Die Figur der Lucretia in der deutschen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts


Magisterarbeit, 2008

160 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Gliederung

1. Forschungsstand und Vorgehensweise

2. Lucretia in der Antike
2.1. Früheste Quellen und die Frage nach der Historizität der Lucretia-Geschichte
2.2. Livius
2.3. Ovid
2.4. Dionysios von Halikarnass
2.5. Weitere antike Quellen
2.6. Interpretationsansätze
2.6.1. Die Bewertung von Vergewaltigungen innerhalb der römischen Gesellschaft
2.6.2. Vergewaltigung als Bestandteil der römischen Frühgeschichte
2.6.3. Lucretia als Exemplum weiblicher Tugend
2.6.4. Brutus als Begründer der römischen Republik
2.6.5. Collatinus als „dummer Junge“

3. Lucretia in Spätantike und Mittelalter
3.1. Christliche Umdeutungen: Augustinus und die Gesta Romanorum
3.2. Die Lucretia-Novelle in der Kaiserchronik
3.3. Lucretia und die Humanisten – das Wiederaufleben der antiken Erzählung

4. Lucretia in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit: das 16. Jahrhundert
4.1. Bernhard Schöfferlins „Römische Historie“ (1505)
4.2. Ludwig Binder „Diß Lied sagt Von Lucretia“ (zwischen 1520 und 1530)
4.3. Der Lucretia-Stoff im Werk des Hans Sachs
4.3.1. Die „Tragedia. Von der Lucretia“ (1.1.1527)
4.3.2. „Die keusch Römerin Lucrecia erstach sich selber, ir er zw retten“ (22.10.1548)
4.3.3. Spruchgedicht: Die Klagerede Lucretias (ohne Datierung)
4.4. Lucretia, Tell und die Revolution: Schweizer Besonderheiten
4.4.1. Das Urner Tellenspiel (1512)
4.4.2. Heinrich Bullingers Lucretia-Tragödie (1533)
4.5. Jakob Ayrer: „Tragedi. Vierter Theil; von Servii Tulii Regiment vnnd Sterben, darinnen der Schönen Lucretia Hystori begriffen“ (1598)
4.6. Die neulateinischen Lucretia-Tragödien: Friedrich Balduin (1597), Samuel Junius (1599) und Joachim Jungius (1602)
4.6.1. Friedrich Balduin: Lucretia (1597)
4.6.2. Samuel Junius: Lucretia (1599)
4.6.3. Joachim Jungius: Lucretia (1602)
4.7. Zusammenfassung des 4. Kapitels

5. Lucretia in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit: das 17. Jahrhundert
5.1. Wolfgang (Marianus) Rot: Lucretia. Ein kurtze Tragoedi (wahrscheinlich zwischen 1625 und 1637)
5.2. Johann Peter Titz: Lucretia (zwischen 1642 und 1647)

6. Schlussbetrachtungen

7. Bibliographie
7.1. Quellen / Quellenkommentare / Repertorien:
7.2. Darstellungen

1. Forschungsstand und Vorgehensweise

Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, dass Lucretias Bekanntheit in den letzten hundert Jahren rapide abgenommen hat. Die Geschichte ihrer Vergewaltigung, der darauf folgenden Auflehnung gegen das Herrschaftsgeschlecht der Tarquinier, deren Absetzung und der Beginn der römischen Republik war während der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit jedem bekannt. Sie besaß für die Römer eine enorme politische und moralische Bedeutung.1 Später wurde sie in Literatur, Musik2 und bildender Kunst3 dargestellt und war ein häufig genutztes Exemplum4. So wurde Lucretia im Mittelalter zu einem „nahezu unangefochtenen Vorbild“ weiblicher Tugendhaftigkeit.5 Nur vereinzelt äußerte sich christliche Kritik am Selbstmord Lucretias. Der Umstand der Vertreibung der Tarquinier wiederum wurde in Fürstenspiegeln u.ä. als Mahnung an die Herrschenden verwendet, sich nicht in gleicher Weise zu verhalten.6

Hieran sieht man bereits, dass sich der Lucretia-Stoff durch seine Mehrdimensionalität auszeichnet. Es geht nicht allein darum zu zeigen, wie sich eine vorbildliche Frau verhält, sondern auch darum, wie sich ein vorbildlicher Mann oder ein vorbildlicher Politiker verhalten sollte. Zu diesem Zweck wird mit dem Gegensatz von positivem und negativem Muster gearbeitet. Den positiven, nachahmenswerten Vorbildern (Lucretia, Brutus) werden die negativen, nicht zu befolgenden Vorbilder (die Frauen der Königssöhne, Tarquinius, Sextus) zur Seite gestellt. Neben diesen moralischen und politischen Aspekten der Geschichte war es natürlich vor allem die erotische Komponente, die den Schriftstellern und Dichtern immer wieder Anlass bot, sich mit dem Stoff auseinanderzusetzen. Es ist in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert, dass der Stoff besonders häufig für jüngere Literaten von Interesse war. Von den in dieser Arbeit betrachteten deutschen Autoren ist die Mehrheit jünger als 30 Jahre und z.T. stellt ihre Lucretia-Bearbeitung ihr Erstlingswerk dar.7 Galinsky mutmaßt, dass es der „erschütternde erotische Inhalt“ und „die revolutionäre Tendenz“, ebenso aber auch die Zugehörigkeit zum „antiken Kulturgut der Schul- und Universitätsbildung“ gewesen seien, die den Lucretia-Stoff gerade für junge Schriftsteller so reizvoll machte und einen beliebten Gegenstand für erste dichterische Versuche abgab.8

Versucht man nun, sich dieser Tradition – und handelt es sich auch „nur“ um zwei Jahrhunderte innerhalb eines geographisch begrenzten Rahmens – zu nähern, so ist es unumgänglich, die Ursprünge und Entwicklungslinien nachzuvollziehen.

In den Bereich der klassischen Philologie aber auch der Alten Geschichte fällt die Beschäftigung mit den antiken Quellen. Insbesondere der Geschichtsschreibung des Livius und dessen Darstellung der römischen Frühzeit wurde in den vergangenen Jahrzehnten große Beachtung geschenkt.9 Seine Lucretia-Geschichte war häufig Ausgangspunkt feministischer Untersuchungen.10

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Rezeption der Lucretiageschichte in der neuzeitlichen Literatur beschränkt sich in den meisten Fällen auf Einzelntersuchungen zu den Werken bzw. Autoren.11

Ausnahmen bilden Darstellungen, die sich mit der Stoffgeschichte befassen oder versuchen, die Lucretia-Literatur einzelner Epochen oder Länder zusammenhängend darzulegen.12

Einen besonders wertvollen Beitrag in dieser Hinsicht leistete Hans Galinsky mit seinem 1932 erschienenen Buch „Der Lucretia-Stoff in der Weltliteratur“.13 Es bietet den vollständigsten Überblick zu diesem Thema, der bis heute in deutscher Sprache erschienen ist. Bemerkenswert ist die Vorgehensweise Galinskys, der sich mit Hilfe von verschiedenen Komponenten dem Lucretia-Stoff chronologisch nähert. Bei diesen von ihm ausgemachten Komponenten handelt es sich um folgende: 1. die historische Komponente; 2. die römische Komponente; 3. die erotische Komponente; 4. die sozial-politische Komponente; 5. die sittlich-lehrhafte Komponente; 6. die sittlich-widerchristliche Komponente; 7. die elegisch / tragische Komponente und schließlich 8. die Stimmungskomponente. Für Galinsky sind diese Komponenten die Einzelzüge, welche die Struktur des Stoffes in seiner jeweiligen dichterischen Realisation bilden.14 Sie sind gleichsam die „Ansatzflächen der vom Stoff angezogenen Zeitkräfte“ und weisen somit auf die Gegebenheiten des betreffenden geistesgeschichtlichen Zeitalters zurück.15

Galinsky stellt also weniger die Wandlungen des Lucretia-Stoffes dar, als vielmehr die Wandlungen des Zeitgeistes, indem er diesen mit Hilfe der jeweiligen Lucretia-Dichtungen aufzudecken versucht.

Was kann die folgende Arbeit im Vergleich zu dem umfassenden Werk Galinskys leisten? Einige der in den von mir betrachteten Zeitraum fallenden Tragödien galten für Galinsky als verschollen,16 so dass er sie nicht einbeziehen konnte. Diese wurden inzwischen jedoch wieder entdeckt und z.T. in jüngster Zeit veröffentlicht.

Außerdem musste sich Galinsky aufgrund seines universellen Anspruchs auf eine ökonomische Darstellung beschränken, wobei den meisten Texten nur wenig Platz eingeräumt werden konnte. Der zeitliche Rahmen meiner Arbeit ist enger gesteckt und kann daher stärker ins Detail gehen.

Aufgrund der Beschränkung auf zwei Jahrhunderte der deutschen Literatur erschien es mir ratsam, die Lucretia-Dichtungen nicht entsprechend der von Galinsky dargestellten Komponenten zu gliedern17, sondern sie strenger chronologisch anzuordnen. Auf diese Weise können nicht nur eventuelle Abhängigkeiten sondern auch zeitliche Koexistenzen völlig verschiedener Ansätze zur literarischen Umsetzung des Lucretia-Stoffes deutlicher gemacht werden. Zudem fällt es leichter, die Veränderungen der historischen Rahmenbedingungen übersichtlicher darzulegen. Diese sollen einbezogen werden, insofern sie Auswirkungen auf die jeweilige Dichtung hatten.

Wie bereits angemerkt, kann jedoch die deutsche Lucretia-Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts nicht isoliert betrachtet werden. Besonders wichtig erschien es mir, die bedeutendsten antiken Quellen einzubeziehen. Dies geschieht recht ausführlich, um bei der Besprechung der jüngeren Texte mit kurzen Bemerkungen die Parallelen zu den ursprünglichen Texten deutlich zu machen, ohne jeweils stückweise einzelne Passagen wiedergeben zu müssen.

Zudem ist die Interpretationslage hinsichtlich der ältesten Quellen recht gut und bietet eine Art Grundstock möglicher Perspektiven der Geschichte. In dem Kapitel, das sich mit diesen verschiedenen Interpretationen auseinandersetzt, bin ich zwei Vorgehensweisen gefolgt.

Einerseits geht es darum, den antiken Verstehenshintergrund herauszuarbeiten. In diesem Rahmen wird gefragt, welche Bedeutung Vergewaltigungen innerhalb der antiken Gesellschaft und innerhalb der römischen Geschichtsschreibung besaßen.

Andererseits soll in einem zweiten Teil das Markante oder aber Widersprüchliche einzelner Figuren herausgearbeitet werden. Hierbei beschränke ich mich auf Lucretia, Brutus und Collatinus.18 Diese Charakterisierungen, die wiederum anhand der antiken Texte erfolgen, sollen als Vergleichsmaterial für die späteren Lucretia-Bearbeitungen genutzt werden: Inwieweit bleiben die Charaktere die gleichen bzw. werden den jeweiligen historischen Lebenswelten angeglichen?

Der Abschnitt zu den Interpretationen der antiken Lucretia-Geschichte dient also in erster Linie dazu, deren Vielschichtigkeit an den Ursprungstexten zusammenfassend darzulegen, um davon ausgehend an den späteren Rezeptionen zu zeigen, inwiefern diese Vielschichtigkeit erkannt bzw. ignoriert wurde. Letztendlich ähnelt diese Vorgehensweise der von Galinsky befolgten, doch soll der Verzicht auf die Strukturierung durch die verschiedenen Komponenten vor allem den Trugschluss vermeiden, dass z.B. die „moralische Komponente“ dasselbe für die Antike wie für die Frühe Neuzeit bedeute.19

Nach der Beschäftigung mit den antiken Quellen und deren Interpretationen, folgt ein Kapitel zur Spätantike und zum Mittelalter. Augustinus ist dabei der einzige Vertreter der spätantiken Lucretia-Überlieferung. Er wird gemeinsam mit den mittelalterlichen Gesta Romanorum betrachtet, da beide Texte als bedeutende Beispiele für die christliche Perspektive auf die Lucretia-Geschichte gelten können. Es ist m.E. notwendig, diese Brechung des positiven Lucretia-Bildes aufgrund des christlichen Wertekanons, der den Selbstmord verurteilt, in meine Arbeit aufzunehmen. Allerdings tat die von Augustinus geäußerte Kritik der Vorbildwirkung der Lucretia in den folgenden Jahrhunderten keinen Abbruch.

Neben den Gesta Romanorum soll als zweites Beispiel für die Rezeptionsgeschichte innerhalb des Mittelalters die Lucretia-Novelle in der Kaiserchronik betrachtet werden, welche als erste deutschsprachige Bearbeitung des Stoffes eine außergewöhnliche Position innerhalb der Tradition einnimmt.

Daran anschließend soll die Zeit des Humanismus und die damit verbundene Hinwendung zur antiken Literatur hinsichtlich ihrer Bedeutung für den Lucretia-Stoff in den Blick genommen werden. Diese Wiederentdeckung der antiken Literatur und die in jener Zeit geleisteten Übersetzungsarbeiten waren schließlich Grundstein für die Beschäftigung mit der Lucretia-Geschichte im 16. und 17. Jahrhundert.

Im 4. Kapitel folgt der Hauptteil der Arbeit: Lucretia in der Frühen Neuzeit.

Diese chronologische Vorgehensweise versucht die deutschen Lucretia-Bearbeitungen des 16. und 17. Jahrhunderts in die Tradition der Überlieferung einzuordnen, wobei sich auf die wichtigsten Stufen beschränkt wurde (Antike, christliche Umdeutungen, humanistische Wiederentdeckung der Antike). Auf eine Einordnung innerhalb der nicht-deutschen Bearbeitungen der Frühen Neuzeit wird verzichtet. Einige der zu jener Zeit außerhalb des deutschen Sprachraums entstandenen Lucretia-Texte, wie etwa die englischen Lucretia-Texte Shakespeares oder Heywoods, werden an gegebener Stelle erwähnt. Allerdings zeigte sich in der Auseinandersetzung mit der deutschen Lucretia-Tradition, dass selten konkrete Verbindungen zu jenen Lucretia-Übertragungen vorliegen.

Auf diese Weise soll ein möglichst konkretes Bild der Besonderheiten wie auch der Normalitäten der Beschäftigung mit dem Lucretia-Stoff innerhalb der deutschen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts nachgezeichnet werden.

2. Lucretia in der Antike

2.1. Früheste Quellen und die Frage nach der Historizität der Lucretia-Geschichte

Die ältesten, uns überlieferten Quellen stammen aus der Zeit des Augustus. Die Historiker Dionysios von Halikarnass, Diodorus Siculus und Livius sowie der Dichter Ovid berichten beinahe zeitgleich von der Geschichte Lucretias. Die Überlieferungstradition reicht jedoch über diese Autoren hinaus zurück in die Zeit der Republik. Doch fehlen uns die älteren Quellen, da gerade die bedeutenden Schriftwerke der augusteischen Zeit diese verdrängten.20

Es steht fest, dass Livius und Dionysios am Ende einer langen Reihe von Annalisten stehen, die in ihren Werken jeweils die Geschichte Roms von Beginn an darzustellen versuchten.21 Dementsprechend vielfach muss auch die Lucretia-Geschichte überliefert worden sein.

