Anomische Staaten - ein Analysekonzept für den lateinamerikanischen Kontext


Hausarbeit (Hauptseminar), 2003

28 Seiten, Note: sehr gut


Leseprobe


Table Of Contents

Einleitung:

1. Die Anomie nach Durkheim
1.1. Die soziale Anomie – ein negativer Effekt von Regelungsdefiziten im sozialen System
1.2. Das gesellschaftliche Gleichgewicht und seine Verletzungen
1.2.1. Anomie vs. Fatalismus und Individualismus vs. Kollektivismus
1.2.2. Regulation: Überregulierung vs. Regulationsdefizit
1.3. Zusammenfassung

2. Die Schwäche lateinamerikanischer Staaten
2.1. Anmerkung zum Begriff Lateinamerika
2.2. Das Vollzugsdefizit
2.3. Vom Vollzugsdefizit zur Anomie – Peter Waldmann
2.4. Zusammenfassung

3. Anomie und Staat
3.1. Die Anomie-These in bezug auf Lateinamerika nach Waldmann
3.2. Der „anomische Ort“
3.3. Zusammenfassung

4. Fallbeispiele
4.1. Anomische Zustände durch ein Regulierungsdefizit im Finanzwesen: Die Inflation in Argentinien
4.1.1. Megainflation
4.1.2. Hyperinflation
4.2. Anomische Zustände durch ein Regulierungsdefizit im Gewaltmonopol: Alltägliche Gewalt in Kolumbien
4.2.1. Akteure, Formen und Ketten der Gewalt in Kolumbien
4.2.2. Gewalt und gesellschaftliche Strukturbereiche

5. Fazit und Methodologische Anmerkungen

Einleitung:

Der lateinamerikanische Subkontinent wird meist mit Krisensituationen assoziiert. Plakative und von den Medien immer wieder aufgegriffene Fälle sind beispielsweise die Währungskrise in Argentinien, der aktuelle Generalstreik in Venezuela, Drogenhandel und eine anscheinend allgemein verbreitete Kultur der Gewalt. Obwohl sich hinter dem Begriff Lateinamerika eine Vielzahl von Ländern verbirgt, die teilweise große Unterschiede in Bevölkerungsstruktur und Größe aufweisen, scheinen sich tendenziell immer wieder ähnlich strukturierte Problem-situationen zu bilden. Die Staaten Lateinamerikas werden seit ca. 17 Jahren demokratisch regiert – aber die Demokratie ist in vielen Fällen nicht mit der Herstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse Hand in Hand gegangen. Gewalt, Korruption, eine nur auf dem Papier existente Gleichheit der BürgerInnen sind alltägliche Erscheinungen. Auffallend ist, dass viele der Probleme Latein-amerikas auf Regelungsdefizite zurückgeführt werden können. Wird beispielsweise Selbstjustiz als ein großflächig von einer Bevölkerung akzeptiertes Mittel genutzt, obgleich es der Gesetzgebung widerspricht, so demonstriert dieser Zustand deutlich ein Defizit im staatlichen Gewaltmonopol.

In der vorliegenden Arbeit wird das Konzept der sozialen Anomie als Analyseansatz für den lateinamerikanischen Subkontinent vorgestellt. Dieses Konzept befasst sich mit den gesellschaft-lichen Folgen von staatlichen Regulationsdefiziten und deren Rückwirkungen auf die Staats-organisation.

Der Neologismus Anomie geht ursprünglich auf Emile Durkheim[1] zurück. Durkheim selbst er-arbeitete allerdings kein Analyse-Konzept anhand der Anomie oder eine vollständige „Anomie-Theorie“. Peter Waldmann[2] hat den Begriff in konzeptionelle Zusammenhänge eingebracht und schlägt vor, ihn in erweiterter Form bei der Analyse von Problemkonstellationen in Latein-amerika einzusetzen.

Nach Waldmann können Staaten gezielt mit der anomischen Zuständen arbeiten und kalkulieren. Die lateinamerikanischen Staaten nutzen in Extremfällen anomische Effekte, um ihre Macht über die Regelungsdefizite zu sichern. Dadurch sichern sie nicht den inneren Frieden und stützen nicht die öffentliche Sicherheit, sondern stellen ihrerseits einen Unsicherheitsfaktor und Gefahr der Ordnung dar. Waldmann verdeutlicht, wie der scheinbare Widerspruch Staat – Anomie in engem Zusammenhang existieren kann. Er zeigt eine neue Dimension in der Behandlung der Anomie-problematik auf: Durkheim und andere Soziologen bezogen die Anomie generell auf gesellschaftliche Verwerfungen und Strukturungereimtheiten. Waldmann hingegen arbeitet heraus, dass eine Regierung an sich Interesse an anomischen Zuständen haben kann.

