Forschungsdesign in der Vergleichenden Politikwissenschaft

Die Macht der Verfassungsgerichtsbarkeiten auf die Politik


Forschungsarbeit, 2010

16 Seiten, Note: 2,7


Leseprobe


1. Problembereich

1.1. Thema

Warum hat das Bundesverfassungsgericht in Deutschland eine derartig hohe Machtstellung, obwohl es nur tätig werden darf, wenn es angerufen wird? Diese Problematik wird im Zusammenhang mit Debatten um die Legitimation der Verfassungsgerichtsbarkeiten hinsichtlich einer möglichen Kompetenzüberschreitung, wenn diese sich zu politisch kontrovers diskutierten Themen äußern, nicht nur von den Medien, sondern auch von der breiten Öffentlichkeit immer wieder aufgegriffen und thematisiert. So erregte die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr, der Reichweite von Meinungsfreiheit bezüglich des Ausspruches: „Soldaten sind Mörder“ oder der Verfassungsmäßigkeit des Anbringens von Kreuzen und Kruzifixen an staatlichen Schulen ein hohes öffentliches Interesse.[1]

Im Besonderen der so genannte „Kruzifix-Beschluss“, welcher Bestandteile der Bayerischen Volksschulordnung aus dem Jahre 1983 im Hinblick auf das Anbringen von Kruzifixen bzw. Kreuzen in Schulen für verfassungswidrig erklärte, löste großes Aufsehen in Form von 250.000 Briefen, welche nach der Veröffentlichung dieses Urteils im Zeitraum vom August 1995 bis November 1995 an das Verfassungsgericht geschickt worden sind, aus. In der gesamten vorherigen Geschichte des Bundesverfassungsgerichtes, welche rund vierundfünfzig Jahre betrug, wurden hingegen lediglich 160.000 Nachrichten an das Verfassungsgericht gesandt.[2]

Diese Diskussionen über den Kompetenzbereich des Bundesverfassungsgerichtes führt zu der Fragestellung: „Warum haben die Verfassungsgerichtsbarkeiten in Deutschland und den USA eine derartig hohe Machtstellung, obwohl sie eigenständig nicht tätig werden dürfen?“[3]

Als Vergleichsmaßstab zum deutschen Bundesverfassungsgericht wird der amerikanische Supreme Court herangezogen. Sowohl das deutsche Bundesverfassungsgericht als auch der amerikanische Supreme Court haben sich in der Vergangenheit nicht nur zu einem der wichtigsten und angesehensten Verfassungsgerichte der Welt entwickelt, sondern dienen ebenfalls als Vorbild für den Aufbau von obersten Gerichten in anderen Staaten.[4] Das Verfassungsgericht der Bundesrepublik Deutschland versinnbildlicht den „Hüter der Verfassung im wahrhaften Sinne“[5] und das Symbol der Herrschaft des Gesetzes.[6] Als permanenter Verfassungskonvent und Bewahrer der „Bill of Rights“ ist das oberste amerikanische Verfassungsgericht essentieller Bestandteil des amerikanischen Selbstverständnisses.[7] Beide Verfassungsgerichtsbarkeiten tragen eine herausragende Bedeutung bei der Fortentwicklung der Verfassungsordnung. Jedoch wird der amerikanische Supreme Court im Gegensatz zum deutschen Bundesverfassungsgericht als politischer Akteur im Gefüge der anderen politischen Institutionen wahrgenommen. Die daraus resultierenden Unterschiede hinsichtlich der Durchsetzung von Verfassungsurteilen in der Politik sollen in der Forschungsarbeit herausgestellt werden.

Die Institution des Verfassungsgerichtes wurde gewählt, da ihre weit in die Gesellschaftsstrukturen hineinreichende Macht ein Merkmal der Demokratien nach westlichem Muster darstellt. Daher symbolisiert die Institution des Verfassungsgerichtes eine unerlässliche Voraussetzung bei der Etablierung von demokratischen Systemen.[8]

1.2. anleitende problemorientierte Fragestellung

Die Verfassungsgerichte in Deutschland und den USA sind in der Lage, einen hohen Einfluss auf die politische Entwicklung ihres jeweiligen Landes auszuüben. Die Macht der Verfassungsgerichtsbarkeiten resultiert vor allem daraus, dass diese in der Lage sind, Akte der Gesetzgebung, der Verwaltung und der Regierung als verfassungswidrig zu erklären.[9]