Dionysios von Halikarnass nutzte Fabius Pictor als Quelle. So nennt er ihn auch konkret bei seinen Überlegungen hinsichtlich der Abstammung des Collatinus.22 Dies läßt darauf schließen, dass bereits Fabius Pictor über Lucretia geschrieben haben könnte. Jedoch muss die Frage nach der Funktion und Gestaltung der Lucretia-Geschichte bei Fabius Pictor ebenso wie die Frage, „ob er sie schon in der mündlichen oder schriftlichen Tradition vorgefunden hat, [...] ungeklärt bleiben“.23

Die Forschung geht davon aus, dass die Lucretia-Legende im zweiten Jahrhundert v.Chr. allgemein verbreitet war24, so soll sie z.B. auch von Accius (ca. 170-90 v.Chr.) in einem uns nicht erhaltenen Brutus-Drama dargestellt worden sein.25

Harald Geldner beschäftigt sich in seiner Studie zur Lucretia- und Verginia-Sage26 ausführlich mit den Belegstellen und vor allem mit den Parallelen zu Motiven aus der griechischen Literatur. Er kommt bezüglich der Tradierung des Stoffes zu dem Schluss, dass es sicherlich bereits „vor der eigentlichen römischen Literatur eine mündliche Überlieferung und die Annalen [gab C.S.], die vielleicht schon einzelne Züge aus den Sagen der Königszeit und Republik kannten.“27 Diesen Stoff wiederum benutzten die ältesten römischen Geschichtsschreiber, fügten Elemente aus dem griechischen Bereich hinzu und schufen auf diese Weise eine Geschichte des frühen Roms, die der Griechenlands ebenbürtig war. Daran anschließend gestalteten die römischen Tragiker, wie z.B. Accius, den von den Historikern vorgegebenen Stoff dramatisch aus. Diesen folgend nutzten dann jüngere Geschichtsschreiber wie Livius sowohl die Texte der älteren Historiographen als auch die der Tragiker, wodurch „die römische dramatische Geschichtsschreibung ihren Höhepunkt“ in der augusteischen Zeit fand.28

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Geschichtlichkeit der beschriebenen Ereignisse. Geldner führt die verschiedenen Meinungen der Geschichtsforschung des 19. und 20. Jahrhunderts auf und stellt fest, dass seit dem Historismus ein Zweifel bzw. eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Historizität der Lucretia-Geschichte vorherrscht.29 Allenfalls hielt man den historischen Hintergrund nicht aber die Lucretiasage selbst für glaubwürdig. Ausnahmen bilden A. Schwegler30 sowie der Livius-Kommentator R.M. Ogilvie31. Letzterer beantwortet die Frage recht nachdrücklich: „In any case the tradition is too well established to be doubted seriously and speculations which endeavour to make the stories of Lucretia and Virginia mere late elaborations of legends related to the cults of Ardea, transplanted to Rome at the end of the fourth century, or aetiological myths associated with the shrine of Venus Cloacina, can be discounted.“32

Obwohl Ogilvie den Selbstmord als historisches Faktum ansieht, nimmt er an, dass verschiedene unhistorische Personen in den Stoff eingewoben wurden und deutliche Anklänge griechischer Vorlagen vorhanden sind.33

Cornell ist der Meinung, dass man die Vergewaltigung der Lucretia nicht als Fiktion abtun könne, insofern man keine Möglichkeiten besitzt, diese Ansicht zu belegen.34 Stattdessen plädiert er dafür, die Revolte als innerdynastische Auseinandersetzung anzusehen. Für ihn ist der Umstand bemerkenswert, dass Brutus und Collatinus, als Anführer der Auflehnung, so eng mit den Tarquiniern verwandt sind.35 Doch daraus ergeben sich neue Fragen. Warum ging es ihnen dann nicht einfach nur darum, selbst König zu werden? Weshalb kam es zu einem Verfassungswechsel? Und wieso musste Collatinus aufgrund seiner Verwandtschaft mit den Tarquiniern sein Konsulamt aufgeben und Brutus nicht? Diese Fragen wurden schon von Livius nicht beantwortet – oder aber von ihm zum ersten Mal ausgespart. Bei Dionysios wird man sehen, dass er die politischen Umstände genauer darstellt. Ob daher seiner Version des Geschehens mehr Glauben zu schenken ist, kann nicht mit Sicherheit bejaht werden. Doch wurde diese Problematik in späterer Zeit selten erkannt, so dass die neuzeitlichen Dichter recht einheitlich auf Livius und dessen Verehrung des Brutus als Vertreiber des Tyrannen zurückgriffen.

Hinsichtlich der Historizität des Lucretia-Stoffes kann man zusammenfassen, dass sowohl die Skeptiker als auch die wenigen Befürworter einen mehr oder minder großen „historischen Kern“ annehmen. Welche Partien der Lucretia-Geschichte von den einzelnen Forschern als wahr und welche als erdacht angesehen werden, kann im Einzelnen an dieser Stelle nicht erläutert werden, zumal sich das Zugeständnis in den meisten Fällen nur auf die lapidare Aussage des Vorhandenseins eines solchen „Kerns“ beschränkt, ohne selbigen weiter auszuführen.

In den folgenden Kapiteln sollen die wichtigsten antiken Quellen zur Lucretia-Geschichte zu Wort kommen. Der bereits genannte Diodorus Siculus wird hierbei ausgespart, da er in der späteren Rezeption keine Beachtung fand. Die wichtigsten beiden Quellen für die nachfolgenden Generationen waren Livius und Ovid. Die Darstellung der Lucretia-Geschichte bei Livius wird am ausführlichsten zu untersuchen sein, da sie die Nachwelt aufgrund der „schönen und schwungvollen“ Erzählweise am stärksten prägte.36 Bei dem anschließenden Kapitel zu Ovid wird es in erster Linie um die Unterschiede im Vergleich zur livianischen Gestaltung gehen. Dionysios von Halikarnass wurde erst seit dem 16. Jahrhundert rezipiert. Seine Umsetzung der Geschichte soll als drittes betrachtet werden, da sie z.T. sehr auffallende Abweichungen enthält. Schließlich sollen noch einige weitere antike Versionen der Lucretia-Geschichte benannt werden, insofern sie über die einfache Wiederholung der Darstellung bei den drei bereits genannten Autoren hinausgehen oder in späteren Epochen stark rezipiert wurden.

2.2. Livius

Das erste Buch des livianischen Geschichtswerkes „Ab urbe condita“ beginnt mit der Ankunft des Aeneas in Italien und endet mit der Vertreibung der Tarquinier und der Einsetzung der ersten Konsuln (509 v.Chr.).

Den Anfang macht die „Vorgeschichte“: all jene Ereignisse die der Gründung der Stadt Rom vorausgingen, so z.B. die Gründung der Städte Lavinium und Longa Alba durch Aeneas bzw. seinen Sohn Askanius, eine kurze Zusammenfassung aller danach herrschenden Könige und schließlich die Geschichte von Rhea Silvia – der Mutter der Zwillinge Romulus und Remus, womit Livius unmittelbar am Ausgangspunkt seines „eigentlichen“ Anliegens angekommen ist. Viele Passagen, sowohl der Vorgeschichte wie auch der Gründung Roms, gehören in den Bereich des Sagenhaften. Livius selbst erwähnt in seiner Vorrede: „Was vor der Gründung der Stadt oder dem Plan zu ihrer Gründung mehr mit dichterischen Erzählungen ausgeschmückt als in unverfälschten Zeugnissen der Ereignisse überliefert wird, das möchte ich weder als richtig hinstellen noch zurückweisen.“37

Daraus lässt sich schließen, dass Livius diese ganz frühen Ereignisse als nicht gesicherte Fakten ansieht. Die von ihm dargestellten Ereignisse nach der Gründung Roms, also auch den Lucretia-Stoff, müsste er jedoch entsprechend dieser Aussage als historische Tatsachen betrachten. Zumindest hält er diese nicht für erdachte Geschichten, die jeglicher Realität entbehren, denn eine solche Einschränkung der Glaubwürdigkeit teilt er uns weder in der Vorrede noch bei der Schilderung der Lucretia-Geschichte mit.

Ohnehin ist es schwer vorstellbar, dass Livius an den überlieferten Geschehnissen, welche eine so bedeutende Umwälzung wie den Wandel von der Königsherrschaft zur Republik zur Folge hatten, grundsätzliche Zweifel hegte. Er stellt die Ereignisse folgendermaßen dar:

Tarquinius Superbus regierte seit 534 v.Chr. Er war der siebte König Roms, der seinen Beinamen nicht ohne Grund trug, denn er verhielt sich tyrannisch und selbstherrlich gegenüber seinen Feinden innerhalb und außerhalb Roms.

Livius: „Denn außer der Gewalt besaß er nichts, was ihm das Recht zum Herrschen gegeben hätte; regierte er doch, ohne vom Volk gewählt und ohne vom Senat bestätigt zu sein. Dazu kam, dass er sich keine Hoffnung auf die Liebe seiner Mitbürger machen konnte und seine Herrschaft durch Schrecken sichern musste. Um diesen noch mehr Menschen einzujagen, führte er die Untersuchungen in den Kapitalprozessen ganz allein ohne Beisitzer und konnte unter diesem Vorwand Todesurteile, Verbannungen und Vermögensstrafen verhängen, nicht nur gegen die, die ihm verdächtig oder verhasst waren, sondern auch da, wo er auf nichts anderes als auf persönliche Bereicherung aus war.“38

Durch List oder Gewalt bemächtigte er sich auch mehrerer Nachbarstädte. So verhalf ihm Sextus, der jüngste seiner drei Söhne, durch eine Tücke zur Einnahme der Stadt Gabii.39 Er gab sich als Überläufer aus, der – vor der Gewalt seines Vaters nicht mehr sicher – Schutz bei dessen Feinden finden wollte. Die Einwohner glaubten ihm und gingen damit in die Falle.

Die Auseinandersetzung mit einer anderen Nachbarstadt ist der Ausgangspunkt für die Lucretia-Geschichte.40

Als sich die Belagerung der rutulischen Stadt Ardea hinzog, verkürzten sich die Königssöhne die Zeit mit abendlichen Trinkgelagen. Bei einem solchen Gelage gemeinsam mit ihrem Verwandten L. Tarquinius Collatinus kam es zum Streit darüber, wer von den Anwesenden die tugendhafteste Frau besäße. Collatinus selbst machte den Vorschlag, sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, wer im Recht sei und nach Hause zu reiten, um ihre Frauen zu überraschen.41 Die Anwesenden stimmten dem Vorschlag begeistert zu und ritten zunächst nach Rom. Livius führt nicht aus, was sie dort zu sehen bekamen. Stattdessen klärt er den Leser erst im Nachhinein auf, indem er das Verhalten Lucretias als Gegensatz zu dem der königlichen Schwiegertöchter darstellt. Er schreibt: „Als sie dort [in Rom C.S.] eintrafen, brach bereits die Dunkelheit herein; sie ritten dann noch weiter nach Collatia, wo sie Lucretia keineswegs so vorfanden wie die Schwiegertöchter des Königs – diese hatten sie angetroffen, wie sie sich bei Gelage und Spiel mit Gleichaltrigen die Zeit vertrieben –, sondern sie saß noch spät in der Nacht mit der Wolle beschäftigt, im Inneren des Hauses unter ihren bei Lampenlicht arbeitenden Mägden.“42

Gleich zwei Sachen müssen in diesem Zusammenhang auffallen: zum einen vertrieben sich die Frauen der Königssöhne mit nichts anderem die Zeit als ihre Männer, doch war ihnen (im Gegensatz zu den Männern) der Weingenuss verboten.43 Zum anderen entspricht das Bild, das Livius von Lucretia zeichnet, dem Ideal der römischen Matrona.44 Nach der Begrüßung lädt Collatinus als Sieger der Wette die Königssöhne ein. Bei diesem Beisammensein „ergriff Sex. Tarquinius das böse Verlangen, Lucretia Gewalt anzutun“, da ihn ihre Schönheit, „aber mehr noch ihre erwiesene Sittsamkeit“ reizte.45

Noch in derselben Nacht ritten die Männer wieder ins Lager, Sextus jedoch kehrte einige Tage später mit nur einem Begleiter nach Collatia zurück, wo man ihn gastfreundlich aufnahm. Als nun alle schliefen, schlich er sich „glühend vor Verlangen“ in das Gemach Lucretias, drückte sie nieder und bedrohte sie mit seinem Schwert. Livius verdeutlicht die Atemlosigkeit und Aufregung des Sextus durch die abgehackt wirkende Rede, die er ihm in den Mund legt: „Tace, Lucretia, Sex. Tarquinius sum; ferrum in manu est; moriere, si emiseris vocem.“46 Er gesteht ihr seine Liebe, bettelt, droht und versucht, „mit den verschiedensten Mitteln auf das Herz der Frau einzuwirken“.47 Doch nichts konnte sie dazu bringen, ihm nachzugeben. Erfolg brachte ihm erst die Drohung, dass er zunächst sie und dann einen Sklaven töten würde. Diesen wiederum würde er entkleidet zu ihr ins Bett legen und daraufhin behaupten, er hätte die beiden beim Ehebruch ertappt und – wie es ihm als Verwandten rechtlich zustand48 – umgebracht. Diese Aussicht bewog Lucretia schließlich dazu, Sextus gewähren zu lassen, der „außer sich vor Freude“ war, die Ehre der Frau bezwungen zu haben.49

Nachdem der Übeltäter Collatia verlassen hatte, schickte Lucretia einen Boten zu ihrem Vater und ihrem Ehemann. Beide sollten jeweils mit einem treuen Freund möglichst schnell zu ihr kommen. Lucretias Vater Spurius Lucretius brachte Publius Valerius mit, während Collatinus zusammen mit Lucius Junius Brutus eintraf.50

Die gesamte anschließende Szene steht bereits unter dem Zeichen des Racheschwurs. Im Gegensatz zu Ovid legt Livius nicht viel Wert darauf, die verzweifelte Stimmung der Lucretia eindrucksvoll darzustellen. Stattdessen lässt er Lucretia einen längeren Monolog halten, in dem sie sehr entschlossen, rational und beinahe gefühlskalt wirkt. Auf die Frage ihres Mannes „Ist alles gut?“ beginnt sie mit ihrer Rede, die gerade wegen des ausgefeilten Stils eher aufgesetzt wirkt. Hinzu kommt, dass dies der Moment ist, in dem Lucretia zum ersten Mal spricht. Sowohl beim unverhofften Eintreffen der Männer infolge der Frauenwette als auch bei der Schlafzimmer- bzw. Vergewaltigungsszene lässt Livius sie kein einziges Wort sagen. Umso erstaunlicher wirkt die überlegte, wohl strukturierte Ansprache an ihre Verwandten, die nicht recht in das Bild der sittsam-keuschen Hausfrau passen will.

Lucretia antwortet: „Keineswegs! Denn wie kann es gut bestellt sein um eine Frau, die ihre Ehre verloren hat. Du findest die Spuren eines fremden Mannes in deinem Bett, Collatinus. Aber nur mein Leib ist befleckt, mein Herz ist frei von Schuld; mein Tod wird es beweisen. Doch versprecht mir in die Hand, dass der Ehebrecher nicht ungestraft davonkommt. Es ist Sex. Tarquinius, der, aus einem Gastfreund zum Feind geworden, sich letzte Nacht bewaffnet mit Gewalt hier einen Genuss verschafft hat, der mir und – wenn ihr Männer seid – auch ihm Verderben bringen wird.“51 Die Männer versuchen sie zu trösten und von ihrem Vorhaben abzubringen, indem sie ihr zu denken geben, dass der Geist und nicht der Leib sündige und es keine Schuld gäbe, wo keine Absicht vorliegt. Doch ungerührt führt sie ihre Rede fort: „Seht ihr zu, was jener verdient. Ich kann mich zwar von der Sünde freisprechen, der Strafe aber will ich mich nicht entziehen; und es soll künftig keine Frau, die ihre Ehre verloren hat, unter Berufung auf Lucretia weiterleben.“52

Sie zieht ein Messer aus ihrem Gewand und ersticht sich. Vater und Ehemann werden hierauf von ihrer Trauer überwältigt. Brutus aber zieht das Messer aus der Wunde, hält es zum Himmel und schwört Rache, und zwar nicht allein an Sextus sondern an der gesamten Königsfamilie: „...ich rufe euch, ihr Götter, zu Zeugen, dass ich L. Tarquinius Superbus mitsamt seinem verruchten Weib und seiner ganzen Nachkommenschaft mit Schwert und Feuer und jeder möglichen Gewalt verfolgen und nicht zulassen werde, dass diese oder jemand anders in Rom als Könige herrschen.“53

Das Erstaunliche an dieser Szene ist, dass sich gerade Brutus zum Anführer der Rache bzw. der Revolution aufschwingt. Ebenfalls ein Angehöriger des Königsgeschlechts54 hatte er sich zuvor als dumm ausgegeben. Auf diese Weise wollte er dem Schicksal seines Vaters und seines Bruders entgehen, denn diese waren von Tarquinius Superbus umgebracht worden.55 Und so hatte er beschlossen, dem König „weder in seiner Gesinnung Anlass zur Furcht zu geben noch in seinen Vermögensumständen Anlass zur Begehrlichkeit, um dadurch, dass man ihn verachtete, sicher zu sein“.56 Nicht nur Tarquinius Superbus sondern die gesamte Bürgerschaft hielt Brutus für geistig zurückgeblieben, wodurch das Erstaunen bei den Verwandten Lucretias umso größer war, als plötzlich ausgerechnet Brutus mit allem Nachdruck zur Vertreibung der Tarquinier aufrief.

