Heilpädagogische Arbeit mit einer Kleingruppe im Regelkindergarten


Bachelorarbeit, 2011

65 Seiten, Note: 1,25


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Themenwahl
1.2 Fragestellung
1.3 Begründung des Themas

2 Das Kind im Regelkindergarten
2.1 Der Blick auf das Kind heute zwischen Erziehung und Bildung
2.2 Aktuelle Ziele der frühen Erziehung und Bildung
2.3 Kindergarten im Wandel
2.4 Anforderungen an Kinder, Eltern und ErzieherInnen
2.5 Skeptische Würdigung der aktuellen Bildungs- und Erziehungssituation

3 Kinder mit besonderen Bedürfnissen
3.1 Abweichungen von der Norm
3.2 Vorstellung der TeilnehmerInnen meiner heilpädagogischen Kleingruppe
3.3 Heilpädagogische Hilfe als sinnvolle Ergänzung
3.3.1 Für die Kinder
3.3.2 Für die Institution Kindergarten

4 Eine systemische Betrachtungsweise, ausgehend von Bronfenbrenner und Speck
4.1 Begrifflichkeiten, Definitionen und Merkmale von Systemen
4.2 Das Kind als lebendiges System
4.3 Eltern und Kind - Dynamik und Prägung im Mikrosystem
4.3.1 Ökologische Übergänge
4.4 Eltern, Kind und ErzieherInnen – ein Mesosystem mit Konfliktpotential
4.5 Das pädagogische Team als System
4.5.1 Setting
4.5.2 Kommunikation

5 Die ressourcenorientierte Sichtweise im Überblick
5.1 Ressourcenorientierung versus Defizitorientierung
5.2 Ressourcendiagnostik
5.3 Die Ressourcen der Kinder
5.4 Die Ressourcen der Eltern und Familien
5.5 Die Ressourcen im Team
5.6 Ziele ressourcenorientierten Arbeitens

6 Ressourcen- und systemorientierte Methoden
6.1 Verstehendes Beobachten und Beschreiben.
6. 2 Dialog- und Beziehungspartnerin sein.
6.3 Kommunizieren und Interagieren.
6.4 Fachmethoden situativ anwenden.
6.5 Eine Zielauswahl treffen
6.6 Die Kooperation der Systeme unterstützen.

7 Die Herausforderungen der heilpädagogischen Gruppenarbeit
7.1 Zwischen Symptomsicht und Systemsicht
7.2 Zwischen Aussondern und Eingliedern
7.3 Zwischen Einzelfall und Gruppe
7.4 Zwischen wertschätzender Annahme und Veränderungsimpulsen
7.5 Zwischen Planung und Augenblicksentscheidungen
7.6 Zwischen Zielvorstellungen und nötiger Geduld
7.7 Zwischen Teamzugehörigkeit und Supervision
7.8 Zwischen Stabilisierung und Veränderung

8 Schluss
8.1 Zusammenfassung wesentlicher Erkenntnisse
8.2 Persönliches Resümee

Literaturverzeichnis

„Ich sehe was, was du nicht siehst…“

Systeme sehen, Ressourcen entdecken, Methoden finden – eine herausfordernde Arbeit mit einer heilpädagogischen Kleingruppe im Regelkindergarten.

1 Einleitung

Beobachten was ist,

vermuten wie es sein könnte,

hoffen, dass es so werde,

handeln, damit es wird!

[dl, 21.10.2003] Dieter Lotz

Dieses Gedicht von Dieter Lotz (http://www.heilpaed...) könnte als Bogen über meiner heilpädagogischen Gruppenarbeit im Regelkindergarten stehen. Es drückt sehr gut das Wagnis, das Ungewisse an der heilpädagogischen Arbeit aus. Der Bogen wird gespannt von der Beobachtung und Wahrnehmung, auf die ich in dieser Arbeit besonderen Wert legen möchte, bis zum Handeln, das mich oftmals wirklich gefordert hat, weil diese Art zu arbeiten für mich in vieler Hinsicht neu war. Als ich keine Gruppe aus schulschwierigen Grundschulkindern bilden konnte, habe ich in einem evangelischen Kindergarten zunächst nur angerufen und mein Kleingruppenangebot genannt. Ich dachte, dass die Leiterin mein Angebot erst mit ihren MitarbeiterInnen überlegen und abklären will und dass bei „normalen“ Kindergartenkindern vielleicht gar kein Bedarf für heilpädagogische Unterstützung gegeben ist. Es sollte anders kommen. Als ich mein Angebot telefonisch genannt hatte, kam sofort eine positive Reaktion. „Ja, sie können kommen, mir fallen sofort einige Kinder ein, die ich für ihre Gruppenmaßnahme vorschlagen würde.“ Von diesem großen Bedarf überrascht und von der Offenheit ermutigt, habe ich die Gruppenmaßnahme in Angriff genommen. Manchmal ging es mir tatsächlich wie in dem uralten Spiel „Ich sehe was…“, nur dass es niemand erraten hat oder erraten wollte, was ich gesehen und manchmal zunächst nur gespürt habe. Bei diesem Spiel herrschen klare Strukturen, wer wann raten darf usw. Bei der Gruppenmaßnahme hatte ich zunächst noch keine Struktur für meine Wahrnehmungen und ich wusste auch vor der Gruppenstunde nicht, wer und was heute „dran ist“. Wie ich meine Wahrnehmungen und Beobachtungen im Verlauf der Maßnahme strukturiert und in Beziehung zu heilpädagogischen Theorien gesetzt habe, davon soll diese Arbeit handeln.

1.1 Themenwahl

Ich habe das Thema so formuliert, weil ich im Laufe meiner Ausbildung zur Heilpädagogin und in meiner beruflichen Praxis immer und immer wieder in Situationen komme, in denen ich Dinge, Vorgänge, Interaktionen und Reaktionen wahrnehme, die außer mir keiner bemerkt hat. Wie gesagt, es ist kein Ausdruck von Überheblichkeit, sondern eine direkte Folge der konsequenten Schulung der Beobachtung. Sehen kann man bekanntlich aus unterschiedlichen Blickwinkeln, von vorne, von hinten, aus weitem Abstand, von oben oder aus der Mitte des Geschehens. Jedes Mal ist die Wahrnehmung anders. Daher ist es keine Wertung, wenn in meinem Thema steht, dass ich meine etwas zu sehen, was andere nicht sehen. Als „Außenstehende“, als Heilpädagogin, als Erzieherin, die die letzten zehn Jahre mit behinderten Kindern und Jugendlichen gearbeitet hat, habe ich automatisch einen anderen Blickwinkel. Dieses andere Sehen hat mich bei der schriftlichen Nachbereitung der Gruppenstunden oft beschäftigt. Warum werden nur die schlimmen Verhaltensweisen gesehen und nicht die Hilfsbereitschaft und ruhige Konzentrationsfähigkeit eines Kindes? Warum spürt niemand die Unsicherheit und Bedürftigkeit von Müttern, sondern unterstellt ihnen Böswilligkeit und mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit?

