle Offenheit von Erwartungen innewohnt. Doch eine grundlegende Schwierigkeit bleibt: Über nicht-symbolisierte Erfahrungen, die jenseits des gesellschaftlichen Bedeutungshorizonts liegen, lässt sich nicht sinnverbürgend und verständlich denken oder sprechen.

2 Die Rolle der Sprache bei der Bildung von Identität

„Identität entwickelt sich; sie ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, entsteht aber innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses“.[12] Diese Behauptung Meads mag für den einen oder anderen unter uns, der gerade am Konzept von Identität als eigenstem, gesellschaftsunabhängigen Wesenskern festhalten will, enttäuschend, ja fast schon beleidigend wirken. Die individuelle Erfahrung von Identität wird von Mead nicht nur aus gesellschaftlicher Perspektive betrachtet, sondern sogar aus dem gesellschaftlichen Prozess heraus begründet. So vertritt er die Auffassung, dass der Mensch das Bewusstsein seines eigenen Selbst, sein Selbstbewusstsein, nur im Rahmen des ununterbrochenen Kommunikationsprozesses gewinnen kann. Genauer: Selbstbewusstsein als Voraussetzung von Identität entsteht im Vorgang des Denkens. Wie ist das gemeint?

Identitätsentwicklung kann nur stattfinden, wenn der Einzelne sich selbst zu objektivieren vermag. Um eigene Identität erfahren zu können, muss ein Individuum folglich in der Lage sein, sich gewissermaßen selbst zuzuschauen. Eben hierin begründet sich die maßgebende Funktion der Sprache bei der Bildung von Identität, da „sie eine Verhaltensweise erzeugt, in der [...] das Individuum für sich selbst Objekt werden kann.“[13] Nur mittels Sprache sind wir fähig uns von aussen, quasi mit den Augen des oder der anderen zu betrachten, indem wir denkend seine bzw. ihre Position einnehmen. Denken ist letztendlich als inneres Gespräch Sprache; denkend verfügt der Mensch losgelöst vom 'hier und jetzt' über sprachsymbolische Erfahrungen, „die im Individuum selbst die gleiche Reaktion wie in den anderen auslösen, und zwar so, daß es vom Standpunkt dieser Reaktion aus in der Lage ist, sein späteres Verhalten zu lenken."[14] Erst durch diese „Übernahme der Rolle anderer"[15] gewinnt ein Individuum eine Vorstellung von sich. Es wird sich seiner selbst bewusst, entwickelt ein Identitätsbewusstsein.

Auch wenn Kommunikation als Verständigungsprozess zwar einerseits darauf abzielt, den anderen zu verstehen und sich ihm verständlich zu machen, führt sie jedoch neben dem 'Fremdverstehen' gleichermaßen zu einem Selbstverständnis. „Sagt eine Person etwas, so sagt sie zu sich selbst, was sie zu den anderen sagt; andernfalls wüßte sie nicht, worüber sie spricht.“[16] Im Lichte der Rollenübernahme erscheint Kommunikation somit immer als Selbstkommunikation und birgt ein hohes Maß an Selbstkontrolle des Individuums über sein eigenes Denken und Handeln in sich. „Die unmittelbare Wirkung dieser Übernahme einer Rolle liegt in der Kontrolle, die der Einzelne über seine Reaktionen ausüben kann.“[17] Gerade hierin liegt die entscheidende Bedeutung der Rollenübernahme für die Persönlichkeits- bzw. Identitätsbildung. Doch wie kommt diese Fähigkeit zur Rollenübernahme überhaupt zustande?