Sie sprachen ihm den Schwur nach und setzten ihr Vorhaben sogleich in die Tat um. Die Leiche der Lucretia wurde zum Marktplatz gebracht und auf diese Weise der Vorfall öffentlich gemacht. Der Schmerz des Vaters beeindruckte die Menschen sehr, doch es ist wiederum Brutus, der „ihre Tränen und müßigen Klagen tadelte“ und sie zum Kampf gegen die Übeltäter aufrief.57

Die kampfbereiten Männer zogen von Collatia aus nach Rom, wo die tragischen Ereignisse die dortige Bevölkerung ebenfalls empörten. Vor allem aber brachte die Rede des Brutus, der nicht nur die Tat des Sextus anklagte, sondern auch die Verbrechen des regierenden Königs aufzählte, das römische Volk dazu, Tarquinius Superbus die Herrschaft abzuerkennen und ihn mit seiner Frau und seinen Kindern in die Verbannung zu schicken.

Interessant ist in diesem Zusammenhang folgende Passage: Livius berichtet, dass sich Brutus in das Lager nach Ardea aufmachte, wo bis zu diesem Zeitpunkt noch der König und dessen Söhne verweilt waren. Als Tarquinius Superbus jedoch von den Unruhen in Rom hörte, brach er dorthin auf. Brutus schlug, als er dessen Herankommen bemerkte, einen anderen Weg ein, „um ihm nicht zu begegnen“.58 Während Tarquinius in Rom vor verschlossenen Toren stand und ihm die Verbannung verkündet wurde, feierte man den in Ardea ankommenden Brutus als „Befreier der Stadt“.59 Die bis dahin im Lager verbliebenen Söhne flohen. Sextus, der in die einstmals durch ihn verratene Stadt Gabii floh, wurde dort „von alten Feinden, die er sich selbst durch Morde und Räubereien gemacht hatte“, umgebracht.60

Auffällig ist, dass Brutus, der noch beim Leichnam der Lucretia geschworen hatte, die Königsfamilie „mit Schwert und Feuer und jeder möglichen Gewalt“ zu verfolgen, weder den König angreift (ja, ihm sogar ausweicht), noch die Tat des Sextus mit eigener Hand an selbigem rächt. Stattdessen wird Sextus für seine früheren Verbrechen von nicht näher bezeichneten „alten Feinden“ und nicht, wie man es erwarten könnte, in unmittelbarer Konsequenz der begangenen Vergewaltigung getötet.

Brutus hatte also zunächst ohne selbst Gewalt anzuwenden, die Königsfamilie – immerhin handelte es sich um seinen Onkel und seine Cousins – aus Rom vertrieben. Doch wenig später wendet sich dieser Umstand gegen ihn, und er muss seine eigenen Söhne zum Tode verurteilen. Sie sind zugleich die ersten „Opfer“ der durch Brutus vorangetriebenen Revolution.

Brutus bildete nämlich zunächst gemeinsam mit Collatinus das erste römische Konsulkollegium. Collatinus jedoch legte auf Drängen des Brutus, sowie seines Schwiegervaters und mehrerer anderer angesehener Bürger sein Amt bald darauf nieder.61 Da er in männlicher Linie zur Familie der Tarquinier gehörte, trug er auch deren Namen. Und gerade der Name war es, an dem die Bürgerschaft – laut Livius – Anstoß nahm, obwohl sonst nichts gegen ihn sprach.62 Schließlich war ihm durch die Vergewaltigung seiner Frau eine große Schmach durch die Königsfamilie zuteilgeworden. Doch dies half nichts: solange „ein Mann aus der Sippe des Königs, mit dem Namen des Königs“ nicht nur in der Bürgerschaft, sondern sogar an der Macht sei, beeinträchtige dies die Freiheit der Stadt.63 Gerade diese Worte aus dem Munde des Brutus zu hören, kann erstaunen. Immerhin war er der Neffe des Königs. Er stand ihm – nach modernen Maßstäben – verwandtschaftlich viel näher, wenn er auch nicht den Namen Tarquinius trug, da seine Mutter das „Verbindungsglied“ zur Königsfamilie war.

Collatinus hingegen entstammte gewissermaßen dem „unglücklichen Zweig“64 der Tarquinier und seine Verdrängung aus dem Konsulat scheint diesen Umstand nur noch deutlicher zu machen. Aus Angst auch noch sein Vermögen zu verlieren, lässt er sich in Lavinium nieder.65

Die vertriebene tarquinische Königsfamilie hingegen wollte sich nicht mit dem Verlust ihres Besitzes und ihrer Stellung abfinden. Sie schickten Gesandte, um die Herausgabe ihrer Güter einzufordern. Im Geheimen jedoch waren diese damit beauftragt worden, die Stimmung unter den jungen Adligen zu erkunden und mit ihnen eine Verschwörung zur Rückgewinnung der Herrschaft zu initiieren.66 Unter diesen jungen Adligen waren auch die beiden Söhne des Brutus. Doch die Verschwörung wurde aufgedeckt. In dieser Situation war es nun an Brutus, seine Vaterliebe seiner Pflicht als Konsul unterzuordnen und seine Söhne zum Tode zu verurteilen.67 Die Hinrichtungsszene wird von Livius sehr ausführlich geschildert, vor allem aber der Zwiespalt zwischen Gefühl und Ratio bei Brutus. Gerade dieser Umstand wird auch von den anwesenden Zuschauern als eigentlicher tragischer Akt bzw. als hauptsächliches Schauspiel erlebt, so dass „die ganze Zeit über der Vater, seine Miene und sein Gesicht die Blicke auf sich zog; denn bei dem Akt des staatlichen Strafvollzugs wurden die Gefühle des Vaters sichtbar“.68

Insgesamt ist festzustellen, dass bei Livius der Charakter und die Handlungen des Brutus detaillierter dargestellt werden, als die der Lucretia. Dies ist vor allem auf seine führende Rolle beim Umsturz der tarquinischen Tyrannis zurückzuführen. Darauf wird im Abschnitt zu den Interpretationsansätzen zurückzukommen sein.

Brutus stirbt noch während seiner Amtszeit. Arruns, einer der Söhne des Tarquinius Superbus, tötet ihn. Doch auch hier kann man nicht behaupten, dass es darum gegangen wäre, Lucretia zu rächen. Schließlich ist es Arruns, der sich zur Rückgewinnung der Königsherrschaft auf dem Weg nach Rom befindet. Als er sieht, dass ihm Brutus mit einem Heer entgegenkommt, geht er zornentbrannt zum Angriff über.69 Arruns ist also der Angreifer. Doch auch Brutus, als er erkannte, dass der Angriff ihm galt, scheute sich nicht. Und in dieser Kampfeswut war bereits der erste Schlag beider so kräftig, dass sie starben.70

Bei der Darstellung des Livius besticht vor allem die ökonomische Darstellung des Geschehens. Er zeichnet sich als Historiker vor allem dadurch aus, dass er sich der Wirkung der dramatischen Elemente bewusst ist, sie jedoch sparsam und wohlüberlegt benutzt.71 Allzu emotionale oder pathetische Szenen werden bei ihm vermieden und stattdessen die Rationalität als Handlungsantrieb der Protagonisten betont.

2.3. Ovid

Ovid hat die Ereignisse um Lucretia in seinen Fasti unter dem Datum des 24. Februar vermerkt. Bei ihm liegt ein weitaus größeres Gewicht auf der Darstellung der Gründe, sowie der Umstände und Enthüllung der Vergewaltigung. Hingegen wird der Racheschwur, vor allem jedoch der Verfassungsumsturz nur sehr kurz genannt. Offensichtlich interessierten Ovid die erotische und die tragische Komponente weitaus mehr als die politische.

Grundsätzlich entspricht die Abfolge des Geschehens dem bei Livius. Auch Ovid beginnt mit der Frauenwette und verwendet nur zwei Zeilen für die zügellosen Ehefrauen der Königssöhne. Im Gegensatz zu Livius zeichnet er jedoch ein sehr viel genaueres Bild von Lucretia. Sie ist bei Ovid eindeutig die wichtigste Person.

Um sie vorzustellen und dem Leser einen Einblick in ihr Seelenleben zu gewähren, bedient er sich der Außenschau, wobei er zunächst allerdings keineswegs ihre Schönheit schildert. Unbemerkt beobachten die Männer Lucretia bei ihrer Wollarbeit und belauschen ihren Monolog, der ihr Innerstes zu erkennen gibt. Sie sorgt sich um ihren Mann. Es scheint kein anderes Thema für sie zu geben. Auch der Mantel an dem sie mit ihren Mägden gerade arbeitet, ist für ihn bestimmt. Ihre Sorge scheint begründet, denn „allzu verwegen“ sei Collatinus, und stürme „mit gezücktem Schwert ohne zu fragen wohin“.72

Das Bild, das hier von Collatinus gezeichnet wird, ist kein allzu gutes. Offensichtlich fehlt es ihm zwar nicht an Tapferkeit, doch fehlt es ihm an Weitsicht und Überlegung, die seine Tapferkeit erst wertvoll machen würden. Ebenso unbedacht wie im Kampf, war er selbst der Initiator der Frauenprobe. Dadurch wird er zum Auslöser des ganzen Unglücks.

Ovid schließt den Monolog der Lucretia mit den Worten: „Ganz von Sinnen bin ich und vergehe, so oft ich mir denke, wie er so kämpft, und wie Eis legt es sich mir dann ums Herz!“73 Diese Worte ahnen bereits das tragische Geschick voraus, denn die Verwendung des Wortes „morior“ (in der obigen Version mit „ich vergehe“ übersetzt) lässt einen im Zusammenhang mit der Metapher des Eises, das sich um ihr Herz legt, schon an dieser Stelle an den tödlichen Stich mit der kalten Messerklinge denken.

Lucretia verstummt und beginnt zu weinen, wobei Ovid die Bemerkung macht, dass ihr selbst die Tränen gut standen.74 Doch zunächst einmal wird ihr Kummer aufgelöst, denn endlich geben sich die Beobachter zu erkennen. Collatinus begrüßt sie mit den Worten „pone metum, veni!“, die umso tragischer im Hinblick auf das bevorstehende Unheil wirken, welches eben erst durch sein Kommen ins Werk gesetzt wird.

Sextus entbrennt in rasender Liebe. Nun erst schildert Ovid die Gestalt der Lucretia – und zwar durch die Augen des Verliebten. Insbesondere die „schneeweiße Farbe“ ihrer Haut und das Blond ihrer Haare verstärken das Bild der Unschuld, die bereits im Tun und Sprechen offenkundig geworden ist.75

Ovids psychologisches Gespür wird in der Schilderung der Gefühle des Sextus deutlich. Zurück im Lager führt er sich immer wieder einzelne Details vor Augen, wodurch er sich in einen rauschhaften Zustand versetzt.76 Es ist jedoch nicht nur das Aussehen und der tugendhafte Charakter Lucretias, es ist vor allem die Unmöglichkeit eben dies in seinen Besitz zu bringen, die seine Leidenschaft verstärkt.77 Die Liebe zur verheirateten Lucretia ist vollkommen hoffnungslos, doch gerade die Sehnsucht nach der Unerreichbaren macht sein Empfinden noch intensiver.

Das Problem besteht darin, dass Lucretia in dem Moment, in dem sie für Sextus „erreichbar“ wäre und er bekäme, was er wollte, ihre Unschuld und damit auch ihren Reiz verlieren würde. Diese tragische Spannung von Wollen und Nicht-erreichen-können aufrechtzuerhalten, läuft hier zwangsläufig auf die Vergewaltigung hinaus. Dies soll nicht heißen, dass diese Spannung damit aufgelöst würde – im Gegenteil: sie besteht fort. Sogar der Selbstmord ist nur eine andere Verdeutlichung dieser Spannung. Lucretia entzieht sich im Nachhinein dem Wollen des Sextus und macht sich auf diese Weise zu einem absolut unerreichbaren Objekt seiner (und jeglicher) Begierde.

Doch zunächst wird sie zum Opfer. Sextus wagt „das Äußerste“, auch wenn das Ergebnis zweifelhaft ist.78 Sehr aufschlussreich ist sein Vergleich Lucretias mit der ebenfalls von ihm bezwungenen Stadt Gabii.79 Wie schon Livius hatte auch Ovid vor der Erzählung der Lucretia-Geschichte die Ereignisse um die Einnahme dieser Stadt wiedergegeben.

Ebenso wie in Gabii gibt sich Sextus auch bei Lucretia als Freund aus, ohne freilich mit freundlichen Absichten zu kommen. In beiden Fällen wird ihm Gastfreundschaft gewährt, die er schmählich missbraucht.

Die Vergewaltigungsszene ähnelt der livianischen Darstellung. Sextus dringt mit gezogenem Schwert ins Gemach der schlafenden Lucretia ein. Sie bringt kein einziges Wort hervor, doch versucht Ovid – im Gegensatz zu Livius – ihre Perspektive bzw. ihre möglichen Gedanken in Worte zu fassen:

„Was soll sie tun? Vielleicht kämpfen? Im Kampf wird das Weib stets erliegen;

Schreien? Das wehrt ihr das Schwert, fest mit der Rechten gepackt;

Fliehen? Ach, viel zu schwer drückt die Hand auf der Brust sie darnieder, Die eine fremde Hand niemals zuvor noch berührt.“80

Die angedrohte Schande bringt sie schließlich dazu, ihren passiven Widerstand aufzugeben.

Bei der Schilderung der Geschehnisse am nächsten Morgen unterscheidet sich Ovid stark von Livius. Lucretia ist hier nicht die entschlossene, rational handelnde Frau, die ihren Verwandten entgegentritt. Ovids Lucretia ist verzweifelt und überwältigt von der Scham, die sie angesichts des Erlittenen empfindet. Sie vermag nicht, ihren Vater oder ihren Ehemann anzusehen, verbirgt mit dem Mantel das Gesicht. Ihre Tränen scheinen einer Quelle zu entspringen, die nicht versiegt.81

„Dreimal beginnt sie und stockt dreimal; als zum vierten sie ansetzt,

Hebt sie die Augen darob immer und immer noch nicht.

»Also auch dies verdank’ ich dir noch, Tarquinius«, ruft sie,

»Dass ich selbst meine Schmach elend bekennen muss!«“82

Eindrücklicher und der Wirklichkeit sehr viel näher als bei Livius führt Ovid die Gefühle Lucretias dem Leser vor Augen. Hier ist sie nicht die Heldin, die in geradezu männlicher Manier zum Sterben entschlossen ist.

Ovid setzt sich weniger philosophisch mit der Frage der Schuld des Leibes und der Unschuld des Geistes auseinander. Während Livius den Anwesenden eine derartige Diskussion in den Mund legt83, reagieren sie bei Ovid ganz menschlich: „Vater und Gatte verzeihn, was geschehn, da Gewalt sie gezwungen“.84

Sehr abrupt und ohne vorherige Ankündigung tötet sie sich aber gleich darauf:

„Doch: »Ich verzeihe mir nicht, selbst wenn auch ihr mir verzeiht!«

Ruft sie und bohrt den verborgenen Dolch sich tief in die Brust ...“85

Im Gegensatz zu Livius führt Ovid Lucretias Erzählung der Geschehnisse nicht aus. Demzufolge wird auch nicht klar, ob sie die Angehörigen zur Rache aufgefordert hat, wie sie es bei Livius dreimal mit allem Nachdruck tut.86 Ovid zeigt eine Lucretia, die aus dem Gefühl der Scham und Verzweiflung nicht anders handeln kann. Geht es ihr hier in erster Linie um ihre eigene Ehre, verweist die livianische Lucretia darauf, dass es auch um die Ehre der männlichen Angehörigen bzw. der ganzen Familie geht, die sie erst wieder herstellen können, wenn sie den eigentlichen Schuldigen bestrafen.