1.2 Fragestellung

Ich will nun fragen und genauer untersuchen, was sich in einer Einrichtung, wie dem Regelkindergarten meiner Gruppenmaßnahme, verändert, wenn eine Fachperson dazu kommt, die mit ihren Beobachtungen, Gedanken und Interventionen ins System eingreift und es an einigen Stellen auch „stört“?

Diese generelle Frage zieht noch engere Kreise und führt damit zu weiteren Fragen:

Welche Bereicherung stellt die Anwesenheit einer Heilpädagogin für diese Einrichtung dar?

Ist es notwendig, als Heilpädagogin ambulant in Kindergärten zu arbeiten, als Unterstützung des Personals, das zunehmend mit verhaltensschwierigen Kindern überfordert ist? Ist es lohnend gleich zu Beginn von „Normabweichungen“ zu intervenieren, bevor alles verfestigt ist? Können Erzieherinnen ihr heilpädagogisches Grundwissen, das sie während ihrer Ausbildung erworben haben, durch den Kontakt mit der anwesenden Heilpädagogin auffrischen und in der konkreten Situation theoretisch und praktisch neue Handlungsmöglichkeiten erproben?

Kann es eine Form der Prävention sein, belasteten Familien in ihrem direkten Lebensumfeld eine niederschwellige Hilfestellung anzubieten? Wie wichtig ist die Erziehungspartnerschaft zu den Eltern, wenn Kinder belastet oder auffällig sind? Unterstützt die heilpädagogische Sichtweise den Inklusionsgedanken?

Wie geht es Kindern heute, in einem ganz normalen Kindergarten? Haben sie genügend emotionale Absicherung, Geborgenheit, Anerkennung und Liebe, dass sie sich auf Bildungsangebote einlassen können? Oder reagieren sie unruhig auf die Wandlungsprozesse, Umstrukturierungen und den Fokus auf die Bildungsanteile? Wie konnte ich als Heilpädagogin Hilfestellung durch ein Beziehungsangebot geben und wie hat sich das auf die Entwicklung und Bildung der Kinder ausgewirkt?

1.3 Begründung des Themas

Ich habe dieses Thema gewählt, weil mich zwei Themenschwerpunkte in meiner derzeitigen beruflichen Praxis besonders beschäftigen. Zum einen erkenne ich immer mehr die Notwendigkeit und Effektivität systemischen Denkens und Arbeitens. Was ich mit System meine und welche Systeme beteiligt sind und wie sie sich beeinflussen, werde ich später genauer erläutern.

Der zweite Themenkreis, der mich sehr beschäftigt, ist das ressourcenorientierte Arbeiten. Dabei geht es mir um Ressourcen, über die jedes der beteiligten Systeme verfügt. Wo zeigt sich die ganz persönliche Ressource eines Kindes, in Form von Fähigkeiten? Welche erkennbaren Stärken haben Elternpaare? Wie kann ich die Ressourcen eines Erzieherteams hervorheben und was kann sich daraus entwickeln?

Dabei spannt sich für mich der Bogen meiner beruflichen Tätigkeit von der Leitung eines großen Regelkindergartens 1979, bis zur heutigen Arbeit in einer großen Behinderteneinrichtung. Das Beachten systemischer Bedingungen, und das Erkennen von Ressourcen, waren am Anfang meiner Tätigkeit als Erzieherin eher gering und gewannen im Laufe meines Lebens immer mehr an Bedeutung. Deshalb finde ich es besonders spannend, dass ich nun mit heilpädagogischem Wissen und Methoden wieder in einem Regelkindergarten tätig war.

Die Arbeit mit einer heilpädagogischen Kleingruppe hat von mir nicht nur den genauen Blick, sondern auch vielfältige Interventionen, Kommunikationsformen, Phantasie bei der Wahl der Inhalte und Methoden und theoretische Auseinandersetzung gefordert. Von diesen Herausforderungen, wie ich sie erlebt habe und wie ich damit umgegangen bin, soll in dieser Arbeit ebenfalls die Rede sein.

Für die bessere Lesbarkeit habe ich im Folgenden, überwiegend die Zeitform Präsens gewählt, obwohl die Gruppenmaßnahme schon vor einiger Zeit abgeschlossen wurde. Die Namen der Kinder wurden anonymisiert. Ich verwende an vielen Stellen generalisierend das Wort „ErzieherInnen“, wenn ich das gesamte pädagogische Personal im System meine. Jeweils die genauen Berufsbezeichnungen zu schreiben, wäre sehr unübersichtlich.

2 Das Kind im Regelkindergarten

Der Begriff Regelkindergarten ist vielleicht veraltet und „vom Aussterben bedroht“. Auf dem Weg zur Pädagogik der Vielfalt, in inklusiven Prozessen und Einrichtungen, wird er möglicherweise bald nicht mehr verwendet werden. Ich benütze den Begriff Regelkindergarten, weil ich damit illustrieren will, dass der Kindergarten meiner Gruppenhilfe, eine für heutige Verhältnisse noch sehr homogene Kinderzusammensetzung aufweist. Das gilt für das Leistungsniveau der Kinder, für die gleichmäßig gute Einkommenssituation der Eltern (also keine große Schere von arm und reich), für die fast ausschließlich evangelisch-lutherische Religionsausübung der Elternhäuser und für den Kernaltersbereich ab 3 Jahren bis zur Einschulung. Kinder unter drei Jahren, die noch nicht „sauber“ sind, werden nur sehr vereinzelt aufgenommen. „Integrationskinder“ gibt es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das Wort Regelkindergarten taucht in der pädagogischen Literatur und im Internet immer dann auf, wenn es um die Integration behinderter Kinder in eine reguläre, also nicht spezielle heilpädagogische Kindertagesstätte geht (vgl. www.kids-22q11... und www.myhandicap...).

