Der Grundlagenvertrag 1972 als Ergebnis eines diplomatischen Prozesses - Eine Analyse der Vorbereitung und Umsetzung unter diplomatischen Aspekten


Hausarbeit (Hauptseminar), 2001

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Diplomatie
2.1 Die Bedeutung des Begriffs „Diplomatie“
2.2 Die Aufgaben der Diplomatie und des Diplomaten
2.3 Die Sprache der Diplomatie
2.4 Diplomatie und der Grundlagenvertrag

3. Die Ostpolitik der Regierung Brandt
3.1 Die Zusammenarbeit Willy Brandts mit Egon Bahr
3.2 Die Vorbereitung der Ostpolitik in der Theorie
3.2.1 Bahrs Tutzinger Thesen
3.2.2 Die Zeit der Großen Koalition 1966-1969
3.3 1969 - Startschuß für die neue Ostpolitik
3.3.1 Die Wichtigkeit des Moskauer Vertrages und der Beziehungen zu Moskau
3.3.2 Die Ostverträge: Ein Paket von Verträgen

4. Der Grundlagenvertrag - ein Ergebnis von Diplomatie?
4.1 Die Vorbereitung der Verhandlungen
4.2 Die Verhandlungen
4.3 Analyse und Interpretation des Vertragstextes unter diplomatischen Aspekten
4.3.1 Die Bezeichnung des Vertrages
4.3.2 Die Präambel
4.3.3 Die Artikel
4.3.4 Der „Brief zur deutschen Einheit“

5. Zusammenfassung: Der Grundlagenvertrag - ein Ergebnis von Diplomatie!

6. Literaturverzeichnis

7. Anhang
Anhang I: Grundlagenvertrag 1972
Anhang II: Brief zur deutschen Einheit
Anhang III: Zusatzprotokoll
Anhang IV: Erklärungen zu Protokoll

1. Einleitung

Am 21. Dezember 1972 unterzeichneten Egon Bahr für die Bundesrepublik Deutschland und Michael Kohl für die Deutsche Demokratische Republik den Grundlagenvertrag. Hinter Bahr und Kohl, die auch als Unterhändler den Vertrag aushandelten, lag eine Zeit schwieriger Verhandlungen, in der jede Seite versuchte, möglichst viel der eigenen Interessen und Forderungen in den Vertrag einzubringen. Bei den Verhandlungen zeigte sich, daß man sich in vielen wichtigen Fragen wegen zu großer Differenzen nicht einigen konnte. Beispielsweise war die DDR nicht bereit, die Worte „Einheit der Nation“ und „Wiedervereinigung“ in den Vertrag aufzunehmen, während aus Sicht der Bundesrepublik, der Weg zu einem einheitlichen deutschen Staat ausdrücklich offengehalten werden mußte. Wie konnte nun trotz großer Auffassungsunterschiede zu verschiedenen Fragen ein Vertrag „über die Grundlagen der Beziehungen“ zwischen den beiden deutschen Staaten erreicht werden? Inwiefern war es durch Diplomatie möglich, trotz der geschilderten Differenzen, zu einem erfolgreichen Vertragsabschluß zu gelangen? Was ist die Kunst der Diplomatie bzw. die Kunst der Unterhandlung und welche Rolle spielt sie für den Grundlagenvertrag?

Um den Grundlagenvertrag unter diplomatischen Aspekten analysieren zu können, muß zunächst geklärt werden, was unter Diplomatie überhaupt zu verstehen ist und was es heißt diplomatisch tätig zu sein. Dazu werden zu Anfang die Besonderheiten und die Aufgaben von Diplomatie beleuchtet, bevor dann kurz auf die ihr eigene Sprache eingegangen wird. Ebenfalls sollen aus Sicht der damaligen sozialliberalen Bundesregierung die konzeptionellen Grundlagen der Ostvertragspolitik näher erläutert werden, da diese sozusagen das diplomatische Handeln ihrer Repräsentanten vorgaben und indirekt beeinflußten. Bevor schließlich auf den Grundlagenvertragstext als diplomatisches Dokument eingegangen wird, werden dessen Vorbereitung und die Verhandlungen zwischen Egon Bahr und Michael Kohl geschildert.