Jedoch werden weder in der deutschen noch in der amerikanischen Politik alle Urteile der Verfassungsgerichte in der Politik vollständig umgesetzt. Ein Beispiel für eine nur unzureichende Durchsetzung von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes stellt die Neuregelung des Parteienfinanzierungsgesetzes aus dem Jahr 1994 dar. Das Bundesverfassungsgericht sah in der erfolgsunabhängigen Basisfinanzierung der Parteien die verfassungsmäßig garantierte Unabhängigkeit der Parteien vom Staat verletzt.[10] Das durch den Bundestag neu verabschiedete Gesetz war jedoch problematisch, da es die verfassungsmäßigen Bedenken nicht vollständig beseitigen konnte. Diese Urteilsauslegung, welche deutlich die Diskrepanz zwischen der Verkündung und der Durchsetzung eines Urteils des Verfassungsgerichtes zeigt, symbolisiert nicht den Einzelfall, sondern verweist auf das potentielle Implementierungsproblem der Verfassungsgerichtsurteile, welches auf die fehlende Sanktionsgewalt der Verfassungsgerichtsbarkeiten bezüglich der anderen politischen Entscheidungsträger zurückführbar ist. Demzufolge sind beide Institutionen auf das Vorliegen einer Beschwerde angewiesen und dürfen nicht selbstständig ein Verfahren zur Überprüfung eines Gesetzes auf Verfassungskonformität einleiten. Nur eine Verfassungsklage ermöglicht somit das Einschreiten der Verfassungsgerichtsbarkeiten und die damit verbundene kritische Prüfung des Handelns der legislativen Mehrheit.[11]

Trotz dieser anscheinenden Schwäche gegenüber den anderen Verfassungsorganen besitzen die Verfassungsgerichte eine hohe Machtposition im Staatssystem, welche sich aus der umfassenden Anerkennung von seitens der Bevölkerung herleitet. Dieser Rückhalt in der Bevölkerung legitimiert die große Machtfülle der höchsten Verfassungsgerichtsbarkeiten in Deutschland und den USA. Daher spielen sie eine dominante Rolle bei der Interaktion mit anderen Verfassungsorganen. Zudem wird die Position der Verfassungsgerichte dadurch aufgewertet, dass sie als die letztentscheidenden Instanzen auftreten und auf diese Weise eine bindende Wirkung gegenüber allen anderen Verfassungsorganen entfalten.[12]

Für die legislative Mehrheit bedeutet die Existenz von Verfassungsorganen demgemäß eine Einschränkung ihrer Machtbefugnisse und die damit einhergehende mögliche Bedrohung von Gesetzesinitiativen.[13] Folglich lässt sich festhalten, dass die Verfassungsgerichtsbarkeiten eine uneingeschränkte und umfassende Wirkung im Hinblick auf die rechtsverbindliche Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, wenn jene angerufen worden sind, verwirklichen können.[14] Allerdings besitzen sowohl das deutsche Bundesverfassungsgericht als auch der amerikanische Supreme Court nur wenige formelle Möglichkeiten, um die Durchsetzung ihrer Entscheidungen im politischen Alltag einzufordern oder zu kontrollieren. Infolgedessen müssen die Verfassungsgerichte in den modernen westlichen Gesellschaften als politische Institution, dessen Handlungen und Effektivität von dem politischen Umfeld geprägt werden, begriffen werden.[15]

Um ein Höchstmaß an Effizienz und Wirksamkeit bewahren zu können, müssen die Richter der Verfassungsgerichte ihre Entscheidungen fortwährend an das sich stetig verändernde politische Umfeld anpassen.[16] Die Verfassungsrichter sollen aber nicht aktiv in die Politikgestaltung ihres Staates eingreifen, sondern sich auf die oben genannten Aufgabenschwerpunkte beschränken. Die Grenze zwischen verfassungsrechtlicher Kontrolle, dessen Legitimationsgrundlage sich aus dem Grundgesetz bzw. aus der amerikanischen Verfassung schöpft, und politischen Entscheidungen ist jedoch nur schwer möglich, da beide Bereiche nicht nur sehr stark miteinander verbunden sind, sondern sie sich zudem in einem hohen Maße gegenseitig beeinflussen. So kam es in der Vergangenheit von beiden Verfassungsgerichten zu Entscheidungen, welche die nachfolgende Politik beherrschen und prägen sollten. Diese Tatsache verursachte insbesondere bei der legislativen Mehrheit und bei anderen politischen Interessenvertretern eine Skepsis gegenüber Entscheidungen der Verfassungsgerichte, welche kontrovers diskutierte Fragen innerhalb der Politik rechtlich beurteilten.[17]

Die Fragestellung, die auf der Grundlage dieser Betrachtungen aufgeworfen wird, beschäftigt sich mit der Thematik: „Warum haben die Verfassungsgerichtsbarkeiten in Deutschland und den USA eine derartig hohe Machtstellung, obwohl sie eigenständig nicht tätig werden dürfen?“. In diesem Zusammenhang sollen sowohl die Bedingungen und Umstände, welche nötig sind, um eine Durchsetzung der Verfassungsgerichtsentscheidungen im politischen Alltag zu bewirken als auch die Voraussetzungen dieser dominanten Machtposition der Verfassungsgerichtsbarkeit aufgezeigt werden. Im Mittelpunkt der Forschungsarbeit soll nicht nur der Mechanismus, welcher dazu führt, dass Entscheidungen der Verfassungsgerichte in der Politik umgesetzt werden, sondern ebenfalls die Einflussmöglichkeiten der Verfassungsgerichte auf die politischen Entscheidungsträger sowie die Grenzen dieser Autorität bezüglich der Interaktion mit anderen Verfassungsorganen stehen.