2.1 Der Blick auf das Kind heute zwischen Erziehung und Bildung

Kinder in einem Regelkindergarten im Jahr 2010 haben völlig andere Voraussetzungen, als Kinder vor 20 oder 30 Jahren. Das bedeutet große Chancen, eine Vielzahl von Möglich-keiten, aber eben auch eine Gefahr für das einzelne Kind. Liebertz nennt es eine „unausgewogene Entwicklungskost“, die Kindern heute geboten wird (vgl. Liebertz, in www.kindergartenpaed...S.1). Durch die vielen medialen Angebote würden Kinder überwiegend mit künstlichen Welten konfrontiert und hätten viel zu wenig reale Erfahrungsräume. Das zeigt sich ihrer Meinung nach auch in Bewegungsmangel und ungenügender Selbsttätigkeit. Die Kinder bekommen Informationen fertig zubereitet und können die Erfahrungen nicht selbst machen bzw. überprüfen. Die Sinneseindrücke sind sehr stark auf Sehen und Hören gerichtet. Andere Sinneseindrücke, wie z.B. Raum–Lage–Erfahrungen mit dem ganzen Körper, würden vernachlässigt und sind nicht genügend ausgebildet. Die Kreativität einer eigenen Spielwelt wo „man so tut als ob“, wird durch konsumierbare Fertigangebote ersetzt. Das gilt besonders für Angebote der frühkindlichen Bildung. Mit Programmen, die als Arbeitsblätter nur noch ausgefüllt oder bemalt werden müssen, soll Kognition geschult werden. Komprimierte Kurztrainings zur phonologischen Bewusstheit, sollen Defizite in der Hörverarbeitung im Rahmen von Vorschulangeboten ausgleichen (vgl. a.a.O. S. 2-3).

Materiell geht es Kindern in der westlichen Welt so gut wie nie (vgl. Kränzl-Nagl/Mierendorff, 2007, S.13). Allerdings haben Kinder heute kaum noch Berührungspunkte mit der Berufswelt ihrer Eltern, wissen nicht, wie das Geld verdient wird. Sie haben nur noch im Ausnahmefall, wie z.B. in der Landwirtschaft oder Gastronomie, die Möglichkeit den Eltern bei beruflichen Tätigkeiten zu helfen. Oftmals sind sie in die täglichen Abläufe der Familie auch nicht mehr eingebunden, sondern werden von den Eltern komplett „organisiert“ (vgl. Tschöpe-Scheffler, 20072, S.108). Das führt dazu, dass Familienkalender peinlichst genau geführt werden müssen, um schon die vielen Termine für Vorschulkinder eintragen zu können. Freiraum, sich einfach im häuslichen Umfeld alleine zu bewegen, bleibt da wenig. Früher konnten Kinder, von dem Mittelpunkt der elterlichen Wohnung, langsam weitere Kreise ziehen z.B. zunächst in die Nachbarschaft, dann zum naheliegenden Geschäft usw. Heute werden sie eher passiv von einem pädagogischen Raum (Kindergarten, Kinderturnen, musikalische Früherziehung usw.) zum anderen gefahren. Dadurch geht ihnen der Überblick über öffentliche Räume verloren und sie bewegen sich fast wie von einer Insel zur anderen. Anders als früher können/dürfen sie auch nicht mehr alleine draußen spielen, sondern halten sich fast ständig in Institutionen, Freizeiteinrichtungen oder in privaten Räumen auf. Terminlich verplante Kinder wirken manchmal gestresst und sind zunehmend gesundheitlich gefährdet. Was sich an der Zunahme psychosomatischer Erkrankungen, Allergien und Übergewicht usw. zeigt (vgl. Kränzl-Nagl/Mierendorff, 2007, S.19).

Ein weiterer Einflussfaktor auf die kindliche Lebenswelt ist die Pluralisierung der Familienformen, die für die Eltern viele Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung und Individualisierung beinhaltet, aber auf die Kinder möglicherweise unübersichtlich oder verunsichernd wirken kann (vgl. a.a.O. S.15).

2.2 Aktuelle Ziele der frühen Erziehung und Bildung

Aus dieser sehr ausschnittartig und kurz dargestellten kindheitssoziologischen Gegenwartsbetrachtung ergeben sich, für die Kinder unserer heutigen Gesellschaft, grundlegende Ziele. Womit müssen sie ausgestattet sein, um persönlich und gesellschaftlich gut zurechtzukommen?

Das beantwortet Wehrmann in ihrem Buch „Deutschlands Zukunft – Bildung von Anfang an“ mit einer Auflistung von Schlüsselkompetenzen, die unbedingt erworben werden sollen (vgl. Wehrmann, 2008, S.80): Die „Sozialkompetenz“, dass Kinder lernen sich gruppen-, sozialorientiert und hilfsbereit zu verhalten. Damit sie ihre Bedürfnisse artikulieren und mitteilen können und umgekehrt die Bedürfnisse und Anliegen anderer anerkennen können, benötigen sie „Kommunikationskompetenz“. Indem sie über „Empathiefähigkeit“ verfügen, lernen Kinder sich in die Situation eines anderen hinein zu versetzen und die Bedürfnisse, Empfindungen und Wahrnehmungen anderer zu verstehen. U.a. um Probleme zu erkennen und zu lösen, sollte ein Kind „Explorationskompetenz“ erwerben. Zuletzt wird die „Sprachkompetenz“ angeführt. Ein Kind soll sich sprachlich fundiert ausdrücken und mit anderen kommunizieren können.

Wehrmann unterstreicht den § 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, in dem festgeschrieben ist: „Jedes Kind hat ein Recht auf Erziehung und Bildung zu einer eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“ Das Ziel sollte Bildung mit dem Schwerpunkt Persönlichkeitsbildung sein. In Bildungsplänen sollen in besonderem Maße die Entwicklung von Selbstkompetenz, die Selbsterfahrungen und die Ich-Bildung im Mittelpunkt stehen (vgl. a.a.O. S.79). Der Erwachsene sollte seine Aufgabe in der aktiven Begleitung der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes sehen. Zunächst auf sich selbst konzentriert, setzt sich das Kind mit dem „Du“ auseinander und wird mit zunehmender Sicherheit fähig, Gruppengefühl zu entwickeln und Gruppenaktivitäten zu gestalten (vgl. a.a.O. S.76/77).

2.3 Kindergarten im Wandel

Im Bayrischen Bildungs- und Erziehungsplan sind einige der tiefgreifenden Veränderungen aufgeführt, die den „Regelkindergarten“ zwingen, sich zu wandeln (vgl. Bayrischer Erziehungs- und Bildungsplan 2006, S.17). Ich will sie kurz zusammenfassen.

Die Entwicklung von der Industrie- zur Wissensgesellschaft, die Überwindung des sogenannten Bildungsvorratsmodells und die neuen Anforderungen in der Wirtschafts- und Arbeitswelt beeinflussen die Institution Kindergarten als Bildungseinrichtung. Das ganze bildungspolitische Spektrum von den Grundkompetenzen für „lebenslanges Lernen“ bis zur teilweisen Ausrichtung auf europäische und globale Zukunft, z.B. mit den nötigen Fremdsprachenkenntnissen, beeinflusst die Curricula. Es entsteht ein regelrechter Aktionismus mit Konzeptentwicklungen und Qualitätsentwicklungen, allerdings meist mit der Verengung der Aktivitäten auf Schulvorbereitung (Übergang Kindergarten – Grundschule) und Sprache (Programme zum Beobachten und Dokumentieren der kindlichen Sprachkompetenz) und mit dem Schwerpunkt, die Bildungspläne zu erfüllen.