Mead erläutert, „daß es bei der vollständigen Entwicklung der Identität zwei Stadien gibt“[18] - er nennt sie „Spiel“ und „Wettkampf“[19] - in denen die Fertigkeit, sich in die Rollen der anderen hineinzuversetzen und schließlich eine eigene Identität zu organisieren, erlernt wird. Letzten Endes vollzieht sich in diesen beiden Phasen die Entwicklung „von der spielerischen Übernahme der Rolle anderer zur organisierten Rolle, die fur das Identitätsbewußtsein im vollen Wortsinn entscheidend ist.“[20] Damit ist gemeint, dass das Individuum lernt, zeitgleich mehrere Perspektiven zu differenzieren und zu koordinieren, so dass es schließlich Handlungen nach einem gesellschaftlich allgemeingültigen Prinzip beurteilen kann.[21] Das Gesamt aller Haltungen in einem bestimmten Handlungszusammenhang bezeichnet Mead als den „verallgemeinerten Anderen“.[22] Durch Orientierung und Organisation der eigenen Handlungen im Hinblick auf den verallgemeinerten Anderen, erfolgt letztlich die Bindung an gesellschaftlich geltende Werte und Normen. Das moralische Bewusstsein erwächst aus dem Urteilsvermögen, welches sich seinerseits aus dem Dialog mit dem verallgemeinerten Anderen herausbildet. Mit der Hereinnahme des gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses in Form der Internalisierung des verallgemeinerten Anderen ist schließlich die Grundlage für eine erfolgreiche Identitätsbildung geschaffen.

Doch wenn nun die Verinnerlichung des verallgemeinerten Anderen und die Fähigkeit zur Rollenübernahme die Grundvoraussetzungen von Identität darstellen, Identität folglich durch und durch gesellschaftlich bedingt ist, wie kommt es dann zur Ausbildung völlig verschiedener Identitäten innerhalb ein und derselben Gesellschaft, teilen die Mitglieder der gleichen sozialen Gruppe doch die gleichen Werte und - viel grundlegender - die gleiche Sprache? Müsste Identität nicht nahezu vollständig sozial festgelegt erscheinen undjeglichen Anspruch aufIndividualität als Illusion entlarven?

Mead gelingt es, der gesellschaftlichen Determiniertheit von Identität ein Freiheitsmoment gegenüber zu stellen, indem er sie als aus zwei Teilen bestehend auffasst. Die zwei Komponenten menschlicher Identität nennt er das „Ich“ und das „ICH“.[23] Das 'Ich' ist vorsozial - damit vorsprachlich und unbewusst - und bezeichnet eine aus dem „konstitutionelle[n] Antriebsüberschuss“[24] des Menschen hervorgehende Impulsivität und Schöpferkraft; es „liefert das Gefühl der Freiheit, der Initiative.“[25] „Auf das „Ich“ ist es zurückzuführen, daß wir uns niemals ganz unserer selbst bewußt sind, daß wir uns durch unsere eigenen Aktionen überrraschen.“[26] Das 'ICH' verkörpert hingegen denjenigen Aspekt der Identität, dessen wir uns überhaupt bewusst werden können. Es „ist die organisierte Gruppe von Haltungen anderer, die man selbst einnimmt“[27], also ein System internalisierter sozialer Bilder von sich selbst, die aus der Interaktion mit anderen gewonnen bzw. die einem zugewiesen wurden. An eben diesen Bildern orientieren wir uns und richten unser Denken und Handeln nach ihnen aus. Da ein Individuum im Laufe seines Lebens immer wieder neue gesellschaftliche Erfahrungen sammelt und dabei in den unterschiedlichsten Rollen auftritt, gewinnt es im Vorgang der Rollenübernahme auch immer wieder neue Vorstellungen von sich. Diese mannigfachen Bilder, die durchaus gegensätzlich sein können, müssen unaufhörlich zu einen einheitlichen Selbstbild zusammengefügt werden, um konsistentes Verhalten zu gewährleisten.[28] Der permanente Dialog zwischen 'Ich' und 'ICH' ermöglicht diese Synthetisierung, indem die Reaktion als 'Ich' in die Erinnerung des 'ICH' eingeht und von diesem bewertet und verarbeitet wird. Gegebenenfalls muss das System des 'ICH' neu organisiert und umstrukturiert werden, um die Einheit des Selbstbildes zu wahren. Mein Selbstbild - als Resultat der Koordination aller mir gespiegelten Bilder - ist folglich das aktuellste Erinnerungsbild meiner selbst. Das 'Ich', mit dem ich mich zu identifizieren suche, tritt nur in der Erinnerung auf, da ich mir meiner individuellen Identität nur zeitversetzt im Nachsinnen aus der Warte des 'ICH' gewahr werden kann. Ich reagiere als 'Ich' und bewerte diese Reaktion als 'ICH'. Da das 'ICH' unter anderem die Summe der verinnerlichten gesellschaftlichen Werthaltungen darstellt, gilt es als diejenige Instanz der Identität, in der die soziale Kontrolle wirksam wird. Das 'ICH' versucht das 'Ich' zu kontrollieren, während das 'Ich' immer wieder aufständig und verändernd darauf reagiert. Es ist also nicht nur das nicht gänzlich sozialisierbare 'Ich', das die spezifische Identität des Einzelnen ausmacht, sondern auch die einzigartige Form der Vermittlung eines 'Ich' mit seinem 'ICH'. Jede einzelne Identität ist aber auch deshalb individuell, da sich das 'ICH' zweier Menschen niemals vollständig gleichen kann, verfügt dochjeder über eigene soziale Erfahrungen.