[...]


[1] Vgl. Haltern, Ulrich R.: Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen. Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 751, Berlin 1998, 204-241.

[2] Vgl. Schaal, Gary S.: Der „Kruzifix-Beschluss" und seine Folgen; in: Möllers, Martin/ van Ooyen Robert C. (Hrsg.): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, Wiesbaden 2006, 175-186.

[3] Vgl. Haltern, Ulrich R.: Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen. Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus, Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 751, Berlin 1998, 204-241.

[4] Vgl. Schwartz, Herman, 2000: The Struggle for Constitutional Justice in Post-Communist Europe, Chicago 2000, 227.

[5] Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, Herrenchiemsee 1948, 45.

[6] Vgl. Vanberg, Georg: Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung: Zum politischen Spielraum des Bundesverfassungsgerichts; in: Ganghof, Steffen/ Manow, Philip (Hrsg.): Mechanismen der Politik. Strategische Interaktion im deutschen Regierungssystem, Frankfurt am Main 2005, 183-213.

[7] Vgl. Haller, Walter: Supreme Court und Politik in den USA. Fragen zur Justiziabilität in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, Bern 1972, 12-85.

[8] Vgl. Vanberg, Georg: Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung: Zum politischen Spielraum des Bundesverfassungsgerichts; in: Ganghof, Steffen/ Manow, Philip (Hrsg.): Mechanismen der Politik. Strategische Interaktion im deutschen Regierungssystem, Frankfurt am Main 2005, 183-213.

[9] Vgl. Landfried, Christine: Judicial Policy-Making in Germany. The Federal Constitutional Court; in: West European Politics 15 (1992), 50-67.

[10] Vgl. BVerfG 85, 264 (294).

[11] Vgl. Vanberg, Georg: Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung: Zum politischen Spielraum des Bundesverfassungsgerichts; in: Ganghof, Steffen/ Manow, Philip (Hrsg.): Mechanismen der Politik. Strategische Interaktion im deutschen Regierungssystem, Frankfurt am Main 2005, 183-213.

[12] Vgl. Strohmeier , Gerd: Vetospieler – Garanten des Gemeinwohls und Ursachen des Reformstaus. Eine theoretische und empirische Analyse mit Fallstudien zu Deutschland und Großbritannien, Baden-Baden 2005, 129-166.

[13] Vgl. Vanberg, Georg: Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung: Zum politischen Spielraum des Bundesverfassungsgerichts; in: Ganghof, Steffen/ Manow, Philip (Hrsg.): Mechanismen der Politik. Strategische Interaktion im deutschen Regierungssystem, Frankfurt am Main 2005, 183-213.

[14] Vgl. Strohmeier, Gerd: Vetospieler – Garanten des Gemeinwohls und Ursachen des Reformstaus. Eine theoretische und empirische Analyse mit Fallstudien zu Deutschland und Großbritannien, Baden-Baden 2005, 129-166.

[15] Vgl. Vanberg, Georg: Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung: Zum politischen Spielraum des Bundesverfassungsgerichts; in: Ganghof, Steffen/ Manow, Philip (Hrsg.): Mechanismen der Politik. Strategische Interaktion im deutschen Regierungssystem, Frankfurt am Main 2005, 183-213.

[16] Vgl. Klein, Hans Hugo: Bundesverfassungsgericht und Staatsraison, Frankfurt am Main 1968, 8-42.

[17] Vgl. Strohmeier, Gerd: Vetospieler – Garanten des Gemeinwohls und Ursachen des Reformstaus. Eine theoretische und empirische Analyse mit Fallstudien zu Deutschland und Großbritannien, Baden-Baden 2005, 129-166.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Forschungsdesign in der Vergleichenden Politikwissenschaft
Untertitel
Die Macht der Verfassungsgerichtsbarkeiten auf die Politik
Hochschule
Universität der Bundeswehr München, Neubiberg  (Institut für Politikwissenschaft)
Veranstaltung
Forschungsdesign in der Vergleichenden Politikwissenschaft
Note
2,7
Autor
Jahr
2010
Seiten
16
Katalognummer
V178855
ISBN (eBook)
9783656011149
ISBN (Buch)
9783656010227
Dateigröße
565 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Exposé, 16 Seiten
Schlagworte
Exposé
Arbeit zitieren
Susanne Lossi (Autor:in), 2010, Forschungsdesign in der Vergleichenden Politikwissenschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/178855

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