Sozialpolitisch sind die Kindergärten gezwungen, auf den demographischen Wandel, mit zurückgehenden Kinderzahlen, einem veränderten Geschlechter- und Generationenverhältnis, mehr berufstätigen Eltern die flexiblere Öffnungszeiten und eine Altersausweitung fordern, zu reagieren. In der Zukunft wird der Rechtsanspruch auf Inklusion, die Einrichtungen ebenfalls fordern.

LeiterInnen müssen sich mit Sozialmanagement, Finanzierung und zunehmender Politisierung ihres Arbeitsfeldes auseinandersetzen.

Diese kurze Übersicht soll nur schemenhaft aufzeigen, in welchem Wandlungsprozess der „Regelkindergarten“ steht. Ich meine, dass alle beteiligten Systeme, wie ich sie im Verlauf beschreiben werde, davon beeinflusst sind. Die Wandlungsprozesse stellen hohe Anforderungen an alle Beteiligten.

2.4 Anforderungen an Kinder, Eltern und ErzieherInnen

Von den Kindern fordern die oben genannten Bedingungen hohe Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Schnelle Wechsel des Personals und des Angebots unterbrechen oft die Spielphasen der Kinder und lassen Frust und Wut über die Störungen aufkommen. Das komprimierte Bildungsprogramm erfordert hohe Konzentrationsleistungen. Lärm und Enge im Gruppenraum setzen Ausblendungsfähigkeit und fokussierte Aufmerksamkeit voraus. Aufgrund der Kompetenzziele (siehe 2.2), wird von den Kindern ein hohes Maß an Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit gefordert. Dadurch kann es zur Überforderung kommen, weil die früher stärker betonte mütterliche Versorgung und Anleitung durch die ErzieherInnen, heute weniger gegeben ist und damit Sicherheit und Geborgenheit fehlen.

Eltern sind gefordert selbst Prioritäten zu setzen, sich zu entscheiden, welche Werte in ihrer Familie gelten sollen. Weil alles möglich ist, muss jeder seine individuellen Lebenswegent-scheidungen treffen und begründen. Durch die öffentliche Beeinflussung mit einer großen Informationsflut, reagieren manche Eltern mit Verunsicherung (vgl. Tschöpe-Scheffler, 20072, S. 135). Selbst pragmatische Entscheidungen, wie die Buchungszeiten, machen den Eltern Stress, weil sie sich damit eventuell festlegen und sehr einschränken, bevor sie erfahren haben, wie ihr Kind in der Einrichtung zurechtkommt.

Von heutigen Eltern wird erwartet, dass sie sich für die Bildung ihrer Kinder aktiv einsetzen. Die meisten sind dazu auch gerne bereit und mit großem Engagement dabei. Allerdings kommen Eltern dabei auch an ihre Grenzen. Die Erwartung, am Abend an einem Vortrag oder Seminar teilzunehmen, bringt heutigen Kleinfamilien zusätzlichen Betreuungsstress. Wehrmann schreibt nicht nur von der Erziehungs- sondern auch der „Bildungspartnerschaft“ zwischen Kindergarten und Eltern (vgl. Wehrmann, 2008, S. 105).

Das Erzieherpersonal , besonders die LeiterInnen haben heute erheblich mehr mit der Verwaltung und der wirtschaftlichen Absicherung ihres Kindergartens zu tun. Sie müssen durch die Buchungszeiten ihren Personalstand sichern bzw. geschickt damit jonglieren. In kleineren Einrichtungen zählt jedes angemeldete Kind. Bei ungünstiger Buchung müssen eben attraktive Nachmittagsangebote „erfunden“ werden, dass es für die Eltern interessant ist, auch den Nachmittag zu buchen.

Nicht nur die verwaltungstechnischen Anforderungen an ErzieherInnen steigen, sondern auch die Erwartungen und Anforderungen an das pädagogische und fachspezifische Wissen steigen erheblich (vgl. a.a.O. S.89). Längst wird die Hochschulbildung für ErzieherInnen gefordert. Egal mit welcher Ausbildung - es ist wünschenswert, dass ErzieherInnen sich fortbilden und auch theoretisch-wissenschaftlich „am Ball“ bleiben.

2.5 Skeptische Würdigung der aktuellen Bildungs- und Erziehungssituation

Wie habe ich es in dem Kindergarten meiner Gruppenhilfe erlebt? Ich denke, diese Einrichtung befindet sich noch mitten in den oben beschriebenen Wandlungsprozessen. Ich habe ein starkes Bemühen um die Bildung der anvertrauten Kinder erlebt. Ehrgeizige und fundierte Programme zur Förderung der Schulfähigkeit und der sprachlichen Kompetenz werden durchgeführt. Es gibt Kontakte zum Fachverband, der das Team mit einer Sprachberatung für ErzieherInnen qualifiziert, ja sogar zertifiziert.

Das Team macht sich sehr viel Arbeit mit „Portfolio“-Mappen, die allerdings bei jedem Kind gleich gestaltet und auffällig ähnlich gefüllt sind. Ich verstehe Portfolio-Arbeit anders, weil ich denke es sollten dort spezifische Leistungen dieses einen Kindes enthalten sein und nicht identische Arbeitsblätter für jeden.

Ich habe erlebt, dass das ehrgeizige Bemühen um alle Programme, die gerade angeboten bzw. verbindlich vorgeschrieben wurden, ein sehr starkes Gewicht bekam. Kobi würde es Therapie bzw. Behandlung statt Erziehung nennen (vgl. Kobi, 20046, 342 ff). Er würde diese Programme vielleicht additiv heißen, weil sie den Charakter von etwas Zusätzlichem, Aufgesetztem, Außergewöhnlichem haben.

Dieser bildungspolitische Überblick wird von mir deshalb so ausführlich an den Anfang gestellt, weil ich meine, dass sehr viele der oben genannten Tatsachen, erheblichen Einfluss auf die, in dieser Arbeit relevanten Systeme haben.

