Gewalt und Rationalität

Zur ökologischen Debatte um die Atomenergie im Lichte der Kritischen Theorie


Essay, 2011

16 Seiten


Leseprobe


I.

Medial ist Fukushima passè, die kaputten Atommeiler strahlen weiter in den Himmel, in das Wasser und in die Erde. Monate nach der Katastrophe mehr als je zuvor und noch mehr. War da was ? Ja, ein größter anzunehmender Atomunfall, ein atomarer Super-Gau, der so unwahrscheinlich ist, dass er gar nicht auftritt.

An der sinnhaften Konstitution dieses Ereignisses wird jetzt sehr unterschiedlich gearbeitet. In der Folge dieses schlimmsten Atomunfalls der Geschichte ist immerhin – international gesehen – die Problemdefiniton der Atomenergie prägnanter und konkreter geworden. In zahlreichen Ländern ist es zu einem verstärkten Nachdenken, auch zu einem partiellen Protest gegen die Nutzung der Atomenergie gekommen, sogar im bislang atomgläubigen Japan Allerdings hat sich leider nur in wenigen Ländern, wie z.B. in Deutschland, eine erstaunliche Abkehr von der Atomenergie und eine Hinwendung zu regenerativen energetischen Quellen vollzogen – und dies quer über alle politische Lager, wenn auch zähneknirschend und partiell taktisch (politisch, ökonomisch) motiviert. Die nahe Zukunft wird erweisen, ob sich Deutschland in dieser vorläufig politischen Isolation in eine modellbildende ökologisch-ökonomische Avantgardeposition begeben hat oder in seiner derzeitigen politischen Isolierung verbleiben wird.

Damit hier eines gleich klar ist: Im Zuge der weltweit geführten einschlägigen Debatten ist zumindest deutlich geworden, dass die Atomenergie logisch gesehen keine, wie häufig formuliert zu werden pflegt, „Brückentechnologie“ sein kann. Die bislang ungelöste Lagerproblematik des bereits vorhandenen atomaren Mülls, die Wahrscheinlichkeitskalkulationen bezüglich nicht-vorstellbarer atomarer Unfallrisiken im Milleniums-Horizont und die zeit-räumlich total entgrenzten potentiellen Folgewirkungen entlarven die Brückenmetapher als grandiose Verharmlosungsvokabel.

Die Nutzung der Atomenergie kann keine Überbrückung und Hinführung zu einer anderen, akzeptableren Energieform sein, sie ist mitnichten vorläufig und kurzfristig revidierbar, selbst nicht bei einem geplanten Ausstieg.

Sie ist vielmehr die destruktive Form einer evolutionären Sackgasse

Statt einer Brücken- repräsentiert die Atomenergie eine Sackgassen-Technologie, weil sie verantwortungsethisch in einem ungeheuerlichen Sinne absolut inhuman ist: Die für sie berechneten (unwahrscheinlich gering anmutenden) Restwahrscheinlichkeiten für das Auftreten eines Super-Gaus zeitigen derart katastrophale globale und epochal und apokalyptisch anmutende, perennierend lebensfeindliche und grundsätzlich irreversible Verseuchungs-Folgewirkungen für Leben überhaupt, dass es diese Restrisikowahrscheinlichkeiten gar nicht geben darf. Was nur bedeuten kann, dass es eine Nutzung der Atomenergie nicht geben darf ! Angesichts solcher Konsequenzen ist die wissenschaftliche Kalkulation von Eintrittswahrscheinlichkeiten absolut und zutiefst unmoralisch, aber auch gewalttätig gegenüber der eigenen Spezies und ihrer terrestrischen Existenzvoraussetzungen. Sie dürfen einfach nicht auftreten, auch nicht als minimalst zu berechnendes Restrisiko. Zwar wird die conditio humana dadurch charakterisiert, dass es absolute Sicherheit ohne Risiken und Gefahren nicht gibt. Gerade deshalb wäre es aber unsinnig zu folgern, eine Technologie zu installieren, die, eigentlich vermeidbar, gerade erst ungeheuerliche sicherheitsbezogene Folgeprobleme in Aussicht stellt.