„In anderen Worten, die organisierte Struktur jeder einzelnen Identität innerhalb des menschlichen gesellschaftlichen Erfahrungs- und Verhaltensprozesses spiegelt die organisierten Beziehungen dieses Prozesses als Ganzen wider und wird durch ihn gebildet. Jede einzelne Identitätsstruktur spiegelt aber (und wird gebildet durch) einen andersartigen Aspekt oder eine andere Perspektive dieser Beziehungen, weil eine jede diese Beziehungen aus ihrer eigenen, einzigartigen Position spiegelt.“[29]

3 Die Zuschreibung der Identität

Die grundlegende Bedeutung der Rollenübernahme für die Identitätsbildung wurde bereits erläutert: Rollenübernahme bewirkt Selbstkontrolle. Unabhängig davon merke ich natürlich spätestens an den tatsächlichen Reaktionen der anderen, ob mein Verhalten so wahrgenommen wurde, wie es von mir gemeint war. Im Spiegel der Reaktionen der anderen erfahre ich also, wie ich von ihnen gesehen werde, welches Bild sie von mir haben. Die Bilder, die mir die anderen zurückwerfen, müssen letztlich immer wieder von mir verarbeitet und zu einem konsistenten Selbstbild synthetisiert werden. Da Identität folglich zu einem nicht unerheblichen Teil von den Spiegelungen der anderen abhängt, ist das Individuum bemüht, den Eindruck, den es bei ihnen hinterlässt, zu kontrollieren, und zwar dahingehend, dass die Identitätszuschreibungen der anderen nicht allzu weit vom eigenen Identitätsentwurf abweichen, will es die Einheitlichkeit des Selbstbildes nicht gefährden. Jedes Individuum sucht sein Selbst vor anderen so darzustellen, dass möglichst ein bestimmtes Bild von ihm vermittelt wird.

Erving Goffman (1922 - 1982) hat in seinem Werk Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag den ununterbrochenen Vorgang der Selbstinszenierung mit einem Schauspiel verglichen, wobei er damit nicht behaupten will, dass die „Dinge vorgetäuscht“, sondern vielmehr „echt, dabei aber nur unzureichend geprobt sind.“[30] Entsprechend dem Wortschatz der Dramaturgie bezeichnet Goffman „die Gesamttätigkeit eines bestimmten Teilnehmers an einer bestimmten Situation [...], die dazu dient, die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise zu beeinflussen“ als „Darstellung“.[31] Die an einer Interaktion beteiligten Individuen sind dabei zeitgleich jeweils Darsteller und Publikum. „Das vorherbestimmte Handlungsmuster, das sich während einer Darstellung entfaltet und auch bei anderen Gelegenheiten vorgeführt oder durchgespielt werden kann, können wir „Rolle“ (part) nennen“.[32] Zusammengefasst heisst das: Treffen Menschen aufeinander, stellen sie sich einander gegenseitig in situationsspezifischen Rollen dar.