Die Arbeit ist in vier Kapitel unterteilt: Das erste Kapitel geht auf die Grundlage der Anomie-These ein. In ihm wird der Anomie-Begriff nach Durkheim beschrieben. Das zweite Kapitel behandelt die grundlegende Schwäche des lateinamerikanischen Staates. Im dritten Kapitel wird der Zusammenhang Anomie - Staat erläutert und Waldmanns These vorgestellt. Im vierten Kapitel wird das bisher abstrakt behandelte Anomiekonzept anhand von zwei Fallbeispielen (Argentinien und Kolumbien) verdeutlicht. Das Ende der Arbeit bildet das Fazit mit methodologischen Anmerkungen zum Anomie-Konzept.

1. Die Anomie nach Durkheim

1.1. Die soziale Anomie – ein negativer Effekt von Regelungsdefiziten im sozialen System

Der Begriff der sozialen Anomie ist vor über 100 Jahren von Emile Durkheim in die Soziologie eingeführt worden. Unter Anomie versteht Durkheim eine Klasse von Phänomen, die durch Regulierungsdefizite hervorgerufen werden. Bekannt wurde der Begriff Anomie durch eine Neuformulierung von Robert K. Merton[3]. Der Bedeutungsinhalt des Begriffes variiert heute in den unterschiedlichen Untersuchungskontexten, in denen er eingesetzt wird. Nach Thome[4] kann im aktuellen Verständnis nicht von einer etablierten Definition, sondern von einem sentizing concept ausgegangen werden. Im Allgemeinen nimmt der Begriff Bezug auf Regelungsdefizite und ihre negativen Konsequenzen. Als Beispiel kann wieder die Selbstjustiz dienen: Die negative Konsequenz des Defizits im Gewaltmonopol ist die Selbstjustiz, die aufgrund ihrer Ungeregeltheit und Emotionalität Opfer fordert, denen keine Möglichkeit zur Verteidigung gewährt wird.

Die Effekte des Regelungsdefizits werden entweder sozialen Systemen oder Personen zuge-schrieben. Bestimmte Verhaltensmuster auf gesellschaftlicher und/oder individueller Ebene dienen als Indikatoren für die Anomie.

Die Unterscheidung zwischen sozialen Systemen und Personen wird im Rahmen der Anomie oft durch die Attribute sozial bzw. psychisch auf sprachlicher Ebene kenntlich gemacht. Im Fall der psychischen Anomie kann auch von Anomia gesprochen werden, die man als mögliche Folge von sozialer (also gesellschaftlicher) Anomie untersuchen kann.

Durkheim selbst sieht Anomie als Merkmal sozialer Systeme an, er interessiert sich durchgehend dafür, wie das Individuum auf die anomischen Umstände reagiert und welche Folgen sich aus der Summe der Gesamtrekationen der Individuen für das soziale System ergeben. Die von ihm verwendeten Indikatoren sind die Anzahl der Suizide und der Morde.[5]

1.2. Das gesellschaftliche Gleichgewicht und seine Verletzungen

1.2.1. Anomie vs. Fatalismus und Individualismus vs. Kollektivismus

Die ideale Gesellschaft beruht im Sinn Durkheims auf einer Balance von Integration und Regulation. Da anomischen Phänomene als anormal und pathologisch von Durkheim bezeichnet werden, sind sie als Folgen eines Ungleichgewichtes zwischen Integration und Regulation zu verstehen. Die von Durkheim erwünschte Balance der Gesellschaft spannt sich zwischen den Polpaaren Anomie vs. Fatalismus und Individualismus vs. Kollektivismus auf.

Individualismus

Der günstige Fall bezüglich des Individualismus ist der moralische Individualismus, der ungünstigste der egoistische (exzessive) Individualismus.

Moralischer Individualismus basiert auf den Prämissen[6], dass

- sich die Individuierung innerhalb des Sozialisationsprozesses vollzieht.
- die Wertschätzung des Individuums selbst Produkt sozialer Prozesse ist.