Etwas übertrieben, aber dennoch in das Bild passend, das Ovid zeichnet, ist dessen Anmerkung, dass Lucretia selbst noch im Sterben darum bemüht sei, während des Hinsinkens den Anstand zu wahren.87 Und wieder zeigt sich die Kopflosigkeit des Collatinus, denn ihm fehlt es an Haltung und er wirft sich klagend auf die Sterbende.

Der Schwur des Brutus mit dem bluttriefenden Dolch in der Hand wird weniger beeindruckend dargestellt, als die Tat der Lucretia. Ganze vier Zeilen schließlich nehmen bei Ovid die Absetzung der Tarquinier und das damit verbundene Ende der Königsherrschaft ein.

Ovid versucht auf diese Weise zu verhindern, dass der Selbstmord nur als Anlass zu einer größeren Tat erscheint. Auch soll Brutus keineswegs zum „eigentlichen“ Helden stilisiert werden. Lucretia ist die entscheidende Figur und ihr gilt Ovids ganzer Gestaltungswille. Wie schon in den „Epistulae Heroidum“ beweist Ovid auch in der Darstellung Lucretias sein Vermögen, sich in das weibliche Empfinden hineinzuversetzen. Dies unterscheidet ihn als Dichter vom Historiker Livius, der insbesondere den seelischen Zustand Lucretias nicht sehr authentisch zu schildern versteht. Für ihn ist Lucretia eher eine Art eiserne Heldin der Vorzeit.

2.4. Dionysios von Halikarnass

Von den beiden Historiographen Dionysios von Halikarnass und Diodorus Siculus sind uns die zwei ältesten erhaltenen griechischen Versionen der Lucretia-Geschichte überliefert.

Im Folgenden soll jedoch – wie oben bereits begründet – lediglich Dionysios näher betrachtet werden. Dieser berichtet im vierten Buch seines Geschichtswerkes von Lucretia, wobei hier sehr deutliche Unterschiede zu Livius zu erkennen sind. Galinsky gibt als Grund hierfür an: „Während an der römischen Darstellung der berichtende Historiker und der gestaltende Künstler teilhaben, verrät die griechische nur das historische Interesse ihres Verfassers.“88

Daraus erklärt sich, dass Dionysios auf viele dramatische bzw. tragische Elemente verzichtet. Möglicherweise bezieht er sich auch auf einen anderen Überlieferungsstrang der Lucretia-Geschichte, oder aber Livius hat die gewöhnliche Überlieferung erst mit dramatischen Elementen angereichert und literarisch neu komponiert.

Im Folgenden sollen die Unterschiede beider Versionen dargelegt werden.

Zunächst einmal fehlt bei Dionysios die Frauenwette und damit verbunden das Moment der plötzlich entstandenen Leidenschaft des Sextus. Dieser wird stattdessen von seinem Vater aus militärischen Zwecken nach Collatia geschickt.89 Dionysios erwähnt, dass Sextus schon häufiger in Collatia geweilt hatte und ein Begehren hinsichtlich Lucretias entwickelt hatte, die an Schönheit und Tugend alle anderen römischen Frauen übertraf. Doch erst jetzt bietet sich für ihn die „günstige Gelegenheit“, sein Begehren zu befriedigen, da Collatinus abwesend ist.90 Eine nähere Beschreibung der Lucretia erfolgt bei Dionysios nicht und dadurch auch keine genauere Begründung der Leidenschaft des Sextus. Jegliche psychologischen Überlegungen interessieren Dionysios nicht.

Die Vergewaltigungsszene stimmt größtenteils mit der Darstellung bei Livius bzw. Ovid überein. Der einzige inhaltliche Unterschied besteht in den Überredungsversuchen des Sextus. Denn wie auch bei Diodor,91 bietet Sextus der Lucretia an, seine Ehefrau zu werden. Dies wiederum ist mit der Perspektive verbunden, als römische Königin zu herrschen.92

Solch ein Angebot kann Sextus nur unter dem Umstand machen, dass er der älteste Sohn des Tarquinius Superbus ist. Eben dies behauptet Dionysios auch93, womit seine Genealogie von der bei Livius und Ovid abweicht, die ihn beide als den jüngsten Sohn nennen.94

Die Ereignisse am nächsten Tag weichen ganz entscheidend von den Schilderungen des Livius ab. Bei Dionysios lässt Lucretia nicht durch Boten ihren Vater und ihren Mann rufen, sondern begibt sich selbst nach Rom. Auf dem Weg dorthin grüßt sie niemanden, der ihr begegnet. Gedankenverloren, niedergeschlagen und unter Tränen geht sie wortlos einher. Ihr Ziel ist das väterliche Haus. Dort wirft sie sich zu Füßen ihres Vaters und umarmt seine Knie.95 Nicht nur diese typische Haltung auch ihre Worte geben sie als eine Schutzflehende zu erkennen.96

Bereits in ihrem ersten Satz bittet sie – ähnlich wie bei Livius – zu rächen, was an ihr begangen wurde. Was genau geschah, möchte sie jedoch zunächst nicht erzählen, stattdessen soll der Vater nach möglichst vielen Freunden und Getreuen schicken lassen, damit sie es ihnen gemeinsam mitteilen kann. Diese Bitte muss dem Leser merkwürdig erscheinen, da es aus Gründen der Scham sehr schwerfallen musste, die Ereignisse vor mehreren Leuten, und sogar nicht einmal nur vor Familienangehörigen, sondern jeglichen väterlichen Freunden darzulegen. Die Begründung hierfür liegt in dem Wunsch nach Rache, den Lucretia an dieser Stelle noch einmal deutlich macht. Der Vater sollte nämlich – nach der Schilderung der Ereignisse – gemeinsam mit seinen Freunden überlegen, wie die Rache auszusehen habe.97 Lucretia lässt keinen Zweifel daran, dass es nicht nur um ihre, sondern auch um die Ehre des Vaters ginge.

In Eile lässt er alle zusammenrufen. Die Rede der Lucretia wird von Dionysios nicht dargelegt. Er schreibt lediglich, dass Lucretia „alles, was passiert wäre“, erzählt hätte, im Anschluss daran ihren Vater umarmte und schließlich die Götter anrief, um möglichst schnell aus dem Leben zu scheiden. Daraufhin erstach sie sich mit dem unter ihrem Kleid verborgen gehaltenen Dolch. Während die anwesenden Frauen in Schreie des Entsetzens ausbrachen, hielt Lucretius seine sterbende Tochter im Arm.98 Die anwesenden Römer riefen aus einer Brust, dass sie lieber tausend Tode stürben in der Verteidigung ihrer Freiheit, als weiterhin solche Schandtaten durch die Tyrannen zu erdulden.99

Erstaunlicherweise sind bei dieser Szene weder Collatinus noch Brutus anwesend, so dass bei Dionysios ein völlig anderes Szenario entsteht. Beide Hauptakteure haben die Geschichte nicht aus dem Munde Lucretias vernommen. Auch ihren Selbstmord – und somit die erschütternde Konsequenz der Ereignisse – haben sie nicht miterlebt. Lucretia ist bereits tot und somit nur noch Objekt des Sprechens, als beide in Rom eintreffen. Während der Leser nun den tragischen Moment der Mitteilung des Unglücks erwartet, widmet sich Dionysios erst einmal ausführlich der Darstellung des Brutus, seiner Familiengeschichte, seiner Verstellung usw.100 Dies zeigt einmal mehr, dass es Dionysios nicht um eine möglichst gut komponierte Darstellung der Ereignisse ging. Zwar sieht er ein, dass eine Charakterisierung des Brutus vor dessen pathetischen Racheschwur nötig ist, weil sonst die Besonderheit seines plötzlichen Geisteswandels verlorengegangen wäre. Jedoch zerstört Dionysios mit seinem Exkurs die Kontinuität der Szene und damit den Spannungsbogen.

Die beiden begeben sich nach ihrer Ankunft in Rom in das Haus des Lucretius. Als Collatinus seine tote Ehefrau wahrnimmt, beginnt er zu weinen und umschlingt sie mit seinen Armen.

Dionysios führt im Folgenden die Rede des Brutus aus.101 Dieser erläutert zunächst, warum er sich dumm gestellt hatte. Danach argumentiert er für die Vertreibung der Könige und erklärt, dass er der Anführer sein wolle. Als Symbol hierfür ergreift er den Dolch, hebt ihn zum Himmel, und schwört beim Mars, die Herrschaft der Tarquinier zu zerstören.

Interessanterweise fügt er diesem Schwur die Versicherung bei, dass er und seine Kinder dasselbe Ende nehmen würden wie Lucretia, sollte er seinen Eid verletzen. Der Verstoß gegen den väterlichen Eid sollte für die Söhne des Brutus schließlich tatsächlich tödliche Folgen haben.

Die Pläne zum Umsturz der Königsherrschaft werden von Dionysios in aller Ausführlichkeit geschildert. Sogar eine Verfassungsdiskussion bindet er in seine Beschreibung ein.102 Sehr umfassend werden auch die Mittel erläutert, zukünftigen monarchischen und vor allem tyrannischen Tendenzen vorzubeugen.

Erst nach diesem längeren theoretischen Teil werden die Einzelheiten der Vertreibung ausgeführt. Der Leichnam der Lucretia wird zum Forum gebracht. Wie bereits vor den Freunden und Familienmitgliedern, so hält Brutus nun hier noch einmal vor dem versammelten Volk seine Rede. Dionysios wiederholt die Struktur der vormaligen Rede, weitet sie quantitativ sogar aus. Über mehrere Seiten legt er dem Brutus eine Reihe von Argumenten in den Mund, welche die negativen Folgen der Königsherrschaft erschöpfend behandelt. Gerade diese Betonung der politischen Rede verdeutlicht das Anliegen des Dionysios. Es geht ihm nicht darum, die tragische Geschichte der Lucretia zu erläutern. Für ihn ist sie zwar als Ausgangspunkt des revolutionären Geschehens ein notwendiger Bestandteil der Ereignisse, doch in erster Linie gilt es, die politische Veränderung zu beleuchten.

Die Charakterisierung des Brutus fällt bei Dionysios in mancher Hinsicht negativ aus. Insbesondere die Todesstrafe gegenüber seinen Söhnen scheint für den griechischen Historiker ein Beispiel der Gefühlskälte des Brutus zu sein. Dementsprechend zeichnet er ihn nicht als einen im Zwiespalt begriffenen Menschen, der sich gegen seine Söhne und für das Wohl des Vaterlandes entscheidet. Bei Dionysios zeigt Brutus keinerlei Gefühlsregung während der Urteilsvollstreckung.103

Hinsichtlich der politischen Umwälzung charakterisiert Dionysios die Rolle des Collatinus entschieden anders, als es Livius tut. Zusammen mit Brutus trifft Collatinus zunächst wichtige Entscheidungen hinsichtlich der Verfassung der Republik und behält sein Amt als Konsul bei bis hin zur Verurteilung der Verschwörer. Diese Situation wird zum eigentlichen Scheidepunkt. Bei der Verschwörung der adligen Jugend in Rom waren neben den Söhnen des Brutus auch die Neffen des Collatinus beteiligt. Collatinus setzt sich für diese ein, als Brutus gegen sie das Todesurteil spricht.104 Zu diesem Zeitpunkt hatte Brutus bereits seine eigenen Söhne zum Tode verurteilt.105 In diesem Zusammenhang ist die Argumentation des Collatinus bemerkenswert. Er gibt zu bedenken, dass es doch unangemessen wirke, dass man die Tyrannen lediglich vertrieben hätte, während man die Freunde der Tyrannen mit dem Tode bestrafe. Hier äußert sich wieder das Unverständnis des Dionysios gegenüber der unnachgiebigen Handlungsweise des Brutus. Als Brutus schließlich der Bitte des Collatinus nicht nachkommt, wird dieser wütend und beschimpft ihn als derb (σκαιός) und streng (πικρός).106 Dann greift Collatinus zu dem letzten ihm zur Verfügung stehenden Mittel und sagt, dass er als Konsul dieselbe Macht wie Brutus besäße und bestimme, dass seine Neffen begnadigt werden sollen.107 Wortwörtlich sichert ihm Brutus daraufhin zu, dass dies bloß über seine (Brutus’) Leiche geschehen würde und ruft eine Volksversammlung ein. Bei dieser klagt er Collatinus an, von der Verschwörung gewusst zu haben und mit den Tarquiniern nicht nur durch dasselbe Blut sondern auch durch denselben Geist verwandt zu sein. Obwohl Collatinus laut protestiert, darf er sich nicht verteidigen. Schließlich wird er von Brutus unter Zustimmung des Volkes des Amtes enthoben.

Die Version des Dionysios scheint glaubhafter, da sie die Vertreibung des Collatinus mit stichhaltigeren Argumenten belegt, als es Livius tut, der die Zugehörigkeit zur gens Tarquinia als einzigen Grund angibt. Darauf wird im Kapitel zu den Interpretationsansätzen zurückzukommen sein.

2.5. Weitere antike Quellen

Florus

Die „Epitomae Libri“ des Florus enthalten die Lucretia-Geschichte in einer verkürzten Form.108 Bemerkenswert ist eine inhaltliche Veränderung: nicht Sextus begeht hier das Verbrechen an Lucretia, sondern sein Bruder Arruns.109 Dieser war es auch, der in der livianischen Version im Zweikampf auf Brutus traf.110 Florus verknüpft auf diese Weise den Brutus- und den Lucretiastoff und stellt den Tod des Arruns als Brutus’ persönliche Rache am Übeltäter dar.111 Es handelt sich um den dramatischen Höhepunkt des Geschehens. Beide Protagonisten, sowohl der Frevler als auch der Revolutionär, sterben in einem abschließenden Kampf.112

Aufgrund der intensiven Verbreitung des Florus wird in den folgenden Jahrhunderten und insbesondere in vielen mittelalterlichen Geschichtswerken Arruns als Vergewaltiger der Lucretia genannt. Erst zur Zeit des Humanismus berichtigt Petrarca diesen Namenswechsel, indem er die verschiedenen Quellen vergleicht.113

Servius114

Auch der im vierten Jahrhundert tätige Vergilkommentator Servius weist als Namen des Missetäters Arruns auf. Die sonstige Gestaltung der Geschichte bei Servius deutet darauf hin, dass er Ovids Fasti als Grundlage nutzte, wie aus der bei ihm ebenfalls vorhandenen „sentimentalen Spinnstubenszene“ deutlich wird.115

Die Begründung des Verbrechens erweitert Servius in psychologischer Hinsicht. Es ist nicht nur die Begierde sondern auch der Ärger über die verlorene Frauenwette, die Arruns zu seinem Handeln drängen.116 Eine weitere Veränderung stellt ein fingierter Brief des Collatinus dar, den Arruns benutzt, um sich gastliche Aufnahme bei Lucretia zu verschaffen.117 Das Briefmotiv ist einmalig bei der Tradierung der Lucretia-Sage und ist daher vermutlich eine Erfindung des Servius, der versuchte, die Erzählung dem Geschmack seiner Zeit anzupassen.118

Dies sind nur zwei Beispiele von diversen, mehr oder minder umfangreichen Darstellungen119 der Lucretia-Geschichte innerhalb der antiken Literatur seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Sie erscheint gleichermaßen in historischen Texten (Cassius Dio, Valerius Maximus, Eutrop, Hieronymus), in philosophisch-moralischen (Seneca, Plutarch), rhetorischen (Quintilian, Emporius) und satirischen Schriften (Juvenal, Petronius, Martial). Häufig handelt es sich lediglich um die Erwähnung ihres Namens, da Lucretias Schicksal hinlänglich bekannt war und nicht weiter ausgeführt werden musste. Schließlich gilt Lucretia als eines der berühmtesten Exempla weiblicher Keuschheit und gleichzeitig als eine der frühen Heldinnen Roms.120

2.6. Interpretationsansätze

2.6.1. Die Bewertung von Vergewaltigungen innerhalb der römischen Gesellschaft

Zunächst einmal soll geklärt werden, in welcher Weise die Geschehnisse um Lucretia aus antiker Sicht gedeutet werden konnten, denn schließlich kannte man in der damaligen Zeit keinen Begriff von Vergewaltigung, der mit dem heutigen vergleichbar wäre.121

Die antiken Quellen weisen verschiedene Bezeichnungen auf, deren Bedeutungsrahmen eine Vergewaltigung einschließen, ohne jedoch eindeutig allein auf diese hinzuweisen.

