Die Rationalitätsannahme in der ökonomischen Theorie: bedingt sie den egoistischen Homo oeconomicus?


Seminararbeit, 2000

18 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemstellung und Zielsetzung
1.2 Gang der Untersuchung

2 Einführung in das ökonomische Verhaltensmodell

3 Das Egoismusprinzip in der Rationalitätsannahme
3.1 Die Stellung des Eigennutzes in der Rational-Choice-Theorie.
3.2 Altruismus als Konsequenz individueller Rationalität
3.3 Die Problematik des kollektiven Handelns
3.4 Die Bewältigung der Unzulänglichkeiten des Verhaltensmodells

4 Schluss

1 Einleitung

„The significant problems we face cannot be solved at the same level of thinking we were at when we created them.” - (Albert Einstein)

1.1 Problemstellung und Zielsetzung

Oft fragt man sich, warum die Leute überhaupt Lotto spielen, obwohl sie genau wissen, dass ihre Aussichten auf Gewinn marginal sind, oder warum jemand an Protestaktionen teilnimmt, obwohl er nur eine von unzähligen vielen Personen ist und es eigentlich gar nichts ausmachen würde, wenn er sich nicht daran beteiligt. Wäre es dann nicht rational, lieber zuhause zu bleiben, anstatt den (Zeit-)Aufwand in Kauf zu nehmen ?

In der vorliegenden Arbeit soll der Status des Egoismusprinzips innerhalb des ökonomi- schen Modells rationalen Verhaltens, repräsentiert durch das Menschenbild des homo oeconomicus, analysiert werden. Es geht vor allem darum zu zeigen, ob das Eigen- interesse eines Menschen Grundlage all seiner Entscheidungen ist.

1.2 Gang der Untersuchung

Der Hauptteil dieser Arbeit unterteilt sich in zwei wesentliche Abschnitte. Zunächst wird auf das Kernmodell des menschlichen Verhaltens in der ökonomischen Theorie eingegangen. Dabei soll vor allem deutlich werden, dass es bis in die heutige Zeit Unei- nigkeiten und Schwierigkeiten bezüglich der Prämissen und Postulate des Modells gibt. Die unterschiedlichen Sichtweisen einiger Ökonomen und Sozialwissenschaftler sollen dabei als Beispiele divergierender Interpretationen vom Prinzip des menschlichen Han- delns dienen. Im zweiten Teil wird dabei explizit die Unterstellung des Eigennutzens in der ökonomischen Theorie erörtert. Es werden die Grenzen der Theorie und diesbezüg- lich die Standhaftigkeit des unterstellten Eigennutzaxioms aufgezeigt, was das Dilemma in Hinblick auf die Erklärung sozialer Phänomene hervorheben soll. Durch das Aufzei- gen möglicher Interpretationsansätze werden die Versuche der Wissenschaftler, eine geeignete Theorie zu finden, herangeführt. Den Schluss bildet eine Zusammenfassung der vorgetragenen Ergebnisse und eine Darstellung weiterführender Ansätze zum Ver- stehen und Erklären menschlichen Handelns.

2 Einführung in das ökonomische Verhaltensmodell

Ein Mensch muss wirtschaften, um die Bedürfnisse, die sein Leben oder seine Wünsche mit sich bringen, in einer Umwelt, die durch knappe Ressourcen charakterisiert ist, zu decken.1 Davon ausgehend muss ein Individuum bewusst möglichst effizient handeln, das heißt, es muss rationale Entscheidungen treffen. Die Ökonomen und Sozialwissen- schaftler versuchen daher, ein Modell zu finden, mit dem man das Verhalten von Indi- viduen realistisch erklären und möglichst auch prognostizieren kann. Bei der Aufstel- lung einer Verhaltenstheorie entsteht jedoch eine Kontroverse zwischen zwei verschie- denen Ansatzpunkten: Man kann einerseits Verhalten auf einer Mikroebene, also an- hand eines einzelnen Individuums, erklären und davon ausgehend das Zusammenspiel Einzelner mit ihrer Umgebung zu deuten versuchen, andererseits aber auch auf der Makroebene ansetzen, d.h. soziale Prozesse als Gesamtes betrachten. Durchgesetzt hat sich der methodologische Individualismus als mikroökonomische Betrachtung des ver- haltenswissenschaftlichen Menschenbildes, da eine kollektivistische Theorie alle ein- zelwirtschaftlichen Beziehungen als identisch ansieht, was sie jedoch in der Regel nicht sind.2 Der „stets zweckrational im Sinne des wirtschaftlichen Prinzips handelnde Wirt-