Der exzessive Individualismus manifestiert sich, indem die Gesellschaft auf einen einzigen „Handels- und Tauschapparat“[7] reduziert wird. Hier ist das Individuum einzig und allein auf seinen Vorteil bedacht.

Kollektivismus

Der Kollektivismus oder das Kollektivbewusstsein beruht auf gemeinsamen Wertvorstellungen. Nach Durkheim besteht innerhalb hochdifferenzierter Gesellschaft der gemeinsame Glaube nur noch im allgemein praktizierten „Kult des Individuums“. Der „Kult des Individuums“ unterscheidet den Kollektivismus moderner Gesellschaften von dem traditioneller, in denen anstelle der Einzelperson Gruppenkonstellationen (Clans, Familien etc.) die höchste Wertschätz-ung erhalten.

Fatalismus

Im Fall des Fatalismus ist eine zu hohe Regelungsdichte vorhanden, es kommt zu Repression und die Autonomie der Individuen wird angegriffen.

Anomie

Im Fall der Anomie handelt es sich um ein Regelungsdefizit: Notwendige Regeln fehlen, sie sind unangemessen, widersprüchlich oder werden nicht befolgt. Die Kooperation innerhalb des sozialen Systems funktioniert nicht mehr. Auf individueller Ebene kann es zu Orientierungs- und Identitätsproblemen kommen.[8] Hieraus geht auch die negative inhaltliche Ausrichtung des Begriffes der sozialen Anomie hervor.

Integration

Nach Thome[9] sieht Durkheim die Integration moderner Gesellschaften durch folgende zwei Dimensionen gewährleistet:

- Normative Dimension: geteilte Werte und Ziele (Kollektivbewusstsein)
- Funktionale Dimension: das kooperative Handeln, welche aus geregelter Arbeitsteilung hervorgeht

Es handelt sich hierbei um ein Grundschema von normativer und funktionaler Integration.

1.2.2. Regulation: Überregulierung vs. Regulationsdefizit

Wie bereits deutlich geworden ist, wird die Anomie als ein Regulierungsproblem verstanden. Zum besseren Verständnis und aufgrund ihrer Wichtigkeit wird die Regulation im Folgenden als gesonderter Unterpunkt aufgeführt.

Hervorzuheben bezüglich der durkheimschen Balance der Gesellschaft ist, dass Regulation und Integration nicht unabhängig voneinander existieren. Eine bestimmte Form von Regulation kann die Integration entweder stützen oder gefährden. Eine bestmögliche Regulierung erfolgt im durkheimschen Sinne durch kooperative Arbeitsteilung. Dabei ist es übrigens der Staat, der die Rolle der Kontrollinstanz über die Arbeitsteilung übernehmen soll.

Generell kann gesagt werden, dass eine Regulierung entweder zu stark (Überregulierung) oder zu schwach (Regulationsdefizit) sein kann. Die Überregulierung bedeutet eine Verschiebung in Richtung des Fatalismus. Durkheim sah die indikatorische Konsequenz der Überregulierung auf der individuellen Ebene im fatalistischen Selbstmord,

„..welcher aus einem Übermaß von Reglementierungen erwächst; der Selbstmord derjenigen, denen die Zukunft mitleidlos vermauert wird, deren Triebleben durch eine erdrückende Disziplin gewaltsam erstickt wird...“[10]

Durkheim betrachtete diesen Selbstmordtypus als ausgestorben, da er die Diktaturen des 20. Jahrhunderts (wie die lateinamerikanischen) nicht vorausgesehen hatte.[11]

Der Überregulation gegenüber steht das Regulationsdefizit. Durkheim verbindet es mit dem anomischen Selbstmord. Dieses Defizit ist nicht nur quantitativer sondern auch qualitativer Natur. Durkheim erläutert dies anhand der Arbeitsteilung.[12] Diese sieht er nicht per se als schlecht an, aber sie bedarf einer notwendigen Regulierung, um die Individuen und somit auch die Gesellschaft in einem gesunden Gleichgewicht zu halten. Außer einer Unterforderung und verwehrten Selbstverwirklichung (beispielsweise durch die erzwungene Arbeitsteilung) kann auch eine bestimmte Form der Überlastung durch Regulierungsdefizite zu negativen Auswirkungen führen. Die Gefahr der Überforderung besteht darin, dass Menschen „Opfer ihrer überschießenden Aspirationen“[13] werden. Kann beispielsweise eine Masse von Angeboten nicht mehr verarbeitet werden, folgt oft daraus, dass ein Mensch immer mehr Aktivitäten aufnimmt, aber letztlich nicht in der Lage ist, Akzente zu setzen und sich somit nicht auf ein verarbeitbares Maß von Aktivitäten beschränkt. Der Effekt davon ist, dass das Individuum keines seiner „Projekte“ mehr tiefgreifend bearbeitet, sondern es sich generell sehr oberflächlich einer weiten Bandbreite von Themen annähert. Folglich fehlt ihm an Disziplin, es kann seine Fähigkeiten nicht mehr richtig einschätzen. So können Menschen aufgrund „überschießender Aspirationen“ nicht mehr zwischen dem, was gut für sie ist und dem, was ihnen möglicherweise schadet, differenzieren.

