Zählendes Rechnen im Anfangsunterricht der Grundschule

Qualitative Untersuchung zu Möglichkeiten der individuellen Förderung von rechenschwachen Grundschulkindern


Examensarbeit, 2009

100 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltliche Übersicht

Einleitung

1. Theoretische Grundlagen
1.1. Erwerb der Rechenkompetenz
1.2. Das Phänomen „Zählendes Rechnen“
1.3. Forschungsfeld Rechenschwäche
1.4. Diagnose der Rechenstörung
1.5. Vorbeugung der Rechenschwäche
1.6. Förderung rechenschwacher Kinder

2. Konzeption der eigenen qualitativen Untersuchung
2.1. Zielsetzung der Untersuchung
2.2. Die Lerndokumentation
2.3. Verwendeter Leistungstest
2.4. Rahmenbedingungen der Untersuchung

3. Umsetzung und Auswertung der eigenen qualitativen Untersuchung
3.1. Erprobte Arbeitsmaterialien
3.2. Einzelfallstudien

4. Reflexion

5. Quellennachweise
5.1. Literatur
5.2. Weitere Quellen

6. Anhang

Einleitung

Wer einmal die Gelegenheit hatte, im Mathematikunterricht der Grundschule zu hospitieren, hat sicherlich festgestellt, dass die Leistungen der Kinder trotz eines gemeinsamen Unterrichts äußerst heterogen ausfallen. Es finden sich in jeder Klasse Kinder, denen der Erwerb von mathematischen Kenntnissen extrem viele Schwierigkeiten bereitet und bei denen überdurchschnittlich viele Fehler zu verzeichnen sind. Es wäre falsch, diesen Kindern zu unterstellen, dass sie nicht genug üben würden, oder dass sie weniger begabt wären als andere. Sobald man die Fehler von rechenschwachen Kindern genauer untersucht, fällt auf, dass diesen eine bestimmte Denkweise zugrunde liegt: Zum Teil wenden die rechenschwachen Schüler die Rechenstrategien falsch an, zum Teil verzählen sie sich oder schreiben die Zahlen einfach nur verkehrt auf, indem sie z.B. die Zehner und die Einer vertauschen. Nach Jens Holger Lorenz entziehen sich die gemachten Fehler rechenschwacher Kinder oft einer sinnhaften Erklärung, da sie außerhalb der vernünftigen Lösungswege liegen. Allerdings handelt es sich dabei nicht um zufällige Ergebnisse, die die Kinder unüberlegt hinschreiben. Vielmehr beschäftigen sich diese Schüler intensiv mit den ihnen gestellten Aufgaben und verfolgen dabei einen bestimmten Lösungsweg, der sie allerdings nicht zum richtigen Ergebnis führt (vgl. Lorenz 2003a, 17).

Die rechenschwachen Kinder fallen erst im Vergleich zu einer gleichaltrigen Normgruppe auf und werden daher in der Regel erst in der Grundschule erkannt. Spätestens bei der Erweiterung des Zahlenraumes über 100 hinaus entwickeln rechenschwache Kinder massive Probleme im Mathematikunterricht. Bei den meisten betroffenen Kindern ist zu beobachten, dass sie versuchen, die Rechenoperationen zählend zu lösen, was durchaus zu einem richtigen Ergebnis führen kann. Obwohl die rechenschwachen Kinder im Mathematikunterricht effizientere Rechenstrategien kennengelernt haben, halten sie krampfhaft am zählenden Rechnen fest, wodurch sie sich eindeutig in eine ungünstige Situation bringen. Ihnen unterlaufen nicht nur die typischen Verzählfehler, sondern sie sind auch noch um einiges langsamer als ihre Mitschüler (vgl. Jacobs & Petermann 2007, 1-2).

Das zählende Rechnen wird in der einschlägigen Literatur stets mit der Rechenschwäche in Verbindung gebracht. Dabei hat das zählende Rechnen in einer bestimmten kognitiven Entwicklungsstufe des Kindes durchaus seine Berechtigung. Es ist als eine der ersten Rechenstrategien anzusehen, die ein Kind sich aneignet. Im Anfangsunterricht der Grundschule wird angestrebt, dass sich die Kinder bei einer Auseinandersetzung mit den Zahlenmengen effizientere Rechenstrategien aneignen, und auf das zählende Rechnen zunehmend verzichten. Dabei ist allerdings zu beobachten, dass vor allem die rechenschwachen Kinder sich nur schwer von dieser „Zählstrategie“ lösen können (vgl. Krajewski 2005a, 154-155).

Der Schwerpunkt der Arbeit wurde bewusst auf das zählende Rechnen in der Grundschule gelegt, da es in der Praxis als Indikator für vorhandene Lernschwierigkeiten eingesetzt werden kann. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des zählenden Rechnens hat eine hohe Relevanz für die Schulpraxis. Jede Lehrkraft, die ein rechenschwaches Kind in ihrer Klasse hat, wird sich bemühen, es im Rahmen der Unterrichtsmöglichkeiten so weit zu fördern, dass es den Leistungsstand der Klasse erreichen kann. Bei den Bemühungen, dem betroffenen Kind zu helfen, wird sie allerdings kaum einen Ratgeber finden, der eine genaue Anleitung zur Förderung geben kann. Rechenschwache Kinder verfolgen in der Regel sehr individuelle Rechenstrategien, die zum Teil auf falsch verstandenem mathematischem Regelwissen basieren. Ihre individuellen Denkprozesse erfordern einer individuellen Fehleranalyse und einer individuellen Förderung. Oft liegen die unverstandenen Lehrinhalte bereits weit zurück (vgl. Jacobs & Petermann 2007, 4), wodurch eine Förderung nötig wird, die sich weniger an dem Lehrplan sondern mehr an dem Erwerb der grundlegenden mathematischen Kompetenzen ausrichtet.

Die vorliegende Arbeit ist in zwei Bereiche gegliedert, von denen der erste Teil sich mit den theoretischen Fragen zum Thema zählendes Rechnen und Rechenschwäche in der Grundschule auseinandersetzt und der zweite Teil die Umsetzung und die Ergebnisse der eigenen qualitativen Untersuchung wiedergibt.

Um rechenschwachen Kindern nachhaltig helfen zu können, ist es zunächst sinnvoll, sich mit der Entwicklung der Rechenkompetenz im Kindesalter zu befassen. Mittlerweile gilt es durch wissenschaftliche Studien als erwiesen, dass der Mensch bereits von Geburt an über ein gewisses Mengenverständnis verfügt. Bereits Kleinkinder sind in der Lage, größere von kleineren Mengen zu unterscheiden. Mit dem Erlernen der Sprache lernt das Kind auch die Zahlwörter kennen, die es in einer Konfrontation mit der Umwelt den Mengen zuzuordnen versucht. Bereits im Vorschulalter können die meisten Kinder in der Regel zählen und kleinere Rechenoperationen durchführen (vgl. Jacobs & Petermann 2007, 30). Die Fähigkeit zählen zu können, ist allerdings noch keine Voraussetzung für einen erfolgreichen Mathematikunterricht. Viel wichtiger ist dagegen, dass das Kind auch weiß was die Zahlen bedeuten. Wenn ein Kind noch kein ausreichend entwickeltes Mengenverständnis besitzt, so läuft es Gefahr, im Mathematikunterricht Rechenschwierigkeiten zu entwickeln (vgl. Krajewski 2005b, 65-66).

In dieser Arbeit werden die aktuellen wissenschaftlichen Erklärungen für die Entstehung der Rechenschwäche aufgezeigt. Des Weiteren werden die Diagnose- und die Fördermöglichkeiten, sowie die Kennzeichen eines präventiven Mathematikunterrichts vorgestellt und diskutiert.