schaftsmensch“3 (homo oeconomicus) wird in seinem systematischen und bewussten

Handeln und Entscheiden in der Realität durch Restriktionen in seinen Entscheidungs- raum eingeengt. Nach Frey gibt es generell vier Arten von Restriktionen: das verfügbare Einkommen, rechtliche Einschränkungen, informelle Normen und Traditionen.4 Dar- über hinaus beeinflussen auch die Zeit und die Knappheit der Güter den Handlungs- spielraum eines Individuums, die ihn quasi zum rationalen Handelns zwingen.5

Seine Präferenzen und Wertvorstellungen, die er im Laufe seines Sozialisationspro- zesses internalisiert hat, geben ihm Anreize, seine Entscheidungsalternativen zu evalu- ieren und unter Berücksichtigung der dabei anfallenden Kosten abzuwägen. Wichtig bei der Entscheidung ist, dass sich ein Individuum auf seine eigenen Präferenzen und nicht auf die der anderen stützt; die Interessen der anderen werden bereits durch die Beein- flussung auf den Entscheidungsspielraumspielraum berücksichtigt. Will man nun Ver-

änderungen im menschlichen Verhalten erklären, können diese nicht auf Änderungen der Präferenzen zurückgeführt werden, weil man sie empirisch nicht nachweisen kann. Die Folge wäre, dass man jedes Verhalten durch Änderungen der Präferenzen erklären könne, was das Verhaltensmodell tautologischen Charakter annehmen lässt und somit gegen jegliche Kritik und Falsifikationsversuche immunisiert. Statt dessen führt man Veränderungen auf beobachtbare und messbare Veränderungen von Restriktionen zu- rück.6 Die Anreize der eigenen Präferenzstruktur erlauben dem Individuum, rationale Entscheidungen mit den ihm gegebenen Mittel so zu treffen, dass ein Maximum an

„Zweckerfolg“ erzielt wird. Zweckrationales Handeln ist somit synonym mit dem Be- griff der Rationalität. In der modernen Interpretation des homo oeconomicus wird da- von Abstand gehalten, ihn als ein vollständig informiertes, stets nutzenmaximierendes und optimal handelndes Menschenbild darzustellen. Er ist vielmehr mit einem Men- schenbild vereinbar, das „prinzipiell in der Lage ist, gemäß seinem relativen Vorteil zu handeln, d.h. seinen Handlungsspielraum abzuschätzen und zu bewerten, um dann ent- sprechend zu handeln.“7 Ihm wird zwar generell Eigeninteresse unterstellt, was jedoch nicht bedeuten muss, dass er auch immer eigennützig handelt. Wenn es z.B. möglich ist, sich durch Förderung altruistischer Motive besser zu stellen, wird ein rational handeln- des Individuum von der strikten Maximierung seines Eigennutzes abweichen.8 Die häu- fige Verallgemeinerung und Vereinfachung des homo oeconomicus stößt jedoch bei Kritikern auf heftigen Wiederstand, da dadurch der Erklärungsgehalt des Modells ge- mindert wird und das Menschenbild somit einen idealtypischen Status annimmt. An- dersherum würde jedoch ein Modell mit hohem Erklärungsgehalt die Forderung nach Allgemeingültigkeit nicht erfüllen können. In der methodologischen Vorgehensweise konfligieren somit zwei Modell-Situationen: den aus der Wirklichkeit abgeleiteten und konstruierten „Idealtypus“, der deduktiv bestimmt wird und auf Erfahrungen (A- posteriori-Kausalität) basiert, und den in der Wirklichkeit beobachteten „Realtypus“, der induktiv bestimmt wird und aufgrund von Erwartungen (A-priori-Kauslalität) de- terminiert ist.9 Aus diesen Überlegungen heraus ist der sogenannte kritische Rationalis- mus entstanden, den der Ökonom Karl Popper ins Leben gerufen hat. Popper war ein Befürworter einer deduktiven Bestimmungsweise des menschlichen Verhaltens, bei der

aus vorläufig unbegründeten Hypothesen „[...] auf logisch-deduktiven Weg Folgerun- gen abgeleitet werden, die an der Erfahrung scheitern können müssen.“10 Dies wird häu- fig als „Popper-Kriterium“ bezeichnet. Der von ihm entwickelte kritische Rationalismus behauptet (im Gegensatz zum klassischen Rationalismus), dass es kein sicheres Wissen geben könne; die wesentliche Voraussetzung einer Theorie sei daher ihre Falsifizierbar- keit: „Die Bewährbarkeit einer Theorie wächst also mit ihrem empirischen Gehalt [...].“11