3 Kinder mit besonderen Bedürfnissen

Für die Durchführung meiner heilpädagogischen Gruppenmaßnahme, habe ich Kinder im Regelkindergarten, mit einem heilpädagogischen Bedarf gesucht. Wie ist dieser Bedarf zu erkennen? Wieso hat die Leiterin sofort zugesagt und erklärt, sie hätte genügend Kinder die in Frage kommen? Ich habe es „Kinder mit besonderen Bedürfnissen“ genannt, weil sie einen besonderen Bedarf nach Aufmerksamkeit, Zuwendung, Sicherheit usw. haben und andererseits ein Verhalten zeigen, das auf irgendeine Art und Weise oder in bestimmten Situationen auffällig ist.

3.1 Abweichungen von der Norm

Eigentlich ist der Begriff Auffälligkeit noch neutral, weil jemand positiv oder negativ auffallen kann, absichtlich oder gezwungenermaßen. Die Ursachen für das Verhalten, können einerseits dem Kind, und andererseits dem Beobachter zugeschrieben werden (vgl. Köckenberger, 2008, S. 172/173). Daher kann man Auffälligkeit niemals isoliert, sondern immer nur unter dem Gesichtspunkt des Systems, der Bedingungen und der Bezugsnorm verstehen. Man muss sehr genau trennen, wer beobachtet, wer beurteilt, welche Normen gelten und wer zuschreibt.

Gesamtgesellschaftlich sind es immer mehr Kinder, die als verhaltensauffällig eingestuft werden. Das kann an der besseren Information von medizinischem und pädagogischem Personal liegen, die früher erkennen und eingreifen. Es kann an den gesellschaftlichen Veränderungen liegen (siehe oben), die Kinder nicht länger kompensieren können oder wollen (vgl. a.a.O. S. 173). Es kann aber auch sein, dass sich die Normvorstellung der Allgemeinheit verengt hat und dadurch immer mehr Kinder als auffällig eingestuft werden.

3.2 Vorstellung der TeilnehmerInnen meiner heilpädagogischen Kleingruppe

Meine Gruppenmaßnahme ist in diesem Kindergarten ein erstmaliges Angebot. Bei einigen Eltern löst der Begriff „heilpädagogisch“ Ängste aus. Sie wollten nicht, dass ihr Kind teilnimmt und dadurch als krank, behandlungsbedürftig oder auffällig stigmatisiert wird. Teilweise können diese Ängste in Eingangsgesprächen ausgeräumt werden. Den Eltern wird ein Überblick über die Methoden gegeben und betont, dass die zentrale Vorgehensweise über das Spiel erfolgt, genau wie in der Gesamtgruppe. Letztlich werden fünf Kinder angemeldet.

Bei Max, 5;3 Jahre alt, werden mir starke Verhaltensauffälligkeiten (Normabweichungen) geschildert. Den Kindergartenalltag stört er durch massive Bewegungsunruhe, durch Verweigern bei Aufgabenstellungen und Stören bei gemeinsamen Vorhaben. Das Erzieherteam gibt an, wegen Max angespannt und überfordert zu sein.

Ich selbst erlebe Max zeitweise ähnlich, allerdings auch völlig anders, z.B. in sehr konzentrierten Spielphasen, oder hilfsbereit oder zeitweise völlig angepasst.

Der Kontakt zu den Eltern ist ebenfalls gespannt, weil sich die Eltern bisher standhaft weigern für Max externe Expertenhilfe in Anspruch zu nehmen. Alle Versuche des Teams Max in Ergotherapie o.ä. zu empfehlen, werden vor allem vom Vater blockiert. Nach meinen Beobachtungen vertreten die Eltern allerdings keinen einheitlichen Kurs. Die Mutter ist eher zur Kooperation bereit. Max hat einen 7 Monate alten kleinen Bruder.

Bei Tim, 5;4 Jahre alt, klagt das Personal ebenfalls über motorische Unruhe. Sein Bewegungsdrang würde im Gruppenraum massiv stören, weil er dabei nicht auf andere Kinder achtet, grob und übergriffig ist. Alleine könne er nicht spielen. Bei angeleiteten Beschäftigungen habe er einen sehr hohen Anspruch an sich. Wenn ihm eine Arbeit, z.B. eine Zeichnung nicht gelungen erscheint, knüllt er sie weinend zusammen und wirft sie weg. Im Gespräch mit Tim fällt auf, dass er manchmal nicht folgerichtig und adäquat antworten kann. Tim hat vor 4 Monaten einen kleinen Bruder bekommen.

Medizinisch ist zu beachten, dass Tim seit dem Säuglingsalter Asthma hat und täglich Medikamente nehmen muss. In den ersten Wochen nach seiner Geburt musste eine schwere Operation durchgeführt werden.

Jan, 3;11 Jahre hat zwei größere Geschwister und erhebliche häusliche Belastungen. Bei seiner Mutter trat eine Autoimmunerkrankung auf, die sie in ihrer Aufgabe als Mutter und Hausfrau, erheblich beeinträchtigt und zu mehrwöchigen Behandlungen in die Klinik zwangen. Der Vater von Jan versucht Beruf und Familie zu managen und das Einkommen zu sichern, was durch den Kauf eines eigenen Hauses verschärft ist. Die Mutter beschreibt Jan als anstrengendes, ständig störendes Kleinkind und gibt ihm eine Teilschuld an ihrer Erkrankung.

In der Kindergartengruppe attackiert Jan andere Kinder beim Spielen, schlägt auf sie ein. Bei tätlichen Auseinandersetzungen gibt er nicht auf, sondern kämpft verbissen weiter, auch wenn er offensichtlich der Unterlege ist.

Das Team stellt eine Entwicklungsverzögerung, speziell im feinmotorischen Bereich, fest.

Jan nimmt Zuwendung gerne an. Er sucht bei mir gleich zu Anfang Aufmerksamkeit, Nähe und Körperkontakt.

Auch Maria, 5;9 Jahre hat 4 Monate zuvor, einen kleinen Bruder bekommen. Ihr normabweichendes Verhalten wird vom Team mit „sozial inkompetent“ beschrieben. Weil sie in einer Dreierkonstellation, mit zwei weiteren Mädchen, einen Teil der Kindergartengruppe angeblich manipuliert. Durch Konkurrenz- und Abgrenzungsverhalten, gibt es ständig Streit und Unruhe, speziell unter den Mädchen.

In der heilpädagogischen Gruppe zeigt Maria in der Anfangszeit große Anspannung, Unsicherheit und Angst vor Neuem und Unbekanntem. Entscheidungen zu treffen fällt ihr schwer und sie braucht dazu viel Zeit und gutes Zureden.

Ruth, 3;6 Jahre, ist die Jüngste und erst seit ein paar Wochen im Kindergarten. In der Kindergartengruppe „boxt“ sie sich im wahrsten Sinne des Wortes durch, ist sehr grob mit anderen Kindern, schlägt auf sie ein, stört sie beim Bauen, Spielen usw.