Bei der Auseinandersetzung mit dem zählenden Rechnen in der Grundschule stellt sich schnell die Frage, wie den betroffenen Schülern nachhaltig geholfen werden kann. Im Rahmen dieser Arbeit wurde eine Untersuchung durchgeführt, die sich mit den Fördermöglichkeiten in der Schule auseinandergesetzt hat. Sie umfasste unterrichts- begleitende Förderstunden mit rechenschwachen Kindern, in denen mit den Arbeitsmaterialien der Lerndokumentation aus dem berliner TransKiGs Projekt gearbeitet wurde. Das primäre Ziel der Untersuchung war herauszufinden, ob rechenschwache Kinder im Rahmen einer individuellen Förderung im Erwerb der Rechenkompetenzen unterstützt werden können.

Das zweite Ziel der Untersuchung war zu ermitteln, ob die Lerndokumentation Mathematik, die für den Anfangsunterricht in der Grundschule konzipiert wurde und dem Aufbau der grundlegenden Mathematikkompetenzen dient, auch für einen sonderpädagogischen Einsatz verwendet werden kann.

An dieser Stelle möchte ich mich bei den beiden Klassenlehrkräften und den an der Förderung teilgenommenen Kindern für ihre Mitarbeit bedanken. Sie haben einen wichtigen Beitrag für die Entstehung dieser Arbeit geleistet.

1. Theoretische Grundlagen

1.1. Erwerb der Rechenkompetenz

1.1.1. Entwicklung von Zahlvorstellungen

Nach dem aktuellen Stand der Forschung sind beim Menschen die basalen Fähigkeiten im Umgang mit Mengen angeboren. Aus einigen Säuglingsstudien geht hervor, dass „ numerische Konzepte sich unabhängig von der Sprache entwickeln und eine eigene neuronale Basis bilden “ (Jacobs & Petermann 2007, 26). Weiterhin ist bei einem weltweiten Ländervergleich aufgefallen, dass jede bekannte menschliche Kultur über eigene Zahlwörter verfügt, um mindestens im Zahlenbereich bis 20 differenzieren zu können (vgl. Stern u.a. 1998, 461). Sowohl der Kulturenvergleich als auch die Ergebnisse der Säuglingsforschung sprechen dafür, dass „ basale Fähigkeiten im Umgang mit Mengen angeboren sind. Sie bilden das Grundgerüst für die komplexen Fähigkeiten, die sich bereits im Kindergartenalter zeigen “ (Jacobs & Petermann 2007, 29).

Mittlerweile wird dem Erwerb der Rechenkompetenz ein Triple-Code-Modell zugrundegelegt, welches Dehaene im Jahr 1992 formulierte. „ Kurz zusammengefasst besagt es, dass Erwachseneüber drei unterscheidbare, miteinander verbundene neuronale Netzwerke (so genannte Module) verfügen, die entsprechend den verschiedenen repräsentativen Eigenschaften und Funktionen von Zahlen (sprachlich-alphabetisches Zahlwort, visuell-arabische Notation, analoge mentale Zahlenraumvorstellung) in unterschiedlichen Regionen des Gehirns lokalisiert sind und bei umschriebenen Hirnschädigungen zu ganz unterschiedlichen Teilausfällen führen “ (von Aster 2005,14).

Ausgehend vom Triple-Code-Modell wurde untersucht, wie die Entwicklung und die Verknüpfung der zahlenverarbeitenden Hirnfunktionen verlaufen. In Abbildung 1 ist dargestellt, wie die einzelnen kognitiven Entwicklungsstufen miteinander zusammenhängen. Zunächst wird davon ausgegangen, dass der Mensch bereits über eine angeborene Fähigkeit verfügt, die konkreten Mengen voneinander zu unterscheiden. Das kardinale Mengenbewusstsein ist präverbal und kann bereits bei Kleinkindern nachgewiesen werden. In der weiteren Entwicklungsphase wird das Kind durch seine Umgebung und auch durch Bezugspersonen mit Zahlenwörtern konfrontiert, so dass ihm zunehmend Verknüpfungen zwischen Zahlenwörtern und Mengen gelingen. Das Kind erwirbt ein verbales Zahlenwortsystem. Die nächste Stufe ist die Entwicklung einer abstrakt symbolisch- räumlichen Zahlenraumpräsentation. Untersuchungen sprechen dafür, dass der mentale Zahlenraum linear abgebildet ist, in dem die Zahlen ordinal präsent sind (vgl. von Aster 2005, 15-16).

Das Wissen um einzelne Zahlen und ihrer Beziehungen zueinander wird als Zahlenraum bezeichnet. Dieser Begriff enthält im zweiten Teil das Wort „Raum“. Damit soll verdeutlicht werden, dass die Zahlenrelationen räumlich gedacht werden. Jeder Mensch konstruiert sich dabei einen eigenen Zahlenraum. Obwohl die Zahlenvorstellung bei jedem Menschen anders ist, hat sie doch eine Gemeinsamkeit: Sie liegt in Form einer Zahlengeraden vor. Da der imaginäre Zahlenraum linear gedacht wird, erfolgen bei Rechenoperationen gedankliche Sprünge in zwei verschiedene Richtungen. In den europäischen Kulturen erfolgen bei einer Addition meist Sprünge nach rechts und bei einer Subtraktion nach links. Bei den arabischen Kulturen scheint es dagegen umgekehrt zu sein. Inwieweit diese Beobachtung mit der Schreibrichtung zusammenhängt, ist derzeit noch nicht erforscht (vgl. Lorenz 2005a, 169).

Den neurobiologischen Erkenntnissen zufolge, greift der Mensch beim Rechnen sowohl auf das bildlich-räumliche als auch auf das sprachliche Zahlensystem zu. Das sprachliche Modul ermöglicht das Zählen und das Abrufen von arithmetischem Faktenwissen. Der bildlichräumlichen Ebene werden dagegen Fähigkeiten wie das Einschätzen einer Mengengröße, das Vergleichen von Zahlen und das Überschlagen von Rechnungsergebnissen zugeschrieben (vgl. Kucian & von Aster 2005, 69-70).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Entwicklung und Verknüpfung zahlenverarbeitender Hirnfunktionen (von Aster 2005, 15)

Grube (2005, 110) bezieht sich auf wissenschaftliche Ergebnisse und bringt die Entwicklung der Rechenkompetenz mit der Entwicklung der funktionalen Kapazität des Arbeitsgedächtnisses in Verbindung (siehe Abbildung 1).

„Ältere Kinder können daher mehr Informationen temporär speichern, miteinander in Beziehung setzen und verarbeiten als jüngere Kinder. Entsprechend ist anzunehmen, dass mit zunehmenden Alter - selbst wenn alle anderen Einflussfaktoren konstant bleiben - Rechenaufgaben immer besser gelöst werden können und dass die Lösung zunehmend komplexerer Aufgabenstellungen möglich ist “ (Grube 2005, 110).

Des Weiteren wurde von Geary im Jahr 2000 ein weiteres Modell vorgestellt, welches den Erwerb der Rechenkompetenzen in primäre und sekundäre Rechenfertigkeiten aufteilt. Geary fasst unter dem Begriff primäre Rechenfertigkeiten die vorschulischen Fähigkeiten zusammen, die sich das Kind bereits während der Kindergartenzeit aneignet. Mit sekundären Rechenfertigkeiten werden dagegen Rechenstrategien bezeichnet, die das Kind in der Regel erst in der Schule erlernt (vgl. Jacobs & Petermann 2007, 29). In der Abbildung 1 sind die Rechenfertigkeiten aufeinander aufbauend abgebildet. Die primären Rechenfertigkeiten befinden sich dabei im oberen linken Teil der Grafik, die sekundären Rechenfertigkeiten dagegen im unteren Bereich. Der Übergang ist mit einer gestrichelten Linie markiert.