2. Diplomatie

Unter „Diplomatie“ kann im weiteren Sinne die Gesamtheit der internationalen Beziehungen verstanden werden, gelegentlich auch die Außenpolitik eines Staates an sich und ebenso die berufliche Laufbahn von Diplomaten. Im engeren Sinne des Wortes ist Diplomatie „die Handhabung internationaler Beziehungen durch Verhandlungen; die Methode, durch welche diese Beziehungen durch Botschafter und Gesandte gepflegt werden; das Handwerk oder die Kunst des Diplomaten.“[1] Oft findet sich auch der Ausdruck „Kunst der Verhandlung“, wenn Diplomatie beschrieben wird.[2]

Der Begriff „Diplomatie“ ist demnach vielschichtig, da er je nach Notwendigkeit im einen oder auch im anderen Sinn gebraucht werden kann. In diesem Kapitel sollen, ausgehend von der Bedeutung des Begriffs, die Aufgaben und die Sprache der Diplomatie näher erläutert werden, bevor, vorbereitend für die Analyse des Grundlagenvertrages, auf den Zusammenhang zwischen Díplomatie und dem Grundlagenvertrag eingegangen wird.

2.1 Die Bedeutung des Begriffs „Diplomatie“

Das Wort „Diplomatie“ stammt ursprünglich aus dem Griechischen, es ist vom Zeitwort „diploun“, was so viel wie „falten“ heißt, abgeleitet. Im Römischen Kaiserreich wurden demzufolge gefaltete Metallpässe „Diplomas“ genannt, später wurden auch sonstige offizielle Dokumente, wie beispielsweise Urkunden[3], Abkommen und Geleitschreiben als „Diplomas“ bezeichnet. Ein „Diplomatus“ war demzufolge ein mit einem Geleitschreiben ausgestatteter Repräsentant seines Landes, der möglicherweise einen bestimmten Auftrag im Gastland zu erledigen hatte.

Harold Nicolson stellt fest, daß „Diplomatie im Sinne eines geordneten Unterhaltens von Beziehungen einer Gruppe von Menschenwesen mit einer anderen, ihr fremden“ älter als die Geschichtsschreibung sein muß.[4] Schon seit Menschengedenken müssen Unterhändler zwischen verfeindeten Gruppen Vorrechte eingeräumt worden sein, damit diese überhaupt zwischen Gruppen vermitteln konnten und nicht gleich vom Feind getötet wurden. Diplomatie war und ist also „ein wesentlicher Faktor in jeder von Vernunft geleiteten Beziehung von Mensch zu Mensch, von Nation zu Nation.“[5] Sie fand also in gewissem Sinne schon immer statt, wenn man davon ausgeht, daß „die Pflege der Beziehungen zwischen Staaten“[6] oder sonstigen Gruppierungen von Menschen Funktion von Diplomatie war und ist.

Der entscheidende Schritt in Richtung der heutigen Diplomatie war die vollständige Anerkennung des diplomatischen Berufes und die Festlegung von Status, Vorschriften und verbindlichen Verfahren im Jahr 1815 auf dem Wiener Kongreß. Nun wurde ein offizieller Handlungsrahmen für den Berufsdiplomaten, der die Repräsentation seines Landes ausübte, vorgegeben. Die Repräsentation der Mächte untereinander und der diplomatische Dienst wurden durch ein Abkommen geregelt. Der diplomatische Dienst war nun als wichtiger Zweig des öffentlichen Dienstes anerkannt.

Diplomatische Einrichtungen, die heute Staaten bei anderen Staaten repräsentieren, sind zum Beispiel Missionen, Botschaften und Gesandtschaften. Sie werden im Einvernehmen zwischen Staaten eingerichtet und dienen der Vertretung, Interessenwahrung, Verhandlung und der Förderung der Beziehungen zwischen den Staaten.