Obwohl sie schon sauber gewesen war, nässt und kotet sie wieder ein.

Ruths Mutter hat die Familie verlassen und ist in eine andere Stadt gezogen. Bei einem geplanten einwöchigen Besuch bei ihrer Mutter, in dieser weiter entfernten Stadt, muss Ruth nach 2 Tagen wieder abgeholt werden, weil die Mutter keine Nahrungsmittel mehr für sie hat. Ruth wird jetzt allein vom Vater erzogen und von der Großfamilie versorgt, wenn der Vater im Dreischichtsystem arbeitet.

Mir gegenüber zeigt sich Ruth aufgeschlossen, wissbegierig, robust, mit einer schnellen Auffassungs- und Entwicklungsfähigkeit.

3.3 Heilpädagogische Hilfe als sinnvolle Ergänzung

Ich setze mir für die heilpädagogische Gruppenmaßnahme zwei Globalziele. Einerseits will ich einen Entwicklungsfortschritt für die Kinder erreichen und andererseits das Team und die Institution Kindergarten durch Anleitung, Beratung und Begleitung unterstützen.

Bei der Vorbereitung dieser Arbeit, finde ich die Beschreibung eines Modellprojekts vom Ehepaar Steinebach, die untersucht haben, wie sich über 5 Jahre die Mitarbeit einer Heilpädagogin im Regelkindergarten ausgewirkt hat (vgl. 2001, S. 75-90 und 2002, S.44-57).

Sie heben hervor, dass sich das Personal durch die Anwesenheit der Heilpädagogin, besonders im Umgang mit entwicklungs- und verhaltensauffälligen Kindern, „sehr stark in ihrer eigenen Arbeit unterstützt“, gesehen hat. Sie gehen sogar soweit zu behaupten, dass die direkte Berufszufriedenheit der ErzieherInnen am Arbeitsplatz gesteigert wurde.

Die Vorgehensweise mit Einzel- und Gruppenförderung, Elterngesprächen, Hausbesuchen und Teamgesprächen, ist meiner Arbeit sehr ähnlich. Obwohl ich im Vergleich nur 10 Monate und mit sehr geringer Stundenzahl im Regelkindergarten war, decken sich ihre Ergebnisse, in großen Teilen, mit meinen eigenen Erfahrungen.

3.3.1 Für die Kinder

Die heilpädagogische Hilfe für die Kinder, besteht in der Durchführung der Gruppenmaßnahme, nach einem eigenständig entwickelten Handlungskonzept. Dieses Konzept lehnt sich an das Modell bzw. den Prozess des Casemanagement an (vgl. Hellmann in Greving/Ondracek, S. 19, 2009). Die einzelnen Schritte will ich hier nur grob andeuten. Ausführlich habe ich sie im Abschlussbericht bearbeitet (Brandt, 2010).

Im „Assessment“ werden die Probleme der Kinder aus der Sicht des Kindergartens, und aus eigenem Erleben (siehe 3.2) analysiert und diagnostische Daten gesammelt.

Mit dem „Planing“ bilde ich aufgrund meiner theoretischen Kenntnisse Hypothesen, formuliere vorläufige Ziele. Interventionen und Fachmethoden, in meiner Maßnahme z.B. die Vorgehensweisen der Psychomotorik, werden gewählt und begründet.

Mit dem Beziehungsaufbau zum einzelnen Kind, zur Gesamtgruppe, zum Team und zu den Eltern, beginnt der Schritt „Implementation“, bei dem die Maßnahme in entsprechenden Settings durchgeführt wird.

Mit einer Abschiedsgestaltung und der „Evaluation“ wird die Maßnahme beendet.

Diesen Prozess kann man als heilpädagogisches System bezeichnen, wie sich später zeigen wird.

3.3.2 Für die Institution Kindergarten

Meine Gruppenmaßnahme, die keine Kosten verursacht oder Bewilligungsbescheinigungen erfordert, stellt für die Eltern ein niederschwelliges Hilfsangebot dar. Sie können ihr Kind wie gewohnt in die Einrichtung bringen und erhalten eine zusätzliche Leistung. Der vermeintliche Makel, in eine Beratungsstelle gehen zu müssen, fällt weg. Zeitraubende Kinderarztbesuche, zur Verordnung von Frühfördermaßnahmen, können umgangen werden. Die Kontaktmöglichkeiten zur Heilpädagogin sind einfach und die Zeiten, wo sie mich erreichen können, sind verlässlich.

Für das Personal stellt meine Anwesenheit, als zusätzliche Fachkraft, eine Entlastung dar.

Die Gruppen sind so groß, dass jedes Kind, was sich nicht im Raum befindet, spürbar zu mehr Ruhe beiträgt. Anderseits biete ich dem Personal direkte und indirekte Beratung und Weiterbildung an. Hauptsächlich für die „Verhaltensauffälligkeiten“ wurde meine Unterstützung, mein Rat als Fachfrau erbeten.

4 Eine systemische Betrachtungsweise, ausgehend von Bronfenbrenner und Speck

Da es mir in dieser Arbeit um das Sehen, also das Erkennen der unterschiedlichen Systeme geht, in denen sich ein Kind bewegt, sich entwickelt und die es mitgestaltet, möchte ich von Bronfenbrenner und seiner „Ökologie der menschlichen Entwicklung“ ausgehen (1981). Er verwendet den Begriff Ökologie nicht nur im biologischen Sinne, wo es Lebensnische, Lebensraum bedeutet, sondern ausgehend vom altgriechischen oikos, auch als Begriff für Haus und Hausgemeinschaft. Lexikalisch ist Ökologie die Wissenschaft von den vielfältigen Beziehungen zwischen den Lebewesen und ihrer Umwelt (vgl. dtv Lexikon, 2006, S.101).

Speck entwickelt für die Heilpädagogik den „systemisch-ökologischen Orientierungsansatz“, führt Bronfenbrenners Theorien weiter und richtet den Fokus vorwiegend auf die Lebenswelt behinderter Menschen (vgl. Speck, 20086). Ich möchte seine Theorien jedoch auf Kinder mit besonderen Bedürfnissen, im oben beschriebenen Sinn, ihre Familien und die Institution Regelkindergarten anwenden.