Im Lateinischen konnte man sich z.B. folgender Wörter bedienen: rapere (rauben)122, stuprare bzw. stuprum inferre (Unzucht mit jmd. treiben), vim (in)ferre (mit Gewalt zwingen, vergewaltigen), violare (verletzen, vergewaltigen), vitiare (verderben, schänden, beflecken).123

Man kann zwar als verbindenden Kern zwischen der heutigen und der antiken Definition von Vergewaltigung ausmachen, dass es sich um einen sexuellen, gewalttätigen Übergriff handelte,124 doch waren in der Antike vor allem Fragen wichtig wie: Wer ist das Opfer? Wer ist sein Vater? Wer ist der Täter?

Die eigenen Sklaven z.B. konnten vergewaltigt werden, ohne dass dies als strafenswerte Tat betrachtet wurde. Es galt geradezu als Kriterium der Sklaverei, willkürlich vergewaltigt zu werden.125 Auch in Kriegszeiten war es üblich, dass die Sieger die Frauen der Besiegten vergewaltigten. Als besondere Schande wurde die Vergewaltigung vor den Augen der Ehemänner und Väter betrachtet.126 Es ging hierbei weniger um die Erfüllung sexueller Begierde, als vielmehr um einen symbolischen Akt. Die Sieger demonstrierten ihre Überlegenheit, indem sie die Männlichkeit der Besiegten, die sich im Schutz ihrer Frauen und Kinder manifestierte, zerstörten. Um der Vergewaltigung zu entgehen, begingen viele Frauen mitsamt ihren Kindern Selbstmord.127 Jedoch stand es vor allem den höher gestellten Soldaten bzw. den Feldherren zu, die Frauen der Besiegten zu vergewaltigen. Eine Vergewaltigung adliger Frauen durch niedere Soldaten wurde hingegen als Unrecht abgelehnt.128 Darin zeigt sich die Aufrechterhaltung hierarchischer Gefüge auch über die Grenzen der jeweiligen Gemeinschaften hinaus.

Als „zulässige“ Täter kamen neben sozial hoch stehenden Personen (Sklavenbesitzern gegenüber ihren Sklaven, Feldherren usw.) vor allem Götter in Frage. Hier ist jedoch festzustellen, dass die Bezeichnungen einer derartigen Vergewaltigung in der Regel gewaltfrei sind. So ist in diesen Fällen häufig von „zusammensein“, „zusammenkommen“ usw. die Rede.129 Ein weiterer Aspekt ist, dass sich die Götter zumeist jungfräuliche Opfer aussuchten. Auf diese Weise wurde der Eindruck verhindert, die Götter würden „die Ehen und damit ständig die Fundamente der menschlichen Ordnung“ mißachten.130

Dies ist auch der entscheidende Punkt bei der Frage nach der Bewertung von Vergewaltigungen innerhalb der antiken Gesellschaft. Während alle bisher genannten Fälle nach heutiger Sicht als Vergewaltigungen gewertet würden, war in der Antike die „soziale Dimension des Geschehens“ das maßgebliche Kriterium, um die Tat als rechtlosen oder aber als legitimen Vorgang anzusehen.131

An erster Stelle standen hinsichtlich dieser „sozialen Dimension“ die Sicherung der eigenen Ehen und damit die Gewährleistung einer legitimen Nachkommenschaft. Zweifel an der Vaterschaft würden den Fortbestand der Gemeinschaft gefährden.

An zweiter Stelle durften durch den erzwungenen Geschlechtsverkehr nicht die hierarchischen Ordnungsprinzipien der Gemeinschaft verletzt werden.132 Es war also zulässig, eine Sklavin zu vergewaltigen, da sie ohne gesellschaftlichen Status war und sich in dieser Hinsicht die Frage nach der Legitimität ihrer Nachkommenschaft überhaupt nicht stellte. Hingegen zerstörte die Vergewaltigung gesellschaftlich anerkannter verheirateter Frauen die Gemeinschaft. Solche Vergewaltigungen waren für Tyrannen typisch, wodurch sie nicht nur die vergewaltigten Frauen sondern auch deren Männer demütigten. Da als wesentlicher Charakterzug des Tyrannen galt, sich über jegliche Tabus hinwegzusetzen, gehörte die Vergewaltigung freier Bürgerinnen zum fixen Bestandteil des Tyrannenbildes.133

Die Folgen einer Vergewaltigung für die betroffenen Frauen waren in der Regel negativ, unabhängig davon ob es sich um eine Ehefrau oder eine Jungfrau handelte. Bei vergewaltigten Ehefrauen kam der Aspekt des Ehebruchs hinzu, wie im Folgenden am Beispiel der Lucretia gezeigt werden soll.

Doblhofer merkt an, dass Livius, Diodor und Cassius Dio den Tatbestand des Ehebruchs betonen134, denn sie verwenden die dafür einschlägigen Worte (adultere, μοιχείν).135 Die Frage nach der Freiwilligkeit ist unerheblich, da einzig die Tatsache entscheidend war, dass ein Mann und eine verheiratete Frau Geschlechtsverkehr hatten, ohne miteinander verheiratet zu sein. Es geht also um die Faktizität des Geschehens und nicht um die Intentionen der Beteiligten.136

Das Darlegen der Geschehnisse vor dem Vater, dem Ehemann und weiteren nahestehenden Personen spiegelt die Szenerie eines Familiengerichts wider, das für Fälle von Ehebruch vorgesehen war.137 Dieser Umstand verdeutlicht sich auch in der Verwendung juristischer Metaphern innerhalb der Rede Lucretias138: mors testis erit; hostis pro hospite; noxam ab coacta in auctorem delicti; peccato absolvo, supplicio non libero.139

In ihrer Klagerede zeigt sich zudem die Anerkennung des Aspekts des Ehebruchs. Die „Spuren eines fremden Mannes“, die laut ihrer Aussage im Bett des Collatinus sichtbar sind, beflecken nicht nur die Ehre der Lucretia, sondern vor allem die ihres Mannes und der gemeinsamen Ehe. Auch bezeichnet sie Sextus ganz explizit als „Ehebrecher“.140 Ihre Entscheidung zum Selbstmord richtet sie dementsprechend nicht an ihrer untadeligen Haltung aus sondern am faktischen Geschehen.141 Dies wird auch in den Worten deutlich: „Ich kann mich zwar von der Sünde freisprechen, der Strafe aber will ich mich nicht entziehen.“142

Sie erspart dem „Familiengericht“ eine Entscheidung und richtet sich selbst. Doblhofer spricht in diesem Zusammenhang von einem „Akt demonstrativen Verantwortungsbewusst-seins“, in dem Lucretia die Rolle des Opfers aufgibt und selbst jene Punkte regelt, in denen ihr Mann und ihre Familie betroffen sind.143

Sie handelt in ihrer Funktion als Familienmitglied, in der sie ebenso wie die anderen für die Reinheit und Ehre der Familie zu sorgen hat. Nicht nur der Umstand der Vergewaltigung, sondern vor allem die Möglichkeit, in Folge der Vergewaltigung schwanger zu sein, würde dies verhindern. Selbst wenn sie kein Kind von Sextus erwartet, so schwebt der Zweifel der Legitimität auch über den Häuptern aller späteren Kinder. Die einzige für sie sinnvolle Konsequenz ist, dies durch ihren Selbstmord von vornherein auszuschließen.

Anzumerken ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass Livius mit seiner innerhalb der Klage- und Trostrede stattfindenden Diskussion über Unschuld des Geistes vs. Schuld des Leibes eine zeitgenössische Veränderung der Einstellung gegenüber Vergewaltigungen widerspiegelt. Obwohl die unter Augustus erlassene Lex Iulia de adulteriis coercendis keineswegs populär war144, manifestiert sich hierin doch der Wunsch nach der Regulierung weiblicher Sexualität.145 In diesem Zusammenhang scheint der Einstellung der Frau ein größeres Interesse bei der Beurteilung zugekommen zu sein.146 Man könnte also sagen, dass Livius der archaischen Lucretia-Geschichte zeitgenössische Überlegungen unterschiebt, ohne dass diese freilich Auswirkungen auf den Ausgang der Erzählung haben könnten. Dadurch entsteht ein etwas schiefes Bild. Am Ende des 6. Jahrhunderts v. Chr. konnte sich eine Lucretia nicht anders entscheiden. Die Worte, die Livius ihr in den Mund legt, scheinen eine Differenzierung gemessen an ihrer Intention nahe zu legen. Gerade diese Vorstellung der Differenzierung zwischen Körper und Geist ist es, die Kritiker wie Augustinus als Argument nehmen, um Lucretias Selbstmord als Fehlverhalten zu bewerten.147 Doch es ist Livius, der Lucretia diese Nuancierung machen lässt, um damit möglicherweise ihre Tugendhaftigkeit noch stärker zu betonen. Um ihre Unschuld wissend, gibt sie den moralischen Maßstäben, die die Gesellschaft und sie selbst verinnerlicht haben, nach, und nimmt sich das Leben. Auch bei Ovid erscheint dieselbe Differenzierung und auch hier entscheidet sich Lucretia – im Vergleich zu Livius eher emotional statt rational begründet – für den Selbstmord:

„Ich verzeihe mir nicht, selbst wenn auch ihr mir verzeiht!“

2.6.2. Vergewaltigung als Bestandteil der römischen Frühgeschichte

Am ersten und zweiten Kapitel des livianischen Geschichtswerkes lässt sich ablesen, dass Gewalt gegenüber Frauen an mehreren Wendepunkten der frühen römischen Geschichte eine bedeutsame Rolle spielen, obwohl Frauen im römischen Staat jegliche politische Beteiligung versagt war.148 Joshel bringt die Häufigkeit der Taten auf den Punkt, wenn sie über diese Kapitel sagt: „Raped, dead, or disappeared women litter the pages.“149

So wurde z.B. Rhea Silvia von Mars150 vergewaltigt und gebar die Zwillinge Romulus und Remus, also die Gründer Roms. Auch der Raub der Sabinerinnen kann – wenn auch nicht als Vergewaltigung151 – so doch als Gewaltakt gegenüber Frauen betrachtet werden. Erst dieser ermöglichte es der jungen Stadt Rom weiterhin zu existieren.

Stammten diese beiden Beispiele aus der sagenhaften Frühzeit, so führen Lucretia und Verginia in die Anfangszeit der Republik. In beiden Fällen hatte eine geschehene bzw. bevorstehende Gewalttat enorme politische Konsequenzen. Die Vergewaltigung und der Selbstmord Lucretias und der daraus resultierende Verfassungsumsturz wurden bereits ausführlich dargelegt. Dieser politische Umsturz erhält „gleichsam eine moralische Begründung, da das Ende der Monarchie auf das sittliche Fehlverhalten eines Mitglieds der Königsfamilie zurückgeführt wird“.152 Insgesamt betrachtet hat der König jedoch bereits durch seinen Hochmut, sein tyrannisches Gebaren und seine Demütigungen des Volkes ausreichende Gründe geliefert, um den Zorn der Masse zu erregen. All diese Verfehlungen zählt Brutus in seiner Anklage vor dem versammelten Volk auf. Die Vergewaltigung ist die bis dahin noch fehlende Facette. Sie komplettiert das negative Bild der Tyrannenherrschaft und mobilisiert das Volk zum Aufstand.

Um eine Verfassungsänderung bzw. -wiederherstellung geht es auch in der Verginia-Episode153, die von Livius in das Jahr 449 v.Chr. datiert wird. Einige Forscher sehen diese als Variation der Lucretia-Sage an oder wollen beide Geschichten auf denselben Ursprung zurückführen.154 Andere hingegen glauben, dass die Ereignisse um Verginia einen realeren historischen Hintergrund haben, als jene um Lucretia.155

Bei Verginia handelte es sich um eine Jungfrau, in die sich der Decemvir Appius Claudius verliebt hatte. Sie war jedoch mit Icilius, einem ehemaligen Volkstribunen verlobt. Um seinem sexuellen Verlangen nach dem überaus schönen Mädchen nachzukommen, beauftragte Appius Claudius seinen Klienten M. Claudius damit, Verginia als seine Sklavin zu beanspruchen, indem er sie als die ausgesetzte Tochter einer seiner Sklavinnen ausgab.156 Dabei wurde der Umstand genutzt, dass Verginius, der Vater des Mädchens und ein sehr ehrenhafter und vorbildlicher Mann157, gerade mit militärischen Aufgaben beschäftigt war und daher keinen Schutz bieten konnte.158

Als M. Claudius sie nun auf dem Forum als seine Sklavin ansprach und sie zum Mitkommen aufforderte, wurde er von der aufgebrachten Menge zurückgehalten. Das Ganze gelangte vor den Richterstuhl des Appius Claudius, der natürlich im Sinne seines Klienten bzw. in seinem eigenen Sinn entscheiden wollte. Immerhin konnte Icilius eine Vertagung der Entscheidung erreichen. Seine Rede gibt deutlich zu erkennen, dass für alle Beteiligten bereits absehbar war, worauf das Ganze hinauslaufen sollte: „Du musst mich von hier schon mit dem Schwert zurückdrängen, Appius, wenn du erreichen willst, was du verheimlicht wissen möchtest, und ich dazu schweigen soll. Ich will dieses Mädchen heiraten, und ich will eine keusche Braut haben.“159

Doch selbst als am nächsten Tag der Vater anwesend ist, trifft Appius trotz der vorgebrachten Gegenbeweise und zum Erstaunen aller eine Entscheidung zugunsten des M. Claudius. Noch bevor dieser jedoch die Gelegenheit bekommt, mit Verginia fortzugehen, ergreift Verginius ein Messer und ersticht seine Tochter. Wohlwissend, wer der Drahtzieher des Unglücks ist, ruft er zur Gerichtstribüne: „Dich, Appius, und dein Haupt verfluche ich mit diesem Blut.“160

Obwohl sich die Geschichten von Lucretia und Verginia ähneln, so unterscheiden sie sich doch grundlegend. Während Lucretia für die Rettung ihrer Ehre aktiv einsteht, ist Verginia passiv. In der gesamten Verginia-Erzählung erscheint sie nirgends als Sprechende oder Handelnde. Verginius ist in seiner Rolle als pater familias dafür verantwortlich, die Ehre seiner Tochter und seiner Familie zu schützen, und tut dies mit dem drastischsten ihm zur Verfügung stehenden Mittel.