Wie bereits erwähnt worden ist, hat man beobachten können, dass die Ökonomen von der idealtypischen Fiktion des homo oeconomicus, dem vollständige Information, voll- ständiges Vorliegen aller Entscheidungsalternativen und ähnliche Eigenschaften zugrunde liegen, abgekommen sind und ihn durch ein realistischeres Bild vom wirt- schaftenden Menschen ersetzt haben. Bökenkamp unterscheidet zwischen verschiede- nen Ausprägungen des homo oeconomicus, indem er den Begriff der Rationalität in fünf verschiedenen Rationalitätsgrade auffächert: Es gibt daher keinen einzelnen homo oe- conomicus, sondern mehrere „homines oeconomici“. Da ein expliziter Eingang auf die unterschiedlichen Rationalitätsgrade den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden, be- findet sich im Anhang (S. 14) eine Übersicht über deren wesentliche Abgrenzungs- und Unterscheidungsmerkmale.12 Hohes Gewicht in der modernen ökonomischen Betrach- tungsweise des Menschenbildes besitzt, mit dem zunehmenden Schwinden der voll- kommenen Rationalität, die sogenannte „beschränkte Rationalität“ als eine der fünf Ra- tionalitätsgrade. Nutzenmaximierung wird beispielweise nicht mehr als notwendige Prämisse angesehen. Ein Individuum handelt nicht, um von seinen Entscheidungen ma- ximal zu profitieren, sondern sie zu einem hinreichend akzeptablen Ergebnis zu führen. Man spricht dabei nur noch von „Satisfizieren“ statt von „Optimieren“13

Um also von der Idealvorstellung des homo oeconomicus wegzukommen, liegt eine genaue Überprüfung der Verhaltensannahmen nahe, die von dem ökonomischen Verhal- tensmodell postuliert werden. Schwerpunkt dieser Arbeit wird dabei das Postulat des Eigennutzaxioms sein, indem es zu zeigen gilt, ob rationales Handeln uneingeschränkt Eigeninteresse voraussetzt, oder nicht.

3 Das Egoismusprinzip in der Rationalitätsannahme

3.1 Die Stellung des Eigennutzes in der Rational-Choice-Theorie

In der ökonomischen Theorie spielt das Eigeninteresse ein große Rolle, da es sich un- mittelbar aus dem Paradigma des homo oeconomicus herauskristallisiert. Es wird oft definiert als eine treibende Eigenschaft, seinen eigenen Interessen und damit auch sei- nen eigenen Vorteilen nachzukommen. Schon Adam Smith (1776) sah den Egoismus als treibende Kraft zur Beeinflussung des menschlichen Verhaltens an: „Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir, was wir zum Essen brau- chen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eige- nen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil.“14 Smith liefert dadurch eine Er- klärung, warum durch die gegenseitige Abhängigkeit eigeninteressierter Individuen oder Institutionen überhaupt Marktbeziehungen zustande kommen.15

Oftmals wird in der Literatur betont, dass der Eigennutz in der Mitte zwischen den Ver- haltensweisen gut und böse anzusiedeln ist und somit ein neutrales Verhältnis „gegen- seitiger desinteressierter Vernünftigkeit“16 (J. Rawls) zwischen Individuen symbolisiert. Auf diese Weise proklamieren viele Sozialwissenschaftler mit der „vernünftigen Ver- folgung des Eigeninteresses“17 die Eigennutzannahme innerhalb des ökonomischen Menschenbildes als die wesentliche Prämisse der Rationalitätsannahme.18