4.1 Begrifflichkeiten, Definitionen und Merkmale von Systemen

Das systemtheoretische Modell stammt ursprünglich aus der Kybernetik, die sich mit der dynamischen Steuerung und Regelung von Informationsprozessen befasst (vgl. Speck, 20086, S.92). Dieses Modell ist wissenschaftlich vielfach anwendbar. Deshalb gibt es auch keine einheitliche Systemtheorie, sondern die jeweiligen Wissenschaften, wie z.B. die Biologie, die Soziologie und die Sozialpsychologie, wenden sie für ihr Fachgebiet an. Für die Heilpädagogik unter systemtheoretischem Aspekt, ist meiner Ansicht nach zuerst Urie Bronfenbrenner mit seiner ökologischen Psychologie, Otto Speck mit der Weiterführung und Anwendung auf die Lebenswelt behinderter Menschen zu nennen, Virgina Satir mit der Anwendung im Bereich der Systemischen Familienhilfe und Niklas Luhmann, der als Soziologe Systeme analytisch betrachtet. Seine Intention war es, zu erklären oder zu zeigen, wie sich Teile eines Ganzen z.B. Einzelpersonen in einem Verein, innerhalb dieses Systems verhalten, zu anderen Systemen Kontakt aufnehmen oder in Konflikte geraten. Die Systemtheorie ist zwar nicht aus der Pädagogik entstanden, lässt sich aber als Erklärungs- und Analyseinstrument im pädagogischen/heilpädagogischen Bereich gut verwenden, um Beobachtungen zu ordnen, in Beziehung zu setzen, zu vergleichen und Handlungskonzepte daran zu orientieren (vgl. a.a.O., S. 93).

Wir kennen folgende Arten von Systemen: Maschinen und Organismen die man als Systeme bezeichnet, lasse ich hier außen vor, weil sie in dieser Arbeit keine Rolle spielen.

Anders verhält es sich mit „psychischen Systemen“, wie man Einzelpersonen in so einer theoretischen Betrachtungsweise nennen könnte, und mit sozialen Systemen , wie z.B. der Kindergarten, in dem ich tätig bin. Besonders interessant sind für diese Arbeit die Interaktionen, wie z.B. die „Tür und Angelgespräche“ zwischen Mutter und Erzieherin. Auch das wissenschaftlich spezialisierte, und sich immer wieder verändernde System der Heilpädagogik, wird eine Rolle spielen (vgl. a.a.O., S.94 und 97). Ebenso hat das System Gesellschaft, mit seinen Wandlungsprozessen, indirekten Einfluss auf den Regelkindergarten und damit auch auf meine Kleingruppe. Diese Systeme sollen gesehen, und ein Teil von ihnen, in ihrer Wirkung untereinander und zueinander bedacht und beschrieben werden. Als Gegenüber dazu, müssen zu den jeweiligen Systemen die Umwelt(en) genannt werden. Das geht nur mit gedanklichen Hilfskonstruktionen. Während für eine Familie der Kindergarten Umwelt sein kann, ist gleichzeitig für die Erzieherin die Mutter des Kindes Umwelt. Welche Wechselwirkungen dabei gesehen oder vermutet werden können, gilt es zu beschreiben.

Weil die Entwicklung der Kinder im Mittelpunkt steht, ist ihre Reaktion auf diese Wechselbeziehungen zu beachten.

Merkmale von Systemen: Um systemtheoretisch zu denken und zu schreiben, muss ich an einigen Stellen vereinfachen, um übersichtlich erklären zu können.

Eine solche Hilfskonstruktion besteht darin, Systeme als relativ geschlossen zu bezeichnen. Eine Person steuert sich selbstreferenziell, konstruiert ihre Wirklichkeit, existiert als Ganzes. Sie nimmt jedoch Umweltimpulse, ins eigene System mit hinein (vgl. Greving/Ondracek, 2009, S.63).

Ein weiteres Merkmal von Systemen ist die Komplexität . Damit ist gemeint, dass es in und über Systeme, wie z.B. eine Kindergartengruppe von 25 Kindern, solche Mengen von Informationen, Interaktionen und Reaktionen gibt, dass man sie nie vollständig verarbeiten kann (vgl. Speck, 20086, S.99).

Während eine Beobachterin wie ich versucht, die Gesamtsituation zu erfassen, verändert sich diese allein durch meine Anwesenheit schon wieder, was mit dem Begriff Kontingenz bezeichnet wird (vgl. a.a.O., S.101).

Ebenso ein Merkmal von sozialen, aus Personen bestehenden Systemen, ist die ungeheure Dynamik bzw. Veränderungsfähigkeit. Obwohl sie relativ geschlossen scheinen, lassen sich Systeme beeinflussen. In der Einleitung habe ich „stören“ geschrieben. Ich könnte es auch irritieren - im guten Sinne nennen. Indem ich das scheinbar geschlossene System eines Kindes, durch neue, ungewohnte Verhaltensweisen irritiere, kann das Kind auch zu anderen Reaktionen kommen. Dazu schreibe ich später in den Fallbeispielen mehr.

4.2 Das Kind als lebendiges System

Die unter 3.2 vorgestellten Kinder sind jeweils abgeschlossene psychische Systeme, die sich im Laufe ihres Lebens, in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, so gebildet haben. Nach Maturana und Varela (1987) wird dieser Vorgang Autopoiese genannt. Der Mensch organisiert und reguliert sich selbst. Weil jeder Mensch dafür individuell andere Voraussetzungen vorfindet, und damit Entwicklungen auch völlig unterschiedlich verlaufen können, spricht man von Konstruktionen. Die Assoziation zum Konstruieren von Bauwerken finde ich persönlich sehr plastisch und hilfreich. Die menschliche Entwicklung mit dem Entstehen eines Bauwerkes zu vergleichen, das zunächst aus elementaren Bauteilen begonnen wird und später immer differenzierter und komplizierter unterteilt wird. Da jedes menschliche Wesen sein eigener Bauherr ist, gibt es unterschiedliche Pläne und Ausführungen. Z.B. das Erlebnis der Zurückweisung, kann bei dem einen Kind als „fundamentaler Bauträger“ eingesetzt werden, während das andere Kind dieses Erlebnis allenfalls im „Eingangsbereich“ seiner Persönlichkeit „einbaut“. Der Vorgang des Konstruierens findet immer im Bezug zu anderen Menschen, in sozialen und kommunikativen Prozessen statt (vgl. Greving/Ondracek, 2009, S. 65). Der einzelne Mensch, das Kind, hat eine Fülle von Konstruktionsmöglichkeiten, von denen nur ein winziger Ausschnitt erahnt werden kann. Die Handlungen eines Kindes zu beobachten, könnte ein Hinweis auf seine konstruierte Wirklichkeit sein, wenn man sie im Bezug zu seiner Umwelt sieht. Im systemtheoretischen Zusammenhang wird der Mensch einer Umwelt gegenüber gesetzt, auch wenn die Umwelt aus einem anderen Menschen besteht. Menschen sind sich in ihren Beziehungen gegenseitig Umwelt (vgl. Joswig, 2007, S.55).