Wie bei Lucretia kommt es in der Folge zum Aufstand der Bevölkerung161 und schließlich zum Untergang des Decemvirats. Doch ist es wiederum nicht allein der versuchte Übergriff auf eine römische Bürgerin, der solche enormen politischen Folgen hatte. Das Decemvirat war ursprünglich 452 v.Chr. eingesetzt worden, um das Zwölftafelgesetz zu kodifizieren. Doch selbst nach dessen Fertigstellung wurden keine neuen Konsuln gewählt und die Herrschaft der Decemvirn dauerte an. Die Decemvirn – allen voran Appius, der dem Kollegium vorstand162 – zeichneten sich in dieser Zeit durch Überheblichkeit und Anmaßung aus.163

„Sie machten den Eindruck von zehn Königen, und der Schrecken war nicht nur für die einfachen Leute vervielfacht, sondern auch für die Ersten der Patrizier [...] wenn einer im Senat oder vor dem Volk eine Äußerung tue, die an die Freiheit erinnere, sollten Ruten und Beile sofort auch zur Einschüchterung der übrigen in Aktion treten.“164 Das Decemvirat hatte sich in eine Tyrannenherrschaft verkehrt, die sich in zahlreichen Freveltaten ausdrückte. So stellt Livius der Verginia-Geschichte den von den Decemvirn in Auftrag gegebenen Mord an dem bedeutenden Kriegshelden L. Siccius voran. Dies zeigt wiederum, dass es nicht einzig der moralische Fehltritt gegenüber Verginia war, der zum Ende der Herrschaft der Decemvirn führte. Wie schon bei Lucretia war es die Willkürherrschaft der Machthaber, die den Unwillen des Volkes erregte. Die versuchte Vergewaltigung vollendete das Bild der tyrannischen Anmaßung nur. Und so war es in erster Linie der Wunsch, sich dieser Tyrannei zu widersetzen und nicht allein der Gedanke, das Geschehene zu rächen.165

Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Tatsache der Vergewaltigung und somit auch die Bedeutung der Frau als Grund politischen Handelns hinter den allgemeinen Umständen tyrannischer Herrschaft zurückstehen. Die Vergewaltigung ist als isolierte Handlung nicht Ausgang politischer Veränderung. Es ist der Tyrann, der sich nicht nur diese sondern noch weitere Taten hat zu Schulden kommen lassen, und dadurch letztendlich selbst für seinen Niedergang sorgt. Dennoch ist es bemerkenswert, dass es immer wieder (tatsächliche oder versuchte) Vergewaltigungen sind, die den Sturz der Tyrannen veranlassen. Arieti begründet dies mit den römischen Gründungsmythen, die sich als Verbindung von Venus als Göttin sexueller Beziehungen und Mars als Gott der Gewalt und Zerstörung darstellen.166 Aeneas, als Sohn der Venus und Urahn des Romulus gehört in diese Kette hinein. Mars tritt als Vergewaltiger der Rhea Silvia und Vater des Romulus noch stärker als unmittelbarer Urvater Roms in Erscheinung. Vergewaltigung an sich kann als Mischung beider Prinzipien, nämlich der sexuellen Lust und der Gewalt, angesehen werden. Sie wirkt zerstörerisch (wie bei Lucretia) oder fruchtbar (wie bei Rhea Silvia). Diese antithetischen Prinzipien wurden, laut Arieti, auch von Rom selbst verkörpert: „By representing union in contrariety, by uniting opposites, she was the great harmonizer of the world. She could accept the multifarious gods of the nations she conquered; she could grant citizenship to former enemies...“167

Der Zusammenhang von Venus und Mars stand der augusteischen Zeit deutlich vor Augen. Julius Caesar selbst hatte geglaubt, dass er von beiden abstamme und Augustus ließ den Mars Ultor-Tempel bauen, in dem Statuen des Mars, der Venus und Caesars standen. Außerdem war diese Vorstellung u.a. von Empedokles geprägt worden168, der zur Zeit des Augustus stark rezipiert wurde.169 Doch ist der von Arieti betonte Mars-Venus-Zusammenhang wohl nicht der stärkste prägende Einfluss auf die livianische Geschichtsauffassung und damit auch auf seine Darstellung der römischen Frühzeit.

Vielmehr ist es so, dass die römischen Historiker und ganz besonders Livius versuchten, ihre Geschichte sehr viel stärker mit moralischen Kategorien und Werten zu erklären.170 Ein tyrannischer König, dessen Sohn die Selbstbeherrschung angesichts einer schönen und tugendhaften Frau verliert, muss notwendigerweise untergehen. Die Disziplinlosigkeit des Sextus kam dem Historiker Livius sogar entgegen, um sie als Folie zu benutzen, vor der sich die Selbstkontrolle des Brutus nur umso deutlicher abzeichnete. Auch Lucretia konnte nur durch ihre einwandfreie Tugend bis hin zur Selbstaufgabe ihre bedeutende Stellung innerhalb der Geschichte Roms einnehmen.

2.6.3. Lucretia als Exemplum weiblicher Tugend

Bereits in der Vorrede zu seinem Geschichtswerk betont Livius, er wolle „belehrende Beispiele jeder Art“ darstellen, da gerade dies das „Heilsame und Fruchtbare“ am Studium der Geschichte sei.171 Während nämlich zu früheren Zeiten noch Zucht und Ordnung geherrscht hätten, seien die Sitten bis in seine Zeit immer mehr abgesunken, ja sogar jäh gestürzt.172 Diesem Vorsatz, die ehemals herrschende Moral zum Leitbild seiner Generation zu machen, indem er sie in sein Geschichtswerk einbindet, ist Livius offensichtlich auch in seiner Darstellung der Lucretia-Geschichte gefolgt.

Allgemein richtete sich die römische Geschichtsschreibung seit ihren Anfängen an den Taten einzelner historischer Akteure aus.173 Sie löste sich gleichsam in einzelne konkrete Szenen / Exempla auf und wurde so zu einer „Summe von Geschichten, die als Sinnbilder [...] ihrer Zeitlichkeit und historischen Bedingtheit“ enthoben wurden.174 Die Helden dienten dabei einerseits der Oberschicht zur Begründung ihres Herrschaftsanspruchs175, andererseits galten sie den Bürgern insgesamt als Leitbilder zur moralischen Orientierung.176

Lucretia verkörpert das Tugendideal der Sittsamkeit (pudicitia) auf zweifache Weise. Zum einen zeichnet sie sich vor ihrer Vergewaltigung durch ihre Vorbildhaftigkeit als römische Ehefrau aus. Sie gibt sich den häuslichen Arbeiten hin und alles Ausschweifende ist ihr fremd. Gerade ihre Tugendhaftigkeit ist es, die sie ins Verderben führt, denn Sextus vergewaltigt sie eben weil ihre Keuschheit und Vorbildhaftigkeit ihn reizt.

Zum anderen stellt sie nach der Vergewaltigung ihre Tugend erneut unter Beweis. Der Selbstmord ist ihr „entschiedenstes Bekenntnis zur pudicitia als verbindlichem sittlichen Ideal“.177 Sie nimmt den Tod in Kauf, um anderen nicht als negatives Exemplum dienen zu können, wie sie selbst sagt. Hier wird ein Rückbezug auf die gesellschaftlichen Werte und ein Bewusstsein darüber, dass ihr eigenes Handeln sich auf selbige auswirkt, deutlich. In diesem Zusammenhang könnte man der Lucretia Eitelkeit vorwerfen, da es ihr in erster Linie um ihren Ruf ginge, den sie nicht schädigen wollte. Doch wäre dieser Vorwurf unpassend, wenn man die kulturellen Gegebenheiten betrachtet.178

Als weitere Kritik kommt hinzu, dass diese Worte alle vergewaltigten Frauen zum Selbstmord aufzurufen scheinen. Doch zielt Lucretia in ihrer Rede eindeutig nicht auf die Unschuldigen ab. Sie betont, dass es ihr darum ginge, nicht „ulla ... impudica“ als Vorbild zu dienen. Man sollte dies wohl mit „irgendeine Unkeusche“ übersetzen und nicht wie Hillen mit den Worten „Frau, die ihre Ehre verloren hat“. Denn ihre Ehre hat nach ihren eigenen Worten auch Lucretia verloren.

Nach meinem Dafürhalten scheint die Betonung in Lucretias Rede nicht darauf zu liegen, ein gutes oder andenkenswürdiges Beispiel abgeben zu wollen, sondern unter allen Umständen kein schlechtes. Insofern schließen sich Eitelkeit oder das Bedachtsein auf Nachruhm als Begründungen ihres Handelns aus. Denn es geht hier nicht allein um die individuelle Ebene, auf der sich Lucretia für den Selbstmord entschieden hat. Es ist viel mehr die Verantwortung als Mitglied ihrer Familie und der Gesellschaft.

Die Vergewaltigung symbolisiert die jegliche Tabus ignorierende Tyrannenherrschaft der Tarquinier über Rom. Somit ist der Selbstmord Lucretias auch ein politisches Symbol für das römische Volk. Lucretia kann die (eigene und gesellschaftliche) Sittlichkeit nur durch ihren Tod stabilisieren, der zugleich auch Sicherheit vor weiteren Übergriffen gewährleistet. Der Umstand, dass die Gesellschaft diese Sicherheit ihren Mitgliedern nicht gewährleisten kann, ist Ausgangspunkt für den Umsturz.

Während Lucretia als Person also das Exemplum weiblicher Keuschheit verkörpert, dienen die Lucretia-Geschichte und ihre politischen Folgen als Exemplum des Charakters und Niedergangs tyrannischer Herrschaft.

2.6.4. Brutus als Begründer der römischen Republik

Donaldson weist mit Recht darauf hin, dass in der Zeit des Livius mehr als ein Brutus als Retter und Befreier des Landes angesehen werden konnte.179 Wann immer vom ersten Konsul Lucius Junius Brutus geschrieben wurde, dachte der Leser zugleich auch an D. Junius Brutus Albinus und Marcus Junius Brutus, die Mörder Caesars, von denen man annahm, dass sie die Nachkommen des älteren Brutus seien.180 Die Parallele der Taten (Vertreibung der tyrannischen Tarquinier / Ermordung des Diktators Caesar) spiegelt sich in der Ähnlichkeit der Symbolik innerhalb der Literatur wider. Donaldson stellt fest, dass Sueton den Tod Caesars in ähnlicher Weise darstellt, wie Ovid den Tod der Lucretia. Beide versuchen auch im Tod keinesfalls unschicklich zu erscheinen, denn sie achten darauf, dass ihre Kleidung sie umhüllt.181 Die Szene, in der Brutus das Messer, mit dem sich Lucretia tötete, aus der Wunde zieht und zum Schwur erhebt, gleicht wiederum der Beschreibung, die Cicero von Marcus Junius Brutus gibt, der nach dem Mord ebenfalls das bluttriefende Messer emporhält.182

Es bleibt zu fragen, wie stark der Einfluss der jüngeren Geschichte auf die Gestaltung der älteren war, bzw. wie ähnlich der ältere Brutus unter diesem Einfluss den beiden jüngeren gemacht wurde.

Plutarch merkt zur Bedeutung des Brutus innerhalb der römischen Geschichte an, dass die durch ihn erfolgte Begründung und Festigung der Republik eine größere Tat gewesen sei, als die Erbauung der Stadt durch Romulus.183 Die Figur des Brutus ist aber nicht durchweg die eines Helden. Er stellt sich dumm (daher auch das Cognomen „Brutus“), um auf diese Weise zu überleben. Tarquinius Superbus tötet ihn im Gegensatz zu seinem Vater und seinem Bruder nicht, sondern kümmert sich um ihn, weil er ihn für harmlos hält. Brutus wird gewissermaßen zum Hofnarren. So wird er z.B. den Königssöhnen mitgegeben, die eine Weissagung vom delphischen Orakel einholen sollen, doch „mehr als Zielscheibe ihres Spottes denn als Begleiter“.184 Nur der Leser erfährt von der Verstellung. Brutus bringt Apollon als Gabe einen Zweig mit, worüber sich seine Cousins berechtigterweise amüsieren. Doch birgt dieser einen goldenen Kern. Brutus gelingt es damit, sowohl seiner öffentlichen Rolle als auch seiner Pflicht gegenüber dem Gott nachzukommen. Als die Königssöhne den Auftrag des Vaters erfüllt hatten, befragen sie das Orakel darüber, wer von ihnen einst die Herrschaft über Rom besitzen würde.185 Das Orakel antwortet, dass derjenige das höchste Amt innehaben werde, der als erster seine Mutter küsse.186 Während diese den Spruch wörtlich nehmen, glaubt Brutus, dass die Pythia etwas anderes gemeint habe. Er tut so, als sei er ausgerutscht und berührt am Boden liegend mit den Lippen die Erde, die schließlich die gemeinsame Mutter aller Sterblichen ist.187

Diese Episode dient zum einen der Charakterisierung des Brutus, zum anderen aber auch als eine vom Gott erteilte Legitimation des Brutus als künftiger Konsul der römischen Republik.

Brutus hebt seine Verstellung erst in dem Moment des Selbstmords der Lucretia auf. Zur Verwunderung der Anwesenden offenbart er seine tatsächliche Gesinnung.

Das Bemerkenswerte daran ist, dass diejenige stirbt, die ihre eigene Ehre bzw. ihr gesellschaftliches Ansehen für wertvoller als ihr Leben hält. Mit Brutus aber wird derjenige zum Rächer, dem bis dato sein Leben mehr wert war als sein Ansehen. Der von allen verachtete Idiot wird zum Helden. Derjenige, von dem man es am wenigsten erwartet hatte, befreit die Römer.

Natürlich muss man einwenden, dass es nicht allein der Erhalt der eigenen Existenz war, der Brutus zu seiner Finte zwang. Es ging ihm darum, etwas gegen Tarquinius auszurichten. Und dies konnte er nur, wenn Tarquinius keinen Verdacht schöpfte. In seiner Rolle konnte Brutus „unerkannt auf seine Stunde warten“188, die gekommen war, als Lucretia durch den Frevel des Sextus in den Freitod getrieben wurde. Brutus wird in diesem Zusammenhang häufig als distanziert oder sogar gefühllos bezeichnet189, weil er Collatinus und Lucretius dazu ermahnt, keine Tränen zu vergießen.

In der Tat ist es eine andere Art von Emotion. Bei ihm regt sich eher Zorn als Trauer. Dennoch lässt er sich von seinem Zorn nicht so sehr überwältigen, wie Collatinus und Lucretius von ihrer Trauer.190 Er bleibt diszipliniert und tadelt die Müßigkeit der Klagen der Anderen. Er erkennt die Gelegenheit, aktiv zu werden und das Volk angesichts des Schicksals der unschuldigen Lucretia von der Notwendigkeit eines Umsturzes zu überzeugen. Dabei handelt er keineswegs blind vor Rachegelüsten (hinsichtlich Lucretias oder auch seiner eigenen Familie). Es geht ihm um die dauerhafte Vertreibung der Tarquinier und die Sicherung der römischen Gesellschaft. Einer direkten Konfrontation mit dem König geht er sogar aus dem Weg.191

Dieselbe Disziplin zeigt sich, als es darum geht, die eigenen Söhne zum Tode zu verurteilen.192 Die tragische Entscheidung zwischen der Loyalität gegenüber der eigenen Familie und der Loyalität gegenüber dem eigenen Staat trifft er zugunsten des Staates. Die Verurteilung seiner Söhne macht ihn schlussendlich und ohne jeden Zweifel zum pater patriae.193

Gerade diese Disziplin unterscheidet ihn von Tarquinius Superbus. Brutus geht es um die Einhaltung des Rechts, auch wenn er dadurch persönlich Schaden nimmt. Ein weiterer Gegensatz besteht darin, dass Tarquinius letztlich durch die Freveltat seines Sohnes zu Fall kommt, Brutus aber erhöht seine Anerkennung und Glaubhaftigkeit, indem er den Verrat bestraft, den seine Söhne an ihm und dem Staat begangen haben.

Wie Joshel richtig feststellt, ist für Livius das wichtigste Charakteristikum des Politikers die Selbstkontrolle bzw. Disziplin.194 Tyrannische Bestrebungen, die Abkehr vom bestehenden Recht zu eigenen Gunsten, das Brechen moralischer Tabus und das zügellose Ausleben von Begierden bringen die eigene Machtposition und den Staat zu Fall. In der absoluten Einhaltung der Disziplin wird Brutus zum Vorbild aller ihm nachfolgenden Konsuln.