1.1.2. Primäre Rechenfertigkeiten

Zu den primären Rechenfertigkeiten zählen zunächst die sprachunabhängigen Fähigkeiten, welche bereits vor dem zweiten Lebensjahr bei Kleinkindern beobachtet werden können. Dazu gehören die Mengenunterscheidung, Bildung von Rangordnungen, präverbales Zählen bis maximal 4 und einfache Addition und Subtraktion bis 2. Es wird angenommen, dass die Kinder diese Fähigkeiten auch ohne schulische Förderung ausbilden (vgl. Jacobs & Petermann 2007, 30; Krajewski 2005a, 153). Mit der fortschreitenden sprachlichen Entwicklung beginnen die Kinder ab dem 2. Lebensjahr ihr Mengenverständnis zu verbalisieren, was sich unter anderem im Zählen von Körperteilen widerspiegelt. Durch das Erlernen des Zählens sind die Kinder in der Lage, kleinere Anzahlen genau zu bestimmen. Gleichzeitig lernen sie die Mächtigkeiten von Mengen mit „viel“ und „wenig“ zu klassifizieren. Ab dem 4. Lebensjahr können die Kinder bis zu vier Objekte addieren und subtrahieren. Sie gewinnen zunehmend die Einsicht, dass sich größere Mengen in mehrere kleinere Mengen aufteilen lassen, und umgekehrt die kleineren Mengen wieder zu größeren zusammengefügt werden können. Bereits im Kindergartenalter lernen die Kinder Anzahlen zu unterscheiden und wahrzunehmen. Ein echtes abstraktes Zahlenverständnis erwerben sie aber erst, wenn ihnen der Kardinalaspekt einer Zahl bewusst wird, das heißt, wenn sie erkennen, dass die letzte Zahl einer Abzählreihe die Anzahl der Menge wiedergibt (vgl. Jacobs & Petermann 2007, 30; Krajewski 2005b, 52).

Bereits im Vorschulalter entwickeln Kinder die Strategie des zählenden Rechnens, welches ihnen eine Lösung von einfachen Additionsaufgaben ermöglicht. Dabei werden den Zahlen Mengen zugeordnet, deren Kardinalaspekt durch Finger oder Gegenstände repräsentiert wird (vgl. Grube 2005, 111). Nach Krajewski (2005a) lässt sich die Zählstrategie in unterschiedliche aufeinander aufbauende Phasen einteilen. Sie unterscheidet dabei die Summenbildung, das Weiterzählen, das Aufzählen und schließlich das Minimieren von Mengen.

Bei der Summenstrategie ordnet das Kind jeder Zahl eine entsprechende Menge von Gegenständen zu. Bei einer Addition zählt es die Gegenstände aller zu addierenden Mengen zusammen und gelangt so zum richtigen Ergebnis. Bei diesen Rechenversuchen werden zunächst die beiden Summanden einzeln und dann alle Elemente gemeinsam von vorn gezählt (vgl. Krajewski 2005a, 154). Für diese erste Variante des zählenden Rechnens gibt es noch keine einheitliche Bezeichnung. So verwenden Jacobs und Petermann (2007) dafür den Begriff „Zähle-alles-Strategie“ (vgl. Jacobs & Petermann 2007, 31).

Die Weiterentwicklung der Summenstrategie ist die Strategie des Weiterzählens. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass das Kind erst die Gegenstände einer Menge abzählt und dann gleich bei den Objekten der zweiten Menge weiterzählt.

In der folgenden Entwicklungsstufe sind die Kinder bereits in der Lage, mit dem Abzählen in der Mitte der Menge zu beginnen. Dabei erkennen sie bereits einen Teil der Menge simultan und müssen die noch fehlenden Objekte aufzählen. Diese Variante des zählenden Rechnens bezeichnet Kristin Krajewski (2005a) als die Strategie des Aufzählens.

Ein weiterer Entwicklungsschritt ist zu verzeichnen, wenn die Kinder die einzelnen Anzahlen zunächst miteinander vergleichen und anschließend mit der größeren Zahl zu rechnen beginnen. Die Anzahl der ersten Menge erkennen sie dabei simultan. Die zweite Anzahl, die ja kleiner ist, zählen sie der ersten Anzahl hinzu. Sie wenden dabei intuitiv das Kommutativgesetz an. Dieser Entwicklung geht die Erkenntnis voraus, dass die Umstellung der Summanden weniger Zählschritte mit sich bringt. Die noch zu zählende Menge wird minimiert. Diese fortgeschrittene Strategie des zählenden Rechnens wird als Minimierungsstrategie bezeichnet, wobei die Bezeichnung in der Literatur meist abgekürzt wird zu „min-Strategie“ (vgl. Krajewski 2005a, 154-155; Grube 2005, 112). Jacobs und Petermann (2007, 31), sprechen in diesem Fall von der „Zähle-von-größeren-Summanden- aus“ Strategie. Wie man sieht, herrscht im Bezug auf die Bezeichnung der einzelnen mathematischen Entwicklungsschritte noch keine begriffliche Einigkeit.

Ein Kind, das bereits die Strategie des zählenden Rechnens beherrscht, ist unter anderem in der Lage, einen Mengenvergleich durchzuführen indem es größere von kleineren Mengen unterscheidet. Es kann sowohl die Anzahl einer Menge bestimmen (Kardinalaspekt), als auch diese in einzelne kleinere Mengen aufteilen. Diese mathematischen Operationen laufen allerdings noch handelnd und kontextbezogen ab (vgl. Ganser 2007, 6-7). Dieses Vorwissen zur Mengenbewusstheit sollten die Kinder bereits vor dem Schuleintritt erworben haben, da sie sonst Gefahr laufen, im Rechenunterricht nicht mitzukommen (vgl. Krajewski 2005a, 154- 155, 162). Den meist intuitiv erlernten primären Rechenfertigkeiten kommt eine hohe Bedeutung in Hinblick auf den späteren Mathematikunterricht zu. Vorschulkinder sollten daher genug Möglichkeiten erhalten, am didaktisch aufbereiteten Veranschaulichungsmaterial mathematische Vorerfahrungen sammeln können. Um überhaupt erfolgreich rechnen zu können, müssen die Kinder demnach erst eine eigene Vorstellung von Zahlen entwickeln. Dabei handelt es sich um mathematische Vorstellungsbilder, die Kinder durch Handlungen am Veranschaulichungsmaterial entwickeln können. „ Die Vorstellung spiegelt nicht die Wirklichkeit wider, sondern sie stellt die bildhafte Form des Wissens dar. Mit den visuellen Vorstellungsbildern können mentale Operationen durchgeführt werden “ (Lorenz 2003a, 33).

1.1.3. Sekundäre Rechenfertigkeiten

Mit dem Eintritt in die Schule erlernt das Kind die sogenannten sekundären Rechenfertigkeiten (vgl. Jacobs & Petermann 2007, 30). Zu den sekundären Rechenfertigkeiten zählen sowohl die Inhalte der Grundschulmathematik als auch der Sekundarstufe I und II. Im Unterricht der Grundschule erlernen die Kinder die vier Grundrechenarten. Dabei wird der Zahlenraum, in dem die Kinder sich bewegen, zunehmend erweitert, wobei das Verständnis des Zehnersystems einen wichtigen Meilenstein markiert (vgl. Grube 2005, 105).