Sowohl die Wahrscheinlichkeitskalkulation katastrophaler Restrisiken wie die Prämisse der absoluten Sicherheit sind gleichermaßen absolut inhuman, d.h. der menschlichen Spezies nicht angemessen und menschenfeindlich. Dies hat sich nach Tschernobyl und Harrisburg, aber auch andernorts, schon wieder in Fukushima bestätigt. Die atomenergetische Rationalität ist gewalttätig gegenüber Mensch und Natur

II.

Erweitert man die Thematik, so kann man leicht zeigen, dass es hier eigentlich zwei Dinge zu reflektieren gilt.

Anthropologisch gesehen handelt es sich bei wissensbasierten Technologien - wie entwickelt sie auch immer sein mögen – um spezifische Anpassungs- und Bewältigungsformen des Menschen gegenüber seiner (natürlichen) Umwelt. Die oben angesprochene Thematik der berechenbaren Risikowahrscheinlichkeit und gravierender Folgeprobleme ist selbstverständlich nicht nur an der Technologie der Atomenergie festzumachen. Anzusprechen wären hier - wenn auch in wiederum spezifischer Form – auch andere Arten wissenschaftlich fundierter Technologien, wie z. B. die fossile Energieerzeugung, die Gentechnologie, die Erforschung und Nutzung künstlicher Intelligenz, die Reproduktionsmedizin, die Verfahren industrieller Massenproduktion. Wie die Atomenergie sind die angesprochenen Technologien gedacht als hilfreiche und existenzerleichternde Formen von Problemlösungen des Menschen, deren Nutzung jedoch ebenfalls zu existentiellen, nicht akzeptablen Risiken und Gefahren führen können, die – wenn auch teilweise hochspekulativ - nicht nur in den Fantasy-Bereich ausgelagert werden können: So z. B. die Schaffung von Optionen der genetischen Selektion und Züchtung des Menschengeschlechts, die Herrschaft von Robotern und Androiden über den Menschen, die Hegemonie virtueller Welten gegenüber der Primärrealität bzw. die nicht mehr diskriminierfähige Vermischung von realer- und virtueller Welt, globale unumkehrbare Klimaveränderungen, unkontrollierbare, irreversible schädliche Diffusionen und Umformungen genmanipulierter Organismen und Bakterien.

Zweitens betrifft die Folgeproblematik der Nutzung solcher extrem risikobehafteter Technologien in ganz grundlegender und entscheidender Weise das Verhältnis von Mensch und Natur. Die Thematisierung dieses Zusammenhangs – und dies bildet die Ausgangsthese der folgenden Ausführungen - ist der eigentliche Deutungsrahmen, der für eine Betrachtung der menschlichen, technisch-adaptiven Bewältigung von Welt in Anschlag gebracht werden muss.

Allerdings ist hierzu ist in aller Kürze anzumerken: Eine vom Menschen völlig unabhängige Natur besteht schon längst nicht mehr und der Mensch als soziokulturelles Wesen ist selbst mit seiner kreatürlich-biologischen Seite auch Teil der Natur. Beide sind sie langfristig den Risiken der naturwissenschaftlich-technischen Problemlösungen und Anpassungsformen ausgesetzt. Human- und Naturgeschichte sind unauflöslich ineinander verwoben.

Will man grundlegend über das Risikoverhältnis der Atomenergie bzw. anderer technologischer Systeme einerseits und der menschlichen Existenzbedingungen andererseits reden, muss auf die allgemeine Ebene der Natur-Mensch-Thematik eingegangen werden.

Mit den bislang vorgelegten ausführlicheren kritischen Arbeiten zur Atomenergie und anderer lebensfeindlicher Technologien sind hochinteressante Arbeiten verfügbar, die in der Vergangenheit auch intensiv diskutiert wurden, die jedoch nicht gänzlich zufrieden stellen können bzw. in bestimmter Hinsicht zu kurz greifen.. So z.B. die eher politischen Thesen von Robert Jungk in seinem Buch über den Atomstaat und die stärker anthropologischen Aussagen von Günther Anders über die „Antiquiertheit des Menschen“. Die Reflektionen der Philosophen Hans Jonas (Das Prinzip Verantwortung) und Robert Spaemann speisen sich aus einer verantwortungsethischen Position. Die Aussagen Ernst Blochs in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ über ein kooperatives Mensch-Natur-Verhältnis und eine Allianz-Technik, die in den Schoß der Natur einzubinden wäre, sind ansatzweise sehr interessant und vielversprechend, bleiben jedoch vergleichsweise abstrakt und aphoristisch .