Einigkeit über ein uneingeschränktes Postulieren des Eigeninteresses innerhalb des Mo- dells vom rationalen Handeln in der Ökonomie ist bei den Sozialwissenschaftlern je- doch nicht anzutreffen. Die Ansichten divergieren, jedoch tendieren die meisten Öko- nomen zu der Behauptung, dass Egoismus keine zwingende Voraussetzung für Rationa- lität darstelle. So ist z.B. Elster der Überzeugung, dass dem Eigeninteresse innerhalb des Rationalitätsprinzips zwar eine besondere Stellung zukommt, es aber noch nie in Hinblick auf rationales Verhalten ausreichend nachgewiesen werden konnte, was ihn

somit an einer konsistenten Berufung auf den Eigennutz zweifeln lässt.19 Andere Öko- nomen dagegen, wie z.B. Taylor differenzieren kurzerhand zwischen mehreren Versio- nen des Modells vom rationalen Handeln. So spricht dieser in seinen Ausführungen über die „harte Rationalität“ für ein alleiniges Vorherrschen egoistischer Motiven und Präferenzen aus.20

An dieser Stelle wird oft auf das Paradoxon des Wählens („paradox voting“) rekurriert. Es mache aus Sicht eines rational Handelnden keinen Sinn zu einer Wahl zu gehen. Wie Elster formuliert „[...] ist die Wahrscheinlichkeit, bei der Fahrt zum Wahllokal bei ei- nem Autounfall getötet zu werden, höher als die Wahrscheinlichkeit, dass die einzelne Stimme einen entscheidenden Einfluss auf den Ausgang der Wahl hat.“21

Trotz der Annahme, dass den Individuen die Beteiligung an einer Wahl keinerlei Nut- zen verspricht, partizipieren sie dennoch an den öffentlichen Abstimmungen. Folglich müssen neben dem Selbstnutzen noch weitere Anreize existieren, die das Verhalten der Menschen beeinflussen. Dies hat die Ökonomen den Anstoß gegeben, nach Erklärungen zu suchen, die sich nicht auf einen eigennützigen und rationalen Wähler stützen.

[...]


1 Vgl. Thommen/Achleitner (1998), S. 31-33

2 Vgl. Bökenkamp (1985), S.56-60; Frey (1989), S. 69

3 Bökenkamp (1985), S.60

4 Vgl. Frey (1989), S. 72-73

5 Vgl. Schultheiss (1999), S. 24-25

6 Vgl. Kirchgässner (1991), S.13-14, S.17; Frey (1989), S. 71

7 Kirchgässner (1991), S. 17; Vgl. Bökenkamp (1985), S. 107

8 Zur Problematik der Unterstellung von Eigeninteresse innerhalb der Rationalitätsannahme vgl. Abschnitt 3.1; vgl. Frey (1989), S. 89; Schultheiss (1999), S. 65; Kirchgässner (1991), S. 16

9 Vgl. Bökenkamp (1985), S. 80, S.84, S.94-95; Saliger (1998), S.134, Laux (1998), S.338

10 Bökenkamp (1985), S. 90; vgl. Wendel (1998), S.48

11 Bökenkamp (1985), S.94; vgl. Meyer (1999), S. 4

12 Vgl. Bökenkamp (1985), S. 101-161: Auf diesen Seiten wird explizit auf die Abstraktionsgrade des Rationalverhaltens eingegangen, die zusammengefasst in einer Abbildung im Anhang dargestellt sind

13 Vgl. Frey (1989), S. 77; Schultheiss (1999), S. 26; Bökenkamp (1985), S. 149-150

14 Smith (1990), S. 17

15 Vgl. Schultheiss (1999), S.118-119; Frey (1989), S. 76

16 Rawls, J. (1971), S.168, zitiert nach Kirchgässner (1991), S. 17; vgl. auch Kirchgässner S. 47

17 Sen, A.K. (1988) zitiert nach Frey (1989), S. 77

18 Vgl. Schultheiss (1999), S. 29; Schlösser (1992), S. 16f; Frey (1989), S.71f; Kirchgässner (1991), S. 62

Ende der Leseprobe aus 18 Seiten

Details

Titel
Die Rationalitätsannahme in der ökonomischen Theorie: bedingt sie den egoistischen Homo oeconomicus?
Hochschule
European Business School - Internationale Universität Schloß Reichartshausen Oestrich-Winkel  (Lehrstuhl für Entscheidungstheorie)
Note
1,7
Autor
Jahr
2000
Seiten
18
Katalognummer
V1828
ISBN (eBook)
9783638111263
Dateigröße
628 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rationalität, Egoismus, Altruismus, Homo oeconomicus, kollektives Handeln, Verhaltensmodell
Arbeit zitieren
Thomas Kramer (Autor:in), 2000, Die Rationalitätsannahme in der ökonomischen Theorie: bedingt sie den egoistischen Homo oeconomicus?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1828

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