Lefèvre beweist ausführlich, dass die Hervorhebung des Brutus bei Livius mit dessen konkretem Ansatz der Geschichtsschreibung zusammenhängt.195 Während bei Dionysios wichtige Entscheidungen vom Konsulkollegium gemeinsam getroffen werden, trifft Brutus sie bei Livius allein.196 Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Brutus dies hätte allein tun können. Livius verzichtet also in diesem Zusammenhang darauf, einen möglichst glaubwürdigen Bericht wiederzugeben. Vielmehr geht es ihm darum, Brutus als „vindex libertatis“ hervorzuheben und Collatinus keinen allzu großen Anteil an der Schaffung des Konsulats haben zu lassen.197 Darauf soll am Ende des nächsten Kapitels noch einmal näher eingegangen werden.

[...]


1 Donaldson, Ian: The rapes of Lucretia. A Myth and its Transformations, Oxford 1982, S. V.

2 So z.B. in Händels Solokantante „Lucrezia“ (um 1720) oder Benjamin Brittens Oper „The Rape of Lucretia“ (1946).

3 Vor allem die zahlreichen Lucretia-Bilder von Lukas Cranach müssen in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Ein Großteil davon findet sich in: Friedländer, Max J. / Rosenberg, Jakob: Die Gemälde von Lukas Cranach, Stuttgart 1989.

4 Vgl. hierzu: Follak, Jan: Lucretia zwischen positiver und negativer Anthropologie: Coluccio Salutatis Declamatio Lucretie und die Menschenbilder im exemplum der Lucretia von der Antike bis in die Neuzeit, Konstanz 2002.

5 Moormann, Eric M. / Uitterhoeve, Wilfried: Lucretia, in: Dies.: Lexikon der antiken Gestalten, Stuttgart 1995, S. 421-426, S. 422.

6 Als Beispiel kann hier eine Genealogie des Sächsischen Herrscherhauses dienen: Krauss, Wolfgang: Chronica des Stams vnd Ankunfft des ... fürstlichen Hauss zu Sachssen, Wittenberg 1555. Diese fiel mir im Rahmen einer anderen Arbeit in die Hände und beweist dadurch, dass es sich bei der Erwähnung Lucretias in einem solchen Rahmen um keine Seltenheit handeln kann. Die Chronik wurde von dem unbekannten Wolfgang Krauss verfasst. Lucretia wird jedoch in der von Philipp Melanchthon stammenden Vorrede genannt: „Dagegen auch so die Regenten stoltz / mutwillig und Tyrannisch werden [...] so stöst sie Gott auss der Regierung und erhöhet andere. Als da Sextus Tarquinius die Lucretiam schendet ward das Königlich Geschlecht und namen aus Rom vertrieben.“

7 Vgl. hierzu: Galinsky, Hans: Der Lucretia-Stoff in der Weltliteratur, Breslau 1932, S. 223.

Als Altersangaben nennt er: Bullinger (zwischen 19 und 25), Balduinus (20), Junius (22), Jungius (ca. 18), Titz (zwischen 23 und 25). Sachs war schon 33. Galinsky geht es bei der Kategorie des „Erstlingswerks“ offensichtlich um die jeweilige Verarbeitungsform, denn er schließt Sachs mit ein. Sachs war jedoch natürlich schon vorher dichterisch tätig. Die Lucretia-Tragödie war allerdings seine erste Tragödie.

8 Galinsky (wie Anm. 7), S. 223.

9 Um nur einige zu nennen: Arieti, James A.: Rape and Livy’s View of Roman History, in: Susan Deacy; Karen

F. Pierce (Hgg.): Rape in Antiquity, London 1997, S. 209-229; Forsythe, Gary: Livy and early Rome. A Study in Historical Method and Judgement, Stuttgart 1999; Kowalewski, Barbara: Frauengestalten im Geschichtswerk des T. Livius, München / Leipzig 2002; Miles, Gary B.: Livy: reconstructing early Rome, Ithaca u.a. 1997; Vandiver, Elizabeth (1999): The Founding mothers of Livy’s Rome. The Sabine Women and Lucretia, in: Frances B. Titchener / Peter Green (Hgg.): The Eye Expanded. Life and the Arts in Greco-Roman Antiquity, Berkeley, S. 206-232.

10 So z.B. bei Joplin, Patricia K.: Ritual Work on human flesh. Livy’s Lucretia and the rape of the body politic, in: Helios, Bd. 17 (1990), S. 51-70; Joshel, Sandra R.: The body female and the body politic. Livy’s Lucretia and Verginia, in: Amy Richlin (Hg.): Pornography and representation in Greece and Rome, New York / Oxford 1992, S. 112-130.

11 So z.B.: Hirth, Käthe: Heinrich Bullingers Spiel von "Lucretia und Brutus" 1533, Marburg 1919; Holzberg, Niklas: Das Verhältnis der Spielhandlung zu der „angehenckten lehr“ in der Lucretia-Tragödie des Hans Sachs, in: James Hardin / Jörg Jungmayr (Hgg.): „Der Buchstab tödt - der Geist macht lebendig“, FS f. Hans-Gert Roloff, Bd. 1, Bern u.a. 1992, S. 533-552; Hübner, Gaby: Aus dem literarischen Nachlass von Joachim Jungius, Göttingen 1995.

12 Klesczewski, Reinhard: Wandlungen des Lucretia-Bildes im lateinischen Mittelalter und in der italienischen Literatur der Renaissance, in: Lefèvre, Eckard / Olshausen, Eckart (Hgg.): Livius. Werk und Rezeption. Festschrift für Erich Burck zum 80. Geburtstag, München 1983, S. 313-335. Jed, Stephanie H.: Chaste Thinking. The Rape of Lucretia and the Birth of Humanism, Bloomington / Indianapolis 1989; Follak (wie Anm. 4).

13 Galinsky (wie Anm. 7).

14 Galinsky (wie Anm. 7), S. 9.

15 Ebd.

16 Dabei handelt es sich um die von Balduinus und Jungius verfassten. Galinsky (wie Anm. 7), S. 122.

17 Einerseits überschneiden sich oftmals mehrere der Komponenten innerhalb eines literarischen Werkes. Andererseits ist bei der einstelligen Zahl an neuzeitlichen Lucretia-Bearbeitungen, die ich zu betrachten habe, eine gewisse Übersichtlichkeit gegeben, die durch die Anordnung nach Komponenten nicht sonderlich vermehrt werden könnte.

18 Es könnte verwundern, warum gerade Sextus nicht in diesen Kreis aufgenommen wurde. Doch wird von ihm bereits im Zusammenhang mit den Charakterisierungen der drei anderen Figuren so häufig gesprochen, dass mir eine gesonderte Behandlung unangebracht erschien.

19 Dieser Umstand ist Galinsky natürlich ebenfalls bewusst.

20 Klopsch, Paul: Die Überlieferung der lateinischen Literatur im Mittelalter, in: Pöhlmann, Egert (Hg.): Einführung in die Überlieferungsgeschichte und in die Textkritik der antiken Literatur. Mittelalter und Neuzeit, Darmstadt 2003, S. 47-95, S. 47: „Die seit Quintilian eingetretenen Verluste resultierten zum großen Teil [...] aus der Verdrängung durch einen übermächtigen Autor, wie die [...] mancher Epiker durch Vergil, der Annalisten durch Livius.“

21 Cornell, T.J.: The beginnings of Rome. Italy and Rome from the Bronze Age to the Punic Wars (c.100-264 BC), London / New York 1995, S. 5.

22 Dion. Hal. 4,64,3: „ἐγὼ δὲ καὶ τοῦτον [Collatinus C.S.] υἱωνὸν εἶναι τοῦ Ἠγερίου πείθομαι, εἴ γε τὴν αὐτὴν εἶχε τοῖϛ Ταρκυνίου παισὶν ἡλικίαν, ὡς Φάβιός τε καὶ οἱ λοιποὶ συγγραφεῖς παραδεδώκασιν“.

23 Geldner, Harald N.: Lucretia und Verginia. Studien zur Virtus der Frau in der

römischen und griechischen Literatur, Mainz 1977, S. 86.

24 Prescendi, Francesca: Weiblichkeitsideale in der römischen Welt: Lucretia und die Anfänge der Republik, in: Späth, Thomas / Wagner-Hasel, Beate (Hgg.): Frauenwelten in der Antike. Geschlechterordnung und weibliche Lebenspraxis, S. 217-227, S. 217.

25 Vgl. hierzu die Ausführungen von Geldner (wie Anm. 23), S. 172f.

26 Geldner (wie Anm. 23).

27 Ebd. S. 33.

28 Ebd. S. 34. Auf die Frage nach dem literarisch-dramatischen Stil der livianischen Geschichtsschreibung wird im folgenden Kapitel eingegangen.

29 Ebd. S. 8ff.

30 Ebd. S. 11: „so hielt A. Schwegler (Römische Geschichte, I. Abth. Tübingen 1853, 803f) den äußeren Anstoß des Umsturzes des Königtums für glaubhaft und maß nur den näheren Umständen der Erzählung keinen Glauben bei, die er in den Bereich der dichterischen Sage und der schriftstellerischen Ausmalung setzte.“

31 Ogilvie wird von Geldner nicht erwähnt.

32 Ogilvie, R.M.: A commentary on Livy, Books 1-5, Oxford 1965 (ND 2003), S. 218f.

33 Ebd. S. 219: „Whatever the exact historical facts, whether Lucretia committed suicide to forestall an unfavourable verdict before a domestic court of her family or whether her suicide was a deliberate act to ensure the birth of a vendetta against the Tarquins, the story has been considerably improved both by the addition of unhistorical personalities [...] and by its assimilation to the violent ends of many Greek tyrannies...“

34 Cornell (wie Anm. 21), S. 217.

35 Ebd.

36 Voigt, Georg: Über die Lucretia-Fabel und ihre literarischen Verwandten, in: Berichte über die Verhandlungen der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Classe, Bd. 35 (1883), S. 1-36, S. 5.

37 Liv. praef. 6: „Quae ante conditam condendamve urbem poeticis magis decora fabulis quam incorruptis rerum gestarum monumentis traduntur, ea nec adfirmare nec refellere in animo est.“

38 Liv. I,49,3: „neque enim ad ius regni quicquam praeter vim habebat, ut qui neque populi iussu neque auctoribus patribus regnaret. Eo accedebat, ut in caritate civium nihil spei reponenti metu regnum tutandum esset. Quem ut pluribus incuteret, cognitiones capitalium rerum sine consiliis per se solus exercebat perque eam causam occidere, in exilium agere, bonis multare poterat non suspectos modo aut invisos, sed unde nihil aliud quam praedam sperare posset.“

39 Liv. I,53,4ff.

40 Für die Beschreibung der Lucretia-Geschichte gilt als Gesamtverweis: Liv. I,57,3-II,3. Konkrete Nachweise einzelner Stellen werden bei Bedarf angebracht.

41 Liv. I,57,7: „Id cuique spectatissimum sit, quod necopinato viri adventu occurrerit oculis.“

42 Liv. I,57,9.

43 Prescendi (wie Anm. 24), S. 219.

44 Kowalewski (wie Anm. 9), S. 111: „das Ideal der römischen Hausfrau (matrona) war eng verbunden mit dem rituellen Symbol der Wollarbeit (lanificium); so trug etwa die römische Braut bei ihrer Hochzeit Spindel und Wolle.“

45 Liv. I,57,10: „Ibi Sex. Tarquinium mala libido Lucretiae per vim stuprandae capit; cum forma tum spectata castitas incitat.“

46 Liv. I,58,2.

47 Liv. I,58,3.

48 Liv. greift hier wahrscheinlich auf eine ältere Gewohnheit zurück. Gerade zu Zeiten des Augustus wurde versucht, diese Gewohnheit der privaten Rache, die offenbar von jedem Verwandten ausgeübt werden durfte, gesetzlich zu beschränken. Nur dem pater familias stand das Recht zu, seine Tochter (insofern sie noch in seiner Gewalt stand) zu töten. Der Ehemann (und hier sieht man seine geringeren Machtbefugnisse) durfte seine Frau grundsätzlich nicht töten. Vgl. hierzu: Pomeroy, Sarah B.: Frauenleben im klassischen Altertum, Stuttgart 1985, S 243f.

49 Liv. I,58,5.

50 Liv. I,58,6.

51 Liv. I,58,7.

52 Liv. I,58,10.

53 Liv. I,59,1: „...di, testes facio me L. Tarquinium Superbum cum scelerata coniuge et omni liberorum stirpe ferro, igni, quacumque dehinc vi possim, exsecuturum nec illos nec alium quemquam regnare Romae passurum.“

54 Brutus war ein Sohn der Tarquinia, der Schwester des Tarquinius Superbus.

55 Liv. I,56,7.

56 Liv. I,56,7.

57 Liv. I,59,4.

58 Liv. I,60,1: „ne obvius fieret“

59 Liv. I,60,2: „liberator urbis“

60 Ebd.

61 Liv. II,2,3ff.

62 Liv. II,2,3: „Consulis enim alterius [L. Tarquinius Collatinus C.S.], cum nihil aliud offenderet, nomen invisum cicitati fuit...“

63 Liv. II,2,6.

64 Zur Familiengeschichte des L. Tarquinius Collatinus (Liv. I,34,1ff.): Der Vater des Tarquinius Superbus war einstmals aus der Stadt Tarquinii nach Rom gekommen. Er hatte zuvor Lucumo geheißen und nannte sich nach seiner Ankunft L. Tarquinius Priscus. Dieser Lucumo / Tarquinius Priscus hatte einen Bruder: Arruns. Kurz vor dem Tod des Vaters der beiden starb bereits Arruns. Er hinterließ seine schwangere Frau. Doch da der Vater nicht wußte, dass sie schwanger war, ging der gesamte Besitz auf Lucumo über. Mit diesem Reichtum konnte er es wagen, sein Glück in Rom zu versuchen und schaffte es sogar, König zu werden. Sein Neffe hingegen erhielt aufgrund seiner Armut den Namen Egerius. Livius führt sein Schicksal nicht weiter aus. Er scheint im Heer seines Onkels, als dieser bereits König war, gedient zu haben, denn als nächstes erfährt der Leser, dass Egerius mit einer Besatzung in Collatia zurückblieb, nachdem diese Stadt den Sabinern weggenommen worden war (Liv. I,38,1). Eben dieser Egerius ist der Vater des Collatinus.

Bei Dionysios von Halikarnass ist Egerius der Großvater des Collatinus (Dion. Hal. IV,64,3).

65 Liv. II,2,10.

66 Liv. II,3,6.

67 Liv. II,5,5.

68 Liv. II,5,8.

69 Liv. II,6,7.

70 Liv. II,6,9.

71 Burck, Erich: Livius als augusteischer Historiker, in: Ders. (Hg.): Wege zu Livius, (= Wege der Forschung, Bd. 132), Darmstadt 1967, S. 96-143. [zuerst erschienen in: Die Welt als Geschichte, Bd. 1, Stuttgart 1935, S. 448-487.]

72 Ov. Fasti II,751f.

73 Ov. Fasti II,753.

74 Ov. Fasti II,757.

75 Blasse Haut, blondes Haar, die gemäßigte Art zu sprechen und sich zu bewegen waren außerdem Zeichen einer standesgemäßen Erziehung und Bildung. Prescendi (wie Anm. 24), S. 219.