Derjenige sozialphilosophische Ansatz, der im Hinblick auf eine kritische Analyse und Bewertung nicht nur der Atomenergie und anderer invasiver technologischer Systeme, sondern generell auch bezüglich des ökologischen Diskurses bedeutsame Beiträge leisten könnte, ist das bereits 1947 erschienene Buch von Adorno/Horkheimer „Dialektik der Aufklärung“: Jene berühmte und epochenmachende Gemeinschaftsarbeit von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, das quasi als Hauptwerk der sog. „Kritischen Theorie“ oder - fast synonym dafür - der sog. „Frankfurter Schule“ (einem einflussreichen philosophisch-sozialwissenschaftlichen, neo-marxistisch inspirierten Forschungsansatz) gesehen wird. Die Relevanz dieser Arbeit für die Thematik des ökologischen Diskurses ist erstaunlicherweise während der ganzen letzten Jahrzehnten öffentlich überhaupt nicht wahrgenommen worden.

Möglicherweise hat diese spezifische mangelnde Beachtung damit zu tun, dass dieses Werk im Rahmen der postmarxistischen Diskussion der 60er und 70er Jahre eher im Rahmen einer kritischen Theorie der Gesellschaft wahrgenommen wurde. Liest man diese Arbeit heute, wird in einer verblüffenden Weise schlagartig evident, dass die beiden Verfasser eigentlich die zentrale sozialphilosophische Arbeit im Hinblick auf die allgemeine ökologische Thematik geschrieben haben, denn sie beschäftigt sich mit den Folgen der Umgangsformen des Menschen mit der Natur im allgemeinsten Sinne. Es könnte der Eindruck entstehen, als würden Adorno/Horkheimer dieses Buch eigens mit der Intension geschrieben haben, in die zeitgenössische ökologische Debatte einzugreifen. Es scheint zur Ironie der Zeitkritik zu gehören, dass in diesem Buch weder die Atomenergie noch die Umweltschädigung explizit zum Thema gemacht werden, sicherlich zeitbedingt. Jedenfalls ist dieser Ansatz – bezogen auf die Thematik dieses Aufsatzes - leider völlig untergegangen. Es ist daher an der Zeit, dazu beizutragen, die - allerdings nicht unangreifbare - gedankliche Systematik wieder öffentlich zu reflektieren.

III.

Zusammengefasst geht ihre Argumentation wie folgt: Anthropologisch gesehen ist die Grunderfahrung des Menschen die Angst gegenüber einer für ihn undurchschaubaren, geheimnisvollen und daher bedrohlichen Natur. In dem Moment, in dem er sich als Gattungswesen aus der Natur herauszulösen beginnt (Phylogenese) entsteht ein Erschrecken, dem er einen Namen gibt, damit sein Dasein sinnhaft erträglich wird. Mit diesen weiterlaufenden Benennungen entfernt sich jedoch der Mensch (immer weiter) aus seinem Naturzusammenhang, weil er sich Begriffe, Deutungen, Techniken als Sinngebungen und Anpassungen erschafft, die ihm das Dasein erträglicher machen und ihn aber auch zunehmend aus der umgebenden Natur herausheben. In diesem Prozess der Loslösung aus der Natur möchte sich der Mensch als Herren der Natur einsetzen, um sich die Furcht zu nehmen, die er gegenüber der Natur empfindet. Diese von ihm entwickelten Begriffe, Mythen, Rituale und Techniken etc. gewinnen jedoch auch Macht über ihn selbst als Natur- und Kulturwesen, d.h. er wird das Opfer seiner eigenen Erzeugnisse. Der Preis des Strebens nach Macht über die Natur besteht darin, dass er sich selbst in den von ihm kreierten Ordnungen gefangen setzt.