Das zählende Rechnen, das die Kinder in der Regel bereits vor der Schule erlernen, ist langfristig gesehen eine nicht besonders effektive Strategie, denn sie impliziert zum einen ein recht langsames Rechnen und zum anderen eine hohe Fehlerrate (vgl. Moser Opitz 2007, 100). Daher ist ein wichtiges Lernziel im Anfangsunterricht Mathematik, dass die Kinder diese erste Strategie gegen effizientere Strategien eintauschen wie z. B. die Abruf-, die Zerlegungs- und die Ableitstrategien.

Für die Aneignung der Abrufstrategie wird allgemein davon ausgegangen, dass Kinder durch ein häufiges Operieren mit Zahlen sich einige Operationen auswendig merken (z.B. 2+3=5), damit diese bei Bedarf nur noch abgerufen werden müssen. Im Laufe der Grundschule sollen sich die Kinder einige Aufgaben auswendig merken und damit ein mathematisches Faktenwissen aufbauen. Die Abrufstrategie hat den Vorteil, dass die Ergebnisse für bestimmte Aufgaben nicht erst errechnet werden müssen, sondern aus dem Langzeitgedächtnis abgerufen werden können. Dieser Prozess entlastet das Arbeitsgedächtnis und das Kind kann sich mental schneller anderen Dingen widmen. Das mathematische Faktenwissen kann allerdings nur dann aufgebaut werden, wenn das Kind bei ein und derselben Rechenoperation immer dasselbe Ergebnis herausbekommt. Rechenschwache Kinder, die sich oft verrechnen und dadurch für eine Aufgabe unterschiedliche Ergebnisse erhalten, können daher weniger vom mathematischen Faktenwissen aufbauen. In der Regel nutzen die Kinder ab etwa sieben Jahren die Abrufstrategie (vgl. Krajewski 2005a, 155; Grube 2005, 107-112; Born & Oehler 2008, 48).

Eine weitere Strategie ist die Zerlegungsstrategie, die vor allem bei Rechenoperationen mit Zehnerübergang erfolgreich eingesetzt werden kann. Auch diese Strategie erwerben die Kinder in der Regel erst im Anfangsunterricht der Grundschule. Bei der Zerlegungsstrategie wird eine unbekannte Aufgabe soweit verändert, dass sie bekannte Elemente enthält. Für die Lösung der Aufgabe 6+5 kann zum Beispiel erst die einfachere Aufgabe 5+5 gerechnet werden und dann die eins dazugezählt werden. Des Weiteren ist auch wünschenswert, dass Kinder lernen, die Abruf- und die Zerlegungsstrategie in einer Kombination zu verwenden. So können größere Zahlenmengen in kleinere aufgeteilt werden, die wiederum Bestandteile von bereits auswendig gelernten Rechenoperationen sind (vgl. Grube 2005, 111-112).

Nach Ganser (2007, 166) ist es erstrebenswert, dass Kinder zunehmend Ableitstrategien wie Verwendung von Tauschaufgaben, Nachbaraufgaben, Umkehraufgaben und die dekadische Analogie nutzen. Damit können sie aus einigen Aufgaben, die sie bereits auswendig wissen (Abrufstrategie) Lösungen für noch unbekannte Aufgaben ableiten. Zum Beispiel könnte die Lösung für die Aufgabe 3+4 auch durch das Abrufen der Nachbaraufgabe 3+3 gefunden werden, indem zu der Lösung der Aufgabe 3+3 eine 1 dazugezählt wird. Oder für die Aufgabe 30+30 kann erst die Aufgabe 3+3=6 abgerufen werden und dann durch die Nutzung der dekadischen Analogie die Lösung 60 erschlossen werden.

Am Ende der Grundschulzeit sind Kinder meist in der Lage, verschiedene Rechenstrategien anzuwenden. Der Auswahl der Rechenstrategie geht stets die Überlegung voraus, welche Rechenoperation am schnellsten zur Lösung führen würde. Da diese Entscheidung eher subjektiv ist, ist der Lösungsweg meist sehr individuell. Im Laufe der Zeit wendet die Person ohne nachzudenken die Rechenstrategien an, die sich am meisten bewährt haben. Für eine Additionsaufgabe wie 36+18 konnten nach Jens Holger Lorenz (2005, 168) bei Zweitklässlern sieben unterschiedliche Rechenwege beobachtet werden. Beispiele dafür sind unter anderem erst die Zehner und dann die Einer zu rechnen (30+10+6+8), oder die Addition von 20 und die Subtraktion von 2 (36+20-2). Zum Teil lassen sich bei den Kindern auch Rechenoperationen beobachten, die sie sich eigenständig erschlossen haben und die in dieser Form nicht im Mathematikunterricht gelehrt wurden.

1.2. Das Phänomen „Zählendes Rechnen“

1.2.1. Zählendes Rechnen als eine eigene Rechenstrategie

Beim zählenden Rechnen handelt es sich um eine eigene Rechenstrategie, die die Kinder meist vor ihrer Einschulung erwerben (vgl. Krajewski 2005b, 55; Jacobs & Petermann 2007, 30). Im Mathematikunterricht der Grundschule wird angestrebt, dass die Schüler durch Übung und Wiederholung sich einige mathematische Grundaufgaben auswendig merken. Der Aufbau eines mathematischen Faktenwissens wird in den bundesweitgeltenden Bildungsstandards für den Primarbereich gefordert und wird daher im Unterricht bewusst gesteuert. Demnach müssen die Kinder am Ende der vierten Jahrgangsstufe „ die Grundaufgaben des Kopfrechnens (Einspluseins, Einmaleins, Zahlzerlegungen) gedächtnism äß ig beherrschen, deren Umkehrungen sicher ableiten und diese Grundkenntnisse auf analoge Aufgaben in gr öß eren Zahlenräumenübertragen “ (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland 2005, 9) können.

Spätestens ab Ende der zweiten Klasse wird von den Schülern erwartet, dass sie für Rechenoperationen die Strategien des Wissensabrufs und der Zahlenzerlegung nutzen (vgl. Jacobs & Petermann 2007, 1). „ Jedoch ist der Entwicklungsverlauf nicht als Stufenfolge beschreibbar, denn früher genutzte Strategien werden nicht abrupt aufgegeben, wenn neue Strategien zur Verfügung stehen “ (Grube 2005, 112).

Die Strategie des zählenden Rechnens bleibt nach dem Erlernen „reiferer“ Strategien im Strategierepertoire durchaus bestehen und wird vor allem für die Lösung von besonders schwierigen Aufgaben hin und wieder genutzt. Schüler, die dagegen die effizienteren Strategien nicht beherrschen scheinen ausschließlich die Strategie des zählenden Rechnens zu nutzen. Dies wird unter anderem in der englischsprachigen Untersuchung von S.A. Ostad1 aus dem Jahr 1997 deutlich, welche Elisabeth Moser Opitz wie folgt zusammenfasst:

„ Schülerinnen und Schüler ohne Lernschwierigkeiten verwendeten beim Addieren vor allem in den ersten Schuljahren Abzählstrategien. Diese wurden jedoch im Verlauf der weiteren Schuljahre immer mehr von Abrufstrategien abgelöst. Bei schwierigeren Aufgaben wurden jedoch auch im siebten Schuljahr von fast 60% der Probandinnen und Probanden Abzählstrategien verwendet. Gleichzeitig konnte im Verlauf der Schulzeit eine Zunahme der Verwendung von unterschiedlichen Strategien festgestellt werden. Dies weist auf eine gr öß ere Flexibilität beim Rechnen der Schülerinnen und Schüler ohne Schwierigkeiten hin. Bei den Kindern mit Lernschwierigkeiten präsentierte sich ein anderes Bild: Sie verwendetenüber die ganze Schulzeit hinweg mehrheitlich Abzählstrategien, zudem war im Strategierepertoire kaum eine Veränderung festzustellen. Eine einmal gewählte Strategie wurde alsoüber mehrere Jahre verwendet und nicht verändert oder angepasst. Diese mangelnde Flexibilität in der Strategieverwendung wurde bei den Kindern mit Lernschwierigkeiten durchgehend festgestellt “ (Moser Opitz 2007, 102-103).