1.3. Zusammenfassung

Die Anomie ist ein negativer Effekt, der aus einem Mangel an Regulierung entsteht. Die Auswirkungen der Anomie sind sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene zu finden. Im Sinne Durkheims wird Anomie mit unnormalen oder sogar krankhaften Zuständen assoziiert. Zentral in Durkheims Beschreibungen der Anomie sind die Paarungen von Anomie-Fatalismus, Individualismus-Kollektivismus und Integration-Regulation. Das empirische Maß, das Durkheim als Indikator für das Vorhandensein von Anomie nutzt, sind Suizide bzw. Morde.

Weiterhin betont Durkheim, dass seiner Ansicht nach anomisches Potential in allen Formen eines schnellen gesellschaftlichen Wandels vorhanden ist. Der Wandel kann sich derartig schnell gestalten, dass sich die sozialen Verhältnisse und die Handlungsoptionen schneller als die Normen ändern, welche eigentlich die menschlichen Handlungen anleiten sollten.

[...]


[1] Durkheim, Emile 1992: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Original 1893).

[2] Waldmann, Peter 2002: Der anomische Staat, Opladen: Leske und Budrich. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt auf der Literatur Waldmanns, das hier genannte Werk steht im Mittelpunkt. Weitere Literatur Waldmanns wurde auch beachtet und befindet sich im Literaturverzeichnis.

[3] Merton, Robert K. 1938: Social structure and anomie, American Sociological Review, 3, S. 625 - 682.

[4] Thome, Helmut 2000: Das Konzept sozialer Anomie als Analyseinstrument, Erweiterte Fassung eines Beitrages zu einem Symposium über „Diktatur, Demokratisierung und soziale Anomie“, 2. - 4. 11. 2000, Augsburg.

[5] Durkheim, Emile 1990: Der Selbstmord. Frankfurt a. M. : Suhrkamp (Orig.1987).

[6] Nach Thome, s. Fußnote 4, S. 5.

[7] Durkheim nach Thome, s. Fußnote 4, S.6.

[8] Nach Thome, s. Fußnote 4, S. 4.

[9] Nach Thome, s. Fußnote 4, S. 4.

[10] Durkheim, Emile 1990: Der Selbstmord. Frankfurt a. M. : Suhrkamp (Orig.1987), S. 138.

[11] Nach Thome, s. Fußnote 4, S. 7.

[12] Durkheim, Emile 1992: Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Orig. 1897), S. 433ff.

[13] Nach Thome, s. Fußnote 4, S. 8.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Anomische Staaten - ein Analysekonzept für den lateinamerikanischen Kontext
Hochschule
Universität Hamburg  (Fachbereich Lateinamerikastudien)
Note
sehr gut
Autor
Jahr
2003
Seiten
28
Katalognummer
V17883
ISBN (eBook)
9783638223393
ISBN (Buch)
9783638717335
Dateigröße
593 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Auf der Grundlage von Durkheims Anomie-Begriff entwickelte P. Waldmanns das Konzept anomischer Staaten für Lateinamerika. Er versucht damit, die Effekte politischer Regulierungsdefizite auf gesellschaftlicher Ebene zu erfassen. Meine Arbeit vollzieht die Entwicklung des Anomiekonzeptes nach und bespricht seine Anwendungsmöglichkeiten am Beispiel von Kolumbien und Argentinien.
Schlagworte
Anomische, Staaten, Analysekonzept, Kontext
Arbeit zitieren
Julia Dombrowski (Autor:in), 2003, Anomische Staaten - ein Analysekonzept für den lateinamerikanischen Kontext, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/17883

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