Die Heilpädagogik geht davon aus, dass die Handlungen von Menschen einem individuellen und subjektiven Sinn folgen (vgl. Greving/Ondracek, 2009, S. 65). Für die Heilpädagogik ist entscheidend, ob der Mensch als Objekt oder als Subjekt gesehen wird. Kobi hat zu dieser Frage, der „Objektsicht“ eines Menschen, der berechenbar, durch bestimmte Reize zu etwas gebracht werden kann, die „Subjektebene“ gegenüberstellt. Er betont dabei, dass „Subjekte“ (in meinem Fall die Gruppenkinder) „idealerweise unberechenbar d.h. zur Selbstbestimmung fähig“ sind. Sie können sich „reizwidrig verhalten, sind wahlfähig autonom“ (Kobi, 20046, S. 36). Um diese Vorgänge geht es mir, wenn ich in meinen Ausführungen immer wieder von der subjektive Wirklichkeit eines Kindes schreibe.

Als Anwendungsbeispiel möchte ich aus der 8. Gruppenstunde, eine Sequenz mit Max schildern und daran Autopoiese und den Vorgang des Konstruierens zeigen:

Max wird an diesem Tag vom Vater gebracht. Die Familie hat verschlafen, der Vater ist sehr in Eile, treibt auch Max zur Eile an, nimmt sich kaum Zeit zum Verabschieden. Max geht ungern mit mir zur Gruppenstunde in den Raum. Bei der Befindlichkeitsrunde demonstriert er, dass es ihm nicht gut geht. Ich spreche an, was ich beobachtet habe und Max hat die Möglichkeit sich zu äußern, dass er verärgert ist. Er beendet die Befindlichkeitsrunde mit dem Satz: „Deshalb mache ich heute nicht mit!“ Ich habe eine Faltübung für eine Phantasiegestalt vorbereitet, damit die Kinder damit anschließend spielen können. Als ich die farbigen Blätter aussuchen lasse, macht Max tatsächlich nicht mit. Er setzt sich einige Tische entfernt hin. Ich beginne die Anleitung, alle Beteiligen sind konzentriert. Wir sind mit der Faltung fast am Ende, als Max an den Tisch kommt. „Warum wartet ihr nicht auf mich?“, schreit er uns an. Ich erinnere ihn an seine Aussage, dass er nicht mitmachen will, und sage: “Wenn du jetzt mit falten möchtest, könnten wir noch auf dich warten.“ Er faltet sehr, sehr exakt, schnell und sauber und muss bis zu diesem Schritt nicht nachfragen. Die Figur wird fertig gefaltet und ein Gesicht aufgemalt. Max will mir seine Figur schenken. Ich demonstriere, wie man damit spielen kann und vier Kinder gehen in die angrenzende Turnhalle, um die Figuren auszuprobieren. Max ist nicht mit in die Turnhalle gekommen, sondern faltet am Tisch eine weitere Figur. Er ist dabei völlig vertieft und konzentriert. Während die anderen in der Turnhalle spielen, schaue ich vorsichtig nach ihm. Er hat eine weitere Figur gefaltet und räumt gerade alle Stifte ordentlich in die Hüllen. Zuletzt kommt er auch, beteiligt sich am Spielgeschehen und schenkt die übrigen Figuren mir.

Aus konstruktivistischer Sicht ist Max`s Weigerung mitzumachen, einigermaßen nachzuvollziehen. Er wurde schnell abgefertigt, fühlte sich vermutlich vernachlässigt, das wollte er demonstrieren. Nach meinen Beobachtungen und Gesprächen mit den ErzieherInnen, werden solche Verweigerungen in der Kindergartengruppe nicht geduldet, mit Sanktionen belegt, negativ beurteilt und mit der Begründung „wo kommen wir denn hin, wenn jeder macht, was er will…“ getadelt. Ich denke, Max ging von diesen bisher erlebten Interaktionen und dem bestehenden Rollenverhalten aus. Indem ich nicht versucht habe, ihn zum Falten zu zwingen, sondern seine subjektive Wirklichkeit, nämlich die Trauer und die Wut, ernst genommen habe, konnte ich ihm neue Verhaltensweisen ermöglichen. Ich könnte nun spekulieren, warum Max, aus meiner subjektiven Sicht, auf das bisschen väterliche Eile so unverhältnismäßig traurig reagiert? Max hat einen kleinen Bruder, 7 Monate alt, der die Eltern ganz schön auf Trapp hält. Es wäre möglich, dass sich Max schon sowieso zurückgesetzt fühlt und meint zu wenig beachtet und gesehen zu werden. Wo in seiner Konstruktion, ich nehme wieder das Bild vom Bauwerk, noch vor der Geburt des Bruders, ein massiver Balken mit der Aufschrift: „Die Eltern sind immer und überall für mich da“ eingesetzt war, muss jetzt neu konstruiert werden. Wie viel bin ich als großer Bruder wert? Hat jetzt noch einer Zeit für mich? Diese subjektive Wirklichkeit von Max in Bezug zu seinen Eltern, könnte sich auch auf die Situation im Kindergarten bzw. in der heilpädagogischen Gruppe auswirken. Mögt ihr mich, auch wenn ich nicht mitmache, mich verweigere?

Diese Sequenz der Gruppenstunde ist nur ein winziger Ausschnitt aus den hypothetischen Konstruktionen von Max. Dazu kommen die abgespeicherten Erfahrungen in der Kindergartengruppe. Max hat täglich erlebt, gehört und erfahren, dass er nicht der Norm entspricht, dass er zu laut ist, dass er sich zu schnell bewegt und dass er sich auf keinen Fall ausschließen darf. Ich vermute, er hat sich in Bezug auf die Kindergartengruppe, selbst das Bild des „Schwarzen Peters“ gegeben. Meine Reaktion bot Max ein alternatives Angebot zur Konstruktion bzw. zur Dekonstruktion seiner bisherigen Sichtweisen von der Welt, die ihn täglich umgibt (vgl. a.a.O., S.66).

[...]

Ende der Leseprobe aus 65 Seiten

Details

Titel
Heilpädagogische Arbeit mit einer Kleingruppe im Regelkindergarten
Note
1,25
Autor
Jahr
2011
Seiten
65
Katalognummer
V183023
ISBN (eBook)
9783656091158
ISBN (Buch)
9783656091356
Dateigröße
919 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Schlagworte
heilpädagogische, arbeit, kleingruppe, regelkindergarten, Ressourcenorientierung, genaue Beobachtung der beteiligten Systeme
Arbeit zitieren
Doris Brandt (Autor:in), 2011, Heilpädagogische Arbeit mit einer Kleingruppe im Regelkindergarten, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/183023

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