Durch die gemeinsame Sozialisation, die Teilhabe und Ausrichtung am gleichen Symbolsystem, haben wir dieselbe oder zumindest doch sehr ähnliche Vorstellung von dem, was in unserer Gesellschaft als normal gilt. Wir wissen, wie eine bestimmte Rolle in einer bestimmten Situation gespielt werden muss, soll die gemeinsame soziale Realität nicht erschüttert werden. Aufgrund früherer Erfahrungen - entweder mit der entsprechenden Person oder mit ähnlichen Situationen - tragen wir gewisse Verhaltenserwartungen an den mit uns an der aktuellen Interaktion Beteiligten heran. Diese aus vorausgegangenen Interaktionen gewonnenen und generalisierten Erwartungen wandeln sich mit der Zeit nahezu unmerklich in verpflichtende Erwartungshaltungen. Allmählich erheben wir den vermeintlich berechtigten Anspruch, dass unser Gegenüber sich entsprechend der allgemein anerkannten Rollenerwartungen zu verhalten hat. Wir fordern nahezu, dass er sich an gültige Spielregeln hält und gewisse Normen - auch Identitätsnormen - erfüllt. Eben diese Verhaltenszuschreibungen sind es, die den anderen innerhalb einer bestimmten Situation definieren, ja sogar fixieren, und eine dementsprechende „soziale Identität“ bewirken.33 Soziale Identität meint somit die Bestimmung des anderen durch gesellschaftliche Kategorien und ist „zuallererst Teil der Interessen und Definitionen anderer Personen hinsichtlich des Individuums, dessen Identität in Frage steht.“[33] [34]

In der Regel erfolgen die Definitionen der Situation und der zu spielenden Rollen in wechselseitiger Gewissheit, da wir durch dieselbe Sozialisation auf eine gemeinsame soziale Wirklichkeit, und damit auf die gleiche Vorstellung von Normalität hin verpflichtet sind. Dadurch stimmt das Erwartungsbild von einer mir zugedachten Rolle auch in gewissem Maße mit meinem Selbstbild überein, so dass Interaktionen im Großen und Ganzen störungsfrei verlaufen können. Kritisch wird esjedoch, wenn das tatsächliche Verhalten zu sehr vom erwarteten Rollenverhalten abweicht. Zwar lässt die Art der Darstellung einer spezifischen Rolle immer das Selbstbild des Darstellers durchscheinen, indem er die unpersönliche Rollenvorgabe mit einer persönlichen Note versieht, doch sollten die Andeutungen über die 'eigentliche' Identität nicht allzu weit von der 'normalen' abweichen. Diese Fähigkeit, seine „Unzufriedenheit mit und Widerstand gegen die Rolle“[35] ausdrücken zu können, und sich somit handelnd mit den normativen Rollenerwartungen auseinander zu setzen, bezeichnet Goffman als 'Rollendistanz': „Das Individuum leugnet tatsächlich nicht die Rolle, sondern das faktische Selbst, das in der Rolle für alle Darsteller enthalten ist, die die Rolle akzeptieren.“[36]