2.2 Die Aufgaben der Diplomatie und des Diplomaten

Wie in 2.1 geschildert, ist die Funktion von Diplomatie die Pflege von Beziehungen zwischen Staaten, was beispielsweise gegenseitig durch die diplomatischen Einrichtungen geschieht. Auch die Kunst der Verhandlung wird als Diplomatie bezeichnet. Wollen Staaten ihre politischen Beziehungen zueinander auf eine bestimmte Weise gestalten oder durch einen Vertrag festlegen, so ist es Aufgabe der Diplomatie, dies vorzubereiten, in Form zu bringen und zu regeln. Dabei ist der Diplomat[7] vor allem eines, nämlich Repräsentant und Sprecher seines Heimatstaates. Das heißt, daß er nicht die Außenpolitik seines Staates lenkt, sondern diese auftrags- und weisungsgebunden mit Vollmacht ausführt und vertritt. Als Unterhändler seiner Regierung, beispielsweise bei der Ausarbeitung von Verträgen, kann er zum Interpreten der Politik seiner Regierung werden. Ein Diplomat kann also Beobachter, Informant über Verhältnisse im Gastland, Kommunikationsglied im Dialog der Regierungen miteinander und Unterhändler bei Verhandlungen sein, zusammengefaßt könnte man „Pfleger der Beziehungen zwischen den Staaten im Auftrag seines Staates“ sagen. Mit den Worten Nicolsons läßt sich die Aufgabe des Diplomaten als „Diener der Regierungsmacht seines Landes“ zusammenfassen[8]

Indirekt gehört zu den Aufgaben des Diplomaten auch die Verkörperung gewisser Eigenschaften. Nicolson nennt „Wahrheit, Genauigkeit, Ruhe, Geduld, gute Laune, Bescheidenheit und Ergebenheit“ ebenso wie „Intelligenz, Wissen, Urteilskraft, Klugheit, Gastfreundschaft, Charme, Fleiss, Mut, Takt“[9] als notwendige Eigenschaften des idealen Diplomaten und damit auch von funktionierender Diplomatie. Grewe hält die Zeichnung eines idealen Persönlichkeitstyps für problematisch „angesichts der vielfältigen Aufgaben der heutigen Diplomatie.“[10] Tatsächlich scheint es wichtig zu sein, nicht nur Flexibilität als Eigenschaft zu besitzen, sondern mit seinen Eigenschaften als Diplomat auch flexibel umgehen zu können, da gerade bei Verhandlungen ein Eingehen-Können auf und ein Sich-Hineinversetzen-Können in die Gegenseite sehr wichtig ist.

Trotzdem gehören zur Kategorie der unerläßlichen Eigenschaften wohl ein gutes Beobachtungs- und Urteilsvermögen, eine gewisse Intelligenz, Taktgefühl, Fingerspitzengefühl, Vernunft, Gelassenheit, Menschenkenntnis, die Fähigkeit mit Sprache sowohl in Texten wie auch in mündlichen Konversationen umzugehen (vgl.: 2.3), die Beherrschung des Vokabulars der Diplomatie und die Aufgeschlossenheit gegenüber Fremdem und fremden Kulturen. Ein Diplomat, der nicht mit diesen Eigenschaften ausgestattet ist, wird wenig erfolgreich „Pflege von Beziehungen zwischen Staaten“ betreiben können und bei Vertragsverhandlungen eine schlechte Figur machen.

Da Diplomatie auf Anbahnung, Erhaltung und Pflege gegenseitiger Beziehungen angelegt ist und gerade bei Verhandlungen das Verhalten der Gegenseite ebenso in Betracht gezogen werden muß wie deren teils unausgesprochene Ziele, muß mit den hier angesprochenen Eigenschaften flexibel umgegangen werden können. Fingerspitzengefühl und Menschenkenntnis sind die notwendigen Qualifikationen, um dies tun zu können. Dazu ist es auch unerläßlich, das „Handwerkszeug“, nämlich die Sprache der Diplomatie zu beherrschen.

2.3 Die Sprache der Diplomatie

Eine unerläßliche Qualifikation eines jeden Diplomaten ist die Beherrschung der Sprache der Diplomatie. Dies ist sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinn zu verstehen. Mit der Beherrschung der Sprache der Diplomatie im übertragenen Sinne ist nicht nur gemeint, daß ein Diplomat symbolhafte Gesten verstehen muß, sondern auch, daß er bereit sein muß, die eigenen Gesetze und Gepflogenheiten der Diplomatie anzunehmen und sich diesen unterzuordnen. Die angewandten Verfahren sind allen bekannt, sie werden von allen akzeptiert und von allen angewandt.[11] Auf diese Weise entsteht ein Gemeinschaftsgefühl und Solidarität unter den Diplomaten. Diese Solidarität und die stillschweigende Anerkennung der Normen sind Grundlage gegenseitigen Vertrauens und damit ebenso Grundlage funktionierender Diplomatie.