1.2.2. Zählendes Rechnen als Indikator für Rechenstörungen

Das zählende Rechnen gilt als ein zentrales Merkmal von Rechenschwäche (vgl. Moser Opitz 2007, 101). In der einschlägigen Literatur taucht dieser Begriff stets im Zusammenhang mit Rechenstörung, Rechenschwäche und Dyskalkulie auf und wird dadurch hauptsächlich mit Lernschwierigkeiten im Mathematikunterricht in Verbindung gebracht.

Bei rechenschwachen Kindern wird in der Regel die Strategie des verfestigten zählenden Rechnens beobachtet. Sie versuchen meist jede Aufgabe zählend zu lösen und verwenden dabei unterschiedliche Vorgehensweisen. Elisabeth Moser Opitz (2007, 101-103) spricht in diesem Zusammenhang vom dynamischen Abzählen und fasst damit das verbale Zählen, das Zählen am Material und das Abzählen der Finger zusammen.

Als Ursache für das verfestigte zählende Rechnen wird die mangelnde Einsicht in die Zahlenbeziehungen und das mangelnde Mengenverständnis vermutet. Betroffene Kinder haben meist den mentalen Zahlenraum noch nicht vollständig aufgebaut und können daher Rechenoperationen noch nicht im Kopf rechnen. Auch die Veranschaulichungsmaterialien nutzen sie meist lediglich als Zählhilfe. Das zählende Rechnen verhindert aber auch den Aufbau von mathematischem Faktenwissen, sodass rechenschwache Kinder kaum Abrufstrategien einsetzen können. Born und Oehler (2008, 49-51) sprechen in dem Zusammenhang von „neuronalen Umwegen“, die die betroffenen Kinder beim Zählen verwenden. Sie rechnen jede Aufgabe zählend und konzentrieren sich dabei auf den Zählvorgang. Der Arbeitsspeicher ist mit dem Zählen soweit beansprucht, dass das Kind die errechnete Lösung nicht mehr mit der gesamten Aufgabe verknüpfen kann. Beim wiederholten Rechnen ein und derselben Aufgabe kann sich das Kind daher die Lösung zur Aufgabe nicht auswendig merken und ist gezwungen, immer wieder mit dem Rechnen neu zu beginnen. Das wiederholte Üben nützt dem Kind daher wenig beim Aufbau effizienter Rechenstrategien. Demnach verharren manche Kinder recht lange bei der Strategie des zählenden Rechnens. Sie sind sozusagen in einem Teufelskreis gefangen den sie nicht aus eigener Kraft durchbrechen können (vgl. Born & Oehler 2008, 12, 90-91).

Born und Oehler (2008, 48-49) haben versucht die gedanklich ablaufenden Prozesse beim zählenden Rechnen grafisch darzustellen. In der Abbildung 2 wird es deutlich, wie umständlich die Aufgabe 9-6 von zählenden Rechnern gerechnet wird. In der Regel wird dabei mit den Fingern rückwärts abgezählt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: „9 - 6“ mit den

Fingern rückwärts zählen (Born & Oehler 2008, 48)

Manche Kinder sind bereits etwas geschickter und gehen bei der Lösung so vor, dass sie nicht von 9 zurück zählen sondern von 6 aus hochzählen (siehe Abbildung 3).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: „9 - 6“ berechnen durch

hochzählen (Born & Oehler 2008, 48)

Diese Rechner entlasten zwar in gewisser Hinsicht ihr Arbeitsgedächtnis, aber die Verknüpfung zwischen Aufgabe und Lösung gelingt auch ihnen nicht, da das Arbeitsgedächtnis mit dem Zählvorgang ausgelastet ist. Rechenschwache Kinder belegen mit ihrer Strategie des zählenden Rechnens einen großen Teil ihres Arbeitsspeichers. Wenn gleichzeitig noch neue Inhalte gelernt werden müssen, reicht die Aufmerksamkeit des Kindes einfach nicht mehr aus. Es ist mit den vielen Informationen schlichtweg überfordert.

Für das erfolgreiche Rechnen ist nicht nur der Aufbau eines mathematischen Faktenwissens unentbehrlich. Genauso wichtig ist auch ein Mengenbewusstsein, das eine Voraussetzung für das Verstehen von Rechenoperation darstellt. Es gibt daher auch rechenschwache Kinder, die weniger durch das zählende Rechnen, sondern mehr durch die falsche Strategieanwendung auffallen. Bei den betroffenen Kindern ist zu beobachten, dass sie die Strategie, die sich bei manchen Operationen bewährt hat, auf andere Rechenoperationen übertragen. Rottmann (2009, 50) berichtet von einem Jungen, der eine für Subtraktionsaufgaben gut geeignete Strategie auch für Additionsaufgaben anwendet. Dabei rechnet er bei zweistelligen Zahlen erst die Zehner, dann addiert er die Einer der ersten Zahl hinzu und die Einer der Zweiten Zahl zieht er ab. Z.B. würde er die Aufgabe 56-23 so lösen: 50-20=30, 30+6-3=33. Bei der Subtraktion führt diese Strategie stets zum richtigen Ergebnis. Bei einer Addition würde er dieselbe Strategie anwenden und würde die Aufgabe 56+23 dementsprechend falsch rechnen: 50+20=70, 70+6-3=73. Das Kind wendet also eine Rechenstrategie an, die es gar nicht verstanden hat. Rechenschwachen Kindern fehlt oft die Einsicht in die Zahlzusammenhänge, die sich während der Handlung verändern (vgl. Lorenz 2003a, 33). Daher lernen sie oft Lösungsstrategien auswendig, die sie im Grunde nicht verstehen, weil ihnen der Bezug zum Konkreten fehlt. Zählende Rechner besitzen meist kein ausgereiftes Mengenbewusstsein. Oft kann daher gerade bei zählenden Rechnern die falsche Anwendung auswendig gelernter Rechenstrategien beobachtet werden.

Eine weitere Fehlerart, die für zählendes Rechnen typisch ist, sind die sogenannten Verzählfehler, die man auch als Minuseins- oder Pluseins-Fehler bezeichnen kann. Diese Fehler entstehen dann, wenn die Ausgangszahl bei der Subtraktion bzw. Addition jeweils mitgezählt wird. Kinder, die noch zählend rechnen, haben es vor allem beim schriftlichen Rechnen und Kopfrechnen schwer. Aufgrund fehlender mentaler Bilder und auch fehlender Hilfsgegenstände rechnen sie meist sehr langsam und liefern auch meist falsche Ergebnisse (vgl. Moser Opitz 2007, 94,101).

Für zählende Rechner ist es frustrierend im Unterricht regelmäßig zu erfahren, dass sie trotz großer Anstrengung stets langsamer und schlechter sind als andere Kinder. Sie sind nicht in der Lage, ihre Mitschüler einzuholen, die bereits „ viele Basisfakten auswendig wissen und weitere daraus rasch ableiten können “ (Gerster 2007,164).