Wird nun der allgemein zugestandene Spielraum für die Selbstdarstellung im Rahmen der Rollenerwartung nicht nur ausgereizt, sondern gesprengt, so dass sich einerseits eine Kluft zwischen der normalerweise erwarteten und realiter behaupteten Identität auftut, andererseits die gemeinsam verbindliche Realität gefährdet scheint, so müssen schnellstens - soll der Fortgang der Interaktion gesichert werden - neue Situations- und gegebenenfalls auch Identitätsdefinitionen ausgehandelt werden. Allerdings sind die Abweichungen von der zugeschriebenen Identität meistens nicht so gravierend, dass Normalität nicht zu wahren oder wiederherzustellen wäre. Nicht zu vergessen ist natürlich auch die Tatsache, dass sich das Selbstbild, das jeder von uns zu vermitteln und zu behaupten sucht, an sich schon selten wirklich weit von den gängigen Identitätsnormen abhebt - schließlich ist es zum großen Teil auch nur ein konstruiertes Sozialisationsprodukt. Wir wollen also selbst bis zu einem gewissen Grad normal sein.

4 Identitätsbehauptungen

Im unablässigen 'Spiel' der Selbstdarstellungen nimmt Rollendistanz eine äußerst wichtige Funktion ein. Sie stellt eine Strategie dar, mittels der wir uns gegen nicht genehme Zuschreibungen anderer behaupten und die Einheitlichkeit unseres Selbstbildes aufbauen und wahren können. Distanzierten wir uns nicht wenigstens ein Stück weit von den unzähligen, teilweise widersprüchlichen Rollen, die auszufüllen wir verpflichtet sind - wollen wir 'im Spiel' bleiben - bestünde die Gefahr als Person zu zerbrechen. Rollendistanz - als notwendiger Spielraum zur Selbstbestimmung - und Identitätsbildung sind also untrennbar miteinander verbunden. Da wir nicht vollends in einer bestimmten Rolle aufgehen, sondern andeuten, wer und wieviel mehr wir darüber hinaus sind, liefern wir Definitionen unserer Identität und der Situation. „Zur Rollendistanz gehört deshalb auch, die Erwartungen der anwesenden Zuschauer zu beeinflussen.“[37] Wie bereits erwähnt, versuchen wir die Erwartungshaltungen, die andere uns gegenüber einnehmen, dadurch zu beeinflussen, dass wir sie in bestimmter Weise beeindrucken, d.h., den Eindruck, den wir hinterlassen, so gut wie nur möglich zu kontrollieren suchen.[38] Kontrolle bedeutet Macht - und zwar Macht, relevante Situations- und Identitätsdefinitionen liefern zu können. Besitzen die Teilnehmer einer Interaktion ungefähr die gleiche Definitionsmacht, so findet das Aushandeln der Definitionen im Kontext wechselseitiger Rücksichtnahme statt. Sie gewähren einander den Spielraum für Selbstbestimmung, gestehen sich also gegenseitig zu - wenn nötig - Gegendefinitionen anbringen zu dürfen. Die Interaktionspartner haben beide das Recht, ihre Identität aus eigenem Anspruch heraus zu behaupten. Doch was geschieht, wenn einem dieses Recht abgesprochen wird, wenn sich die Aushandlung von Definitionen auf dem Hintergrund eines Machtgefälles vollzieht? Was passiert, wenn sich ein Individuum gegen nachteilige Identitätszuschreibungen nicht zu behaupten vermag, wenn die Kluft zwischen 'wahrem' und 'zugeschriebenem' Selbst unüberbrückbar zu werden scheint?