76 Ov. Fasti II,771-774:

„sic sedit, sic culta fuit, sic stamina nevit,

neglectae collo sic iacuere comae,

hos habuit vultus, haec illi verba fuerunt,

hic decor, haec facies, hic color oris erat.“

77 Ov. Fasti II,766: „quoque minor spes est, hoc magis ille cupit.“

78 Ov. Fasti II,781: „excitus in dubio est, audebimus ultima“.

79 Ov. Fasti II,783: „Hat doch mein Wagemut einst selbst Gabii endlich bezwungen!“

80 Ov. Fasti II,801-804.

81 Ov. Fasti II,820.

82 Ov. Fasti II,823-826.

83 Vgl. Liv. I,58,7: Lucretia sagt: „Aber nur mein Leib ist befleckt, mein Herz ist frei von Schuld.“ Liv. I,58,9: „Sie [Vater und Ehemann C.S.] trösteten die Tiefbekümmerte, indem sie die Schuld von ihr, die gezwungen worden war, auf den abwälzten, der das Verbrechen begangen hatte: der Geist sündige, nicht der Leib, und wo es keine Absicht gegeben habe, da gebe es auch keine Schuld.“

84 Ov. Fasti II,829.

85 Ov. Fasti II,830f.

86 Liv. I,58,7: „Doch versprecht mir in die Hand, dass der Ehebrecher nicht ungestraft davonkommt.“; I,58,8: „Es ist Sex. Tarquinius, der [...] sich letzte Nacht [...] einen Genuss verschafft hat, der mir – und wenn ihr Männer seid – auch ihm Verderben bringen wird.“; I,58,10: „»Seht ihr zu«, sagte sie, »was jener verdient.«“

87 Ov. Fasti II,833f.

88 Galinsky (wie Anm. 7), S. 13.

89 Dion. Hal. IV,64,2.

90 Dion. Hal. IV,64,4.

91 Galinsky (wie Anm. 7), S. 12.

92 Dion. Hal. IV,65,2: „Εἰ μὲν γὰρ ὑπομενεῖς,“ ἔφη, „χαρίσασθαί μοι, γυναῖκά σε ποιήσομαι καὶ βασιλεύσεις σὺν ἐμοὶ νῦν μὲν ἧς ὁ πατήρ μοι ἔδωκε πόλεως, μετὰ δὲ τὴν ἐκείνου τελευτὴν Ῥωμαίων τε καὶ Λατίνων καὶ Τυρρηνῶν καὶ τῶν ἄλλων ὅσων ἐκεῖνος ἄρχει.“

93 Dion. Hal. IV,65,2: „[denn er wird die Königsherrschaft übernehmen,] ὥσπερ ἐστὶ δίκαιον, τῶν υἱῶν αὐτοῦ πρεσβύτατος ὤν.“

94 Liv. I,53,5: „Sextus filius eius [gemeint ist Tarquinius Superbus C.S.], qui minimus ex tribus erat...“;

Ov. Fasti II,691 (bezogen auf Sextus): „namque trium minimus, proles manifesta Superbi...“

95 Dion. Hal. IV,66,2.

96 Dion. Hal. IV,66,2: „Ἱκέτις,“ ἔφη, „γίνομαί σου...“

97 Dion. Hal. IV,66,3.

98 Dion. Hal. IV,67,2.

99 Dion. Hal. IV,67,2.

100 Dion. Hal. IV,68-69.

101 Dion. Hal. IV,70,3ff.

102 Dion. Hal. IV,72-73.

103 Dion. Hal. V,8,6.

104 Dion. Hal. V, 9, 2.

105 Dion. Hal. V, 8, 5f.

106 Dion. Hal. V, 9, 3.

107 Dion. Hal. V, 9, 3.

108 Flor. Epit. 1,7,10f.

109 An der Stelle, an der Florus die Vergewaltigung schildert, schreibt er lediglich, dass „irgendeiner der Söhne des Königs“ diese begangen hätte. (Flor. Epit. 1,7,11). Erst bei der Darstellung der Kampfhandlung heißt es, dass Brutus den Arruns tötete und über ihm ebenfalls sein Leben aushauchte, „als ob er dem Ehebrecher unmittelbar in die Unterwelt folgte“ (Flor. Epit. 1,9,8).

110 Vgl. oben S. 15.

111 Geldner (wie Anm. 23), S. 113.

112 Galinsky (wie Anm. 7), S. 13.

113 Galinsky (wie Anm. 7), S. 14.

114 Serv. Aen. 8,646ff.

115 Galinsky (wie Anm. 7), S. 16.

116 Geldner (wie Anm. 23), S. 175.

117 Galinsky (wie Anm. 7), S. 16.

118 Geldner (wie Anm. 23), S. 175f.

119 Für eine vollständige Übersicht siehe Geldner (wie Anm. 23)

120 Vgl. hierzu z.B. Kowalewski (wie Anm. 9), S. 128f. oder Follak (wie Anm. 4), S. 27ff., der sich hinsichtlich der antiken Geschichtsschreibung auf Livius und Valerius Maximus beschränkt.

121 Doblhofer, Georg: Vergewaltigung in der Antike, Stuttgart / Leipzig 1994, S. 1.

122 Vandiver (wie Anm. 9), S. 209 betont, dass man das lateinische Wort „rapere“ bedeutungsmäßig nicht zu eng mit dem etymologisch von ihm abstammendem englischen Wort „rape“ verbinden darf. „Rapere“ bedeute in erster Linie „rauben“, während „to rape“ in erster Linie mit „vergewaltigen“ zu übersetzen sei.

123 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 6.

124 Moses weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass im archaischen römischen Recht die Frage nach der Unfreiwilligkeit oder Freiwilligkeit der Betroffenen keine Rolle bei der Entscheidung spielte, ob es sich um ein stuprum handele. Erst das Augusteische Recht und die damit einhergehende moralische Reform brachte diese Frage in die Diskussion ein. (Moses, Diana C.: Livy’s Lucretia and the validity of coerced consent in Roman Law, in: Laiou, Angeliki E. (Hg.): Consent and coercion to sex and marriage in ancient and medieval societies, Washington 1993, S. 39-81, S. 43) Gegen Moses ist einzuwenden, dass die unter Augustus eingeführte Lex Iulia de adulteriis coercendis bei dem Vergehen des stuprum nur bei den männlichen nicht aber bei den weiblichen Opfern einen Unterschied hinsichtlich der Freiwilligkeit bzw. Unfreiwilligkeit macht. Vgl. hierzu: Mette-Dittmann, Angelika: Die Ehegesetze des Augustus. Eine Untersuchung im Rahmen der Gesellschaftspolitik des Princeps, (= Historia. Einzelschriften, Heft 6), Stuttgart 1991, S. 41.

125 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 20.

126 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 25.

127 Vgl. hierzu Doblhofer (wie Anm. 121), S. 25ff.

128 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 29.

129 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 7.

130 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 91.

131 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 46.

132 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 46.

133 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 37.

134 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 10: „Die Wortwahl der drei Autoren ist überraschend: Sie fügte sich dem Ehebruch (Cassius Dio); mit Lucretia wurde Ehebruch getrieben (Diodor); bei Livius wünscht sich Lucretia nach der Tat, daß der Ehebrecher nicht ungestraft davonkomme.“

135 Cass. Dio II,11,18: „οὐκ ἄκουσα δὴ ἐμοιχεύθη“; Diod. Sic. 10,21,1: „Λουκρητίας μοιχευθείσης“;

Liv. I,58,7: „haud impune adultero fore“

136 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 11.

137 Moses (wie Anm. 124), S. 42; Doblhofer (wie Anm. 121), S. 13.

138 Liv. I,58,7-10.

139 Philippides, S. N.: Narrative Strategies and Ideology in Livy’s ‚Rape of Lucretia‘, in: Helios, Bd. 10.2 (1983), S. 113-119, S. 116.

140 Liv. I,58,7: „ Sed date dexteras fidemque haud impune adultero fore.“

141 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 13.

142 Liv. I,58,10.

143 Doblhofer (wie Anm. 121), S. 14.

144 Mette-Dittmann (wie Anm. 124), S. 162.

145 Joshel (wie Anm. 10), S. 114.

146 Moses (wie Anm. 124), S. 43: „the Augustan law of stuprum in its pursuit of moral reform does seem to have brought into question the state of mind of the woman who has been involved in stuprum.“ Mette-Dittmann weist jedoch darauf hin, dass die Lex Iulia de adulteriis coercendis nicht scharf zwischen adulterium und stuprum trennt. Häufig erscheint stuprum als „allgemeinerer Begriff für ‚Unzucht’, der den Ehebruch mit umfasst“. Die durch die späteren Kommentatoren gemachten Abgrenzungen beziehen sich auf den Personenstand der Frau. Bei Jungfrauen und Witwen trat der Tatbestand des stuprum und bei Ehefrauen der Tatbestand des adulterium ein. Hieran sieht man, dass der Unterschied keineswegs inhaltlicher Natur war. In beiden Fällen wurde die Frage nach dem willentlichen oder unwillentlichen Tun der Frau offensichtlich nicht gestellt. Mette-Dittmann (wie Anm. 124), S. 42.

147 Siehe dazu unten, Kapitel 3.1.

148 Kowalewski (wie Anm. 9), S. 7: „Umso bemerkenswerter ist es, dass die römische Sage das Schicksal einzelner exponierter Frauengestalten in einen kausalen Zusammenhang mit wichtigen politischen Ereignissen in der Geschichte Roms bringt.“

149 Joshel (wie Anm. 10), S. 112.

150 Livius hat Zweifel an einer Vaterschaft des Kriegsgottes und sagt, dass Rea Sylvia dies behauptete, „sei es, dass sie wirklich daran glaubte, sei es, weil es ehrenvoller war, einem Gott die Schuld zu geben“. Liv. I,4,2.

151 Vgl. Vandiver (wie Anm. 9), S. 210. Während Joplin nahelegt, dass die römischen Männer die geraubten Frauen auch zum Geschlechtsverkehr zwangen (Joplin (wie Anm. 10), S. 56), weist Vandiver darauf hin, dass die Römer „did not actually have sex with their Sabine wives until after the women had consented to marriage“. Es besteht jedoch die Frage, inwiefern man hier von „zustimmen“ sprechen kann, da für die Frauen unter diesen Umständen kein wirklicher Entscheidungsspielraum bestand.

152 Kowalewski (wie Anm. 9), S. 121.

153 Liv. III,44ff.

154 Vgl. z.B. Kowalewski (wie Anm. 9), S. 142; Geldner (wie Anm. 23), S. 186

155 Vgl. hierzu vor allem Geldner, der die einzelnen Forschungsmeinungen (insbesondere des 19. Jahrhunderts) zusammenfassend darstellt.

156 Liv. III,44,5.

157 Liv. III,44,2.

158 Liv. III,44,5: „er [Appius Claudius C.S.] glaubte nämlich, weil der Vater des Mädchens nicht da sei, habe das Unrecht freie Bahn.“ Hier zeigt sich deutlich die Abhängigkeit der weiblichen Familienmitglieder von der patria potestas bzw. als verheiratete Frauen von ihrem Ehemann.

159 Liv. III,45,6.

160 Liv. III,47,5.

161 In diesem Zusammenhang stellt Joshel hinsichtlich beider Erzählungen fest, dass in ihnen der Tod der Frau notwendig ist, um die Männer zum Aufstand zu bewegen: „Without the stabbing of Lucretia and Verginia, there is no bloodied knife, no blood to swear on, no corpse to display to the masses. Brutus, Icilius and Numitorius use the dead female body to incite themselves and other men. The woman’s blood enlivens men’s determination to overthrow the tyrant.“ Joshel (wie Anm. 10), S. 125.

162 Liv. III,33,7.

163 Liv. III,36,2.

164 Liv. III,36,5.

165 Vgl. Liv. III,48,7-49,1 (im Anschluss an die Tötung der Verginia durch ihren Vater): „Die Frauen [...] schrien laut: Setze man dazu Kinder in die Welt, sei das der Lohn der Sittsamkeit? Die Männer und besonders Icilius sprachen nur davon, dass ihnen die tribuzinische Gewalt und die Berufung an das Volk entrissen sei, und machten ihrer Empörung über die politischen Zustände Luft. Die Menge wurde teils durch das gräßliche Verbrechen erregt, teils durch die Hoffnung, bei der Gelegenheit die Freiheit zurückzuerlangen.“

166 Arieti (wie Anm. 9), S. 219.

167 Arieti (wie Anm. 9), S. 220.

168 Im Gegensatz zu Hesiod, der die Liebe als Prinzip der Schöpfung begriff, und im Gegensatz zu Heraklit, der den Krieg als selbiges annahm, glaubte Empedokles, dass die Verbindung beider eben jenes Prinzip der Schöpfung ausmachte. Vgl. Arieti (wie Anm. 9), S. 222.

169 Arieti (wie Anm. 9), S. 223.

170 Burck, Erich: Wahl und Anordnung des Stoffes; Führung der Handlung, in: Ders. (Hg.): Wege zu Livius, (= Wege der Forschung, Bd. 132), Darmstadt 1967, S. 331-351, S. 341.

171 Liv. praef. 10.

172 Liv. praef. 9.

173 Follak (wie Anm. 4), S. 27.

174 Stemmler, Michael: Auctoritas exempli. Zur Wechselwirkung von kanonisierten Vergangenheitsbildern und gesellschaftlicher Gegenwart in der spätrepublikanischen Rhetorik, in: Ders. / Linke, Bernhard (Hgg.): Mos maiorum. Untersuchungen zu den Formen der Identitätsstiftung und Stabilisierung in der römischen Republik, Stuttgart 2000, S. 141-205, S. 144.

175 Vgl. hierzu Cornell (wie Anm. 21), S. 9. Die Bedeutung der eigenen Familie gegenüber einer anderen patrizischen Familie hervorzuheben, wurde vor allem durch den Verweis auf die eigene Herkunft zu manifestieren versucht.

176 Follak (wie Anm. 4), S. 27.

177 Kowalewski (wie Anm. 9), S. 129.

178 In diesem Zusammenhang sei vor allem auf den Unterschied zwischen antiker „shame culture“ und christlicher „guilt culture“ verwiesen.

179 Donaldson (wie Anm. 1), S. 106.

180 Cic. Phil. 1,13: „L. Brutus, der ebenfalls den Staat von königlicher Gewaltherrschaft befreit und jetzt nach bald 500 Jahren seinen Nachfahren zu gleicher Mannestat begeistert hat“.

181 Donaldson (wie Anm. 1), S. 107.

182 Donaldson (wie Anm. 1), S. 107.

183 Plut.Publ. 6.

184 Liv. I,56,10.

185 Liv. I,56,10.

186 Ebd.

187 Liv. I,56,12.

188 Liv. I,56,8.

189 Joshel (wie Anm. 10), S. 119; Donaldson (wie Anm. 1), S. 119.

190 Liv. I,59,2.

191 Vgl. oben S. 13.

192 Während Livius (s.o. S. 15) Brutus hier Gefühlsregungen zeigen lässt, sehen andere Autoren gerade in diesem Todesurteil einen Beweis seiner Gefühllosigkeit. So z.B. Plut. Brut. I,2: „Aber dieser Brutus hatte, wie die kaltgeschmiedeten Schwerter, einen von Natur harten, durch keine Beschäftigung mit geistigen Dingen gemilderten Charakter, so dass er sich durch seinen Hass gegen die Tyrannen bis zur Hinrichtung seiner Söhne treiben ließ.“ Vgl. zu dieser Einschätzung des Brutus auch

193 Donaldson (wie Anm. 1), S. 123.

194 Joshel (wie Anm. 10), S. 119.

195 Lefèvre, Eckard: Argumentation und Struktur der moralischen Geschichtsschreibung der Römer am Beispiel von Livius’ Darstellung des Beginns des römischen Freistaats (2,1-2,15), in: Ders. / Eckart Olshausen (Hgg.): Livius. Werk und Rezeption. Festschrift für Erich Burck zum 80. Geburtstag, München 1983, S. 31-58, S. 33ff.

196 So werden bei Dionysios viele grundsätzliche Regelungen zur Installation der neuen Herrschaft von Brutus und Collatinus gemeinsam getroffen, auch nehmen sie z.B. gemeinsam dem Volk den Eid ab, keine Königsherrschaft mehr zuzulassen. (Dion. Hal. V, 1-2) Bei Livius ist es immer nur Brutus allein. (Liv. II,1,9-11)

197 Lefèvre (wie Anm. 195), S. 34.

Ende der Leseprobe aus 160 Seiten

Details

Titel
Die Figur der Lucretia in der deutschen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts
Hochschule
Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
Note
1,0
Autor
Jahr
2008
Seiten
160
Katalognummer
V179009
ISBN (eBook)
9783656012795
ISBN (Buch)
9783656013075
Dateigröße
1142 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Lucretia, Hans Sachs, Heinrich Bullinger, Jacob Ayrer, Literatur der Frühen Neuzeit, Antikerezeption
Arbeit zitieren
Claudia Schmidt (Autor:in), 2008, Die Figur der Lucretia in der deutschen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/179009

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