Nicht minder wichtig ist aber, daß der Umgang mit Sprache an sich beherrscht wird. Sprache spielt in der Diplomatie eine äußerst wichtige Rolle, da durch sie das Verhältnis zwischen Staaten definiert wird. Beziehungen zwischen Staaten sind nicht von vornherein festgelegt, sondern von deren Repräsentanten, in Worten bzw. Sprache definiert. Die Auslegung eines Vertrages kann zum Beispiel auf verschiedene Arten erfolgen, je nach Auslegung der in ihm benutzten Sprache. Doch was ist diplomatische Sprache? Was sind ihre besonderen Kennzeichen? Welche Fertigkeiten muß ein Diplomat im Umgang mit Sprache beherrschen?

Die Fähigkeit, Texte zu formulieren und zu interpretieren, ist ein wesentliches Element der diplomatischen Qualifikation.[12] Grewe zählt den Diplomaten neben „dem Dichter, dem Schriftsteller, dem Journalisten, dem Politiker ... zu jenen Trägern des öffentlichen Lebens, deren berufliche Tätigkeit in ganz besonderer Weise mit dem Medium der Sprache verknüpft ist.“ Er fügt hinzu: „In seiner Tätigkeit spielt das sorgfältig gewählte Wort, die Nuancierung des Ausdrucks eine wichtige Rolle. Die Formulierung, Auslegung und Bewertung von Texten ist sein täglich Brot.“[13] Ist ein Diplomat auf diesem Gebiet bewandert, wird es ihm natürlich leichter fallen zu argumentieren, Beobachtungen schriftlich zu fixieren, seinen Gesprächspartner richtig zu verstehen und auch richtig wiederzugeben und, mit Blick auf die Ausarbeitung von Verträgen wichtig, Texte zu formulieren. Rhetorische Fähigkeiten und die Beherrschung von Fremdsprachen sind ebenfalls wichtige Qualifikationen, die auf dem Medium der Sprache basieren.

Grewe unterscheidet auf dem Gebiet der diplomatischen Sprache drei Phänomene: Erstens, die eigentliche Sprache, die die Diplomaten gebrauchen, also Englisch, Französisch, Deutsch, etc.; zweitens, die fachlich-professionelle Terminologie des diplomatischen Verkehrs, also die technischen Ausdrücke; drittens, Ausdrucksweise und Sprachstil, also die Art und Weise wie ein Inhalt übermittelt wird.[14] Der Sprachstil der Diplomatensprache gilt als zurückhaltend und verschlüsselt.

Diplomatisches Vokabular, diplomatische Ausdrucksweise und diplomatischer Sprachstil haben wichtige Funktionen bei der Pflege von Beziehungen zwischen Staaten. So kann durch die vorsichtige Ausdrucksweise in kritischen Situationen vor einem bestimmten Handeln gewarnt werden, ohne drastische Worte zu benutzen und damit eine Eskalation eines Konfliktes wohl eher verhindert werden als mit scharfer Drohung. Durch die Offenheit und Mehrdeutigkeit bestimmter Ausdrücke und Phrasen erhalten miteinander verhandelnde Parteien mehr Spielraum in ihren Aktionen. Grewe unterstreicht: „Flexibilität und Bewahrung der Manövrierfähigkeit sind das A und O der Philosophie der Diplomatensprache.“[15]

Verhandeln Gesprächspartner „diplomatisch“ miteinander, so ist die Erfolgschance größer, weil ein Rückzug auf bestimmte Positionen ohne zu großen Gesichtsverlust möglich bleibt. Vorsichtiger Sprachgebrauch führt also eher zu Erfolg und eher zu einem Ausweg aus kniffligen Situationen. Will man zum Beispiel einen in einer Sache bestehenden Dissens verhüllen, weil man sich scheut ihn auszudiskutieren, gibt es mehrere Möglichkeiten: Mehrdeutige Ausdrücke können helfen, eine Einigung kann auf später verschoben werden, oder ein Dissens kann ausgeklammert werden.[16] So können beide Seiten zufriedengestellt werden und ein Abbruch von Verhandlungen oder gar Beziehungen kann oft verhindert werden. Diese Ausführungen werden in Kapitel 4. dieser Arbeit einen Bezug zur Praxis erhalten. Doch zunächst soll kurz der Zusammenhang zwischen Diplomatie und dem Grundlagenvertrag skizziert werden.