Goffmans Buch Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität handelt von der Macht hinter den Zuschreibungen. Es beschreibt die Anstrengungen, die Individuen unternehmen (müssen), um sich vor potentiellen Beschädigungen ihrer Identität zu schützen oder bestmöglich mit ihrer lädierten Identität umzugehen. Identitätsbeschädigungen werden durch Stigmata verursacht. Ein Stigma ist „ein Fehler“ oder aber auch „eine Unzulänglichkeit, ein Handikap“, das „eine besondere Diskrepanz zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität“ schafft.[39] Es wird als von der Normalität negativ abweichend bewertet, als Abnormalität, „die zutiefst diskreditierend ist“ [40], wobei beachtet werden muss, dass keine Eigenschaft an sich, sondern nur ihr Bezug zur gesellschaftlich bedingten Definition von Normalität eine diskriminierende Wirkung entfalten kann.[41] Je nachdem, ob Stigmata deutlich zu Tage treten oder doch eher im Verborgenen liegen, spricht Goffman von Diskreditierten und Diskreditierbaren. [42] Wenngleich „[z]wischen der Situation des Diskreditierten, der Spannung zu managen hat, und der Situation des Diskreditierbaren, der Information zu managen hat,“ [43] ein Unterschied besteht, so ist ihnen jedoch eines ganz sicher gemein: die Einsamkeit. Beide sehnen sich - wie eigentlich alle - nach Akzeptanz und Annerkennung und entwickeln spezifische Strategien, um sich diese Formen sozialer Zuwendung zu sichern.

Das diskreditierte Individuum kann sich entweder der Definitionsmacht der anderen unterwerfen oder aber die Anstrengung unternehmen, entgegen aller Zuschreibungen eine Gegendefinition zu entwickeln, um so seine Identität aus eigenem Anspruch heraus zu behaupten. Diskreditierte Personen müssen also Schwerstarbeit leisten, wollen sie ihre Identität behaupten und schützen. Das Maß an Spannung, das sie in Interaktionen aufgrund permanenter abträglicher Zuschreibungen zu (er)tragen haben, ist gewaltig. Anders verhält es sich bei den Diskreditierbaren:

„Das entscheidende Problem ist es nicht, mit der Spannung, die während sozialer Kontakte erzeugt wird, fertig zu werden, sondern eher dies, die Information über ihren Fehler zu steuern.“[44]

Da das Stigma bei diskreditierbaren Personen nicht sofort und für jedermann offensichtlich ist, sie also zunächst einmal ganz 'normal' zu sein scheinen, stellt sich bei ihnen eine grundsätzlich andere Frage: „Eröffnen oder nicht eröffnen; sagen oder nicht sagen; rauslassen oder nicht rauslassen; lügen oder nicht lügen; und in jedem Fall, wem, wie, wann und wo.“[45] Diskreditierbare müssen sorgsam abwägen, ob und wieviel sie von sich in Gegenwart anderer preisgeben, wollen sie die soziale Akzeptanz und Anerkennung nicht aufs Spiel setzen. Die Informationen müssen dahingehend kontrolliert werden, dass der Makel, der sie jederzeit aus dem Rahmen der Normalität fallen lassen und sie diskreditieren würde, nicht ans Licht kommt. „Für sich selbst bedeutet Identitätsarbeit, dass das Individuum möglichst fest vergisst, was es diskreditieren könnte“[46] ; vor den anderen bedeutet Identitätsarbeit, mittels diverser Strategien, die „von der Notlüge bis zum totalen Vergessen, vom entschiedenen Abstreiten bis zur Konstruktion einer immer komplexeren Scheinidentität“[47] reichen, über den stigmatisierenden Fehler

hinwegzutäuschen. Das Fatale an den Strategien des Täuschens ist allerdings, dass die diskreditierbare Person stets der angstvollen Situation ausgesetzt ist, alles könne auffliegen und die schmachvolle Wahrheit ans Tageslicht bringen. Hierbei wird deutlich, wie die Definitionsmacht der anderen widerspruchsfrei anerkannt und sich ihr bedingungslos unterworfen wird. Normalität wird vorgespielt, eine 'normale' Identität wird präsentiert, hinter der die im Verborgenen stigmatisierte Person jedoch kläglich zurückbleibt - schließlich ist alles nur Schein. Unter der Macht der 'Normalen' wird getäuscht, was das Zeug hält - bis hin zur Selbstverachtung. Schlussendlich wird die Diskrepanz zwischen gezeigter und tatsächlicher Identität immer größer, so dass eine wirkliche Synthese zu einem einheitlichen Selbstbild irgendwann nicht mehr möglich sein dürfte.