Rechenschwache Kinder verfangen sich oft in einem Teufelskreis, aus dem sie meist nicht ohne kompetenter Hilfe wieder herauskommen können. Mit den ausbleibenden Erfolgs- erlebnissen in Mathematik häufen sich meist Verhaltensauffälligkeiten, da die Kinder ihre Misserfolge durch Aggression oder Depression und Ängstlichkeit äußern. Sie vergleichen sich stets mit den Mitschülern, die keine Schwierigkeiten im Rechnen zeigen, und halten sich zunehmend für mathematisch unbegabt und dumm (vgl. Born & Oehler 2008, 12; Jacobs & Petermann 2007, 2).

1.3. Forschungsfeld Rechenschwäche

1.3.1. Negative Folgen der Rechenschwäche

Mittlerweile ist es unumstritten, dass die Rechenkompetenz zu einer Schlüsselqualifikation gehört. Die Folgen des Versagens in diesem Bereich sind im Hinblick auf die schulische Laufbahn der Kinder und Jugendlichen mindestens genauso gravierend, wie die Folgen einer Lese- und Rechtschreibschwäche (vgl. Lorenz 2003a, 7). Vor allem muss dabei bedacht werden, dass rechenschwache Kinder die schlechten mathematischen Leistungen auch psychisch verarbeiten müssen, was sich meist negativ auf das Selbstwertgefühl auswirkt. Nach Gaidoschik (2008, 20) gefährdet jeder schulische Misserfolg die seelische Verfassung eines Kindes und damit seine Bereitschaft, an der Behebung seiner Schwächen mitzuarbeiten. Die negativen Auswirkungen der Rechenschwäche bleiben allerdings nicht nur auf den schulischen Bereich beschränkt. Zu langfristigen negativen Konsequenzen zählen neben den eingeschränkten beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten auch Probleme in der Verwaltung persönlicher Finanzen (vgl. Born & Oehler 2008, 3; Hasselhorn u.a. 2005, 1).

Es besteht soweit Konsens darüber, dass den betroffenen Schülern so früh wie möglich geholfen werden sollte, noch bevor die Rechenstörung weitere negative Folgen nach sich zieht.

1.3.2. Das Problem der Begriffsfindung für die Beschreibung der Rechenschwierigkeiten

Das Phänomen Rechenschwäche scheint so alt zu sein wie der Mathematikunterricht selbst. Bereits vor 3000 Jahren kannte man im alten Ägypten das Problem, dass manche Menschen es schwerer haben als andere, mathematische Sachverhalte zu verstehen. Damals wurde die Rechenschwäche allerdings nur bei Erwachsenen beobachtet, was sicherlich auch daran lag, dass mathematische Inhalte noch nicht an Kinder vermittelt wurden (vgl. Lorenz 2003a, 13).

Bei der Rechenschwäche handelt es sich keineswegs um ein Randproblem der Mathematik. Lorenz (2003a, 15) schätzt den Anteil extrem rechenschwacher Kinder auf 3 bis 7% und einem Anteil der Kinder mit förderungsbedürftiger Rechenstörung auf 15%. Demnach treten Rechenstörungen etwa ebenso häufig auf wie Lese- und Rechtschreibstörungen. „ Das bedeutet, dass statistisch gesehen in jeder Schulklasse mit mindestens einem solchen Kind zu rechnen ist, und dass die Probleme, die sich daraus im Unterricht ergeben, zum Alltag eines jeden Lehrers gehören “ (von Aster & Lorenz 2005, 7).

Obwohl das Problem der Rechenschwäche schon länger bekannt ist, steht ihre Erforschung im Vergleich zur Legasthenieforschung noch recht am Anfang. Im europäischen Raum laufen seit mehr als 100 Jahren Untersuchungen zum Problem der Rechenschwäche. Meist wurde sie zusammen mit der Legasthenie untersucht. Dabei entstanden nicht nur zahlreiche Entstehungstheorien, sondern es wurden auch viele unterschiedliche Unterformen der Rechenschwäche festgestellt. In der Literatur lassen sich über 50 verschiedene Bezeichnungen für Rechenschwäche finden. Die Begriffe stehen für bestimmte Erscheinungsformen von Rechenschwierigkeiten. So wird für die Bezeichnung einer Rechenschwäche, die meist infolge einer Erkrankung des unteren Scheitellappens auftritt, der Begriff Akalkulie verwendet. Lernversagen im Rechnen bei besserem Intelligenz- und übrigem Leistungsniveau wird dagegen Dyskalkulie genannt (vgl. Duden - Das Fremdwörterbuch 2007). Weitere meist medizinische Bezeichnungen für Rechenschwäche, die hier allerdings nicht weiter erklärt werden, sind Anarithmie, Oligokalkulie, Arithmasthenie, Anarithmerie ect. Diese Begriffsvielfalt rührt wahrscheinlich daher, dass Neuropädiater und Kinderpsychiater beim Entdecken der verschiedenen Unterformen der Rechenschwäche versuchten, dazu eine passende Bezeichnung zu finden (vgl. Lorenz 2003a, 14).

Die am häufigsten verwendeten Bezeichnungen für Rechenschwierigkeiten sind Rechenschwäche, Rechenstörung und Dyskalkulie. Es herrscht allerdings trotz der Einschränkung auf diese drei Begriffe eine Unsicherheit hinsichtlich ihrer Verwendung, daher werden sie oft synonym gebraucht. Dennoch lässt sich in der Begriffsverwendung eine gewisse Tendenz entdecken: Die Begriffe Dyskalkulie und (seltener) Arithmasthenie werden meist von Medizinern und privaten Fördereinrichtungen verwendet. Sie suggerieren eine drohende Behinderung schulischer Benachteiligung mit negativen seelischen Folgen gemäß § 35a SGB VIII. Betroffene Kinder haben in manchen Bundesländern einen Anspruch auf Sonderförderung zu Lasten der Schule und die Krankenkassen finanzieren die kinderpsychologische Behandlung der aus der Rechenschwäche resultierenden Verhaltensauffälligkeiten (vgl. Blanz u.a. 2006, 128). Die Bezeichnungen Rechenschwäche und Rechenstörung werden meist im schulischen Kontext verwendet. Ihnen liegt die Grundüberzeugung zugrunde, dass den betroffenen Kindern vor allem in der Schule geholfen werden muss und kann (vgl. Klewitz u.a. 2008, 7, 14).

Klewitz u.a. (2008) kritisieren, dass bei der Verwendung dieser drei Begriffe noch kein Konsens zwischen den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zu erkennen ist. Sie fordern zumindest innerhalb des Systems Schule eine Einigung über die Verwendung der Begrifflichkeiten und schlagen vor, zwischen Rechenschwäche, Rechenstörung und Dyskalkulie wie folgt zu unterscheiden:

Als rechenschwach sollen Schüler bezeichnet werden, die „ unabhängig von der Dauer und Schwere ihrer Beeinträchtigungüber den Normalunterricht hinaus weitere (schulische) Fördermaßnahmen benötigen, um das erwartete Niveau zu erreichen. Im Sinne dieser Definition ist etwa 20% aller Kinder eines Jahrgangs eine Rechenschwäche zuzuschreiben “ (Klewitz u.a. 2008, 13). Von Rechenstörung soll nach Klewitz u.a. (2008) erst dann gesprochen werden, wenn sich aus der Rechenschwäche „ dauerhafte und schwerwiegende Beeinträchtigungen beim Erlernen des Rechnens entwickeln “ (Klewitz u.a. 2008, 7). Das Hauptsymptom für Rechenstörungen soll dabei das verfestigte zählende Rechnen sein. Der Begriff Dyskalkulie soll dagegen nur in solchen Fällen verwendet werden, wenn durch die vorhandenen Lernschwierigkeiten in Mathematik eine Gefahr der seelischen Behinderung besteht (vgl. Klewitz u.a. 2008, 13-14). Bei diesem Definitionsversuch wird eine Hierarchie in der Begriffsverwendung angestrebt, die zunächst sinnvoll zu sein erscheint. Es ist mittlerweile unumstritten, dass die mathematischen Lernschwierigkeiten sich langsam entwickeln und sich durch das Einwirken mehrerer ungünstiger Faktoren aus den familiären und schulischen Bereichen verschlimmern können. Die Begriffsverwendung spiegelt diese mögliche Eskalation der Rechenschwierigkeiten wider: Rechenschwäche steht demnach für das Anfangsstadium, Rechenstörung für das fortgeschrittene und Dyskalkulie für das Endstadium.