Die problemgenerierende Dialektik im Mensch-Natur-Verhältnis ist darin zu sehen: Die sich vollziehende Entzweiung des Menschen von der Natur bzw. die Entgegensetzung des Menschen zur Natur realisiert sich durch die von ihm kulturell erzeugten Artefakte und Symbole, mit denen er sich die Natur handhabbar, beherrschbar macht, sich unabhängig von ihr zu stellen versucht. Diese Erzeugnisse beginnen ihn jedoch selbst zu beherrschen, sie üben auch vermittels Sozialisation, Erziehung, Disziplinierung der Sozialcharaktere Gewalt über seine eigene „innere Natur“ aus. In der Option des Menschen, sich die Natur aus Gründen des Selbsterhaltungsprinzips zu unterwerfen, erzeugt er darüber hinaus die Herrschaft des Menschen über die Menschen, denn er kann diese Naturbeherrschung nur kooperativ gestalten, d.h. sozial, d.h. aber auch zusehends in unterschiedlichen Machtrelationen der Menschen untereinander. Letztlich geht es also um eine dreifache Herrschaftskonstitution: Mit der wachsenden Rationalisierung der Welt, d.h. der Mensch begegnet der Natur und der von ihm geschaffenen Umwelt immer mehr auf der Basis von Vernunft, verbindet sich die Unterwerfung der Natur mit derjenigen der Disziplinierung der inneren Menschennatur und der Verfügbarkeit des menschlichen Subjekts als Objekt.

Damit setzt sich der Mensch aber wiederum in ein neues Verhältnis zur ihn umgebenden Natur, was ihn wiederum zu neuen (kulturellen) Anpassungsleistungen im Verhältnis zur Natur, aber auch zu sich selbst zwingt: Dies bedeutet in der Sprache der Verfasser, alte Mythen werden zerstört und durch neue ersetzt. Universalgeschichtlich gesehen ist die menschliche Entwicklung als ein Prozess zu interpretieren, in dem in einem umfänglichen und grundlegenden Sinne fortschreitendes Denken eine permanente Wechselwirkung (Dialektik) der Schaffung und Zerstörung von vorgängigen Festlegungen, Fixierungen und Verdinglichungen , d. h. also Mythen erzeugt. Die historisch-gesellschaftliche Entwicklung Entwicklung ist ein Vorgang der ständigen Zersetzung des selbstgeschaffenen menschlichen Gefangenseins in seiner ersten und zweiten Natur. Diesen Prozess bezeichnen Adorno/Horkheimer als Aufklärung im allgemeinen Sinne. In der eigentlichen historischen Epoche der Aufklärung im 18. Jahrhundert findet dieser Prozess seinen vorläufigen Höhepunkt, fungiert in der Folge jedoch als Basis für einen noch rasanteren, exponentiellen, wissenschaftlich und industriell vermittelten Rationalisierungsprozess, dessen Tempo und Intensivierung sich zeitgeschichtlich bis in die fernere Zukunft unabänderlich zu radikalisieren scheint. Mythos und Aufklärung sind die beiden gegensätzlichen Grundelemente dieses universalhistorischen Rationalisierungsprozesses.

Von entscheidender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die folgende Prämisse: Es handelt sich immer um eine besondere Art der Rationalität resp. Vernunft, die sich in diesem europäischen Aufklärungsprozess durchsetzt, die kulturelle Hegemonie gewinnt: Es geht um die sich radikalisierende Dominanz der instrumentell-adaptiven, zweckrationalen, kausal-logischen, der formell-quantitativen und utilitaristisch ausgerichteten Vernunft. Eine Verabsolutierung dieser Form der technisch-zivilisatorischen Vernunft degeneriert nach Auffassung von Adorno/Horkheimer ins Destruktive. Damit rächt sich die Natur und das Kreatürliche im Menschen für die zugefügte Unterdrückung im Namen von Rationalität und Zivilisierung. Auf jeder Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung des Menschen und der dort ausgeformten Produktivkräfte und Vorstellungswelten spezifizieren sich die Herrschaftskonstellationen von Natur und Mensch und die dadurch provozierten Leiden und Kämpfe auf je besondere Weise.

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Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Gewalt und Rationalität
Untertitel
Zur ökologischen Debatte um die Atomenergie im Lichte der Kritischen Theorie
Autor
Jahr
2011
Seiten
16
Katalognummer
V179333
ISBN (eBook)
9783656016915
ISBN (Buch)
9783656016625
Dateigröße
487 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Atomenergie, Ökologie, Kritische Theorie, Dialektik der Ausklärung, instrumentelle Vernunft, Verfallsgeschichte, Mensch-Natur-Verhältnis, Gewalt, Naturbeherrschung, Destruktivität der Vernunft
Arbeit zitieren
Michael Dr. Seifert (Autor:in), 2011, Gewalt und Rationalität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/179333

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Titel: Gewalt und Rationalität



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