5 Fazit

Der unauflösbare Zusammenhang von Sprache und Identität dürfte deutlich geworden sein: ohne Sprache kein Identitätsbewusstsein! Sprache als Steuerungsmoment des gesellschaftlichen Prozesses - doch zugleich selbst aus diesem hervorgegangen - bildet die Grundlage der Identitätsentwicklung. Nur mittels Sprache ist der Mensch fähig sich selbst zum Objekt seiner Betrachtung zu machen, indem er sich denkend in die Rollen anderer versetzt. Während er sich dann gleichsam selbst von außen zusieht, wird er sich seiner selbst bewusst und entwickelt so das Bewusstsein seiner eigenen Identität. Durch sein Verhalten schreibt der Mensch sowohl sich selbst als auch anderen stets eine bestimmte Identität zu und sucht auf diese Weise zugleich seine Identität gegen die Zuschreibungen der anderen aus sich selbst heraus zu behaupten. Da letzten Endes jegliches Handeln sprachlich organisiert ist, wird auch in diesen Vorgängen das grundlegende „Abhängigkeitsverhältnis zwischen Sprachbedürftigkeit und Identitätsfindung“[48] offenbar.[49]

III Die (Un-)Möglichkeit des Erzählens: Eine Analyse der Erzählstruktur des Romans Malina

1 Die Personen

Der Roman Malina beginnt mit einem Einleitungsteil, der - mit keinem Titel versehen - einfach auf „Die Personen“ (MA 7) verweist. Als eher untypischer Romanbeginn erweckt das dargestellte Personenverzeichnis den Eindruck, es handle sich um eine Einführung in ein Theaterstück und nicht um den Prolog eines Prosatextes.

Bei den Personen, die im vorangestellten Register eingeführt werden, handelt es sich um Ivan, die Kinder Béla und András, Malina und Ich. Im Gegensatz zu den übrigen Personen, werden Béla und András nicht näher bestimmt, sondern nur unter Angabe ihres Alters der Kategorie 'Kinder' zugeordnet. Zu diesem Zeitpunkt ist unklar, wessen Kinder sie sind und in welchem Verhältnis sie zu den anderen Personen stehen. Da sie im Roman lediglich als Nebenfiguren erscheinen, und weitere Nebenfiguren, wie beispielsweise die Altenwyls oder Fräulein Jellinek im Personenverzeichnis aber nicht aufgeführt werden, stellt sich die Frage, warum sie überhaupt erwähnt werden.[50]

Doch auch die Angaben zu Ivan, Malina und Ich, die zwar auf den ersten Blick reichhaltiger zu sein scheinen, erfolgen nicht eindeutig, nicht essentiell genug, um keine Fragen aufkommen und eine tatsächliche Konturierung der Figuren zuzulassen. Inwieweit diese Uneindeutigkeit der Personenentwürfe vielleicht notwendig und gewollt ist, und welcher Zweck mit einer solchen Figurenkonzeption verfolgt wird, soll nun im Folgenden eingehend beleuchtet werden.

[...]


[1] Dirk Göttsche: Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa, Frankfurt am Main 1987, S. 189.

[2] Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens, 4., durchgesehene Auflage, Göttingen 1989, S. 268.

[3] Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, 4. Auflage, Frankfurt am Main 1997, S. 34.

[4] George Herbert Mead: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, 10. Auflage, Frankfurt am Main 1995, S. 52, Fn.

[5] Ebd.: S. 299.

[6] G. H. Mead: Geist, IdentitätundGesellschaft, S. 111.

[7] Heinz Abels: Einführung in die Soziologie, Bd. 2: Die Individuen in ihrer Gesellschaft, 3. Auflage, Wiesbaden 2007, S. 198.