Zur Verwendung des Begriffs „Rechenschwäche“ gibt es allerdings auch kritische Meinungen. Gaidoschik (2008) kann sich mit der Zusammensetzung des Wortes aus den beiden Teilen Rechnen und Schwäche nicht anfreunden. Das Wort „Schwäche“ taucht in vielen Krankheitsbezeichnungen auf wie z.B. Hörschwäche, Sehschwäche, Herzschwäche. Wenn also von einem rechenschwachen Kind gesprochen wird, entsteht, so Gaidoschik, der Eindruck, dass es an einer Krankheit leidet. Stattdessen ist das Kind nur schwach im Rechnen, und das ist auch schon der wesentliche Unterschied. In den meisten Fällen aber stehen die betroffenen Kinder lediglich am Anfang des Erwerbs von mathematischen Grundkompetenzen und haben deswegen auch Schwierigkeiten in Mathematik. Diese kognitive Entwicklungsverzögerung hat wenig mit einer Krankheit zu tun, sondern viel mehr mit der schulischen, familiären und psychischen Situation des Kindes. Gaidoschik (2008) empfiehlt daher, lieber den Begriff „Rechenstörung“ zu verwenden, da er neutraler zu sein scheint. Er bemängelt ein Fehlen einer klaren Definition für „Rechenschwäche“ und vermutet, dass dieser meist lediglich als Hilfsausdruck verwendet wird, der viele verschiedene Arten von Rechenschwierigkeiten zusammenfasst (vgl. Gaidoschik 2008, 9).

Gaidoschik hat vermutlich mit seiner Behauptung, dass es sich beim Begriff „Rechenschwäche“ um einen Hilfsausdruck handelt, recht. Der Vorschlag einer Klassifizierung der Rechenschwierigkeiten nach Schweregrad würde sich in der Schulpraxis vermutlich als äußerst schwierig erweisen. Klewitz u.a. (2008, 13) räumen selbst ein, dass eine genaue Grenzziehung zwischen Rechenschwäche und Rechenstörung nicht möglich ist. Aber ist eine solche Klassifizierung denn überhaupt notwendig? Im Grunde ist es egal, ob das Kind die Rechenschwäche schon lange hat oder dabei ist, sie gerade erst zu entwickeln. In der Praxis ist es weniger wichtig, das Stadium der Rechenschwäche benennen zu können. Es soll viel mehr um die Sicherstellung einer bestmöglichen Förderung gehen, denn die Klassifikation allein wird der Behebung der Rechenschwierigkeiten kaum dienlich sein.

Wie man dieser Diskussion um die richtige Begriffsverwendung entnehmen kann, können wir noch nicht von einem Konsens in Sachen Begriffsverwendung sprechen. Genauso wenig Einigkeit besteht allerdings auch beim Definitionsversuch der Rechenschwäche, welcher im nächsten Abschnitt erläutert werden soll.

1.3.3. Rechenschwäche aus der Sicht der Diskrepanztheorie

Aus medizinischer Sicht und im Rahmen der psychologischen Diagnostik wird der Feststellung von Lernschwierigkeiten eine Diskrepanzdefinition zugrunde gelegt, die Rechenstörungen als eine Teilleistungsschwäche definiert und sie in Bezug zur Intelligenz und zu den Leistungen in anderen Bereichen setzt.

Maßgeblich dabei ist die durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) dargelegte Definition für Rechenschwäche. Dabei werden zwei Arten der Rechenstörung unterschieden: „Rechenstörung“ und „kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten“.

Im Absatz F81.2 werden die geforderten Merkmale definiert, welche für die Diagnose einer Dyskalkulie erfüllt sein müssen. Demnach müssen die standardisiert gemessenen Rechenfertigkeiten um mindestens eineinhalb Standardabweichungen von der alters- und intelligenzbezogenen Erwartung abweichen. Gleichzeitig muss der Intelligenzquotient (IQ) mindestens 70 sein (das Kind soll also mindestens durchschnittlich intelligent sein). Die Rechenleistungen des Kindes müssen bei den unteren 5% der Rechenleistungen der Normgruppe liegen, und es dürfen keine Lernschwierigkeiten in anderen Bereichen vorliegen (also nicht gleichzeitig Rechtschreibschwäche, da eine Kombination aus LRS und Rechenstörung im F81.3 als kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten gesondert definiert ist). Außerdem muss das Kind die Rechenschwierigkeiten bereits seit Beginn des Rechnenlernens haben, der Bildungsgang soll bisher altersentsprechend verlaufen sein, die Mängel sollen die Schulbildung und mit dem Rechnen verbundenen Alltagstätigkeiten beeinträchtigen. Des Weiteren dürfen die Rechenschwierigkeiten nicht auf einer körperlichen Beeinträchtigung wie einer Seh- oder Hörstörung bzw. einer neurologischen Erkrankung beruhen (vgl. Blanz u.a.2006, 126-127).

Die Weltgesundheitsorganisation klassifiziert im Absatz F81.3 eine weitere Erscheinungsform der Rechenstörung mit der Bezeichnung „kombinierte Störung schulischer Fertigkeiten“. Diese Variante der Rechenstörung wird gelegentlich auch als „Rechenstörung vom Subtyp RS“ bezeichnet, da betroffene Kinder sowohl Lernschwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben als auch im Rechnen haben. Für die Diagnose einer kombinierten Störung schulischer Fertigkeiten müssen folgende Kriterien erfüllt sein: Die Lese-, Rechtschreib- und Rechenleistung liegt mindestens 1,5 Standardabweichungen unterhalb des altersgemäß zu erwartenden Niveaus, das Kind ist mindestens durchschnittlich begabt mit einem Intelligenzquotient über 70, der Störung liegen keine körperlichen Ursachen zugrunde und sie kann auch nicht auf schulische oder familiäre Faktoren zurückgeführt werden. Außerdem muss ersichtlich sein, dass die vorliegende Lernstörung die Schullaufbahn bzw. die Alltagsfunktionen im Lesen, Schreiben und Rechnen beeinträchtigt (vgl. Blanz u.a. 2006, 129).

Von Aster (2005, 23) definierte im Jahr 2000 auf der Basis von Testprofilen relevanter inhalts- und kodierungsspezifischer Aspekte der Zahlenverarbeitung und des Rechnens (ZAREKI) verschiedene Subtypen der Rechenstörung. Im Gegensatz zur WHO unterscheidet er dabei zwischen drei Subtypen der Rechenschwäche: dem tiefgreifenden Subtyp, dem sprachlichen Subtyp und dem arabischen Subtyp.