2.4 Diplomatie und der Grundlagenvertrag

Eine zusammenfassende Betrachtung des bisher Ausgeführten zeigt, daß Diplomatie ein vielschichtiger Begriff ist, der nicht einfach in seiner Bedeutung definiert werden kann. Der Begriff wird oft ungenau gebraucht, um verschiedene Inhalte zu beschreiben. Diplomatie steht teils als Synonym für Außenpolitik und teils als Synonym für Unterhandlung. Desweiteren werden damit Verfahren und Mittel der Unterhandlung bezeichnet, und eine vierte Auslegung umfaßt die Eigenschaft bzw. Gabe einer geschickten oder auch listigen Verhandlungsführung.

Im Grundlagenvertrag konnte durch die Bundesrepublik und die DDR sozusagen eine Definition der gemeinsamen Situation vorgenommen werden. Dies war jedoch nur nach langwierigen und schwierigen Verhandlungen möglich. Es mußten Formulierungen gefunden werden, die beide Vertragspartner zufrieden stellen konnten. Diplomatie im Sinne von „Kunst“ war sozusagen notwendig, um überhaupt eine Chance für ein solches Abkommen zu haben. Bei einer Analyse des Grundlagenvertrages ist es deshalb notwendig, auf die theoretischen und konzeptionellen Vorbereitungen einzugehen, da diese sozusagen Vorbedingungen der angewandten Verhandlungsstrategie waren.[17] Außerdem ist es wichtig, den konkreten Weg zum Vertrag, einschließlich der vorbereitenden Treffen und der Verhandlungen zu berücksichtigen, da hier schon im Sinne von Diplomatie gehandelt, nämlich praktisch und taktisch verhandelt wurde. Ob bei gewissen Fragen eine Einigung erzielt werden konnte, hing zwar offiziell von der Regierung ab, aber auch zu einem enormen Teil von der Persönlichkeit der Unterhändler, die ja ihre Regierung bzw. ihr Land repräsentierten. Letztendlich kommt der Interpretation des Vertragstextes die wichtigste Rolle zu, da hier die Umsetzung der Verhandlungen abzulesen ist und der Text für sich selbst ein diplomatisches Dokument, das in diplomatischer Sprache verfaßt ist, darstellt. Das folgende Kapitel skizziert eher allgemein die Ostvertragspolitik der Regierung Brandt und deren konzeptionelle Vorbereitung, da dies auch für den Grundlagenvertrag von Bedeutung war. Nach dieser notwendigen Vorbereitung wird dann der Vertrag näher beleuchtet.

3. Die Ostpolitik der Regierung Brandt

Nach der Bundestagswahl vom September 1969 kam es erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zur Bildung einer sozialliberalen Koalition. Das SPD/FDP-Bündnis unter Führung von Bundeskanzler Brandt und Außenminister Scheel war Voraussetzung für eine Neuorientierung auf dem Gebiet der Deutschlandpolitik und ebenso Startschuß für eine veränderte Ostpolitik.[18] Doch wie wurde diese Neuorientierung vorbereitet?

3.1 Die Zusammenarbeit Willy Brandts mit Egon Bahr

Um in den folgenden Abschnitten auf die Vorbereitung und Umsetzung der Ostpolitik eingehen zu können, muß an dieser Stelle kurz auf die enge Zusammenarbeit zwischen Willy Brandt und Egon Bahr hingewiesen werden.

Egon Bahr, der 1957 in die SPD eintrat, wurde am 1.2.1960 vom damaligen Regierenden Bürgermeister Berlins, Brandt, zum Senatspressechef des Berliner Presseamtes gemacht. Hier begann die enge Zusammenarbeit, die, so Bahr, über „30 Jahre in größter Nähe“[19] währen sollte. Bahr ging von Berlin aus mit Brandt nach Bonn ins Auswärtige Amt, wo er Leiter des Planungsstabes wurde. In Brandts Zeit als Bundeskanzler war Bahr Staatssekretär im Bundeskanzleramt und stand ihm als Berater zur Verfügung. Das sich immer weiter entwickelnde Vertrauensverhältnis beschreibt Egon Bahr so:

„Wirklich Hunderte von solchen Gesprächen im Laufe der Jahre wurden zu einem Prozeß von gegeseitigem Geben und Nehmen, der beiderseitigen Beeinflussung, des Vertrautwerdens mit dem Denken des anderen, bis etwas Außergewöhnliches entstand: Wir verstanden uns so gut, daß halbe Sätze genügten, um sich über einen strittigen Punkt zu einigen; ein einziges Wort konnte dazu reichen, weil es Hintergrund hatte, und erinnerte, welche Bedeutung ihm im vielfachen Austausch zugekommen war. Ein Blick genügte zur Verständigung.“[20]

Auch Brandt beschreibt in seinen Erinnerungen die Zusammenarbeit mit Egon Bahr. Er bezeichnet Bahr als den konzeptionell fähigsten Mitarbeiter in Berlin und im Übergang nach Bonn. Er unterstreicht die lange währende freundschaftliche Kooperation und hebt Bahrs Bedeutung für seine Person folgendermaßen hervor: „Vieles von dem, was ich ab 1960 und über 1980 hinaus geleistet und versucht habe, wäre ohne solche Zusammenarbeit nicht möglich gewesen.“[21]

[...]


[1] Woyke, Wichard (Hg.): Handwörterbuch Internationale Politik. Opladen 1995, S. 60: Die an dieser Stelle gegebene Definition stammt aus dem Oxford English Dictionary.

[2] Der Brockhaus in fünfzehn Bänden, Bd. 3. Leipzig und Mannheim 1997, S. 320.

[3] Urkundenlehre wird auch als Diplomatik bezeichnet.

[4] Nicolson, Harold: Diplomatie. Bern 1947, S. 14f..

[5] Ebenda, S.13.

[6] Brockhaus, S. 320.

[7] Es muß nicht unbedingt ein Berufsdiplomat sein. Oft werden auch Spezialisten für bestimmte Gebiete von Regierungen für diplomatische Zwecke eingesetzt, so auch Egon Bahr (s.u.).

[8] Nicolson, S. 62.

[9] Ebenda, S. 96.

[10] Grewe, Wilhelm G.: Spiel der Kräfte in der Weltpolitik: Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen. Düsseldorf, Wien 1970, S. 171/172.

[11] Beispiele hierfür gibt es bei der Analyse des Grundlagenvertrages unter diplomatischen Gesichtspunkten in Kapitel 3.2.

[12] Möchte man in der Bundesrepublik Deutschland eine Laufbahn als Diplomat im höheren auswärtigen Dienst einschlagen, so ist neben anderen Qualifikationen auch Sprachfertigkeit Voraussetzung zur Aufnahme.

[13] Grewe, S. 429.

[14] Ebenda, S. 431/432: Hier spielt auch der landläufige Sprachgebrauch des Attributs „diplomatisch“ eine Rolle: Jemand gilt als diplomatisch, wenn er sich „ausweichend, vorsichtig, unbestimmt, entgegenkommend, höflich ausdrückt“. Man könnte hier noch die Adjektive zwei- bzw. mehrdeutig, offen, zurückhaltend hinzufügen.

[15] Grewe, S. 446.

[16] Dies geschah auch beim Grundlagenvertrag und wird in Kapitel 4.2.2 näher beleuchtet.

[17] Hier handelt es sich um die Vorbereitungen der Ostvertragspolitik allgemein. Der Grundlagenvertrag war ja ein Teil eines Pakets von Verträgen.

[18] Wie oben beschrieben, war der Grundlagenvertrag sozusagen Teil dieser.

[19] Bahr, Egon: Zu meiner Zeit. Berlin 1999, S. 115.

[20] Ebenda, S. 121.

[21] Brandt, Willy: Erinnerungen. Berlin 1997, S. 67.

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Der Grundlagenvertrag 1972 als Ergebnis eines diplomatischen Prozesses - Eine Analyse der Vorbereitung und Umsetzung unter diplomatischen Aspekten
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Diplomatie anhand von Dokumenten der Deutschlandpolitik 1949-1972
Note
1,0
Autor
Jahr
2001
Seiten
34
Katalognummer
V18321
ISBN (eBook)
9783638226929
Dateigröße
587 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Grundlagenvertrag, Ergebnis, Prozesses, Eine, Analyse, Vorbereitung, Umsetzung, Aspekten, Diplomatie, Dokumenten, Deutschlandpolitik
Arbeit zitieren
Björn Steffen (Autor:in), 2001, Der Grundlagenvertrag 1972 als Ergebnis eines diplomatischen Prozesses - Eine Analyse der Vorbereitung und Umsetzung unter diplomatischen Aspekten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/18321

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