[8] G. H. Mead: Geist, IdentitätundGesellschaft, S. 111.

[9] Ebd.: S. 85.

[10] Heinz Abels: Identität, Wiesbaden 2006, S. 258.

[11] G. H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 301.

[12] Ebd.: S. 177.

[13] G. H. Mead: Geist, IdentitätundGesellschaft, S. 180.

[14] Ebd.: S. 113.

[15] Ebd.: S. 113.

[16] Ebd.: S. 189.

[17] Ebd.: S. 300f.

[18] G. H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 200.

[19] Vgl. ebd.: S. 194ff.

[20] Ebd.: S. 194.

[21] Vgl. H. Abels: Einführung in die Soziologie, Bd. 2,S.31.

[22] G. H. Mead: Geist, IdentitätundGesellschaft, S. 196.

[23] Ebd.: S.216. Die Originalausdrücke bei Mead - „I“ (,Ich’) und „me“ (,ICH’) - lassen sich zwar durchaus besser unterscheiden, doch wird aufgrund der Einheitlichkeit die etwas umständlichere deutsche Übersetzung beibehalten.

[24] Heinz Abels: Interaktion, Identität, Präsentation. Kleine Einführung in interpretative Theorien der Soziologie, 4. Auflage, Wiesbaden 2007, S. 34.

[25] G. H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 221.

[26] Ebd.: S.217.

[27] Ebd.: S. 218.

[28] Vgl. H. Abels: Identität, S. 266ff.

[29] G. H. Mead: Geist, Identität und Gesellschaft, S. 245.

[30] Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 2. Auflage, München 1973, S. 3.

[31] Ebd.: S. 18.

[32] Ebd.: S. 18.

[33] Vgl. Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, 4. Auflage, Frankfurt amMain 1980, S. 10.

[34] Ebd.: S. 132.

[35] Erving Goffman: Interaktion: Spaß am Spiel. Rollendistanz, München 1973, S. 122.

[36] E. Goffman: Interaktion, S. 121.

[37] H. Abels: Identität, S. 330.

[38] Vgl. E. Goffman: Wir alle spielen Theater, S. 7f.

[39] E. Goffman: Stigma, S. 11. Virtuale soziale Identität meint die unter Annahmen der Normalität erwartete, aktuale hingegen die tatsächliche soziale Identität. Vgl. ebd.: S. 10.

[40] Ebd.: S. 11.

[41] Vgl. ebd.: S.11.

[42] Vgl. ebd.: S. 12.

[43] Ebd.: S. 128.

[44] E. Goffman: Stigma, S.56.

[45] Ebd.: S. 56.

[46] H. Abels: Identität, S. 362.

[47] Ebd.: S. 363.

[48] Saskia Schottelius: Das imaginäre Ich. Subjekt und Identität in Ingeborg Bachmanns Roman „Malina“ und Jacques Lacans Sprachtherorie, Frankfurt am Main 1990, S. 131.

[49] Ludwig Wittgenstein: Tractatus Logico-Philosophicus, London 1988, S. 188.

[50] Vgl. Ellen Summerfield: Ingeborg Bachmann. Die Auflösung der Figur in ihrem Roman „Malina“, Bonn 1976, S. 5.

Ende der Leseprobe aus 70 Seiten

Details

Titel
Die sprachliche Zurichtung von Identität in Ingeborg Bachmanns 'Malina'
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für neuere deutsche und europäische Literatur)
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
70
Katalognummer
V183212
ISBN (eBook)
9783656076551
ISBN (Buch)
9783656076865
Dateigröße
712 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Malina, Bachmann, Identität, Analyse, Erzählstruktur, Mead, Goffman, Identitätstheorie
Arbeit zitieren
B.A. Vivien Wolff (Autor:in), 2010, Die sprachliche Zurichtung von Identität in Ingeborg Bachmanns 'Malina', München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/183212

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