Dem tiefgreifenden Subtyp ordnet von Aster (2005, 23) Kinder zu, die trotz einer durchschnittlichen Intelligenz von 85 mehr als 1,5 Standardabweichungen in fast allen numerischen Fertigkeitsbereichen aufweisen. Die Mehrzahl dieser Kinder hat Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb und ist verhaltensauffällig. Dabei lassen sich sowohl Verhaltensauffälligkeiten internalisierender (z.B. Ängste, Depressionen und Beziehungsschwierigkeiten) aber auch externalisierenter Art (z.B. Aggressivität) feststellen.

Der sprachliche Subtyp beschreibt die Kinder, die nur in den Bereichen Kopfrechnen sowie beim Abzählen und beim Rückwärtszählen Schwierigkeiten haben. Diese zeigen meist Aufmerksamkeitsstörungen und Auffälligkeiten bei der Sprach- und Schriftentwicklung.

Der arabische Subtyp beschreibt dagegen die Kinder, denen die Übersetzung zwischen den gesprochenen in die geschriebenen Zahlen schwer fällt. Sie zeigen Schwierigkeiten, arabische Zahlen zu lesen oder nach Diktat zu schreiben. Die häufigste Fehlerart dieser Kinder sind die Zahlendreher. Es ist bei der Untersuchung aufgefallen, dass die meisten Kinder dieser Gruppe entweder fremdsprachig oder zweisprachig aufgewachsen sind.

Bei den Definitionsversuchen der Rechenschwäche ist also ebenfalls noch eine gewisse Uneinigkeit feststellbar. Es lässt sich allerdings erkennen, dass sowohl die Weltgesundheitsorganisation als auch von Aster die Rechenschwäche in Beziehung zu Leistungen in anderen Bereichen setzen. Daher können beide Theorien als Diskrepanztheorien bezeichnet werden.

1.3.4. Schwächen der Diskrepanzdefinition

Einige auf dem betreffenden Fachgebiet namhafte Autoren wie Jens Holger Lorenz (2003a, 15), Elisabeth Moser Opitz (2007, 133) und Michael Gaidoschik (2008, 9-12) sind der Meinung, dass die Diskrepanzdefinition der Dyskalkulie das Problem der Rechenschwäche nicht treffend formuliert. Sie teilen sogar die Auffassung darüber, dass die Diskrepanzdefinitionen in der neuesten sonderpädagogischen Forschung als überholt angesehen werden müssen.

Kritisiert wird vor allem das Abhängigkeitsverhältnis zwischen der mathematischen Leistungsstörung und der Intelligenz sowie den Leistungen in anderen Bereichen, da dieses dem Zusammenhang zwischen Rechenschwäche und kindlicher Psyche nicht gerecht werden kann. Die Einbeziehung der Intelligenz in die Diagnostik von Rechenstörungen ist umstritten, da die Bestimmung des Intelligenzquotienten „ in den herkömmlichen Testverfahren ja stets auch rechnerisches Denken, Zahlenumgang, Umgang mit Gr öß en einschließt “ (Gaidoschik 2008, 12) . Ein Kind mit Rechenschwierigkeiten würde daher im IQ-Test generell schlechter abschneiden. Es besteht die Gefahr, dass Kinder mit einer verfestigten Rechenstörung als minderbegabt diagnostiziert werden könnten und daher nicht mehr die Diagnose auf Dyskalkulie erhalten würden. „ Leider kann dann wegen administrativer Hindernisse eine spezifische Förderung oft nicht erfolgen “ (Neumärker & Bzufka 2005, 74).

Des Weiteren ist es problematisch, die Rechenschwäche als eine Teilleistungsstörung anzusehen, da die betroffenen Kinder oft auch in anderen Fächern unterdurchschnittliche Leistungen haben. Neuesten Erkenntnissen zufolge gibt es eine eigene Unterform der Rechenschwäche, bei der die Kinder in nahezu allen überprüfbaren Teilbereichen Leistungen unterhalb der Norm zeigen, die allerdings nicht die Standardabweichungskriterien nach ICD- 10 erfüllen (vgl. von Aster 2005, 23). Auch diese Kinder würden nach der Diskrepanzdefinition nicht die Anforderungen erfüllen, eine Diagnose auf Rechenstörungen zu erhalten, da sie in den Bereichen Lesen-, Schreiben und Rechnen nicht die 1,5 Standardabweichung erreichen, und damit nicht „schlecht“ genug sind. Des Weiteren gibt es laut Moser Opitz (2007, 133) weit mehr Schülerinnen und Schüler, die gleichzeitig Probleme beim Lesen, Rechtschreiben und Rechnen haben. Vermutlich ist das auch ein Grund für eine eigene Klassifikation der kombinierten Rechenstörungen. Bei betroffenen Kindern besteht allerdings Gefahr, dass sie nicht die Diagnose einer „kombinierten Lernstörung“ erhalten, sondern einer allgemeinen Lernbehinderung oder einer Intelligenzminderung. In der psychologischen Fachliteratur wird auf die Gefahr einer Fehldiagnose in diesem Fall gesondert hingewiesen (vgl. Hasselhorn & Mähler 2006, 623; Blanz u.a. 2006, 131).

Gaidoschik teilt ebenfalls die Meinung anderer führender Rechenschwäche-Theoretiker und spricht sich gegen das Festhalten an den Diskrepanz Definitionen aus:

„ Die ‚ Diskrepanz-Definition ‘ läuft also einerseits Gefahr, jene Kinder auszugrenzen, die sich im ‚ Teufelskreis Lernstörungen ‘ verfangen haben. Andererseits ist aus pädagogischer Sicht ohnehin nicht absehbar, welchen Zweck die Einengung ‚ Rechenschwäche nur bei mindestens durchschnittlichen Lese- und Rechtschreibleistungen und mindestens durchschnittlicher Intelligenz ‘ haben sollte. Verdient denn ein Kind, das nicht nur im Rechnen, sondern auch beim Lesen Probleme hat, weniger Förderung in Mathematik als jenes, dem ‚ Diskrepanz Kriterium ‘ genügt? “ (Gaidoschik 2008, 12) .

Des Weiteren bemängelt Lorenz (2003a,14) an der Diskrepanzdefinition den Vorrang einer medizinischen Sichtweise. Es entsteht schnell der Eindruck, dass es sich bei der Rechenstörung um eine Krankheit handelt, was allerdings laut neuesten Forschungsergebnissen so nicht stimmt. Mittlerweile gilt es als erwiesen, dass auch kognitive Faktoren die Rechenleistung beeinträchtigen können. Er plädiert daher für die Bevorzugung einer pädagogischen Sichtweise, die die Rechenstörung als eine Folge von kognitiven Entwicklungsverzögerungen betrachtet. Aus pädagogischer Sicht sollte in diesem Zusammenhang einem fehleranalytischen Zugang mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.

[...]


1 S. A. Ostad, “Developmental differences in addition strategies: A comparison of mathematically disabled and mathematically normal children.,” British Journal of Educational Psychology, vol. 67, pp. 345 357, 1997. 13

Ende der Leseprobe aus 100 Seiten

Details

Titel
Zählendes Rechnen im Anfangsunterricht der Grundschule
Untertitel
Qualitative Untersuchung zu Möglichkeiten der individuellen Förderung von rechenschwachen Grundschulkindern
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Didaktik der Mathematik)
Note
1
Autor
Jahr
2009
Seiten
100
Katalognummer
V181500
ISBN (eBook)
9783656045137
Dateigröße
2786 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine Zulassungsarbeit zum 1. Staatsexamen für das Lehramt an Grundschulen.
Schlagworte
Rechenschwäche, Dyskalkulie, zählendes Rechnen, Rechenstörung
Arbeit zitieren
Anna Schröder (Autor:in), 2009, Zählendes Rechnen im Anfangsunterricht der Grundschule, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/181500

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